Performing TikTok. Anleitungen für „versierte Spieler“ im posthumanen Theater digitaler Kulturen
Abstract
Im Text werden Performances auf der Plattform TikTok als zeitgenössische Form von Theater gelesen, das eine für digitale Kulturen zuträgliche Technikgeschichte des Menschen generiert. In dieser werden moderne Vorstellungen und Ordnungen durch posthumane, d. h. mehr-als-nur-menschliche Konfigurationen abgelöst. Denn nunmehr bilden menschliche und technische Akteure asymmetrische Handlungsensembles, sodass heroische Welt- und Menschheitsgeschichten obsolet und von seriellen Fragmenten kleiner Stories und Remixes schablonenartiger Figuren übernommen werden. Es steht dabei in Frage, ob und wie Methoden der Verfremdung und Ambiguität des Theaterspielens auf der Plattform dabei helfen können, die entstehende „algorithmische Authentizität“ (Wendy Chun) zu unterlaufen, die zur Unterstützung von Empfehlungssystemen und homophilen Netzwerken zu identitären und diskriminierenden Politiken drängt. In diesem Kontext wird für die Ausbildung einer Figur des „versierten Spielers“ plädiert.
Wiederaufnahme: Fachtexte zum Spiel neu entdeckt und befragt
Dieser Beitrag entstand vor dem Hintergrund des Projektes Theater – Auf(s) Spiel setzen. 12 Autor*innen wurden gewonnen, die Diskursfäden des 1998 von Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass herausgegebenen Sammelbandes zur Spieltheorie wieder aufzunehmen. Die Autorin selbst reflektiert in einer Re-Lektüre ihren 1998 erschienenen Artikel „Die Zukunft des Theaters im Zeitalter technologisch implementierter Interaktivität."
(Bitte die Hinweise zur Lektüre am Textende beachten.)
„Alte Texte neu lesen“. Vom Interaktionsparadigma zum posthumanen Performing TikTok
Norma Köhler und Ute Handwerg haben ein interessantes und zugleich sehr herausforderndes Projekt konzipiert und zur Teilnahme eingeladen. Die Aufgabe ist, einen wissenschaftlichen Text neu zu lesen, der aus einem Symposium zur Spieltheorie hervorging, das 1995 vom Institut für Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin ausgerichtet und 1998 u.a. von Hans Wolfgang Nickel als Buch veröffentlicht wurde. Ich wähle den Bezug auf meinen eigenen Text, um die Inhalte von vor ca. 30 Jahren auf den aktuellen Stand zu bringen. Dieser ist durch eine grundlegende Wende gekennzeichnet. Im Text von 1998, der unter dem Titel „Die Zukunft des Theaters im Zeitalter technologisch implementierter Interaktivität“ publiziert wurde, stand eine Wende von Schrifttheater, das als Schauraum auf distanzierte Kontemplation und Reflexion ausgerichtet war, hin zu betont physischen und interaktiven Formen von Theater und Performance in den 1990er Jahren im Mittelpunkt. Unterdessen geht es um eine Posthumanisierung (Loh 2018) von Theater, in der menschliche und technische Agierende nicht mehr nur interagieren, sondern vielmehr in techno-ökologischen Handlungsensembles untrennbar verflochten sind und gemeinsam in wechselseitigen Anpassungen performen. Dieses mehr-als-nur-menschliche und nicht-mehr-moderne, in diesem Sinne posthumane Theater lässt sich exemplarisch und prominent an Performances auf der Plattform TikTok ablesen, auf der Agierende und Algorithmen sich wechselseitig beeinflussend gemeinsam handeln. Dabei entstehen bis dato undenkbare Formen von Welttheater und Weltendramen, wie es auch die Theaterkritikerin Esther Slevogt in einem Gespräch mit der Autorin formuliert. Dieses posthumane Theater kann, wie schon das Schrifttheater oder das Interaktive Theater vor ihm, als Labor für Technikgeschichte(n) des Menschen rekonstruiert werden; eine Funktion, die Theater seit der Antike innehat. In diesen Labs werden theaterspielend Wahrnehmung, Erkennen, Denken sowie Selbst- und Weltverhältnis auf den Stand der technologischen Bedingungen einer historischen Phase gebracht.
Welche Technikgeschichte(n) im posthumanen TikTok-Theater ausgehandelt werden, wird im Folgenden anhand der Verfasstheit der mitspielenden Bestandteile und deren Zusammenspiel vorgestellt. Im Fokus steht dabei die Funktionalität menschlicher Agierender, die in der Figur eines posthumanen versierten Spielers zum Tragen kommt, der im andauernden Wechselspiel einerseits kundig performt und andererseits gleichzeitig ob einer überwältigenden Involviertheit ins Spiel mit den technologischen Beteiligten von diesem performt wird; und immer so fort.
Um die genannten Aufgaben zu bearbeiten, werden zunächst (1) exemplarisch Erzähl- und Spielweisen, Dramaturgien und Ästhetiken sowie Bühnenanlagen der posthumanen Performances auf TikTok skizziert und deren Auswirkungen auf tradiertes „Menschentheater“ sowie auf die Handlungsmacht der Spielenden markiert. Da diese Performances (2) den technologischen Bedingungen der Plattform unterliegen, werden diese als performative Instanzen im Verhältnis zum Spielfreiraum menschlicher Agierender dargelegt. Die (3) Operativität „algorithmischer Authentizität“, ein Konzept von Wendy Chun, mit dem sie die Verfasstheit digitaler Existenz in technologischen Environments von Empfehlungsalgorithmen und deren Regime bezeichnet (Chun 2021a), wird als dritter Mitspielender vorgestellt. Es gilt zu prüfen, inwieweit TikTok-Theater an dieser Authentizität und deren Einschränkungen von solidarischen Handlungsmöglichkeiten teilhat. Schließlich werden (4) Handlungsanleitungen für den versierten Spieler aus der Analyse der drei Mitspielenden abgeleitet, die sich insbesondere aus den im Folgenden genauer zu spezifizierenden theatralen Verfahrensweisen im TikTok-Theater ergeben. Ausgangspunkt der Anleitungen ist, dass die algorithmische Authentizität Ambiguität, Veränderung und Kollektivität zugunsten der Erzeugung einer Identität memeartiger und wiederholbarer Figuren und deren Rollen unterbindet, die die Operationen von Empfehlungssystemen erst ermöglichen. Damit steht in Frage, ob und inwiefern gerade das auf Ambivalenz und Intentionalität beruhende theatralische Spiel eine Methode sein könnte, Reflexionen der posthumanen Technikgeschichte(n) des Menschen zu lancieren. Ein kritischer Blick ist so wichtig, weil die posthumanen Geschichten auch von der asymmetrischen Position des Menschen im techno-humanen Handlungsgefüge erzählen, der der versierte Spieler etwas entgegensetzen könnte.
Mitspieler 1: Das posthumane TikTok-Theater
In Performances auf der Plattform TikTok, die sich in kurzen Videos von gewöhnlich 15 bis 60 Sekunden Dauer vollziehen, entsteht eine eigenwillige Form von Theater, die auf den ersten Blick nicht als solches erkannt und anerkannt werden mag. Es wird nämlich beispielsweise nicht wie im traditionellen Theater oder in der Performancekunst auf Bühnen in Live-Präsenz agiert. Vielmehr erscheinen die Performer*innen in zumeist alltäglichen, oftmals privaten Räumlichkeiten im virtuellen Environment einer Internetplattform in einer virtuellen, d. h. asynchronen Präsenz. Zudem treten nicht professionelle Schauspieler*innen auf, sondern Darsteller*innen und Influencer, die eine eigene, persönlich-nonchalante Form des Performens entwickeln, die nichts mehr mit Habitus und Methodologie des tradierten Schauspielens zu tun hat. Diese seltsamen Performances setzen gleichwohl Theater in seinen Grundbedingungen fort, da sich Menschen in den Mini-Videos sorgfältig inszeniert und zu Figuren, oftmals ihrer selbst, stilisiert zur Schau stellen und Geschichten erzählen, die von TikTok-Nutzer*innen goutiert und kommentiert werden. Ist dieser Schritt zur Akzeptanz einmal getan, kann das TikTok-Theater als zeitgenössisches Labor für Technikgeschichte(n) des Menschen in digitalen Kulturen wahrgenommen und analysiert werden. In ihm wird prominent und im Hinblick auf die Konstitution digitaler Kulturen in techno-humanen Ko-Operationen in adäquater Weise eine Umstellung des bis dato gekannten Menschentheaters auf ein posthumanes Theater vorgenommen. Dabei werden unter dem Eindruck des Performens und Performt-Werdens von Algorithmen und technologischen Environments Welt- und Menschheitsgeschichten erzählt, die nicht mehr mit modernen Vorstellungen erfasst werden können, da mehr-als-nur-menschliches Theater gespielt wird. Es gilt im Folgenden die Erzählweisen und Dramaturgien, die Konstitution von Figuren und Rollenspiel und deren Handlungsspielraum sowie die Rollen und Funktionen der Zuschauenden, die selbst wie auf einer Bühne agieren, beispielhaft zu ermitteln.
Posthumane Geschichte(n), by David Müller
Die Performances von David Müller, der leider seit September 2022 nicht mehr auf TikTok aktiv ist, sind ein probates Beispiel dafür, wie die Wende hin zu einer posthumanen Welt- und Menschengeschichte im TikTok-Theater vonstatten geht und wie sie aussieht (Vgl. TikTok-Account von David Müller). Er setzt nämlich in seinen Performances auf der Plattform an die Stelle der großen, modernen und postmodernen Welt- und Menschheitsgeschichten, die immer wieder auf Theaterbühnen zur Aufführung kamen und kommen, Mini-Serien kleinster und regelrecht belangloser Geschichtchen. Diese werden entsprechend von skurrilen, wenig heroischen und vertrauenserweckenden Figuren verkörpert. Das Performen von David Müller ist aus einem weiteren Grund von besonderem Interesse, um die Posthumanität des TikTok-Theaters zu bestimmen. Da er Schauspieler am Theater Stuttgart ist, kommt mit seinen Performances Theater ins TikTok-Theater, sodass einerseits Ersteres auf den posthumanen Stand gebracht wird und andererseits die Veränderungen des Theaters, die durch den Einzug auf die Plattform entstehen, besonders deutlich ablesbar werden. Im Hinblick auf die Ausbuchstabierung der Figur des versierten Spielers sind David Müllers Performances zudem von großer Relevanz, da sich in ihnen TikTok-Theater und die Methodologie des intentionalen Theater-Spielens reiben. Aus diesem Umstand können im vierten Kapitel die Anleitungen für eine Kultivierung der Figur des versierten Spielers entwickelt werden. Dass David Müllers Performen auf TikTok ein probates Untersuchungsfeld ist und nicht als wenig aussagekräftig abgetan werden kann, zeigt sich auch an dessen Reichweite. Der Schauspieler versammelte seit seinem Eintritt in die Plattform während des zweiten Lockdowns in der Corona-Pandemie im Herbst/Winter 2020/21 bis September 2022 fast 440.000 Follower und erhielt beinahe 15 Millionen Likes. Das TikTok-Theater erreicht als algorithmisches Welttheater mithin ein größeres Publikum als nur die üblichen Kulturexpert*innen und dürfte deshalb kulturelle Wirkung erzielen.
David Müllers posthumane Welt- und Menschheitsgeschichte setzt sich aus Serien zusammen, in denen unterschiedliche Themen in kurzen Videoclips behandelt und von Figuren, die David Müller spielt, dargestellt werden. Dazu zählen beispielsweise die regelrecht sinnfreien Aktionen einer Figur, die sich Sherlock Holmes nennt. Sie kann anders als der weltbekannte Detektiv keinen einzigen Fall lösen und spaziert stattdessen im Trenchcoat ins Meer oder geht nonchalant in einem Fluss baden (Vgl. TikTok-Account David Müller, Header Sherlock Holmes). Eine weitere skurrile Outsider-Figur führt immer wieder seltsame Aktivitäten im öffentlichen Raum aus, wie etwa den Versuch, ein umgekipptes Verkehrsschild zum Aufstehen zu bewegen oder durch ein Fenster in eine andere Dimension zu gelangen, bis es ihr endlich gelingt, einen Handstand in einem Tunnel auszuführen (siehe: David Müller, Outsider-Figur). Schließlich gibt es eine Serie, in der der Performer auf zwei Beinen wie ein Hündchen bellend auf Menschengruppen zuhüpft und Sprüche über Peinlichkeit ausruft (vgl.: David Müller, Peinlichkeitsregel).
Diese Mini-Erzählungen sind, so kann es gelesen werden, Bestandteile einer posthumanen Geschichtsschreibung. Diese unterläuft zum einen in der Belanglosigkeit der Handlungen und Erzählungen sowie in der lapidaren Schilderung eine besondere Stellung des Menschen. Sie lässt zudem ein zusammenhängendes Ordnungs- und Sinnsystem zur Welterfassung regelrecht zur Farce werden. Zum anderen wird diese Geschichte nicht mehr allein von Menschen erzählt. Die losen Teile, die sich in Serien gruppieren oder vereinzelt stehen können, finden vielmehr mit Hilfe der Performanz eines Algorithmus sowie durch die tastenden Umherwanderungen der Betrachtenden zusammen, die diese auf den Oberflächen ihrer Geräte vollführen. In dieser Geschichtsschreibung des technologischen Zufalls sowie der Singularität gibt es dann auch keine Kausalitäten und Logiken mehr. Die einzelnen Bestandteile dienen vielmehr als Anschlusspunkte und potenzielle Verknüpfungsangebote. Die posthumane Geschichtsschreibung wird so zu einem Puzzlespiel, aus dem sich keine Ganzheiten mehr bilden lassen und Subjekte der Geschichte zu charmanten Witzfiguren geraten.
Figuren-Assemblagen und Connecting points. Oneya performt den angry man
Wo es keine heldenhaften Menschen mehr gibt, ist auch das Subjekt der Performances in Frage gestellt, das im modernen Theater seit dem 18. Jahrhundert zum einen als ein zwar fragiles, aber gleichwohl doch grundsätzlich handlungsfähiges und einzigartiges Selbst entworfen worden war. Zum anderen wurde im Theater mit dem Spiel von Rollen ein von diesen abweichendes Selbst der Darstellenden generiert. Ganz anders verhält es sich im TikTok-Theater, denn hier werden die Darstellenden zu den Figuren, die sie sich ausgedacht haben. In dieser posthumanen Wendung wird das autonome und sich in Distanz zu seiner Umgebung befindende moderne Subjekt obsolet.
Die Performances des TikTokers Oneya D’Amelio, genannt angryreaction, sind paradigmatisch für diese posthumane Situation des Subjektes im TikTok-Theater (vgl. TikTok Account von Oneya). Oneya (geboren 1998) ist seit Januar 2020 auf TikTok tätig und hat seither über 27 Millionen Follower und mehr als 570 Millionen Likes gesammelt (Stand Dezember 2022). Sein Markenzeichen ist die aggressiv-wütende, positive Bewertung der Handlungen anderer TikToker*innen, die er häufig in sogenannten Duetten teilt. Dabei erscheinen im Format des Split Screen das Ausgangsvideo sowie der filmische Kommentar der Person, die sich zu ersterem verhält. In diesen Performances schreit Oneya seine positiven Beurteilungen und Zuwendungen mit einem furchterregenden wütenden Gesichtsausdruck heraus und belegt die Performances und Aktionen der Betrachteten mit dem Adjektiv gorgeous. Mit dieser Figuren-Vorlage wurde Oneya, so die in den Medien erzeugte und kolportierte Erfolgsgeschichte, im August 2020, zu dieser Zeit obdachlos in seinem Wagen lebend und filmend, schlagartig, gleichsam über Nacht zum TikTok-Star, denn er erhielt innerhalb von 24 Stunden eine Million Follower. In seinem ersten TikTok-Video kommentierte Oneya in einem Duett die Geschichte einer jungen Frau, die einen Kuchen buk und dafür mit negativen Beurteilungen und Kommentaren überschüttet wurde (vgl. Video „Oneya Kuchen“). Oneya dagegen lobte den Kuchen und verwehrte sich gegen Beleidigungen anderer Personen.
Bei der genaueren Bestimmung des Verhältnisses von Darstellendem (Oneya) und Figur zeigt sich, dass im TikTok-Theater die moderne Vorstellung von einem Selbst ebenso unterlaufen wird wie die Trennung von Rolle/Figur und Darsteller*innen im traditionellen Theater. Ziel ist nämlich nicht die Selbst-Darstellung, obwohl Oneya auf den ersten Blick als er selbst erscheint, sondern vielmehr die Erzeugung einer Marke, die zum Meme, gar zur Ikone wird. Dies wird beispielsweise daran erkennbar, dass Oneya das Konterfei des angry man auf Hoodies verkauft. An diese Vorlage schließen sich unzählige und immer neue Variationen des Konterfeis an, die seine Follower in eigenen Filmen beisteuern und dem angry man damit huldigen. Es werden beispielsweise Kissen mit Oneyas Porträt gestrickt, Zauberwürfel genutzt, um es nachzubauen oder Kuchen in Gestalt des Bildes gebacken. Oneya wiederum bezieht sich in Duetten auf diese Filme und erzeugt damit eine Sammlung seiner Konterfeie und deren Variationen, was wiederum weitere Serien von Variationen auslöst, die Oneya aufgreifen und kommentieren kann (vgl. Video „Oneya Sammlung Konterfeie“). Im Fokus steht mithin die Wiedererkennbarkeit, mit der die Blase angry man entsteht und sich weiter in Kopien und Remixes verbreiten kann, indem sie anderen Nutzer*innen sowie Oneya selbst Anschlüsse für Übersetzungsketten bietet. Effekt dieser Methode ist, dass Oneya letztlich als Selbst zu einer Figur wird, die immer wieder sich selbst als Rolle performt.
Es geht allerdings nicht um die Fixierung einer einzigen Figur, sondern vielmehr um eine Figuren-Assemblage, die sich ob ihrer memeartigen Konstitution aus Offenheit für Variabilität und Iterativität konstituiert. Oder anders: Eine Figur ist leer und dazu prädestiniert, ein Netz von Connecting-Points zu bilden. Modelle von einer unverwechselbaren Person und Identität werden somit abgelöst und durch nicht-subjektivische Funktionseinheiten in techno-humanen performativen Environments ersetzt. Es geht nämlich nicht um eine Person oder ein Subjekt, sondern um die Wertigkeit der Figur in TikToks Verwertungs-, Belohnungs- und Vernetzungssystem.
Je weiter Maximierung der Reichweite und Konnektivität fortschreiten, desto mehr lösen sich dabei die Performances in eine Mimesis an die Figuren-Assemblage auf. Die Crux ist dabei, dass der Performende nur dann ein Jemand ist, wenn er die Figur, die er im Performen auf TikTok einst entwickelte, ist und bleibt. Ist die Figuren-Assemblage also einmal erzeugt, ergreift sie Besitz vom Performenden und führt ihn in ein Regime der andauernden Adaption und Antizipation, das einen graduellen Handlungsspielraum erlaubt. Dieser Funktionalität wohnt kein Selbst, keine Identität und keine Selbstsetzung inne, sondern nur die Anschlussfähigkeit für den Erhalt der medialen Existenz, die am fragilen Faden von Algorithmen sowie der Aktivitäten anderer Figuren hängt; eine wahrlich posthumane Existenz.
Zuschauen als Inszenierung
In diesem posthumanen Theater werden schließlich Funktionen und Handlungsweisen der Zuschauenden verändert. Sie werden zu einem partizipativen Faktor, wie sich in den Kommentarspalten auf TikTok zeigt. Diese technische Vorrichtung wird selbst zur Bühne, auf der sich die Zuschauenden (im Sinne einer technischen Funktionseinheit) als Figuren in Form von Slogans zum Gesehenen präsentieren, so auch die Einschätzung von Caspar Weimann, Theatermacher im Bereich digitaler Performances, in einem Gespräch mit der Autorin.
Diese Konstitution wird ebenso in Duett-Videos der Zuschauenden zu Oneyas Konterfei äußerst sinnfällig. Aus Zuschauenden werden Machende und Performende, die nicht einfach nur Fans sind. Vielmehr verspricht der eigene Beitrag zum Idol Oneya mehr Klicks für den eigenen Account, da man im Daten- und Verlinkungsfluss eines TikTok-Stars agiert und navigiert.
Posthuman. Jenseits des Menschen-Theaters
An den Rändern des traditionellen und institutionellen Theaters entsteht mithin ein weltweit situiertes und erreichbares Theaterhaus mit unzähligen Bühnen und Dramen; ausgenommen sind die Länder, in denen TikTok gesperrt ist. In diesem Welttheater organisieren sich die Performenden in Abhängigkeit von einer hegemonialen Ordnung selbst, die von einem Algorithmus sowie von Geschäftsinteressen bestimmt ist und zugleich in diesem Rahmen über eine gewisse Wildwüchsigkeit verfügt.
Folgt man also der Ausweitung von Performance und Theatralität auf TikTok, dann zeigen sich gravierende Erschütterungen des traditionellen Verständnisses von Theater und der mit ihm ausgebildeten Institutionen. Dies betrifft z.B. die Unterteilung in professionelles Stadttheater, freie Szene und Laientheater, das System der Kuratierung von Theater durch Expert*innen, die Institutionalisierung der Theaterausbildung oder das Zelebrieren eines besonderen Theaterpublikums. Wird TikTok als eine neuartige Form von Theater gelesen, und nicht einfach als eine Plattform für kürzeste Filme von Performances abgetan, dann zeigen sich im Gegensatz zum traditionellen Theater eine eigene, posthumane Ästhetik, Infrastruktur und Organisationsform. Im TikTok-Theater können, wie gesehen, alle performen, kuratiert wird von einem Algorithmus und flüchtigen Likes menschlicher Agierender. Professionelles Schauspiel und am Theater geschultes Zuschauen erübrigen sich in der Kunst der Meme-Erzeugung zum Zwecke der Optimierung von Vernetzungen.
Diese Technikgeschichten des TikTok-Theaters leisten einen Beitrag zur techno-humanen Ko-Operativität (vgl. etwa medizinische Operationen, teil-autonomes Fahren) in digitalen Kulturen, die deren Posthumanisierung entspricht (Loh 2018). Denn Menschen handeln, gestalten und entscheiden nicht mehr alleine, sondern im Verbund mit algorithmischen Operationen. Es gilt mithin, diese techno-humane Ko-Operativität mit Hilfe einer im TikTok-Theater erzeugten und erprobten posthumanen Mentalität zu erlernen und performen zu können, und sich dabei gut zu fühlen (Leeker 2021a, Leeker 2021b). Dies ist umso wichtiger, als die posthumane Situation tradierte Ordnungen von Anthropologie, Politik, Sozialität, Geschichte und Ökonomie infiltriert (vgl. Pias 2019). Dabei werden vor allem das moderne, mit Vernunft und Autonomie ausgestattete Subjekt (Sprenger 2014, Leeker 2022) sowie an demokratischen Aushandlungen im Dissens orientierte politische Organisationsformen (Pias 2019, Leeker 2021a) problematisch und von einem Modell interdependenter techno-humaner Relationsgefüge sowie von Praktiken konsensueller Rituale abgelöst (ebd.).
Die neue Theaterform entspricht also nicht nur einer Befreiung von theatralen Normen zugunsten der Entfesselung einer allgemeinen Kreativität, sondern sie operiert vor allem mit Sogwirkungen, die zu Zwanghaftigkeit sowie zu Unterwerfung tendieren. Um zu ermitteln, welche Möglichkeiten sich im TikTok-Theater für Widerständigkeit gegen das Regime der Plattform ergeben, sind zunächst deren Funktion- und Wirkungsweisen zu betrachten.
Mitspieler 2: Die Plattform TikTok
Zum TikTok-Theater gehört unvermeidbar und essentiell ein nicht-menschlicher Mitspieler, nämlich die technologischen Bedingungen der Plattform. Diese bestehen u.a. aus algorithmischen Verfahrensweisen, die die Verteilung von Filmen und Nutzenden organisieren, sowie aus Tools für die Erstellung und Bearbeitung der notorisch-kurzen Videos. Dazu zählen etwa Filter, Effekte, Schnitt, Untertitelung oder Vertonung (Böhm et al. 2021b; Bösch, Köver 2021). Diese Bedingungen geben den Handlungsrahmen für die Ästhetik der gefilmten Performances auf TikTok vor und setzen zugleich die gestalterischen Potenziale der Machenden frei. Zu den Bedingungen zählt zudem das Geschäftsmodell von TikTok (Cui 2021). Beide Faktoren bilden zusammen die nun darzulegende Logik des Performing TikTok, d.h. des Zusammenspiels von Performt-Werden und Performen in einer noch nicht dagewesenen techno-humanen Ko-Operativität.
Strukturelle Anlage und techno-dramaturgische Grundlagen. Sogwirkungen für Konnektivierung
Die Plattform ist einerseits als Spielpartner im TikTok-Theater dominant und drängt exzessiv zur Immersion und zugleich ist sie einladend und offen für die Partizipation und Operationen der menschlichen Mitspielenden. Dieses ambivalente und paradoxale Zusammenspiel macht die besondere Sogwirkung von TikTok aus; sie gibt Freiheit für bessere Konnektivierung und Konnektivität.
Dominanz und Sogwirkung zeigen sich etwa umgehend beim Aufrufen der App. Mit der Einteilung in die Rubriken Folge Ich und Für dich (For-you-page) wird nämlich eine erste Sondierung vorgenommen, der weitere Kanalisierungen und Regelungen folgen. Denn mit Hilfe der Rubriken kann man diejenigen betrachten, denen man folgt, oder neuen Angeboten nachgehen, die der Algorithmus aus seinen Berechnungen zu den angeblichen Interessen einzelner Nutzender vorschlägt, und auf diese Weise neue Entdeckungen machen. Dabei starten alle Filme automatisch, so dass man umgehend vereinnahmt ist und ein Angebot durch Wegwischen aktiv unterbinden muss, sollte man es nicht rezipieren wollen. Es geht mithin um ein aggressives Verleiten zur Immersion.
Der Drang zur Partizipation wird, einmal im Meer der Videos angekommen, durch die Formate Stitches und Duette befördert und zugleich technologisch vorgegeben. In diesen Anwendungen werden Videoschnipsel von Machenden durch die Nutzenden gleichsam entwendet und neu verwertet. Damit werden alle TikTok-Projekte zu einer Art Allgemeineigentum, vorausgesetzt man hat Stitches und Duette in den Datenschutzeinstellungen nicht blockiert. Effekt ist, dass die Performenden die Kontrolle über ihre Figuren und Geschichten verlieren, für das Zulassen dieser Entwendung aber eine möglicherweise höhere Verteilung über die Plattform gewinnen; zumindest zeitweise.
Ein weiteres dramaturgisches Format sind Challenges, die sich zu schnell wechselnden Trends entwickeln. Dabei werden den Nutzenden Aufgaben gestellt, derer sie sich in einem eigenen Video annehmen und sich dabei über Hashtags immer weiter vernetzen und verstricken (siehe Video „challenges“).
Zwei weitere Darstellungsmodi und Ästhetiken entstehen aus dem techno-humanen Zusammenspiel, die die technologischen Bedingungen ästhetisieren und ausbuchstabieren. Es handelt sich erstens um Nischen (Smith, T. 2021), mithin eine ästhetische Formalisierung von Alleinstellungsmerkmalen, die sich in der Erfindung von Figuren, Narrativen oder Stories umsetzen kann. Nischen zielen auf die Erzeugung von Marken, Memes oder Icons, die unverwechselbar und zugleich losgelöst von einer Person existieren, und als solche wiederholbar, variierbar und anschließbar sind. Nischen erschaffen derart die viel zitierten Blasen, die Fans rekrutieren und binden und zugleich auf Vernetzung angelegt sind: eine technologische und algorithmische Dramaturgie. Des Weiteren werden zweitens Vibes (Chayka 2021) als Gestaltungsmittel eingesetzt, mit denen TikTok-Filme vor allem Stimmungen, Atmosphären oder Befindlichkeiten erzeugen und verteilen. Vibes meint zudem den Modus von Erkennen und Wissen auf TikTok, die ebenso auf Stimmungen, Schwingungen und Resonanzen beruhen, mithin auf etwas, das man erfasst, ohne es klar und umfänglich in Worte und Begriffe fassen zu können, die ein Verstehen zudem auch nicht vollumfänglich erfüllen könnten (Beckers 2021). Es geht also um ein Netz von Erregungen und Vibrationen, in das alle Beteiligten eingewoben werden. Auf dieser Grundlage werden sie zu einer Gemeinschaft und als solche einer Epistemologie und Wissenskultur der Ahnungen ausgesetzt.
Es zeigt sich mithin, dass das TikTok-Theater sich aus der Anpassung an die technologischen Bedingungen sowie den Partizipationszwang der Plattform konstituiert und dadurch seinen posthumanen Status erhält. Der Handlungsspielraum der Agierenden, auch im Hinblick auf die Figur des versierten Spielers, steht in Frage.
Vermutungen zum Algorithmus. Strategien für ein hegemoniales Empowerment
Entscheidend für Performing TikTok ist der Empfehlungsalgorithmus, der die Plattform organisiert und regiert. Dessen konkrete Funktionsweisen sind trotz immer wieder auftauchender Leaks, zuletzt 2021 (Böhm et al. 2021b; Bösch 2021; Smith, B. 2021), nicht umfänglich bekannt. Es kommt ob dieses Umstandes im Performen von und auf TikTok zu einem Agieren in Geheimnissen und Vermutungen sowie im Geheimnisverrat, aus dem Epistemologie und Mentalität des Performing TikTok entstehen. Mit den Vermutungen kommt bei Agierenden nämlich die Idee und Illusion auf, sich gleichsam als versierter Spieler selbstermächtigt auf TikTok verhalten zu können (Som 2022).
Ziel ist es dabei auf Seiten der Rezipierenden wie der Creators, den Algorithmus zu bedienen, um die eigenen Videos einer großen Verteilung zuzuführen und ihn dabei zugleich für die eigenen Zwecke umzudeuten. Man ist also nicht schlicht den technologischen Bedingungen und Verfahrensweisen ausgeliefert und unterworfen, sondern ko-existiert vielmehr mit diesen in einer Mischung aus Vorgaben und eigenen Gebrauchsweisen (vgl. auch Brettinger et al. 2021). Diese Mischung zeigt sich bei den Rezipierenden, wenn sie mit ihren Verhaltensweisen den Vermutungen zur Funktionsweise des Algorithmus folgen. Diese besagen, dass die Erstellung von Vorschlägen von der Dauer des Anschauens eines Beitrages, von Aktivitäten wie Likes, Kommentare oder dem Teilen von Beiträgen, von Informationen zu einem Beitrag wie z.B. Hashtags oder Beschreibungen und schließlich von Einstellungen des Gerätes wie Sprache oder Standort abhänge (Böhm et al. 2021a, dies. 2021b). Es kommt dann in diesem Rahmen zu regelrechten Spielen mit dem Algorithmus, wenn die Rezipierenden etwa mit Absicht über die Videos swypen, um nicht erfasst zu werden, oder den Algorithmus in die Irre locken wollen und Videos anschauen, die sie gar interessieren (Bösch 2021). Die Bewertung der Aktivitäten der Performenden durch den Algorithmus, die über die Verbreitung von Filmen entscheidet, komme zustande, so die Erzählung, unter Berücksichtigung der Länge der Filme, der Art der Hashtags, mit denen sie versehen werden, der Nutzung von Trends und Effekten in den Filmen, der Kontakte zu anderen Creators, des Engagements beim Liken und Kommentieren sowie der Häufigkeit von Posts. Die eigene Konnektivität entscheidet mithin über die Reichweite der Projekte.
Es entsteht also eine andauernde, wechselseitige Anpassung zwischen menschlichen und technischen Agierenden, die auf die zunehmende Verteilung von Beiträgen sowie auf die Erhöhung von Konnektivität abzielt. Dieser Anpassung unterwerfen sich die Machenden allerdings kreativ und lustvoll, da sie einen reellen Handlungsspielraum verspricht. Mit dieser ambivalenten Konstitution verweisen die Performenden und Machenden auf den Typus des versierten Spielers, der im Spiel handelnd seine Handlungsmacht teilt und dabei zugleich verliert.
Techno-Ökonomie. Unbezahlte Arbeit und freiwillige Unterwerfung
Diese Situation setzt sich im Geschäftsmodell der Plattform (Cui 2021) fort, mit dem das Zusammenspiel von technologischen Bedingungen und menschlichen Agierenden vorangetrieben und zugespitzt wird. Da das Geschäftsmodell nämlich u.a. auf Zahlungen von Firmen fußt, die von der Frequentierung der Plattform abhängen, ist die Konnektivierung für immer mehr Partizipation gleichsam Gold wert. Denn je mehr Nutzende TikTok hat, desto aussichtsreicher ist die Werbung einer Firma auf der Plattform und desto höher ist deren finanzielles Engagement.
Diese Werbung folgt einer bemerkenswerten Strategie. Sie wird von den Performenden selbst durchgeführt, wie das schon kurz eingeführte Format der Challenges, insbesondere der Hashtag Challenge zeigt. Ein Beispiel ist die sogenannte #denimchallenge (siehe Video #denimchallenge), die vom US-amerikanischen Bekleidungsunternehmen GUESS gesponsert wurde. In dieser Challenge werden Videos erstellt, in denen sich die Performenden mittels der von TikTok angebotenen technischen Möglichkeiten für Filmschnitt in Windeseile ihrer ärmlichen Kleidung entledigen und im neuen GUESS-Outfit fröhlich tanzen und posieren. Für diese Werbung agieren Influencer und hochrangige Creators sowie wenig bekannte Nutzende, die über den Hashtag dem Trend in der Hoffnung folgen, mehr Aufmerksamkeit für den eigenen Account zu erlangen. Werbung realisiert sich auf TikTok mithin durch unbezahlte Arbeit, für die man allerdings einerseits eine Art Lohn in Form einer gesteigerten Aufmerksamkeit und Verteilung erhält. Andererseits kommt es zu einem Lustgewinn durch Kreativitäts- und Produktionsschübe, die durch immer neue Performanceformate ausgelöst werden. Es geht mithin im TikTok-Theater um eine regelrecht posthumane Vertretung von Regie und Intendanz.
Versierte Spieler
Im Austausch mit den genannten Bedingungen entstehen derart Modell und Figur des versierten Spielers. Dieser verfügt über ein lückenhaftes und vages Wissen zum Algorithmus, kann die gestalterischen Möglichkeiten einsetzen und ist sich des Regimes der Konnektivierungs- und Verteilungsoptimierung im Performing TikTok durchaus bewusst. In diesem Rahmen hat der versierte Spieler einen begrenzten Handlungsspielraum, in dem Abweichungen und Neuerungen sogleich algorithmisch vereinnahmt werden. Es wäre also verfehlt, nur von einer Unterwerfung zu sprechen. Vielmehr geht es im Performen im TikTok-Theater zum einen darum, die besondere Regierungsweise der techno-humanen Ko-Operativität zu trainieren, nämlich die freiwillige und lustvolle Anpassung an diese. Zum anderen ist der versierte Spieler zugleich ein aktiv und freudig Sich-Untergebender und verantwortlich Mitspielender.
Mitspieler 3: Algorithmische Authentizität (Wendy Chun) im Regime von Empfehlungssystemen
Die beschriebene Konstitution von TikTok ist Teil einer umfassenden Kultur und Politik von Empfehlungsalgorithmen (Ziegler, Loepp 2019), die digitale Kulturen bezogen auf Sozialität und Ökonomie sowie Subjektivität mit konfiguriert. Ziele dieser Empfehlungskulturen sind die Vorhersage sowie die Beeinflussung künftigen Verhaltens menschlicher Agierender, z.B. beim Kauf von Produkten zum Zwecke der Gewinnmaximierung (Lehner 2017; Lehner 2018; Unternährer 2021). Empfehlungsalgorithmen sind darüber hinaus ausschlaggebend bei der Wissensproduktion, der Bildung von Partnerschaften, der Rezeption von Kunst sowie der Subjektbildung oder der Erzeugung sozialer Netzwerke (Lehner 2017, Unternährer 2021). Dabei generieren sie die Filterblasen, mit denen sich das Internet gliedert und ordnet, sodass nur noch Ausschnitte von Welt aus technologischer Sicht angeboten werden.
Ein wichtiger Teil der Empfehlungskulturen, die grundlegend für die in diesem Text avisierte Auseinandersetzung mit TikTok-Theater und der ambivalenten Figur des versierten Spielers sind, ist eine ihnen eigene Form von Authentizität, die Wendy Chun als „algorithmische Authentizität“ bezeichnet (Chun 2021a:152 – 184, 165 – 171; Chun 2021b; Burton/Chun 2023). Sie entsteht durch Denk- und Weltmodelle, die sich in den technischen Verfahrensweisen der Empfehlungssysteme manifestieren und in ihnen operativ werden. Um also im vierten Kapitel die Möglichkeiten des versierten Spielers im Umgang mit TikTok-Theater als Performing TikTok zu erkunden, ist das Chun’sche Modell zu skizzieren. Es wird dabei vermutet, dass das in Aussicht gestellte widerständige Potenzial des versierten Spielers u.a. in Methoden des eher traditionellen Theaterspielens liegt, die sich zudem vom bis dato beschriebenen TikTok-Theater unterscheiden müssten. Denn die algorithmische Authentizität, die auch das TikTok-Theater konstituiert, gründet auf einer Unterbindung all dessen, was ein willentliches Theaterspielen ausmachen kann, nämlich z. B. ambivalente Figuren- und Rollenspiele, solidarische Kollektive oder latente und ergebnisoffene Andeutungen.
Empfehlungsalgorithmen. Homophilie und Eugenik - Toxische Denkmodelle in Aktion
Algorithmische Authentizität entsteht nach Wendy Chun aus teils historischen Wissensgeschichten und heutzutage widerlegten Denkmodellen. Sie sind in Empfehlungssysteme eingeschrieben und schlagen sich in deren technologischen Verfahrensweisen mit dem Effekt nieder (Chun 2021a:152 – 164, 36 – 86), dass sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit operativ werden.
Es geht erstens um das Prinzip der Homophilie (Chun 2018). Dieses stammt aus der soziologischen Forschung der 1950er Jahre von Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton und fand und findet in der digitalen Netzwerkkonstruktion Anwendung (Lazarsfeld, Merton 1954). Das Prinzip besagt, dass sich Gleiches mit Gleichem verbinden würde (hier und ff.: Chun 2021a, Kapitel 3; Kurgan, Brawley, House, Zhang, Chun 2019). Das Denkmodell der Homophilie liegt auch der Erzeugung von Netzwerken sowie den Verfahrensweisen von Empfehlungsalgorithmen da zugrunde, wo sie sich aus der Identifizierung von Nachbarschaften konstituieren (Chun 2018). Damit werden auch in digitalen Infrastrukturen die Effekte von Homophilie wirksam, die nach Wendy Chun als soziale und politische Organisationsform hochgradig diskriminierend ist, da sie Aus- und Eingrenzungen bedingt, die zudem mit rassistischen Zuschreibungen und Wertungen aufgeladen werden (Vgl. exemplarisch: Kurgan, Brawley, House, Zhang, Chun 2019). Ein Resultat homophiler Netzwerke ist dann die Unterbindung von Diversität. Diskriminierung wird gleichsam zum Status quo der algorithmischen Verwaltung von Existenz, Wissen und Sozialität.
Zweitens rumort nach Wendy Chun in den Empfehlungssystemen eine unfassbare eugenische Vorgeschichte, die sich durch den in ihnen wirksamen Korrelationskoeffizienten nach Karl Pearson einstellt. Mit diesem Koeffizenten wird über das Notieren der Verteilung von zwei Faktoren deren linearer Zusammenhang statistisch ermittelt und erst hergestellt (Chun 2021:165 – 171). Bei Pearson ging es um 1900 dabei um ein eugenisches soziales Engineering, um mit Hilfe der Regulation von Fortpflanzung eine homogene Bevölkerung von Höchstleistern zu ermöglichen. Der Koeffizient sollte dabei die Merkmale der Besten und deren Verteilung ablesen, um die Erhöhung ihrer Anzahl zu kontrollieren. In algorithmischen Prozeduren werden nach Wendy Chun eugenische Korrelationen weiterhin zugrunde gelegt und operationalisiert. Dies geschieht beispielsweise, wenn bei der Verwaltung und Organisation von Wirklichkeit in automatischen polizeilichen Vorhersagen Faktoren wie Hautfarbe, Bildung und Kriminalität in einen Zusammenhang gebracht werden (Chun 2021: 36 – 86). Wird dann auf dieser Grundlage eine vermeintlich höhere Kriminalitätsrate in bestimmten Vierteln und Bevölkerungsgruppen entdeckt, entsteht ein wirklichkeitsgenerierender, rassistischer Effekt der Koeffizientenrechnungen. Diese teilen mit der eugenischen Ausrichtung im 19. Jahrhundert den Umstand, dass eine Essentialisierung von Faktoren, etwa Intelligenz oder Ethnie vorgenommen wird, wobei Umweltfaktoren oder Lernen als auslösende Kriterien ausschlossen werden. Das Vergangene konfiguriert auf diese Weise das Zukünftige, sodass Neues verunmöglicht wird, und die Vorgeschichte als Denkfigur, mithin mentalitätsgeschichtlich, sowie verrechnungstechnisch präsent und virulent ist. Spiele mit Empfehlungsalgorithmen auf TikTok müssten bezüglich ihrer subversiven Potentialität und Wirksamkeit also zwingend im Hinblick auf ihre Teilhabe an dieser Vorgeschichte reflektiert werden.
Technische Verfahrensweisen von Empfehlungssystemen
Die algorithmische Authentizität der Empfehlungskulturen führt ausgehend von diesen Mentalitäten und Denkmodellen ein strenges Regime, in dem die menschlichen Agierenden zu Identität gedrängt und dabei Ambiguität und Intentionalität, mithin u.a. Qualitäten des Theaterspielens, möglichst ausgeschlossen werden. Denn nur so sind Personen in den technologischen Bedingungen der Empfehlungssysteme überhaupt erkennbar, adressierbar und vorhersagbar, was für die Erzeugung valider Empfehlungen unerlässlich ist.
Dieser Drang erklärt sich aus den Verfahrensweisen der Systeme, die in tendenziell unsicheren Datenlagen mit der Erfassung von Ähnlichkeiten zu tragfähigen Empfehlungen kommen wollen. Dieser Königsweg zeigt sich etwa, wenn die Systeme inhaltsbasiert operieren und den Nutzenden ähnliche Objekte empfehlen wie die, für die sie sich gerade interessierten (Inhaltsbasierte Empfehlungsdienste). Kollaborative Empfehlungsdienste ermitteln dagegen Ähnlichkeiten anhand der Interessen und Bewertungen anderer Nutzender, um weitere Objekte vorzuschlagen. Dazu werden entweder gespeicherte Daten genutzt (speicherbasiert), oder auf der Grundlage von modellbasiertem Lernen Vorhersagen für Interessen abgeleitet. Algorithmische Authentizität meint mithin bezogen auf diese Verfahrensweisen die Anpassung an eine technische Operativität, mit der die zielgenaue Erfassung und Verarbeitung von großen Datenmengen in den Empfehlungssystemen sichergestellt werden soll.
Zur Anwendung kommt zudem das Latent Factor Model (Bruns et al. 2016:57 – 65; Chun 2021a:162-164), das sowohl für eine andere, nicht-diskriminierende Gestaltung von Netzwerken sowie für die ausstehenden Anleitungen für den versierten Spieler von besonderer Bedeutung ist, da Latenz ein Weg der Widerständigkeit gegen erzwungene Identität und Eindeutigkeit sein könnte. Genau dies wird aber unterbunden, indem die latenten Faktoren zu einer berechenbaren Einheitlichkeit gebracht werden. Dies zu tun, wird neben der kollaborativen Filterung und der Erzeugung diskriminierender Nachbarschaftsmethode eine Korrelierung der latenten Faktoren eingesetzt. Dazu werden die Eigenschaften von Objekten sowie Präferenzen und Wertungen von Nutzenden verbunden und in einer Matrix operationalisiert mit dem Ziel, in dieser fehlende Bewertungen zu generieren (Bruns et al. 2016:57). So entstehen zum Zwecke der Steigerung von Absatz überraschende Vorschläge, die zugleich ähnlich genug mit dem bereits Bekannten sind. Das heißt, es kommen technologische Verfahren wie Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Annährungen zum Einsatz. Damit wird eine Epistemologie wirksam, mit der man sich in einer Welt andauernder Spekulation und Unsicherheit befindet, die selbstbezüglich aus dem techno-humanen System hervorgeht und sich in diesem immer weiter aufheizt. Die aufkommende Unsicherheit wird allerdings gleichwohl umgehend reguliert und unterbunden, indem die Differenzen zwischen Bekanntem und Unbekanntem über mathematische Verfahren immer mehr angeglichen oder weitere Aspekte wie z.B. Trends oder das Alter der Bewertungen von Nutzenden berücksichtigt werden (Bruns et al 2016: 64 – 65). Deshalb kommt es nach Wendy Chun auch bei dieser Methode zu einem „more of the same“ (Chun 2021a:163) und die Potenziale von Latenzen für mehr Diversität werden nicht fruchtbar gemacht (ebd.).
Algorithmische Authentizität versus Ambiguität und Kollektivität
Algorithmische Authentizität konstituiert sich mithin aus restriktiven und identitären Verfahrensweisen. Sie geht zudem ob der Korrelierungen von Daten in Nachbarschaften mit diskriminierenden und rassistischen Grundierungen einher und sie operiert mit bloßen Wahrscheinlichkeiten, die sich auf Epistemologie und Mentalität auswirken. Algorithmische Authentizität verfolgt somit eine eigene Politik, der sich Nutzende, auch auf TikTok, aussetzen und an die sie sich anpassen. Zu deren performanten Bedingungen zählt die Zurichtung von Personen auf klare Charakteristika (z.B. demografische Angaben) und Verhaltensweisen, die die menschlichen Agierenden erst identifizierbar und vorhersehbar machen; auf TikTok entspricht dies den memeartigen Figuren. Es geht auf TikTok wie in allen Empfehlungssystemen um die Erzeugung einer Figur, die vor allem eingängig und schnell reproduzierbar ist, wobei die Grenzen zwischen Person und Figur verschwimmen; sie werden eins.
In diesen Bedingungen der Authentifizierung werden die Teilnehmenden schließlich auf einen Status miteinander konkurrierender Individuen gebracht (Chun 2021a:167), da konzertierte Aktionen von Benutzenden die Authentifizierung und somit die Maximierung der je intendierten Ziele erschweren könnte. Das heißt, kollektive und kooperative Zusammenschlüsse und Handlungsaktionen sowie ambivalentes Theaterspielen, bei dem nicht klar wäre, wer jemand ist, werden problematisch und folglich unterbunden.
Anleitungen für (menschliche) versierte Spieler: Intentionales Theater-Spielen im TikTok-Theater
Das „Drama der Daten“, wie Wendy Chun es nennt, könnte allerdings auch anders gespielt werden (Chun 2021a:173 – 184; Chun 2016). Wo diese Umgestaltung ansetzen und wie sie aussehen könnte, ist abschließend im Hinblick auf ein erstarkendes Reflexions- und Handlungsvermögen des versierten Spielers darzulegen. Denn diese Überlegungen sind zugleich Grundlage dafür abzuwägen, wo posthumanes Performen im TikTok-Theater algorithmische Authentizität unterstützt und inwiefern eine willentlich durchgeführte theatrale Performance, wie sie bei David Müller ablesbar ist, einen Beitrag zur Reformulierung Ersterer, zumindest zu deren Reflexion leisten kann. Das Verhältnis von posthumanem TikTok-Theater und gewollt theatral-posthumanem Performen (David Müller) ist mithin zu fokussieren und mit den Vorschlägen für Interventionen in algorithmische Authentizität von Wendy Chun abzugleichen.
Interventionen nach Wendy Chun
Aus der Forschung von Wendy Chun lassen sich, an dieser Stelle nur in aller Kürze, vier Bereiche für Interventionen in algorithmische Authentizität ableiten (Chun 2016; Chun 2021a:173-184; Chun 2021c). Sie plädiert erstens dafür, die latenten Faktoren in algorithmischen Empfehlungssystemen als Latenzen bestehen zu lassen, statt sie wie beschrieben zum Eindeutigwerden zu bringen. Zweitens wären statt diskriminierender und segregierender Nachbarschaften solche der Multiplizität herzustellen (Galloway 2022). Drittens müsste das andere Drama aus dem Zusammengehen von Figur mit der Person der Agierenden in der algorithmischen Authentizität ausbrechen, um Identifizierbarkeit sowie Diskriminierung zu unterbinden, zumindest zu stören. Schließlich wäre es viertens wichtig, Kollektive zu bilden und als solche zu handeln (Chun 2021a:173-184).
Theater-Spielen im TikTok-Theater. Posthumane-Intensionale-Theater-Authentizität
Ein Beispiel dafür, wie algorithmische Authentizität durch einen Eingriff in das für sie konstitutive Verhältnis von Figur und Darstellendem (hier David Müller) befragt und gestört werden kann, ist eine Performance von David Müller zum Thema (vgl. Video „David Müller zu Authentizität“). In dieser wird die Überblendung von Figur und Darstellendem brüchig, da sie auf eine zwar posthuman ausgelegte, aber zugleich theatral reflektierte Authentizität trifft. Dabei wird die Eindeutigkeit algorithmischer Authentizität in Frage gestellt.
In der Performance sitzt der Schauspieler auf einer abseits gelegenen Mauer in einem Park. Er wendet sich direkt an die potenziellen Zuschauenden und sagt, dass er sich jetzt einmal traue, ein „ganz persönliches, ein privates“ TikTok-Video zu machen, in dem er keine Rolle spiele, sondern, so der O-Ton: „wo ich eben nicht herumschreie und peinlich bin, sondern wo ich Ich bin.“ Letztlich gehe es ihm darum, sich nicht einzuschränken mit den Rollen, die er erfunden habe, und mal ganz neue, nämlich private und persönliche Videos zu machen. Er lobt die App ob ihrer Freiheiten und Möglichkeiten und konstatiert begeistert, dass man so viele unterschiedliche und kreative Videoformate erfinden und umsetzen könne.
Der Schauspieler wirkt in diesem Video sehr authentisch. Er zeigt sich ein wenig schüchtern und verschämt. Die Haare stehen hoch und sind verstrubelt und erwecken so den Eindruck von Privatheit und Intimität. Die Stimme ist sanft und zart, wirkt teils unsicher und emotional bewegt.
Zugleich sind es ausgerechnet diese Marker fürs Authentische, die ein wenig überzogen erscheinen, und dadurch Zweifel an der Performance aufkommen lassen. Sie werden zu einem Hinweis darauf, dass dieses vermeintlich persönliche Video inszeniert und gespielt sein könnte. Es kommt mithin bei David Müller der Verdacht auf, es könne sich um eine Performance von Authentizität handeln, wodurch der Agierende erst authentisch wirkt, oder ist.
Damit unterwandert David Müller auf besondere, nämlich eine spezifisch theatrale Weise das Einswerden von Figur und Darsteller, das algorithmische Authentizität auszeichnet. Dieser geht es nicht darum, wie Wendy Chun ausführt, sich selbst treu zu sein, sondern das einmal entworfene Bild strikt aufrechtzuerhalten, was für die Effizienz der Empfehlungsalgorithmen auf der Suche nach Ähnlichkeiten und Nachbarschaften unabdingbar ist (Chun 2021). Das Selbst ist mithin, so Wendy Chun, als eindeutig identifizierbare Marke wertvoll (Burton/Chun 2023), sodass man, wie etwa Donald Trump, entgegen des modernen Modells von Authentizität als Aufrichtigkeit (Trilling 1980) gerade in der Lüge äußerst authentisch wirken könne (Chun 2021a:140 - 149).
David Müller attackiert mit seiner Performance nicht diese nicht-mehr-moderne, posthumane Unaufrichtigkeit, sondern rüttelt vielmehr an der identitären Konstitution algorithmischer Authentizität. Er zielt nämlich nicht auf die Annahme, es könne ein wahres Selbst hinter der Inszenierung der Performance liegen und zum Vorschein kommen, womit er moderne Konzept von Authentizität aufrufen würde. Die Inszeniertheit von Authentizität im Rollenspiel von Figuren wird vielmehr als Hinweis auf ihre Konstruiertheit ausgestellt, die ihrer Wandelbarkeit entspricht. Es geht mithin um eine Reflexion von Authentizität in sozialen Medien als Zwangsmechanismus. Dabei generiert die Konstruiertheit zwar zum einen eine posthumane Authentizität, da das moderne Selbst und damit die moderne Version von Authentizität als Sich-treu-Sein abgeschafft sind, konfrontiert diese zum anderen aber zugleich mit ihrer theatralen Version. Letztere widersetzt sich mittels des Operierens mit Ambiguität, Zweifel und der Lust am vorsätzlichen Verwirr-Spiel der Eindeutigkeit algorithmischer Authentifizierung. Im posthumanen Theater wird also das Selbst zur Leerstelle und aus dieser Absenz entspringt im theatralen Zugriff die Freiheit auf TikTok, von der David Müller in seiner Performance sprach. Sie entsteht in der Unhintergehbarkeit des Performens auf der Plattform, die in ein Spiel mit Figuren umgedeutet werden kann, statt, wie es auch beim angry man von Oneya deutlich wurde, dem immer gleichen Bild der Figur zu folgen. Statt der Wiederholung der immer gleichen memetischen Figuren könnten nun Diversität und Vielfalt sowie ein mit Intentionalität versehener Handlungs- und Entscheidungsspielraum für die Performenden aufkommen. Für den versierten Spieler im TikTok-Theater heißt dies, dass er zum Schau-Spielen und Theater-Spielen tendieren sollte.
Theater-Spielen im TikTok-Theater. Posthumane Sozialitität der Peinlichkeit für Affizierung
Ein weiterer wichtiger Faktor algorithmischer Authentizität ist wie dargelegt, dass sie Kollektivität und Solidarität unterbindet. Denn obwohl nach Ähnlichkeiten gesucht wird, geht es zum einen darum, die personalisierten Agierenden zu vereinzeln. Zum anderen sind die homophilen Netzwerke zutiefst diskriminierend und anti-solidarisch. Vor diesem Hintergrund kam der Ruf nach Kollektivität in Chuns Liste der Interventionen auf. Bei David Müllers theatral durchsetztem TikTok-Theater taucht nun ein sehr bemerkenswerter Modus auf, Sozialität in seinen Performances herzustellen. Es sind ausgerechnet Peinlichkeit und Scham, die in modernen Gesellschaftsformen vermieden werden sollten, die für eine zutiefst posthumane und zugleich theatral ins Reflexive gewendete Gemeinschaftsbildung sorgen.
Wie diese Gemeinschaft entsteht und wirkt, lässt sich an einer Performance-Serie von David Müller mit dem Titel „Peinlichkeitsregeln“ nachvollziehen, die zwölf Episoden umfasst. Darin bewegt sich der Schauspieler, wie eingangs skizziert, auf seinen Beinen hüpfend durch den öffentlichen Raum und imitiert, von Zeit zu Zeit bellend, mit Oberkörper und Armen ein um Aufmerksamkeit bettelndes Hündchen. In dieser Gestalt und Rolle nähert er sich Menschengruppen. So taucht er etwa vor einem großzügig verglasten Bahnhofsgebäude auf und bewegt sich auf eine Gruppe junger Menschen zu mit dem Satz: „Peinlichkeit kommt auf dich zu, nicht umgekehrt“ (vgl. David Müller, Peinlichkeitsregel Nr. 12. „der zeigt mit dem Finger“). Die ungewollt in die Aufmerksamkeit Gezerrten reagieren teils verstört, teils peinlich berührt, teils belustigt, manche weichen zurück (vgl. dazu auch Video zu „Peinlichkeitsregel No. 8). Es kommt mithin zu einer Vermischung von Sich-Peinlich-Verhalten und Peinlich-Werden, was sich auf David Müller bezieht, mit Fremdschämen für Menschen, die sich in der Öffentlichkeit abweichend verhalten. Dieser Modus betrifft die zufällig an einem Ort Anwesenden, die ungewollt und ungefragt in die Peinlichkeits-Performance hereingezogen werden. Letztlich sind die so Ausgestellten diejenigen, die ob ihrer Reaktionen peinlich werden. Denn sie werden gleichsam an den Pranger gestellt, wenn sie während der Performance gefilmt und dann auf TikTok publik gemacht und damit den Kommentaren der auf der Plattform Zuschauenden ausgesetzt werden. Die Fans wiederum kommentieren unter dem Video von David Müller das Verhalten der Betroffenen und machen sich wenig freundlich über sie lustig.
Diese kleine Szene zeigt zunächst, dass diese Form der Sozialität wenig sozial ist, denn es geht um die Bloßstellung, das Lächerlich-Machen sowie die Diffamierung anderer. Eine umfängliche Solidarität fällt damit aus. Es entsteht allerdings zugleich eine virtuelle Gemeinschaft von gleichsam unversöhnlichen Interessensgruppen, wenn etwa die Fans von Müller sich in den Kommentarspalten einig sind über die Peinlichkeit der Betroffenen und mit dem sich peinlich verhaltenden Akteur sympathisieren. Die Betroffenen dagegen solidarisieren sich gegen Letzteren. Der Akteur schließlich bleibt in einer ambivalenten Position, denn er wird gefeiert und zugleich ausgegrenzt. Mit dieser Gruppenbildung über Peinlichkeit wiederholt die Performance der Peinlichkeit also die Bedingungen algorithmischer Authentizität und verhindert derart eine nicht-homophile solidarische Kollektivierung. Die Performance setzt also auf eine Ordnung, die der der Nachbarschaften in der algorithmischen Authentizität entspricht. Im Dunstkreis der algorithmischen Authentizität wird bei David Müller derart eine wahrhaft algorithmische Sozialität aufgebaut. Diese lässt sich mit Robert Pfallers Analysen zu Scham beschreiben (Pfaller 2022). Er verweist auf eine paradoxe Struktur, da digitale Kulturen völlig schamlos mit allen Mitteln Scham herstellen würden. Es gälte, die anderen peinlich zu finden, um daran zu verdeutlichen, dass man selbst nicht so sei wie die Beschämten. Beschämen und Peinlichmachen entsprächen dabei einer Form der Ausgrenzung sowie des Stillstellens von Austausch und Auseinandersetzung. Was eine solidarische Sozialität herstellen sollte, unterbindet diese folglich, da die moderne soziale Ordnungsstruktur zerfalle, in der man sich gegenseitig regulierte und in Schach hielt, indem abweichendes, peinliches Verhalten unterlassen und unterbunden wurde (vgl. auch Döring 2015).
Diese Wende hin zu einer posthumanen, algorithmischen Sozialität dürfte nachhaltig sein. Denn wie die Peinlichkeits-Performances zeigen, wird der öffentliche Raum zu einem unsicheren Ort; man könnte jederzeit in die unangenehme Situation der öffentlichen Bloßstellung geraten. Sozialität wäre unter den Bedingungen letztlich zu vermeiden.
Gleichwohl ist diese asoziale, posthumane algorithmische Sozialität nicht nur asozial. Denn zum einen entspricht sie einer Option, Sozialität in den Bedingungen virtueller Wirklichkeiten überhaupt zu ermöglichen. Zum anderen verfügt sie über Potenziale, die asoziale algorithmische Authentizität hin zu Kollektivität zu überschreiten.
Der Beitrag der Peinlichkeits-Performances zum ersten Punkt lässt sich aus einer für digitale Kulturen symptomatischen virtuellen Sozialität ableiten, die sich signifikant in notorischen Zoom-Meetings während der von der Pandemie bedingten Lockdowns zeigte (Leeker 2023). Mit ihnen entstanden virtuelle Realitäten, zu denen auch soziale Medien als telepräsente Formen der Kommunikation gehören, die eine eigene und sehr vitale Wirklichkeit bilden. Es geht um ein Miteinander in Distanz (distant socialising), das eigene Bedingungen ausbildet. Dazu zählt etwa eine posthumane digitale Liveness (vgl. auch Hammelburg 2020; Leeker 2023), die im Gegensatz zu analogem Theater und Performance nicht mehr von der Präsenz der Beteiligten am gleichen Ort und zur gleichen Zeit abhängig ist; auch Performances im TikTok-Theater und das Miteinander in den Kommentaren sind mit Ausnahme der Live-Schaltungen von Creators asynchron. Die Peinlichkeits-Performances werden in diesem Kontext als eine Art der Vergemeinschaftung und Solidarisierung in virtuellen Realitäten lesbar, mit denen eine eigene virtuelle Sensibilität für die algorithmische Sozialität hergestellt werden kann. Denn Peinlichkeit und Scham transportieren und verbinden über analoge und virtuelle Wirklichkeiten hinweg, da sie affizierend und ansteckend sind. Man kann zum einen das Befinden der Beschämten nachfühlen und sich zum anderen selbst peinlich finden. Derart würde eine Sozialität der Peinlichkeit zum Generator von virtuell-analoger Gemeinschaftsbildung und David Müller würde ihr mit Hilfe des TikTok-Theaters den Weg ebnen.
Wendy Chun stößt mit ihrem Vorschlag, wie die Abwendung von Kollektivität im Dunstkreis algorithmischer Authentizität unterwandert werden könne, in eine ähnliche Richtung der Affizierbarkeit (Chun 2021c). Grundlage dafür seien paradoxerweise ausgerechnet die diskriminierenden Nachbarschaften in Netzwerken, vorausgesetzt, sie würden aus einer anderen Perspektive betrachtet. Sie könnten nämlich als Hinweis darauf gesehen werden, dass zwischen den in den Empfehlungssystemen erfassten und verrechneten Personen eine Verbundenheit besteht, da man miteinander verwoben ist und Handlungen wechselseitig affiziert würden (ebd.). Aus algorithmischer Korrelation würden auf diese Weise, so Chun, Ko-Relationen (ebd.). Die algorithmische Sozialität der Peinlichkeit, die in Müllers Performances zelebriert wird, könnte in diesem Kontext als ein theatral und performativ überhöhter affizierender Modus gesehen werden, der Ausgangspunkt für weitreichendere Gemeinschaftsbildungen ist.
Für den versierten Spieler folgt aus diesen Analysen, dass er die Regeln der Sozialität im posthumanen, und insbesondere im virtuellen TikTok-Theater kennen sollte, um mit diesen zu spielen und sie als Regungen virtuell-analoger Sozialität zu pflegen.
Theater-Spielen im TikTok-Theater. Subtilität und Beobachtung der feinen Unterschiede
Im TikTok-Theater entsteht zudem schließlich das Potenzial, Latenz als Möglichkeit fruchtbar zu machen, andere und überraschende Korrelationen jenseits der von Wendy Chun monierten Wiederholung des Gleichen in den algorithmischen Operationen aufkommen zu lassen. Verantwortlich dafür ist ein Vibe-Wissen der Augenzwinkerei (vgl. auch Beckers 2021, Chayka 2021), wie es genannt werden könnte. Denn David Müller unternimmt in seinen Performances, wie zum Beispiel in seinen kleinen Welt- und Menschheitsgeschichten gezeigt, eine feingeistige und subtile Subversion, die man nicht eindeutig und vollumfänglich in Worte fassen, sondern vor allem erahnen kann, und die zudem eher kleine Reibungen als große Brüche hervorbringen möchte. Das Verdienst von Feingeistigkeit und Subtilität ist, dass sie einem Hochhalten von Differenz (zu Differenz vgl. Galloway 2022) entsprechen. Dieses Hochhalten materialisiert sich in David Müllers Ensemble der Figuren-Assemblagen, mit dem eine Differenz der Ähnlichkeit in den Fokus gestellt und damit eine Schulung im feinen Beobachten befördert wird. Erst mit diesem könnten andere, nämlich latente und nicht mehr identitär erfassbare Formen von Nachbarschaften möglich werden, die eine neue Form von Diversität in algorithmischen Environments ermöglichen könnten.
Zudem liegen seine Beiträge zu Trends auf TikTok immer ein wenig daneben, sind latent und ein bisschen anders. Latenz macht sich breit, die nicht mehr unterbunden werden kann, sondern gepflegt und gefördert wird.
„Go for it!“ versierter Spieler!
David Müller kann vor diesem Hintergrund als eine Figur posthumaner Bildung ausbuchstabiert werden (Leeker 2022). Es geht um die Figur des versierten Spielers, die als ein Symptom des Zustandes digitaler Kulturen gelten kann sowie zugleich einer Methode der Widerständigkeit gegen die algorithmische Authentizität in diesen entspricht. Diese Figur ist darin ausgebildet, die algorithmischen Spiele und Performances mitzuspielen und damit im Performen immer schon digitale Kulturen mit zu generieren. Zugleich kann sie zumindest stellen- und zeitweise intervenieren und kleine Aufklärungen platzieren, die gleichwohl sogleich Teil des Spiels werden. Dies ist doch ein probater Ausgangspunkt dafür, Big Data als Drama anders zu erzählen und zu spielen, wie Wendy Chun vorgeschlagen hat.