Perspektivwechsel – Mediale Bildungen digitaler Kinder- und Jugendöffentlichkeit am Beispiel des Earth Speakr von Olafur Eliasson

Artikel-Metadaten

von Kirsten Winderlich, Stefanie Johns

Erscheinungsjahr: 2022

Peer Reviewed

Abstract

Der Beitrag widmet sich Potenzialen medialer und ästhetischer Bildung im Kontext der Klimakrise. Im Zentrum steht das Kunstwerk Earth Speakr von Olafur Eliasson, durch das Prozesse medialer Bildung digitaler Kinder- und Jugendöffentlichkeit befragt sowie anhand raum- und zeitbezogener Möglichkeiten diskutiert und veranschaulicht werden. Mittels einer phänomenologischen ‹Blickverschiebung› erfolgt eine Analyse der medialen Schichten im Gebrauch der App sowie deren Verortung im Kontext digitaler Kultur. Neben den medialen Spezifika der audio-visuellen Botschaften, die Momente der Gemeinschaftsbildung thematisieren, werden die Nahtstellen digitaler Kinder- und Jugendöffentlichkeit beleuchtet.

Change of Perspective. Digital Public of Children and Young People in Media Educational Processes through Earth Speakr by Olafur Eliasson

The article is dedicated to the potential of media and aesthetic education in the context of climate crisis. Digital public of children and young people in media educational processes through Earth Speakr by Olafur Eliasson is the focus. This is discussed and illustrated by using space and time-related possibilities. Through a phenomenological shift in perspective, the article discusses media layers in the use of the app and places it into the context of digital culture. In addition to a medial merging of audio-visual messages, moments of community building are addressed to focus on the interfaces between the digital public for children and young people.

Dieser Beitrag basiert auf Reflexionen von Kirsten Winderlich und Stefanie Johns, vorgetragen im PANEL 3 „Ästhetik, Digitalität, Aktivismus“ der 11. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung zu „Ästhetik – Digitalität – Macht", März 2021.

Abb. 1: Dokumentarfotografie Elswick Kids (1978) Tish Murtha © Ella Murtha. All rights reserved, DACS/Artimage 2021. Auf der Dokumentarfotografie von Tish Murtha aus den 1970er-Jahren sind Kinder auf der Strasse zu sehen, die sich den öffentlichen Raum nicht nur durch Präsenz sowie durch diverse Handlungen aneignen, sondern sich vor allem auch zeigen. In der aktuellen Gesellschaft haben sich die Räume von Kindern und Jugendlichen in das häusliche Umfeld, die Institutionen sowie medialen Räume verlagert.  «Erfahrungswelten von Kindern und Jugendlichen zeigen sich heute vor dem Hintergrund einer mediatisierten Lebenswelt, die dem Einzelnen ein hohes Maß an Selbstinszenierung und an Strategien der Selbstermächtigung im Umgang mit Medien, Institutionen, öffentlichem Raum etc. abverlangt.» (Westphal und Jörissen 2013, 10)  Diese Herausforderung verändert «Erfahrungs- und Handlungshorizonte und damit auch uns selbst wie auch das kollektive Miteinander» (Allert, Asmussen und Richter 2017, 10), sodass mediale Bildung(en) einen explizit transformativen Charakter aufweisen, der ein öffentliches Zeigen und Sich-Zeigen umfasst. Unabhängig von dem Wandel der beschriebenen Räume von Kindheit und Jugend, bleibt die von Oskar Negt und Alexander Kluge beschriebene Problematik, dass Öffentlichkeit zunächst Öffentlichkeit von Erwachsenen heißt (Negt und Kluge 1972, 464). So stellt sich die Frage, welche Möglichkeitsräume digitale Kinder- und Jugendöffentlichkeiten als Bestandteil kulturellen (Er)Lebens erfahren können. Der Experte für Kinderpolitik Michael Klundt argumentiert in diesem Zusammenhang für eine progressive Kinder- und Jugendöffentlichkeit, die auf eine «erweiterte individuelle und kollektive Erfahrungs- und Handlungsfähigkeit» im Sinne von «Mit- und Selbstbestimmung» abzielt (Klundt 2013, 31). Vor dem Hintergrund eines grundlegenden Rechts auf Beteiligung und Öffentlichkeit im Kindes- und Jugendalter (Klundt 2013, 31) vermittelt aktuell das Engagement von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf die Klimakrise, z. B. im R
Abb. 1: Dokumentarfotografie Elswick Kids (1978) Tish Murtha © Ella Murtha. All rights reserved, DACS/Artimage 2021.

Auf der Dokumentarfotografie von Tish Murtha aus den 1970er-Jahren sind Kinder auf der Strasse zu sehen, die sich den öffentlichen Raum nicht nur durch Präsenz sowie durch diverse Handlungen aneignen, sondern sich vor allem auch zeigen. In der aktuellen Gesellschaft haben sich die Räume von Kindern und Jugendlichen in das häusliche Umfeld, die Institutionen sowie medialen Räume verlagert.

«Erfahrungswelten von Kindern und Jugendlichen zeigen sich heute vor dem Hintergrund einer mediatisierten Lebenswelt, die dem Einzelnen ein hohes Maß an Selbstinszenierung und an Strategien der Selbstermächtigung im Umgang mit Medien, Institutionen, öffentlichem Raum etc. abverlangt.» (Westphal und Jörissen 2013, 10)

Diese Herausforderung verändert «Erfahrungs- und Handlungshorizonte und damit auch uns selbst wie auch das kollektive Miteinander» (Allert, Asmussen und Richter 2017, 10), sodass mediale Bildung(en) einen explizit transformativen Charakter aufweisen, der ein öffentliches Zeigen und Sich-Zeigen umfasst.

Unabhängig von dem Wandel der beschriebenen Räume von Kindheit und Jugend, bleibt die von Oskar Negt und Alexander Kluge beschriebene Problematik, dass Öffentlichkeit zunächst Öffentlichkeit von Erwachsenen heißt (Negt und Kluge 1972, 464). So stellt sich die Frage, welche Möglichkeitsräume digitale Kinder- und Jugendöffentlichkeiten als Bestandteil kulturellen (Er)Lebens erfahren können. Der Experte für Kinderpolitik Michael Klundt argumentiert in diesem Zusammenhang für eine progressive Kinder- und Jugendöffentlichkeit, die auf eine «erweiterte individuelle und kollektive Erfahrungs- und Handlungsfähigkeit» im Sinne von «Mit- und Selbstbestimmung» abzielt (Klundt 2013, 31).

Vor dem Hintergrund eines grundlegenden Rechts auf Beteiligung und Öffentlichkeit im Kindes- und Jugendalter (Klundt 2013, 31) vermittelt aktuell das Engagement von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf die Klimakrise, z. B. im Rahmen der Fridays for Future Bewegung, eine Perspektive eingeforderter Mitbestimmung. Kinder und Jugendliche treten im Kontext der Klimakrise, die sie als nächste Generation mit einer noch nicht absehbaren Härte treffen wird, ihrer Erfahrung, politisch noch keine Stimme zu haben, entschlossen entgegen.

Mit unserem Beitrag möchten wir die Potenziale medialer und ästhetischer Bildung im Kontext der Klimakrise am Beispiel des Kunstwerks Earth Speakr von Olafur Eliasson beleuchten. Dabei interessiert uns eine an Oskar Negt anschließende «raumbetontere Öffentlichkeit» (Negt 2016/1999, 103), die «mehr Bewegungsspielräume und andere Zeiträume als jene der Erwachsenen» (Klundt 2013, 32) betrifft, wie sie im Digitalen medial erfahrbar sein können. Mediale Bildung kann aus Erfahrungsprozessen hervorgehen, die «Körpertechniken und -stile aus ihrem aktuellen Vollzug herauslösen und sich in einer Welt aus Kommunikations-, Interaktions- und Artikulationsmedien herausbilden» (Westphal und Jörissen 2013, 11). Ästhetische Bildung impliziert entsprechend in Gross- wie Kleinschreibung eine Bildung durch die Künste wie eine leibgebundene Bildung, die dem jeweiligen Subjekt einen anderen und neuen Weltzugang eröffnet.

Der Earth Speakr, ein für Kinder und Jugendliche geschaffenes partizipatives Kunstwerk von Olafur Eliasson, greift das Dilemma der Kinder und Jugendlichen auf, bezüglich ihrer eigenen Zukunft keine Mitsprache zu haben. Es stellt ein spannendes Beispiel kunstbasierter bzw. -initiierter digitaler Kinder- und Jugendöffentlichkeit dar. (Anm.: Das Selbstverständnis des Kunstwerks markiert das Eröffnen eines digitalen Raums für Kinder und Jugendliche: «An Artwork started by Olafur Eliasson».) Mehr noch: Das Kunstwerk macht uns vor, wie Kinder und Jugendliche, von ihren eigenen medialen Praxen ausgehend, Öffentlichkeit herstellen und sich auf diese Weise Gehör verschaffen und ihre Positionen sichtbar machen. Im Rahmen von Earth Speakr lässt sich eine Vielzahl an Phänomenen wahrnehmen und beobachten, die als Anlässe zur Theoriebildung medialer Kinder- und Jugendöffentlichkeiten aufgegriffen werden können.

Diesbezüglich grundieren im Folgenden drei Thesen unsere Überlegungen und Analysen:

  1. Kinder- und Jugendöffentlichkeiten sind trotz der Verschiebung in den digitalen Raum an leibsinnliche Zugänge zur Welt gebunden.
  2. Eine digitale Aneignung des öffentlichen Raumes durch Kinder und Jugendliche ist nicht nur ein ephemeres Ereignis, sondern hallt nach und hinterlässt entsprechende Spuren der Ermächtigung.
  3. Bedingungen der Digitalität können die Bildung von Kollektiven eröffnen und damit für Kinder und Jugendliche auch gemeinschaftsbildend sein.

Earth Speakr

Mit dem Earth Speakr hat Olafur Eliasson ein Kunstwerk für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft geschaffen, welches eine Plattform für die Stimmen von Kindern und Jugendlichen bildet. Über die App Earth Speakr erhalten Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 17 Jahren die Gelegenheit, Sprach- und Bildbotschaften zu erstellen, in denen sie ihre Hoffnungen und Wünsche bezüglich ihrer Zukunft auf unserem Planeten vermitteln. Wie für die künstlerischen Arbeiten von Olafur Eliasson bekannt, steht auch hinter dem Earth Speakr ein partizipativer Entwicklungsprozess, an dem nicht nur das «Studio Olafur Eliasson» (SOE), sondern auch externe Expertinnen und Experten (Anm.: Eine an dem Entwicklungsprozess beteiligte Expertin war Kirsten Winderlich.) sowie eine Vielzahl von Kindern mitwirkten. Die Initiierung von Perspektivwechseln findet demnach nicht erst im Rahmen der App statt. Vielmehr ist diese auch konstitutiv für Eliassons künstlerische Arbeitsweise und in diesem Sinne für die Realisierung des Earth Speakr als Kunstwerk mit und für Kinder und Jugendliche.

In seiner Medialität ist dieses zwischen Kindern, Kunst und Klimakrise verortete Kunstwerk unvergleichbar: So animieren Kinder und Jugendliche mittels der App die Orte, an denen sie leben, indem ihre Sprach- und Bildbotschaften von Objekten ihrer Umwelt verkörpert und inszeniert werden. Diese auf ‹Augmented Reality› gründende Animierung der Umwelt findet im Titel des Kunstwerkes, dem Earth Speakr, seine Entsprechung, der eine doppelte Lesart zulässt: indem die Erde durch die Kinder und Jugendlichen zum Sprechen gebracht wird und die Erde zugleich deren Anliegen vorträgt, entsteht eine wechselseitige Verbündung, die Perspektivwechsel für Kinder und Jugendliche eröffnet und das Gefühl der gemeinsamen Koexistenz auf dem Planeten stärkt.

Abb. Earth Speakr App
Abb. 2: Earth Speakr App beim Gestalten des Avatars (links); Screenshot sj/ Verwendung Earth Speakr App (Mitte) Foto: Lars Borges. Quelle: https://earthspeakr.art/de/presse-und-medien/ Beispiel Earth Speakr-Botschaft (rechts): Screenshot sj.

Der Earth Speakr ist als Kunstwerk zu verstehen, das an einer gesellschaftlichen und politischen Transformation interessiert ist und entsprechend Bildungsprozesse durch die Künste anstößt. Ein gemeinsames Bestreben von Gesellschaft, Politik und Künsten liegt in notwendigen Veränderungen eines Klimabewusstseins, das auch bildungspolitische Interventionen einschließt. In diesem Sinne initiiert und gestaltet der Earth Speakr mediale Möglichkeiten einer reflexiven Gemeinschaftsbildung der nächsten Generation. Konkret gibt er dieser den Raum, ihre Sorgen, Wünsche und Bedürfnisse bezüglich der Zukunft der Erde öffentlich zu äußern. Ein damit begründetes Kunstverständnis vernachlässigt die Autonomiebestrebungen der Kunst und setzt auf Wahrnehmungsverschiebungen qua künstlerischer Praxis. Eine solche agiert, wie Gesa Ziemer herausstellt, «ohne Scheu vor direkten gesellschaftlichen Interventionen, Konsequenzen und auch Verantwortungen» (Ziemer 2019). Weitergedacht kann der Earth Speakr als Kunstwerk verstanden werden, das keine Scheu hat, Kindern eine Stimme zu geben. Vielmehr ist sein Anliegen, einen digitalen Raum zur Verfügung zu stellen, der Teilhabe, Zusammenarbeit sowie Sichtbarkeit und auf diese Weise Öffentlichkeit ermöglicht.

Zentrales Moment der App Earth Speakr im Rahmen der Konstituierung von Öffentlichkeit ist das Senden einer audio-visuellen Earth Speakr-Botschaft. Diese Botschaften können mit Bernhard Waldenfels als Antworten verstanden werden, die in ihrer Responsivität von einer medialen Pluralität wie auch Hybridität getragen werden. Die mediale Pluralität wie Hybridität, die wir in der Analyse der medialen Schichtungen noch weiter verdeutlichen werden, verhilft den Kindern und Jugendlichen zu einer Öffentlichkeit jenseits des ihnen gesellschaftlich zugewiesenen Reservats. Mehr noch: Sie ermutigt Kinder und Jugendliche aus einer ‹Reserviertheit› bzw. aus einer ihnen von Erwachsenen abgeforderten Zurückhaltung herauszutreten. Eliasson kritisiert in diesem Zusammenhang, dass in unserer Gesellschaft Reserviertheit von Kindern und Jugendlichen nicht nur erwartet, sondern zudem oft erzwungen wird (Eliasson 2019, 189). Dieses wird u. a. deutlich über den Raum, der für Kinder oftmals regulative und normative Strukturen bereithält. Seine Beobachtungen in diesem Zusammenhang teilt er mit folgenden Worten mit:

«Ich glaube, dass Kinder heute unter permanentem Druck stehen, sich zu beherrschen. Sie werden ständig angeregt, sich zu kontrollieren, was im Gegensatz zu ihren natürlichen Impulsen steht, […].» (Eliasson 2019, 189f.)

Abb. 3 Karte
Karte Earth Speakr. Quelle: https://earthspeakr.art/de/presse-und-medien/

Das Verhältnis zwischen Digitalität und Selbst spielt hier eine entscheidende Rolle, die sich in einer «Verstrickung von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft» manifestiert (Allert, Asmussen und Richter 2017, 9). In diesem Sinne können die audio-visuellen Botschaften der Kinder und Jugendlichen als eigene Stimmen verstanden werden. Durch eine Platzierung der Botschaften auf einer digitalen Weltkarte werden diese, für andere einseh- und einhörbar, mittels des Earth Speakr gemappt. Auf diese Weise wird eine digitale Öffentlichkeit ermöglicht, in deren Rahmen Kinder und Jugendliche nicht nur ihre Anliegen darstellen und anderen begegnen können, sondern darüber hinaus «Wissen über uns und die Welt generieren» (Allert, Asmussen und Richter 2017, 10). Im Zuge dieser digitalen Prozesse und daran anknüpfender analoger Erfahrungen findet eine im positiven Sinne verstandene «Kontingenz- und Komplexitätssteigerung» von Selbst-, Anderen- und Weltverhältnissen statt. «Hören Sie der Zukunft zu», fordert die Earth Speakr-Plattform Interessierte auf, sich den audio-visuellen Botschaften zu widmen. Die Botschaften zeigen in ihrer Pluralität ein Netzwerk von Stimmen, das die jeweilige lokale Situierung der Stimmen im weitesten Sinne in eine Form der Zusammenarbeit für den Planeten bringt.

Der Earth Speakr erzeugt demnach unter den Kindern und Jugendlichen eine Kollektivität im medialen Verbund, durch die sich ihre Anliegen mit den antizipierten Anliegen der Erde verbünden, um den gemeinsamen Erhalt für die Zukunft zu sichern. Dies stärkt eine unter Anderem von Bruno Latour als «Being with earth» Perspektive benannte notwendige Verschiebung im Denken über die Klimakrise (Latour 2018, 86). Der Earth Speakr ermöglicht einen sozialen Zusammenschluss für das gemeinsame Ziel und bekräftigt damit das Bewusstsein gemeinsamer Existenz und daraus resultierender gemeinsamer Verantwortung. Im Hinblick auf Öffentlichkeit stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: Wer spricht? Oder genauer: Wer spricht für und durch Wen? Wir verstehen dies als reflexives Moment eines Gefühls des «Being with earth» und somit als relevant hinsichtlich der Herausbildung eines Klimabewusstseins in seiner anthropozänen Perspektivierung.

Die Bildung eines kollektiven Gefühls des «Being with earth» benötigt Formen der Sichtbarkeit, der Öffentlichkeit und der Teilhabe, um der Komplexität der Klimakrise in der Wahrnehmung begegnen zu können. «Der Klimawandel ist zu groß für unsere Wahrnehmung», schreibt Tobias Haberkorn, Redakteur im Ressort Kultur der ZEIT bestechend einfach wie prägnant (Haberkorn 2018). Diese Beobachtung weist auf die sowohl zeitlich, räumlich als auch ereignishaft dissoziierten Prozesse der Klimakrise hin und begründet darin zugleich eine Hürde des notwendigen, aber fehlenden Klimabewusstseins. Dieses zu bilden und damit einhergehend gesellschaftliches, politisches wie eigenes Handeln zu reflektieren, zeigt sich als Grundbedingung eines kollektiven Gefühls.

Earth Speakr bietet demnach Anlässe des Handelns, des Zeigens und Sich-Zeigens. Uns interessieren vor dem Hintergrund medialer Herausbildungen digitaler Kinder- und Jugendöffentlichkeiten die Strategien der Sichtbarmachung und Sichtbarwerdung sowie der medialen, leiblich-sinnlichen Artikulationen in der schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Earth Speakr. Artikulationen bilden Explikationen von Erfahrungen, die dabei auch soziale Erfahrung implizieren, sofern in der Begegnung eigener und fremder Deutungen von Welt die «Anerkennungsfähigkeit von Artikulationen» (Jörissen 2015, 58) berührt wird. (Anm.: Benjamin Jörissen in Rekurs auf den Sprachanthropologen Matthias Jung.)

In diesem Zusammenhang ermöglicht der Earth Speakr als Kunstwerk eine mediale wie reflexive audio-visuelle Artikulation sowie Sichtbarmachung eigener Bedürfnisse, Wünsche und Botschaften, die in einen erweiterten, kollektiven Bild- und Denkraum Earth Speakr überführt oder besser eingespiegelt werden. Wir sprechen explizit von einem Moment des ‹Einspiegelns› aufgrund des medialen Ineinanderfügens von eigener Mimik, technisch animierten Avataren und Verknüpfungen in der lokalen Umwelt im Erstellen der audio-visuellen Earth Speakr-Botschaften, die auf digitale Kulturen und Praxen verweisen. In Anlehnung an Bernhard Waldenfels stellt sich die mediale Sichtbarkeit und Hörbarkeit auf der Ebene der Earth Speakr-Botschaften in ihrer spezifischen Medialität her, die bspw. auf eine audio-visuelle Formung durch die Technologie des ‹Device› Smartphone rekurriert. (Anm.: Die Unterscheidung einer medialen und reflexiven Sichtbarkeit geht auf Bernhard Waldenfels zurück. Während die mediale Sichtbarkeit bedeute, «daß etwas in einem anderen an der Sichtbarkeit partizipiert», setzte die reflexive Sichtbarkeit an einer «Blickwende» an, durch die man nicht mehr als vorher sieht, aber auf explizite Weise das, was man sieht. (Waldenfels 2012, 107)) Die reflexive Sichtbarkeit setzt an der konkreten Bezugnahme auf die eigene Umgebung und an visuellen Produktionen und Konstruktionen der Earth Speakr-Botschaften an, welche die eigene leibsinnliche Situiertheit sowie die Dramaturgie und Narration der eigenen Botschaft in eine sich abhebende Sichtbarkeit überführt.

Diese Möglichkeit der eigenen Sichtbarkeit und Öffentlichkeit gibt den Kindern und Jugendlichen Macht. Es handelt sich dabei jedoch nicht um Macht im Sinne von Herrschaft, sondern in Anlehnung an Hannah Arendt um Macht als menschliche Fähigkeit, «sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln» (Arendt 1970, 45). Macht ist für Arendt also ein situatives sowie soziales Geschehen, das auch Kinder und Jugendliche initiieren können. Der Earth Speakr unterstützt in diesem Sinne nicht nur Einzelne, die Stimme zu erheben, sondern Viele, sich vom jeweiligen Standpunkt aus zusammenzuschließen, um gemeinsam zu handeln und Kollektive zu bilden. Die Bildung von Kollektiven wird hier durch die interaktive Karte unterstützt, die durch die Aktivierung und Nutzung der App stetig wächst.

Mediale Schichten: Bildungen mediatisierter Öffentlichkeit

Wenden wir uns dem Earth Speakr im Detail zu und analysieren seine medialen Schichten in Bezug auf die Bildungen von Kinder- und Jugendöffentlichkeiten, dann ist ein methodischer Zugriff auf unterschiedlichen strukturellen Ebenen nötig: zum einen auf der Ebene der konkreten Anlage der App und zum anderen auf der Ebene des möglichen Umgangs mit der App. Im Hinblick auf die Ebene des möglichen Umgangs mit der App ist an dieser Stelle nicht nur zu fragen, welche möglichen Transformationsprozesse initiiert werden, sondern auch, wie diese wahrgenommen und erlebt werden können. Ein für uns wichtiger Grundgedanke besteht darin, dass die medialen Schichten nicht nur in der App angelegt sind, sondern dass diese gleichzeitig durch die Handhabung der App aktiviert werden, sich also im Gebrauch bilden. Dieser Ansatz grenzt sich von einer auf die technische Ebene reduzierten wie auch einer instrumentellen Sichtweise auf Digitalisierung ab und betont das transformative Potenzial in der Interaktion und durch Handlungsvollzüge (Allert, Asmussen und Richter 2017, 9f.).

Mithilfe eines methodischen Zugriffs, den wir als ‹Zoom› bezeichnen, soll in diesem Zusammenhang eine Annäherung an die medialen Schichten des Earth Speakr sowohl im Hinblick auf die Anlage wie auch den Umgang vollzogen werden. Dabei wird eine phänomenologische ‹Blickverschiebung› bei gleichzeitiger Anregung der Vorstellungsfähigkeit der Forschenden initiiert. Ausgangspunkt für das Zoom-Verfahren sowie die Einfühlung in mögliche Akteurinnen und Akteure sind jeweils die Handlungsaufforderungen der App. Um entsprechende emphatische Prozesse im Forschungsprozess wie auch im Rahmen seines Nachvollzugs zu unterstützen, haben wir in der Beschreibung des Umgangs mit der App die Ich-Perspektive gewählt. Die Darstellung des leibgebundenen Umgangs aus der Ich-Perspektive einer imaginierten anderen Person ist in dieser Hinsicht als ‹Verstärkerin› des Zoom-Verfahrens zu verstehen. Ausgangspunkt dieser Konstruktion imaginierter Anderer sind dabei unsere individuellen Erfahrungen mit der App. Das Zoom-Verfahren als rahmendes methodisches Vorgehen unterstützt die empathisierenden forschenden Subjekte (Kirsten Winderlich und Stefanie Johns) von dem eingefühlten (imaginierten) Subjekt zu unterscheiden (vgl. Schmetkamp 2019, 18). (Anm.: Zu Beginn ihrer Einführung in die Theorien zur Empathie macht Susanne Schmetkamp deutlich, dass ein wichtiges Kriterium für Empathie die Unterscheidung zwischen empathisierendem Subjekt und eingefühlter Person ist.) Macht die Durchführung des Zoom-Verfahrens doch deutlich, dass sich die Forschenden auf Andere zubewegen, sodass immer ein Abstand bleiben wird.

Die Ausdrucksmöglichkeiten des Kunstwerks Earth Speakr sind durch die Anlage der App und die immer identisch aufeinander folgenden Schritte medial strukturiert. In der Annäherung an die medialen Schichten soll im Rahmen des vorliegenden Beitrags der Schwerpunkt auf den «Möglichkeitsraum» der App gelegt werden, den wir theoriegebunden herausarbeiten möchten. (Anm.: Eine Analyse individueller Sprach-Bild-Narrative wird, aufbauend auf der Theoriebildung, im Rahmen von Einzelfall-Studien folgen.)

Abb. 4 Modell zu den medialen Schichten der App
Abb. 4: Modell zu den medialen Schichten der Earth Speakr App. © Johns 2021.

Den Avatar gestalten
Die App fordert mich auf: ‹Finger bewegen, um dein Gesicht zu gestalten›.

Mit meinen Fingern streiche ich über das Display meines Smartphones und verändere das Gesicht des Avatars, wie z. B. die Breite und Länge der Nase. Ich nehme wahr: ‹Das soll mein Gesicht sein – aber mein Gesicht ist das nicht.› Der Avatar ist in seiner Erscheinungsform und Gestaltung von meinem Gesicht entrückt. Ich sehe die synchrone, übersetzte Spiegelung meiner Mimik im Avatar, doch verbleibt diese in einem vorformatierten Gestaltungsradius der App, der mir ein anderes Gesicht anbietet. Während wir gewöhnt sind, dass uns die Frontkamera des Smartphones im ‹Selfie-Modus› spiegelnd ins Bild bringt, tritt an die Stelle ein Avatar, der mich in einer Weise anblickt wie zugleich spiegelt. Sein Mimik-Repertoire ist begrenzt und normiert, die Technologie dahinter will meine Gefühlsregung erkennen, will meine Redemimik spiegeln und interpretiert diese dabei als traurig, glücklich, verärgert oder überrascht.

Das technisch durch die App initiierte ‹Morphing› erzeugt Momente der Interaktion zwischen mir und dem Avatar, verbindet ihn und mich zu einem Wir. Ich ertappe mich im Spiel mit dem Avatar, wie ich durch wilde Dehnungen und Wendungen meiner Gesichtsmuskulatur seine Möglichkeiten ausprobiere und provoziere. Gleichzeitig erforsche ich tastend die räsonierende Synchronie – wie etwa das Heben und Senken meiner Augenbrauen in dem Gesicht des mich anblickenden Avatars Einzug findet. Ich erfahre dabei permanent meine ‹Spiegelung›, die jedoch eine gebrochene Spiegelung ist, sofern sie von einer echten, vollständigen Spiegelung bspw. in einem Spiegel abweicht. So changieren die technischen Anteile der App und die sich spiegelnden Anteile meiner selbst in einer Fremderfahrung, die eine Faszination zwischen einem Sich-Sehen, einem Sich-anders-Sehen und einem Sehen, wie ich den Avatar durch meine Mimik verändere, ereignet.

Eine Botschaft senden und als eigene Stimme wahrnehmen
Die App fordert mich auf: ‹den Button tippen, um Nachricht aufzunehmen›.

Vertraut aus den Funktionen unterschiedlichster Messenger-Dienste, kann ich meine Stimme aufnehmen. Dieses ‹Recording› erzeugt eine doppelte Erfahrung: Ich spreche und ich höre mich sprechen. Im Einsprechen der eigenen Botschaft tritt der Ereignischarakter der Stimme hervor. Ich befinde mich in einer doppelten, miteinander verbundenen Erfahrung der Gleichzeitigkeit von sprechen und sich sprechen hören. Bernhard Waldenfels hat aufgezeigt, dass zwischen mir selbst als Sprechende und mir selbst als Hörende ein Spalt klafft (Waldenfels 2010, 195). Dieser Spalt bilde sich in der Stellung des hörenden Leibes als «mitschwingender Resonanzkörper», sodass Hören nach Waldenfels «leibliches Sichbewegen, Erregung, Aufschrecken, Mitgerissenwerden, Mitgehen» bedeutet (Waldenfels 2010, 170). Die Fremdheit der eigenen Stimme ist somit bereits im Sich-sprechen-Hören grundlegend.

Das Einsprechen meiner Botschaft ist von einer weiteren Synchronie begleitet – genauer: durchwoben. Erneut sehe ich – nun während ich spreche – die synchrone, übersetze ‹Spiegelung› meiner Mimik im Avatar. Mir fällt auf: ‹Meine Mimik muss deutlich sein, um ihrer technischen Übersetzung registrierbare Möglichkeiten anzubieten, um meine Mimik in die Animation einzuspiegeln›. Neben der doppelten Erfahrung aus einem Sprechen und einem Sich-sprechen-Hören erzeugt die synchrone Einspiegelung meiner Mimik nun eine weitere Ebene leiblicher Erfahrung. Das technische Spiel der App setzt, anders als auf der Audioebene, auf der Bildebene etwas Dazwischen: den Avatar. Er erzeugt eine Maske und damit das Gefühl, eine Rolle zu spielen. (Anm.: Ähnlich wie im traditionellen Puppentheater.) Es fällt mir dadurch leichter, die Fremdheit meiner eigenen Stimme zu ertragen. Der Avatar schiebt sich schützend zwischen mich und die Bildebene und initiiert auf diese Weise Anonymität.

Die eigene Mimik fügt sich in den Avatar ein

Das ‹Recording› meiner Botschaft ist abgeschlossen. Die Audioaufzeichnung und Animierung des Avatars sind verbunden und synchronisiert durch die App. Ich höre meine aufgenommene Stimme in geloopter Wiederholung und sehe während meines Sprechens zugleich den von meiner Mimik zuvor animierten Avatar.

Durch die Aufnahme der eigenen Stimme und Repräsentation im ‹Device› Smartphone erfolgt eine Trennung, die bei Bernhard Waldenfels in Rekurs auf Doris Koleschs und Sybille Krämers Überlegungen zur Stimme (Kolesch und Krämer 2006) als «Dissoziation von Körper und Stimme» beschrieben wird (Waldenfels 2010, 200). Im Zuge einer Verschiebung ins Digitale findet in der Animierung des Avatars eine neue Assoziation von Stimme und digitalem Körper statt. Es kommt mit Waldenfels zu einer «Ersetzung des Stimmkörpers durch ein Stimmmedium» (Waldenfels 2010, 210), die sich im technischen Aufzeichnen von Stimmen ereignet.

Das singuläre Ereignis meines Sprechens wird somit in eine technische, potenziell unendliche Wiederholbarkeit transferiert.

Den Blick durch das Display auf die Umgebung (aus)richten
Die App fordert mich auf: ‹Platziere dein Gesicht, indem du auf das Display tippst›.

Die auf der Oberfläche des Displays und in Interaktion mit der Frontkamera des Smartphones verfasste audio-visuelle Earth Speakr-Botschaft erfährt eine weitere Transformation. Die bisher im Anblick des Smartphones komponierte mimische und visuell-akustische Interaktion zwischen mir und dem Avatar schlägt in einen ‹Durchblick› um, in dem mein Blick durch das Display auf meine Umgebung fällt. Diese Durchlässigkeit des Displays wird durch die Rückkamera und den uns vertrauten Modus der Bildaufnahme erzeugt. Doch zugleich wird diese Vertrautheit gestört: Auch mein Avatar spiegelt sich im Modus der ‹Augmented Reality› in meine Umgebung ein. Diese Erweiterung meiner Realität gibt mir den Impuls, mich und das Smartphone im Raum zu bewegen und den Avatar mit meiner Umgebung interagieren zu lassen.

Durch das Display blickend, suche ich einen Platz für den Avatar. Sein invasives und nachhaltiges Eintreten in meine Umgebung erzeugt Transformationen qua Animierung des ausgewählten Ortes oder Gegenstandes. Dieser transformiert sich zu einem hybriden Körperort, an dem sich Werkzeug-, Sinnen- und Erscheinungsleib spiegeln. Nach Günther Bittner bezieht sich der Begriff Werkzeugleib auf ein konkretes Tun, der Begriff Sinnenleib auf ein Wahrnehmen und der Begriff Erscheinungsleib auf die Darstellung des Selbst durch den Leib (Bittner 1990, 63ff.). Der jeweilige Ort und Avatar als Körperort spiegeln mein Tun, meine Wahrnehmung sowie mein transformiertes Bild von mir selbst gleichermassen und animieren auf diese Weise meine Botschaft.

Die Botschaft mit der Umgebung verknüpfen
‹Drücke den Knopf und beginne mit der Aufzeichnung.›

Die Auswahl des Ortes und Aufzeichnung via Video verdichtet die in den vorangegangenen Schritten erzeugten Schichten medialer Bildungen. Der Körperort zeigt sich in meiner Umgebung und wird auf diese Weise zu einem individuellen Gegenüber, das bereit ist, meine Botschaft, meine Stimme, den durch mich animierten Avatar via ‹Augmented Reality› in meiner Umgebung erscheinen zu lassen, bereit, meine Botschaft mit Anderen zu teilen. Ich hinterlasse etwas in meiner Umgebung durch das Sichtfenster und somit den ‹Sichtbildner› meines Smartphones.

Bildungsprozesse an der Nahtstelle digitaler Öffentlichkeit

Im Rahmen der Einspiegelung der Bedürfnisse und Wünsche in Form audio-visueller Botschaften der Kinder kommt eine «Kultur der Digitalität» (Stalder 2019) zum Tragen, die der Gefahr eines Reservats von Öffentlichkeit, also einer von Erwachsenen für Kinder und Jugendlichen gestalteten Öffentlichkeit, entgegenwirkt. Digitalität ist dabei nach Stalder nicht auf technologische Artefakte begrenzt, sondern verweist als «relationales Muster» vielmehr auf «neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure» (Stalder 2019, 18). Des Weiteren sind nach Stalder unter dem Begriff «Kultur» Prozesse zu verstehen, in denen soziale Bedeutung durch «singuläre und kollektive Handlungen explizit oder implizit verhandelt und realisiert wird» (Stalder 2019, 16). Stalder begreift Kultur darüber hinaus als «Feld der Auseinandersetzung» (Stalder 2019, 17), das im Rahmen der Verhandlungen ständigen Transformationen ausgesetzt ist. In diesem Sinne eröffnet der Earth Speakr nicht nur eine Kultur, die Kindern und Jugendlichen zu Öffentlichkeit verhilft, sondern darüber hinaus Erwachsenen ermöglicht, an den Perspektiven der Kinder und Jugendlichen teilzuhaben bzw. sich mit diesen auseinanderzusetzen. Der Earth Speakr bildet auf diese Weise Anlässe einer «Reflexion durch Andere als Übergänge zum Gemeinsamen» (Johns 2021, 434).

Mit der Einspiegelung der audio-visuellen Botschaften kommen durch den Earth Speakr folgende von Felix Stalder beschriebenen Grundformen der Digitalität zum Tragen: Referenzialität und Gemeinschaftlichkeit. (Anm.: Neben den genannten Grundformen hat Felix Stalder noch eine dritte Grundform der Digitalität, die Algorhitmizität, herausgearbeitet.) Versteht Stalder unter der Grundform «Referenzialität» «die Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion» (Stalder 2019, 13), bezieht sich die Grundform der «Gemeinschaftlichkeit» auf die Möglichkeit, sich mit anderen, die ähnliche oder gleiche Interessen und Ziele verfolgen, zusammenzuschließen und dabei den interpretativen Rahmen, in dem Handlungen und Objekte eine verbindliche Bedeutung erlangen, gemeinschaftlich zu erstellen, zu bewahren oder zu verändern (Stalder 2019, 137). Beide Grundformen wirken im Gebrauch der App während der Einspiegelung und verschaffen den Kindern und Jugendlichen auf diese Weise Öffentlichkeit im Rahmen erlebter Digitalität.

Referenzielle Verfahren können nach Stalder nur dann umgesetzt werden, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die Objekte referenzieller Verfahren müssen ökonomisch wie organisatorisch zugänglich sein. Die Transformation der Ausgangsobjekte darf keinen Tabu- oder Rechtsbruch zur Folge haben. Und schließlich müssen die Objekte der referenziellen Verfahren digital codiert sein (Stalder 2019, 100). Für den Earth Speakr bedeutet dies, dass nicht nur Wege gefunden werden mussten, die App allen Kindern und Jugendlichen kostenfrei zur Verfügung zu stellen, sondern auch, um Bedingungen herzustellen, die den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, rechtssicher ihre Botschaften zu vermitteln. Anders als bspw. im Rahmen «digitaler Bildproteste» (Schankweiler 2019), in denen Text-Bildbotschaften im Netz geteilt und kommentiert werden, kann das von den Kindern und Jugendlichen transformierte ‹Material› nicht durch Dritte verändert werden. Es ist bewusst als jeweils eigene Stimme geschützt.

Im Rahmen referenzieller Verfahren wird nach Stalder bereits mit Bedeutung versehenes Material transformiert mit dem Ziel, neue Bedeutung zu generieren (Stalder 2019, 97). Im Kontext von Earth Speakr ist das ‹Material› die Erde, wie sie sich uns zeigt. Die Kinder und Jugendlichen wählen Orte, Dinge oder Phänomene, die aus ihrer Sicht relevant sind und bringen diese durch die appbasierten Transformationsprozesse digital zum Sprechen. In Abgrenzung zu künstlerischen Formen der Montage, wie beispielsweise aus dem Kontext des Dadaismus bekannt, wo bereits Bestehendes zusammengefügt wird, werden nach Stalder im Rahmen referenzieller Verfahren bestehende Teile ineinandergefügt, indem sie angepasst und verändert werden (Stalder 2019, 98f.). Dieses Ineinanderfügen wird im Kontext von Earth Speakr insbesondere in der Konstituierung sowie Animierung des Avatars durch die eigene Mimik deutlich.

Referenzielle Verfahren vollziehen sich nach Stalder über drei aufeinander aufbauende Handlungstypen: das Lenken der Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge, denen das jeweilige Subjekt Bedeutung beimisst, (Stalder 2019, 177f.) das Herstellen von Verbindungen zwischen den vielen Dingen, auf die Aufmerksamkeit gelenkt wird, sowie die erneute Lenkung der Aufmerksamkeit und Variation von Bedeutung durch Transformation der ausgewählten und ineinandergefügten ‹Dinge› (Stalder 2019, 122). Im Rahmen von Earth Speakr werden die genannten Ebenen referenzieller Verfahren bereits durch den Namen der App bzw. den Titel des Kunstwerks initiiert. Earth Speakr lenkt die Aufmerksamkeit auf unseren Planeten, in dem Sinne, dass dieser zu uns spricht. Earth Speakr eröffnet einen Bedeutungshof für Aspekte, die im Rahmen der Klimakrise Bedeutung haben. Als personifiziertes wie animiertes Gegenüber lädt Earth Speakr ein, Umwelt zu transformieren durch die von Kindern und Jugendlichen eingebrachten audio-visuellen Botschaften und darin artikulierten Positionierungen und Aufforderungen an Andere.

Öffentlichkeit kann sich nicht ohne die Anderen konstituieren. In diesem Zusammenhang nimmt die digitale Grundform der Gemeinschaftlichkeit eine besondere Rolle ein. Gemeinschaftlichkeit entsteht nach Stalder in einem Praxisfeld, das durch informelle wie auch strukturierte Austauschprozesse geprägt ist (Stalder 2019, 136). Kinder und Jugendliche können im Rahmen der App beobachten, wie die Gemeinschaft der Nutzenden stetig wächst. Die sich rhizomatisch ausbreitenden, lokal situierten audio-visuellen Botschaften laden zum Entdecken und Überrascht-Werden ein. Gleichzeitig ist es möglich, entsprechend einer bewusst getroffenen Themenauswahl Verbündete gezielt zu suchen. Gemeinschaftlichkeit intendiert entsprechend neue Handlungs- und Wissensmöglichkeiten, die durch reflexive Interpretation der eigenen Praxis zusammengehalten werden (Stalder 2019, 136f.). Gemeinschaftlichkeit macht demnach mehr «als nur die Aufmerksamkeit der einzelnen Mitglieder aufeinander zu lenken. Über die gemeinsame kulturelle Produktion strukturiert sie auch, wie die Mitglieder die Welt wahrnehmen und wie sie sich selbst und ihre Handlungsmöglichkeiten darin entwerfen können» (Stalder 2019, 146). In diesem Sinne initiiert Gemeinschaftlichkeit kooperative Filter-, Interpretations- und Konstitutionsprozesse (Stalder 2019, 146). Im Rahmen von Earth Speakr findet Gemeinschaftlichkeit nicht nur im Hinblick auf ein ‹Gemeinsam für unsere Zukunft› statt, sondern darüber hinaus über eine Wahrnehmung der Erde respektive Welt durch die jeweils anderen.

Das Kunstwerk Earth Speakr initiiert mediale Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen in dem Sinne, dass unmittelbare Praxen des Zeigens und Sichtbarmachens aus dem konkreten wie sinnlichen Vollzug herausgelöst werden. So können im audio-visuellen Medium Antworten der Kinder und Jugendlichen ästhetische Bildungsprozesse bezogen auf die Wahrnehmung des Selbst wie der Anderen ausgemacht werden. Mit dem Schritt der Veröffentlichung der eigenen Earth Speakr-Botschaft ist die Nahtstelle zu einer digitalen Öffentlichkeit gelegt: Kinder und Jugendliche können ihre Botschaft wiederholt betrachten und hören und sich so ihrer selbst in der Gemeinschaft, ihrer Sichtbarkeit und Öffentlichkeit vergewissern – letztlich ihrer Fähigkeit zu Handeln im Sinne Hannah Arendts bewusst werden und somit Stärkung erfahren.

Ausblick

Die mediale Verdichtung leiblicher Erfahrung vollzieht sich über Schlaufen «durch den Körper» (Stalder 2019, 118f.). Die Kinder und Jugendlichen «springen» gewissermassen in ihre audio-visuellen Botschaften und aus diesen heraus. Über den Earth Speakr erfahren die Kinder und Jugendlichen auf diese Weise ihren Leib als Medium und können die mediale Transformation und eine damit einhergehende Verdichtung als Stärkung ihrer selbst erleben. Die Transformation sowie die wiederholte Betrachtung der audio-visuellen Botschaften kann für die Kinder und Jugendlichen einen Nachhall auslösen, der ihre Handlungsfähigkeit im Rahmen des Earth Speakrs als Weise einer Ermächtigung erfahrbar macht. Fraglich bleibt jedoch, inwieweit die über den Earth Speakr angestossene mediale Bildung von Kinder- und Jugendöffentlichkeit und der damit angestossene Perspektivwechsel in einen Austausch mit den aktuell für die Klimakrise politisch verantwortlichen Erwachsenen gebracht werden kann bzw. welche Wege sich für mögliche Dialoge durch den Earth Speakr finden lassen.Earth Speakr ist darüber hinaus eine App der Vielen! Insofern ist, wie die Karte der Earth Speakr-Botschaften zeigt, das Teilen von Botschaften und deren Verortung tragend für die Ausbildung und Gestaltung digitaler Öffentlichkeit. Kinder und Jugendliche werden nicht nur in die Lage versetzt, ihre Botschaften als gemeinschaftsbildend wahrzunehmen, sondern auch sich selbst im Rahmen eines stetig wachsenden Netzes von Botschaften anderer. Damit haben sie die Chance, sich verbunden zu fühlen – von ihrem jeweiligen (lokalen) Standpunkt aus. Die medialen Bildungsprozesse sind – für die Einzelnen konkret wie im Rahmen der Gemeinschaftlichkeit – unbestimmt, was den Kindern und Jugendlichen ein «Anders-Sehen» wie «Anders-Sein» ermöglicht. (Anm.: So versteht Benjamin Jörissen Bildung als Prozess, «in welchem vorhandene Strukturen und Muster der Weltaufordnung durch komplexere Sichtweisen auf Welt und Selbst ersetzt werden». In Rekurs auf die Bildungstheorie Winfried Marotzkis verdeutlicht Jörissen das Potenzial einer Unbestimmtheit in Bildungsprozessen, von denen ausgehend es um «Möglichkeiten eines Anders-Sehens und folglich Anders-Seins» gehe (Jörissen 2015, 53).) Daran anschließend kann über den Earth Speakr auch für die Erwachsenen ein «Anders-Sehen» initiiert werden. So sind die Botschaften der Kinder als «Bild(ungs)prozesse» immer auch als Bildungsprozesse der Erwachsenen zu verstehen (Winderlich 2022). Die App-Funktion Loud Speakr ermöglicht in diesem Sinne den Erwachsenen, die Botschaften der Kinder und Jugendlichen nicht nur zu entdecken, sondern auch hervorzuheben, zu würdigen und mit anderen zu teilen. Auf diese Weise erhalten die Erwachsenen durch den Earth Speakr die Chance, das Engagement junger Menschen für die Erde zu unterstützen.

Verwendete Literatur

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Anmerkungen

Dieser Beitrag (https://doi.org/10.21240/mpaed/jb18/2022.03.04.X) basiert auf Reflexionen von Kirsten Winderlich und Stefanie Johns, vorgetragen im Rahmen der Joint-Konferenz  „Ästhetik – Digitalität – Macht", durchgeführt vom Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung, der DGfE Sektion Medienpädagogik und des Forschungsprojektes Digitalisierung in der kulturellen Bildung / DiKuBi-Meta im März 2021 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Alle Konferenz-Beiträge sind auf kubi-online wie auch im Jahrbuch Medienpädagogik 18: Ästhetik – Digitalität – Macht, herausgegeben von Benjamin Jörissen, Claudia Rosskopf, Klaus Rummler, Patrick Bettinger, Mandy Schiefner-Rohs und Karsten D. Wolf, erschienen. Für die kubi-online Veröffentlichung wurden Anmerkungen, Zitationsweise, Quellenangaben etc. des Textes von der „Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, MedienPädagogik" übernommen.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Kirsten Winderlich, Stefanie Johns (2022): Perspektivwechsel – Mediale Bildungen digitaler Kinder- und Jugendöffentlichkeit am Beispiel des Earth Speakr von Olafur Eliasson. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/perspektivwechsel-mediale-bildungen-digitaler-kinder-jugendoeffentlichkeit-beispiel-des (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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