Offenheit und Irritation in kreativen Gestaltungsprozessen – Transfer- und Reflexionsimpulse für die wissenschaftliche Produktion von Wissen?
Abstract
Der Beitrag geht der Frage nach, inwiefern ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen kreativen Gestaltungsprozessen und wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen ausgemacht werden kann, und welche Rolle dabei vor allem die Momente der Offenheit und Irritation spielen. Um diesen Fragen nachgehen zu können, werden zum einen theoretische Konzepte aus der Ästhetischen Theorie und der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung dargestellt. Zum anderen werden erste empirische Ergebnisse eines Lehr-Lernforschungsprojektes zu kreativen Gestaltungsprozessen Studierender präsentiert. Für die Kulturelle Bildung ist der Beitrag deswegen bedeutsam, da er nicht nur aufzeigt, wie im Rahmen kreativer Gestaltungsprozesse verschiedenste Sinnzusammenhänge erzeugt werden, die sozusagen als kleinste Einheit kultureller Bildungsprozesse begriffen werden können, sondern weil er die oftmals marginalisierten kreativen Ausdrucksmöglichkeiten in ihrer Bedeutung auch für die wissenschaftliche Produktion von Wissen und die Reflexion eigener biographischer Erfahrungen zum Thema macht.
Für das Entstehen von etwas Neuem, beispielsweise in Hinblick auf Artefakte, die im Rahmen kreativer Gestaltungsprozesse entstehen, in Hinblick auf neues Wissen, das im Wissenschaftskontext generiert wird oder bezüglich neuer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsordnungen, die sich im Zuge von Bildungsprozessen vollziehen können, spielt die Haltung einer Offenheit etwas Unbekanntem, Unvorhergesehenem und Ungewissem gegenüber, das irritieren oder auch faszinieren kann, sowie die Bereitschaft eigene Vorannahmen zu hinterfragen und sich produktiv verunsichern zu lassen − so die Annahme dieses Beitrags − eine große Rolle.
Die Bedeutung von Krisen, Irritationen und Prozessen des Nicht-Verstehens wird sowohl in erkenntnistheoretischen Überlegungen qualitativer Sozialforschung (vgl. z.B. Kruse 2015; Strauss/Corbin 2010; Kelle/Kluge 2010), im Rahmen der Biographieforschung (vgl. z.B. Schütze 1989, 2001) als auch in bildungstheoretischen Konzeptionen (vgl. z.B. Koller/Marotzki/Sanders 2007; Koller 2018) grundlegend thematisiert und diskutiert. Irritationen und Krisen werden demnach zum möglichen Anlass für die Generierung neuen Wissens, zum Motor für Wandlungsprozesse oder transformatorische Bildungsprozesse. Dabei sind die den Perspektiven innewohnenden Prozesse oftmals verschiedenen Zugzwängen unterworfen: forschungspragmatischen, forschungsökonomischen und auch biographisch existentiellen. Das heißt, dass ein nicht-produktiver Umgang mit Krisen und Irritationen zu fehlenden Innovationen, biographischen Verlaufskurven und habituellen Erstarrungen führen kann.
Etwas anders gelagert scheinen Krisen und Irritationen in ästhetischen Prozessen zu sein, zeichnen sich diese doch gerade dadurch aus, dass sie befreit sind von existentiellen, alltäglichen sowie moralischen und pragmatischen Zwängen oder der Notwendigkeit etwas im theoretischen Sinne erkennen zu müssen und unter Begriffe und Konzepte zu subsumieren (vgl. Kant 1790/1974; Mollenhauer 1996; Borg-Tiburcy 2019). In diesen Zusammenhängen wird oftmals von einem Moratorium oder einem Zwischenraum gesprochen, in dem frei von diesen Zwängen sowie Handlungs- und Entscheidungsdruck agiert werden kann.
Die Bedeutung von Krisen und Irritationen in kreativen Gestaltungsprozessen als eine weitere, vergleichende Perspektive zu erkenntnistheoretischen, biographieanalytischen und bildungstheoretischen Konzeptionen wurde in diesem Zusammenhang noch nicht systematisch erörtert, auch wenn es zur vergleichenden Diskussion schöpferischer, kreativer Akte in Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft bereits Denkanstöße gegeben hat (vgl. z.B. Koestler 1966; Fischer 2014).
Im Rahmen des Beitrags soll dieser Spur weiter gefolgt und es soll aufgezeigt werden, inwiefern wissenschaftliche Erkenntnisprozesse und kreative Gestaltungsprozesse strukturlogisch Ähnlichkeiten aufweisen. Das bedeutet, dass zum einen danach gefragt wird, wie die Dynamik und Rahmenbedingungen für das Entstehen von etwas Neuem in kreativen Gestaltungsprozessen und in der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung theoretisch beschrieben werden und inwiefern sich Ähnlichkeiten zwischen diesen unterschiedlichen Prozessen ausmachen lassen. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, inwiefern kreative Gestaltungsprozesse auf besondere Art und Weise − nämlich aufgrund ihres potenziell ästhetischen Charakters − dazu beitragen können, die Haltung einer Offenheit insgesamt und einer Offenheit gegenüber Irritationen einnehmen zu können, die auch im Wissenschaftskontext notwendig ist, um neues Wissen zu generieren.
Um diesen Fragen nachgehen zu können, werden in Abschnitt 2 dieses Beitrags grundlegende Gedanken von Friedrich Schiller über die ästhetische Erziehung des Menschen aus dem 18. Jahrhundert vorgestellt. Schillers Briefe zählen auch heute noch zu den bedeutendsten Dokumenten, wenn es darum geht, ästhetische und bildungstheoretische Aspekte miteinander zu verknüpfen. Insgesamt verbindet Schiller auf einzigartige Weise Annahmen zur Kunst bzw. Ästhetik mit politik- und gesellschaftsverändernden Momenten und bietet daher nach wie vor eine zentrale theoretische Referenz für den Diskurs zu Kultureller Bildung. Schiller macht sich dabei vor allem für die jeweilige Kräftigung und Verknüpfung der sinnlichen und vernünftigen Seite des Menschen stark. Denn nur wenn der Mensch zumindest temporär in der harmonischen Wechselseitigkeit dieser beiden Seiten den ästhetischen Zustand erlebt, kann dieser laut Schiller sich sowohl frei zu den kulturell vermittelten Wissensbeständen, Konzepten und Begriffen, als auch frei zu den unmittelbar erfahrenen sinnlichen Eindrücken verhalten und so eine neue Perspektive auf die ihn umgebende Welt, als auch auf sich selbst einnehmen. Besonders spannend ist in diesem Zusammenhang, dass Schiller der Kultur die bedeutsame Aufgabe zuweist, diese dem Menschen zugehörigen Seiten − die Sinnlichkeit und die Vernunft − gleichermaßen auszubilden. Auch wenn Schiller den ästhetischen Zustand vor allem auf Kunsterfahrungen beschränkt, können seine grundlegenden Gedanken auch auf alltäglichere oder kreative, ästhetische Gestaltungsprozesse und Auseinandersetzungen bezogen werden, ohne zwangsläufig in diesen Zusammenhängen von Kunst sprechen zu müssen (vgl. Borg-Tiburcy 2019).
Daran anschließend werden im 3. Abschnitt dieses Textes erkenntnistheoretische Annahmen qualitativer Sozialforschung dargestellt. Erkenntnistheoretische Annahmen qualitativer Sozialforschung befassen sich vor allem mit der Frage, wie es möglich ist, neues Wissen zu generieren. In diesem Zusammenhang wird es daher zunächst einmal wichtig sein nachzuvollziehen, was Verstehensprozesse mit dem Entstehen von neuem Wissen zu tun haben, was überhaupt beim Prozess des Verstehens passiert und wie sich ein alltägliches Verstehen von einem wissenschaftlichen Verstehen unterscheidet. Wichtig für das Entstehen von neuem Wissen sind Irritationsprozesse und ein entsprechender Umgang damit, da diese darauf verweisen, dass man an die Grenze vertrauter Wissensbestände angelangt ist und die Möglichkeit besteht, etwas Neues zu erkennen. Neben diesen eher theoretischen Überlegungen zu Verbindungen zwischen der ästhetischen Theorie Schillers und den erkenntnistheoretischen Grundannahmen qualitativer Forschung wird dann im 4. Textabschnitt empirisches Datenmaterial aus einem (ästhetischen) Lehr-Lernforschungsprojekt präsentiert. Auf der Grundlage des empirischen Datenmaterials geht es im Rahmen des vorliegenden Beitrags vor allem darum zu rekonstruieren, welche Bedeutung den Momenten der Offenheit, der Irritation und des Frusts im Rahmen kreativer Gestaltungsprozesse zukommt. In Abschnitt 5 wird dann im Zuge eines Resümees erörtert, inwiefern kreative Gestaltungsprozesse dazu beitragen können, eine Haltung einzunehmen, die auch im Wissenschaftskontext notwendig ist, um neues Wissen zu generieren.
Vor diesem Hintergrund richtet sich der Beitrag daher an all diejenigen, die selbst in ihrer Berufspraxis an dem Entstehen von etwas Neuem beteiligt sind oder Lern- und Bildungsprozesse in pädagogischen Kontexten initiieren. Damit werden sowohl pädagogische Fachkräfte, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen als auch all diejenigen adressiert, die sich für neue Perspektiven auf Vertrautes und Alltägliches interessieren und angeregt werden wollen darüber nachzudenken, mit welcher Haltung und vor dem Hintergrund welcher (institutionellen, organisatorischen) Rahmenbedingungen es gelingt (oder nicht gelingt), sicheres Terrain zu verlassen, um etwas Neues zu erfahren.
2. Schillers ästhetische Theorie: Stofftrieb – Formtrieb – Spieltrieb
Um sich der Frage annähern zu können, wie der Mensch nach Schiller im Zuge von Kunsterfahrungen eine neue Perspektive erlangen kann − man könnte auch sagen, wie der Mensch sich ästhetisch bildet −, ist es zunächst wichtig, etwas zu Schillers Menschenbild zu sagen. Damit ist gemeint, dass Schiller eine Vorstellung davon hatte, was den Menschen als Menschen ausmacht und wie er vor allem in seiner Wahrnehmung, seinem Denken und Handeln geleitet wird (vgl. Schiller 1795/2000; Rittelmeyer 1990, 2005). Interessant ist, dass Schiller in diesem Zusammenhang bereits die kindliche bzw. menschliche Entwicklung zum Thema macht. Dies hat dazu geführt, dass Schillers Theorie vielfach im erziehungswissenschaftlichen Diskurs aufgegriffen wurde und unter erziehungs- und bildungstheoretischen Aspekten diskutiert und weiterentwickelt worden ist (vgl. z.B. Rittelmeyer 2005). Schillers Grundgedanken sind auch deswegen so wichtig, weil sich in ihnen sowohl explizit als auch implizit Ansatzpunkte für die Bedeutung, Inhalte und Vermittlungsweisen Kultureller Bildung ergeben und sich nicht zuletzt auch deswegen die Aktualität seiner Gedanken aufzeigen lässt.
Schillers Menschenbild – Stofftrieb und Formtrieb
Friedrich Schiller ging davon aus, dass für den Menschen zwei Aspekte grundlegend sind, die sich wechselseitig begründen und zusammen im Menschen wirken. So beschreibt er, dass der Mensch zum einen vielfältigen, sich ständig wandelnden Zuständen oder auch sinnlichen Eindrücken ausgeliefert ist. Damit sind zum Beispiel visuelle, auditive, taktile, olfaktorische Eindrücke gemeint, Lage-, Druck- und/oder Bewegungsempfindungen des Körpers, aber auch Gefühle und Empfindungen. Zum anderen verfügt der Mensch nach Schiller über Konzepte und Begriffe, welche Stabilität und Kontinuität in die sich stetig verändernden Zustände und Eindrücke bringen. Anders formuliert kann den Eindrücken durch eine Ordnung überhaupt erst ein Sinn gegeben werden.
Und so ist es also wichtig, dass die sinnlichen Eindrücke geformt werden und eine Gestalt, einen Sinn bekommen. Zugleich ist es relevant, dass die Konzepte und Begriffe auch gelebt und erfahren werden. Die haptische Erfahrung des Streichelns findet zum Beispiel mit dem Begriff „weiches Fell“ eine Form und kann so von anderen haptischen Erfahrungen unterschieden werden. Der Begriff „weiches Fell“ wird erst durch das Streicheln des Fells verstanden bzw. im wahrsten Sinne des Wortes be-griffen (vgl. Abbildung 1).
Diesem Wechselverhältnis zwischen sinnlichen Eindrücken und denkender Ordnung liegen laut Schiller zwei Triebe zugrunde. Diese dürfen hier nicht psychologisch, sondern müssen vielmehr anthropologisch verstanden werden, also als Teil von Schillers Menschenbild. Man könnte sie auch als Bestrebungen oder Impulse bezeichnen. Schiller spricht in diesem Zusammenhang vom Stofftrieb und vom Formtrieb. Wichtig zu bemerken ist an dieser Stelle, dass die Trennung zwischen sinnlichen Eindrücken und denkender Ordnung nur analytisch, also künstlich ist. In der Realität wirkt immer beides wechselseitig zusammen, wobei meist eine Seite überwiegt. Insbesondere aus der Perspektive der Hirnforschung ist eine Trennung von Emotion und Kognition nicht (mehr) haltbar (vgl. u.a. Roth 2001). Diese analytische Trennung soll jedoch dabei helfen, die Dynamik von Verstehensprozessen insgesamt sowie die Dynamik des ästhetischen Zustandes im Besonderen besser nachvollziehen zu können. Mit dem Stofftrieb werden demnach Eindrücke EMPFANGEN, mit dem Formtrieb wird eine Ordnung, ein Sinn HERVORGEBRACHT. Laut Schiller ist es so, dass beide Triebe immer zusammenwirken, wobei es je nach Typ oder Situation immer eine Tendenz hin zu einer Seite gibt (vgl. Borg-Tiburcy 2019; Rittelmeyer 1990, 2005).
Ich kann zum Beispiel einen Waldspaziergang machen und dem Zwitschern der Vögel lauschen, die Gerüche wahrnehmen und die warmen Sonnenstrahlen genießen, die ab und zu durch die Baumkronen durchbrechen (Tendenz hin zum Stofftrieb). Ich kann ebenso darüber nachdenken, welche Vogelart da gerade ihr Lied singt, ob sie zu einer der bedrohten Arten gehört. Ich kann darüber nachdenken, ob es wieder so ein heißer Sommer werden und der Wald ähnlich wie im letzten Jahr mit Wassermangel zu kämpfen haben wird (Tendenz zum Formtrieb).
Mit dem Formtrieb werden wir in die Lage versetzt uns den Dingen und Erfahrungen auf eine denkende, distanzierte und reflektierende Art und Weise gegenüber zu verhalten. Damit wird laut Schiller eine erste Art von Freiheit sichtbar. Diese Art von Freiheit ist laut Schiller allerdings eingeschränkt, da wir uns durch den Formtrieb immer in einer Art historisch-gesellschaftlich-kulturellem Deutungsrahmen bewegen, und uns so, ob bewusst oder unbewusst, durch Sozialisations- und Erziehungsprozesse an geteilten Vorstellungen, Konventionen und geteiltem Wissen orientieren. Das heißt, dass unsere Offenheit gegenüber dem, was wir wahrnehmen, was wir empfangen, dadurch eingeschränkt wird.
Wenn es aber so wäre, dass der Stoff- und der Formtrieb gleichermaßen aktiv wären, sich wechselseitig hervorbringen und begrenzen würden, dann entstünde daraus nach Schiller der Spieltrieb. Mit dem Spieltrieb wird dann das möglich, was Schiller ästhetischen Zustand nennt und in welchem der Mensch zumindest einen temporären Zustand seiner wahren und zweiten Freiheit erlangt (vgl. Borg-Tiburcy 2019; Rittelmeyer 1990, 2005). Was meint Schiller damit?
Schillers Menschenbild – Spieltrieb
Da der Mensch ja nicht all das, was er bislang gelernt und erfahren hat, leugnen und vergessen kann und es ja auch wichtig ist, dass er sein bisher erlangtes Wissen und seine Orientierungen bewahrt, stellt sich die Frage „[w]ie also (…) der sich bildende Mensch von solchen vorgegebenen Mustern frei werden und in einen [ästhetischen] Zustand der ‚aktiven Bestimmbarkeit‘ kommen [kann], in dem Passivität und Aktivität, Angeregtwerden und schöpferisches Denken wie Handeln gleichermaßen wirksam sind“ (Rittelmeyer 2005:74).
Die von Schiller beschriebene und geforderte Freiheit und Offenheit im Sinne dieser Bestimmbarkeit, im Sinne des ästhetischen Zustandes kann daher nur eine selbst gestaltete und hervorgebrachte Bestimmbarkeit sein. Dies möchte ich an einem idealtypischen Beispiel veranschaulichen:
Im ästhetischen Zustand würden wir zum Beispiel zum einen aktiv, also mit einer Gestaltungsidee beginnen, einen Block Ton zu bearbeiten (Formtrieb ist aktiv). Zum anderen reagieren wir aber auch auf die Eigenart des Tons, auf das Reale, auf das, was im Prozess entsteht und was wir empfangen (Stofftrieb aktiv). So kann die Beschaffenheit des Tons im Gestaltungsprozess dazu führen, dass die ursprüngliche Gestaltungsidee verändert wird. Das heißt wir empfangen nicht nur die sinnlichen Materialeigenschaften, sondern bringen unter Berücksichtigung dieser auch etwas hervor. Das Material ermöglicht so nicht nur die Hervorbringung einer Idee, es begrenzt sie auch zugleich. Die Gestaltungsidee wiederum ermöglicht, dass aus dem Material etwas entsteht, zugleich schließt sie dadurch andere Ideen aus. Durch dieses Hin und Her zwischen Idee und Beschaffenheit des Materials, verhalten wir uns sowohl frei zu den Konzepten und Ideen, die wir haben, als auch zu dem, was uns als Material oder Stoff entgegentritt (vgl. Abbildung 2). Auch wenn dies von Schiller nicht direkt expliziert wird, impliziert die sich wechselseitig begründende und begrenzende Dynamik des Empfangens und Hervorbringens eine Offenheit. Eine Offenheit sowohl den Eindrücken, als auch den Konzepten und Ordnungen gegenüber, da beides im Zuge des Spieltriebes in einen neuen Zusammenhang gebracht wird.
Letzten Endes entsteht so nicht nur für uns persönlich etwas Neues in Form des Artefaktes, sondern wir erfahren zugleich etwas über das Material, seine Beschaffenheit und über uns selbst, über unseren Umgang mit Momenten des Staunens, der Irritation, des Frusts, der Überraschung etc. Wir werden sowohl mit unseren Grenzen, als auch mit unseren Potenzialen und Fähigkeiten konfrontiert und reflektieren dies im Gestaltungsprozess auf eine praktische Weise, also im Tun, in der Tätigkeit. Im Idealfall erhalten wir so nicht nur eine neue Perspektive auf die uns umgebende materielle Welt, sondern auch auf uns selbst
„Aufgabe der Kultur“ (Schiller 1795/2000, 13. Brief:51) und somit der ästhetischen Erziehung wäre es nach Schiller demnach sowohl den Stofftrieb, also das Gefühls- und Wahrnehmungsvermögen, als auch den Formtrieb, das Vernunft- oder Denkvermögen auszubilden. Auf der Seite des Stofftriebes wäre es wichtig, dem Menschen „die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen“ (Schiller 1795/2000, 13. Brief:52). Hier geht es also um die Breite und Vielfältigkeit von Wahrnehmungen und Erfahrungen. Je vielfältiger die sinnlichen Eindrücke und Erfahrungen sind, desto mehr Welt ergreift der Mensch. Auf der Seite des Formtriebes wäre es wichtig, dass der Mensch sich fokussiert mit seiner (Um)Welt auseinandersetzt. Hier geht es um die Tiefe im Denken, um Konzentration. Je tiefer er sich mit diesen Erfahrungen auseinandersetzt, desto mehr Welt begreift der Mensch (vgl. Schiller 1795/2000, 13. Brief). Die Ausprägung des Stoff- und Formtriebs kann nach Schiller jedoch durch eine einseitige Ausbildung verfehlt werden, sodass entweder der Form- oder Stofftrieb dauerhaft dominant sind.
Würde der Stofftrieb dominieren, würde der Mensch lediglich von Eindruck zu Eindruck, von Erlebnis zu Erlebnis hasten, ohne irgendwas davon nachhaltig wirklich zu begreifen und zu verstehen. Er könnte seine Eindrücke nicht einordnen und würde vielmehr von diesen überwältigt werden. Würde der Formtrieb insgesamt dominieren wäre der Mensch stark von seinem Denken, von Vorannahmen und Vorurteilen geprägt, welche sich auch durch Erfahrungen nicht korrigieren oder verändern lassen würden. Letztendlich würde sich immer nur das bestätigen, wovon er schon ausgegangen ist. Insbesondere Letzteres problematisiert Schiller auch für die Wissensgenerierung im wissenschaftlichen Kontext und kritisiert in diesem Zusammenhang die geringe Innovation und das langsame Vorankommen der Wissenschaften: „Eine der vornehmsten Ursachen, warum unsre Natur-Wissenschaften so langsame Schritte machen, ist offenbar der allgemeine und kaum bezwingbare Hang zu teleologischen [zielgerichteten, zweckbestimmten] Urteilen, bey denen sich, […] das bestimmende Vermögen dem empfangenden unterschiebt. Die Natur mag unsre Organe noch so nachdrücklich und noch so vielfach berühren – alle ihre Mannigfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir nichts in ihr suchen, als was wir in sie hineingelegt haben […]. Dieses voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beysammen hat, die sie ausmachen sollen, […] ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkender Köpfe […]“ (Schiller 1795/2000, 13. Brief:53).
Hier steht also im Prinzip schon beschrieben – wohlgemerkt 1795 – inwiefern eine Ausgeglichenheit von empfangenden und hervorbringenden Momenten auch für das Entstehen neuen Wissens in der Wissenschaft von Bedeutung ist und somit prinzipiell jedem Erkenntnisakt zuvor ein ästhetischer Zustand vorausgeht, der jedoch aufgrund der „Schnelligkeit, mit welcher gewisse Charaktere von Empfindungen zu Gedanken, und zu Entschließungen übergehen, […], kaum oder gar nicht [bemerkt wird]“ (Schiller 1795/2000, 21.Brief:84). Wenn wir nicht offen sind für die empirischen Phänomene (Mannigfaltigkeit der Natur, einzelne Laute) und zu voreilig das Beobachtete unter unsere Vorannahmen und theoretischen Konzepte unterordnen (voreilige Streben nach Harmonie), weil eine Ziel- und Zweckgerichtetheit unsere Urteile dominiert, schreiten wir nach Schiller in der Wissenschaft nicht voran. Sind diese Überlegungen noch aktuell? Welche Annahmen gibt es hinsichtlich des Entstehens neuen Wissens im Rahmen qualitativer Sozialforschung im 21. Jahrhundert und welche erkenntnistheoretischen Grundlagen liegen diesem zugrunde?
3. Qualitativ-rekonstruktive Sozialforschung – Erkenntnistheoretische Annahmen
Das Ziel qualitativ-rekonstruktiver Forschung ist es durch eine Beschreibung und Analyse sozialer Wirklichkeit beispielsweise in Form von Interaktionsprozessen sowie subjektiven Sichtweisen, Handlungs- und Deutungsmustern der Beforschten (vgl. Bennewitz 2013), neues Wissen zu generieren. Zentral für diese Perspektive ist, dass „[d]ie soziale Welt […] als eine durch interaktives Handeln konstituierte Welt verstanden [wird], die für den Einzelnen aber auch für Kollektive sinnhaft strukturiert ist. Soziale Wirklichkeit stellt sich somit als Ergebnis von sozial sinnhaften Interaktionsprozessen dar“ (Bennewitz 2013:45). Dabei gibt es verschieden akzentuierte erkenntnistheoretische Grundlagen qualitativ-rekonstruktiver Forschung. Hier seien z.B. die Ethnomethodologie, der symbolische Interaktionismus, der Sozialkonstruktivismus, die Sozialphänomenologie, die Wissenssoziologie und die Phänomenologie zu nennen (vgl. Borg-Tiburcy 2019). Trotz der Unterschiede kann vor diesem Hintergrund der kleinste gemeinsame Nenner qualitativer Forschung folgendermaßen zusammengefasst werden:
„Qualitative Forschung hat ihren Ausgangspunkt im Versuch eines vorrangig deutenden und sinnverstehenden Zugangs zu der interaktiv ‚hergestellt‘ und in sprachlichen wie nicht-sprachlichen Symbolen repräsentiert gedachten sozialen Wirklichkeit. Sie bemüht sich dabei, ein möglichst detailliertes und vollständiges Bild der zu erschließenden Wirklichkeitsausschnitte zu liefern. Dabei vermeidet sie so weit wie möglich, bereits durch rein methodische Vorentscheidungen den Bereich möglicher Erfahrung einzuschränken oder rationalistisch zu ‚halbieren‘. Die bewusste Wahrnehmung und Einbeziehung [der Forscher*innen] […] und der Kommunikation mit den ‚Beforschten‘ als konstitutives Element des Erkenntnisprozesses ist eine zusätzliche, allen qualitativen Ansätzen gemeinsame Eigenschaft: Die Interaktion [der Forscher*innen] […] mit [den] […] ‚Gegenständen‘ wird systematisch als Moment der ‚Herstellung‘ des ‚Gegenstandes‘ selbst reflektiert“ (Kardorff 2012:4).
Neben dem immer wieder auszumachenden Ruf nach einer Wirkungsforschung Kultureller Bildung, der nicht zuletzt über deren Legitimationsdruck und damit verbundene Förderlogiken begründet werden kann, welche jedoch auch mit quantitativen Zugängen hinsichtlich möglicher kausaler Ursache-Wirkungszusammenhänge schnell an Grenzen der Aussagekraft kommt, scheinen daher vor allem qualitative Zugänge sehr gewinnbringend zu sein (vgl. Hill 2013; Rittelmeyer 2010; Unterberg 2023/2021). Denn hier geht es grundlegend darum zu verstehen, inwiefern Prozesse Kultureller Bildung für das Subjekt aber auch für Subjekte als sinnhaft erfahren werden und welche Bedeutung ihnen zukommt.
Qualitative Forschungsvorhaben formulieren daher möglichst offene Fragestellungen, grenzen ihren Gegenstandsbereich nur grob und vorläufig ab und gestalten sich unter anderem nach dem Prinzip der Offenheit und des Verstehens bzw. Fremdverstehens (vgl. Kruse 2015). Darauf möchte ich nun näher eingehen.
Verstehen als zentrales erkenntnistheoretisches Prinzip
Verstehen ist zunächst einmal ein Prinzip, mit dem wir unsere Welt erschließen und unsere Wirklichkeit auslegen. Im Alltag sind wir die ganze Zeit damit beschäftigt zu verstehen, ohne dass uns dies bewusst ist und es meint, dass wir damit einer Erfahrung, die wir machen, einen Sinn verleihen (vgl. Hitzler 1993). Im Prozess des Verstehens stellen wir also einen Sinn her, der für uns plausibel ist und der vor allem in unsere bereits existierenden Sinn- und Deutungssysteme integriert werden kann. Im Prozess des Verstehens beziehen wir uns auf eine Wirklichkeit, die bereits durch andere und anderes (Personen, Kultur, Gesellschaft) mit Sinn versehen worden ist (vgl. Kruse 2015). Daher kann Verstehen auch als Fremdverstehen bezeichnet werden. Diese Sinn- und Deutungssysteme kann man sich vereinfacht vielleicht auch als Schubladen vorstellen. Wenn ich eine Erfahrung mache, die in eine der Schubladen integriert werden kann, kann ich im wahrsten Sinne des Wortes einordnen, also verstehen, was ich erfahren habe. Diese Schubladen entstehen im Zuge von Erziehungs-, Sozialisations- und Bildungsprozessen und werden daher wesentlich durch mein Umfeld und meine Umwelt mitgestaltet. Wenn ich also etwas verstehe, bedeutet dies letztendlich, dass ich mich immer nur selbst verstehe, bzw. vor dem Hintergrund meines kulturellen und gesellschaftlichen Relevanz- und Deutungssystems (vgl. Kruse 2015; Hitzler 1993).
In diesem Zusammenhang stellt sich nun aber die Frage, wie man es schaffen kann, neues Wissen zu generieren.
Zunächst müssen wir uns klarmachen, dass wir alle Schubladen in uns tragen, die unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln wesentlich prägen. Vor allem als Wissenschaftler*innen müssen wir reflektieren, dass wir alle irgendwie theoretisch sensibilisiert sind, so nennen es Anselm Strauss und Juliet Corbin (2010). Das heißt, dass Jede*r „von uns […] Verzerrungen, Vorannahmen, Denkmuster und Wissen aufgrund von Erfahrung und Literaturstudium in die Datenanalyse ein[bringt]“ (Strauss/Corbin 2010:73). Wenn dies nicht reflektiert wird, kann es auch im Forschungsprozess passieren, dass wir nur das in den Daten entdecken und somit reproduzieren, was wir schon wussten oder was wir angenommen haben.
Unvoreingenommen an etwas ranzugehen ist demnach nicht möglich, weil wir immer schon voreingenommen sind. Für Forschungsprozesse ist es daher wichtig, sich zum einen über den Grad der Explikation bewusst zu werden, also zu reflektieren, wie transparent ich mir gegenüber mein eigenes Wissen und meine eigenen Vorannahmen machen kann. Zum anderen geht es darum zu klären, woher dieses Wissen und diese Vorannahmen stammen bzw. inwiefern mein theoretisches Wissen einen Bezug zu eigenen biographischen Erfahrungen hat (vgl. Kelle/ Kluge 2010). Denn nur wenn mir bewusst ist, was ich weiß, welche Vorannahmen und Wissensbestände ich habe, kann ich diese auch bewusst kontrollieren und prüfen.
Der Forschungsprozess qualitativer Studien und das ihm zugrundeliegende Theorie-Empirie-Verhältnis ist daher wesentlich durch das Prinzip der Zirkularität geprägt. Dies bedeutet, wie man anhand der Abbildung 3 nachvollziehen kann, dass ausgehend von der sogenannten theoretischen Sensibilität und einem damit verbundenen spezifischen Erkenntnisinteresse das Forschungsdesign inklusive der Datenerhebung konzipiert wird. Nach einer ersten Auswertung der erhobenen empirischen Daten werden dann im Zuge einer theoretischen Reflexion die vorliegenden theoretischen Annahmen kritisch geprüft, ggfs. modifiziert und mit dieser neuen Perspektive dann eine weitere Erhebung angeschlossen, das empirische Material ausgewertet usw. (vgl. z.B. Kelle/Kluge 2010; Borg-Tiburcy 2019). Dabei ist es insgesamt wichtig, um hier auch noch einmal Rückbezüge zu Schiller herzustellen, das empirische Datenmaterial nicht zu vorschnell unter die theoretischen Vorannahmen zu subsumieren, sondern offen zu sein für die Eigensinnigkeit der Daten, die uns im besten Fall an die Grenzen unserer bisherigen theoretischen Vorannahmen führen.
Die Bedeutung von Offenheit für das Generieren neuen Wissens
Neben dem Transparent-Machen der eigenen theoretischen Sensibilität ist für das Generieren neuen Wissens daher vor allem eine Offenheit gegenüber Irritationen und Prozessen des Nicht-Verstehens besonders bedeutsam. Denn Irritationen verweisen darauf, dass etwas, das wir erfahren oder im empirischen Material beobachten, nicht in unsere bisherigen Deutungssysteme oder Schubladen passt. Das kann sehr verunsichernd und krisenhaft sein. Es bedeutet aber auch, dass man kurz davorsteht, etwas Neues zu erfahren oder näher an die Sinn- und Deutungssysteme der anderen heranzukommen. Von daher ist eine Offenheit für das Verändern der bestehenden Schubladen oder auch für das Bilden neuer Schubladen unerlässlich. Sinn wird dabei aus den Daten heraus gewonnen und nicht in diese hineingelegt (vgl. Strauss/Corbin 2010), so zumindest der Anspruch.
Das hört sich erst einmal alles sehr plausibel an. Die Frage ist aber, wie man dazu kommt, diese Haltung der Offenheit zu erlernen, nicht nur eine Offenheit gegenüber dem empirischen Datenmaterial, ohne es zu vorschnell in Kategorien zu packen, sondern vor allem auch eine Offenheit gegenüber Irritationen. Man könnte hier kritisch fragen, inwiefern sich der von Handlungsdruck und pragmatischen Zwängen gebeutelte Wissenschaftsbetrieb dafür eignet oder ob es nicht vielmehr die ästhetischen Zustände nach Schiller sein könnten, diese Haltung und diesen Umgang spielerisch und frei von Zwängen zu erlernen?
Zumindest könnte man auf der Grundlage der theoretischen Überlegungen Schillers diese Hypothese aufstellen und theoretisch begründen, dieser Transfergedanke ist also bereits bei Schiller enthalten. Wie sieht es allerdings aus, wenn man sich Gestaltungsprozesse Studierender – wohlgemerkt im universitären Kontext – empirisch anschaut? Kann das Studium als ein solcher spielerischer Raum fungieren? Zumindest wird dem Studium – im Kontrast zum Handeln in der pädagogischen Praxis – im Diskurs rund um eine Professionalisierung die Möglichkeit eines von Handlungsdruck und Entscheidungszwang befreites Agieren auf Probe zugesprochen (vgl. Koller 2017; Helsper 2021).
4. Kreative Gestaltungsprozesse
Im Rahmen eines ästhetischen Lehr-Lernforschungsprojekts, welches ich über drei Semester im Rahmen meiner Seminare mit dem Titel „Schiller meets Remida“ durchgeführt habe, wurden die Studierenden mit einer Vielzahl homogenen Materials – in diesem Fall Toilettenpapierrollen – konfrontiert. Mit den Impulsen „Tu was mit mir oder lerne mich besser kennen“ bekamen sie die Aufgabe, sich über mehrere Stunden damit auseinanderzusetzen. Dabei sollten sie den Prozess sowohl fotografisch als auch schriftlich dokumentieren. Es gab dabei keinerlei Vorgaben und auch keinerlei Hilfsmaterialien, wie Kleber oder Schere, in der Hoffnung, Irritationen und kleinere Krisen zu provozieren. Die Materialerkundungen wurden dann unter Zuhilfenahme von bildungstheoretischen, ästhetischen und elementarpädagogischen Konzepten reflektiert. Besonders relevant ist in Anlehnung an Schiller und hinsichtlich der Ausführungen zu den erkenntnistheoretischen Annahmen qualitativer Sozialforschung die Frage, wo die Studierenden von der Tendenz her hervorbringend tätig sind, also eher ihren Ideen und Konzepten folgen, wo die Studierenden eher empfangend tätig sind, sich also von der Eigenart und Beschaffenheit des Materials leiten lassen, und wo die Studierenden Ideen entwickeln, die im Verlauf der Gestaltung zwischen Hervorbringen und Empfangen Hin und Her pendeln und so im Prozess immer auch verändert werden (können). Besonders gewinnbringend an diesem (sich noch in der Entwicklung befindenden) hochschuldidaktischen Konzept scheint zu sein, dass aufgrund der Offenheit der Seminarkonzeption die Studierenden dazu aufgefordert wurden, ihrem Tätig-Sein selbst einen Sinn zu verleihen und somit im Zuge des Gestaltens grundlegenden Dynamiken des Verstehens zum Thema machen, die allerdings ganz unterschiedlich gelagert und akzentuiert sein können.
Und so konnte rekonstruiert werden, dass sowohl mathematische, physikalische, sprachlich-literarische, als auch ästhetische Sinnzusammenhänge hervorgebracht wurden. Exemplarisch wird hier kurz auf mathematischen und ästhetischen Sinn eingegangen.
Mathematische Auseinandersetzungen wurden zum Beispiel dort sichtbar, wo es um Symmetriebildung, Spiegelachsen, Mittelpunkte und um Formen und Körper sowie größenbezogene Reihen ging, die das Potenzial haben, Geometrie und Arithmetik miteinander zu verbinden (vgl. Lee/Staege 2010; vgl. Abbildung 4). Ähnlich wie bei dem von Kerensa Lee entwickelten Ansatz „gleiches Material in großer Menge“ (Lee 2010) für das Erfinden von Mathematik bei Kindern scheinen auch die großen Mengen an Toilettenpapierrollen Erwachsene zu Strukturierungen und Ordnungen aufzufordern, die mathematische Konzepte zum Vorschein bringen. Besonders hervorzuheben ist, dass beim Gestalten mit einer großen Menge gleichen Materials mathematische Ordnungsstrukturen nicht von außen vorgegeben, sondern im Gestaltungsprozess selbst hervorgebracht werden und Mathematik so ausgehend von spielerischen Erkundungen und Konstruktionen erfahrbar wird.
Spannend an den ästhetischen Auseinandersetzungen ist, dass sie das Verstehen in seiner Dynamik zum Thema machen. Denn das Hin und Her und unauflösbare Gleichgewicht zwischen bekannten Konzepten, Begriffen, Sinn- und Deutungssystemen und der Eigenart des Materials, ohne es unter etwas bereits Bekanntes zu subsumieren, reflektiert gewissermaßen Verstehensprozesse auf einer praktischen Ebene, nämlich im gestaltenden Tun (vgl. Borg-Tiburcy 2019, 2018; vgl. Abbildung 5).
Übergreifend und quer zum Herstellen unterschiedlicher Sinnzusammenhänge lässt sich auf der Grundlage erster Ergebnisse eine Vielzahl verschiedener Umgangsformen mit Offenheit und Irritation aufzeigen, die im weiteren Verlauf der Datenauswertung noch spezifischer ausdifferenziert und systematisiert werden müssen.
Bislang konnte herausgearbeitet werden, dass einige der Studierenden mit der in der Anlage der Seminarkonzeption enthaltenen Offenheit gut umgehen und dieser wiederum mit Offenheit und Experimentierfreude begegneten. Dies beinhaltete eine Flexibilität und somit ein Umdenken oder Modifizieren von Gestaltungsstrategien, wenn ursprünglich entwickelte Ideen aufgrund der Beschaffenheit des Materials, ungeplanter und zufälliger Momente oder aufgrund fehlender Hilfsmittel nicht realisiert werden konnten.
Dies kann in seiner Prozesshaftigkeit exemplarisch sowohl an den Fotos als auch an den schriftlichen Dokumentationen nachvollzogen werden.
„Nachdem ich das Foto gemacht habe entdecke ich beim Betrachten des Papiervogels noch zwei weitere Zipfel und ziehe daran. Nun sieht die Rolle nicht mehr aus wie ein Papiervogel, denn es gibt jetzt viele abstehende Streifen. Impulsiv denke ich bei den Streifen an das abwechselnde Knicken von Papierstreifen im Kindergarten wobei man somit sogenannte Hexentreppen faltet. Ich gehe also dem Impuls nach und beginne die schmaler werdenden Streifen abwechselnd zu knicken. Zunächst versuche ich mich an die Erinnerungen von den Hexentreppen zu halten, aber kurze Zeit später knicke ich unsystematisch alles von der Rolle, was mir in die Finger gerät. Irgendwann stoppe ich zu knicken und betrachte meine Rolle. Ich denke dabei an abstrakte Kunst und darauffolgend an ein Boot ohne Segel. Während meines Gedankengangs reißt mir versehentlich ein Stück einer Ecke ab und ich knicke es, um es anschließend in einen Knick hinein zu legen. Ich beschließe, dass dies mein Passagier auf meinem Boot ist“ (Sc_WS2223, vgl. Abbildung 6).
In manchen Fällen konnte durch eine Modifikation der Gestaltungsidee oder durch eine Änderung des Gestaltungsvorgehens den entstandenen Herausforderungen produktiv begegnet werden.
„Das schmale Ende der Tube mit Deckel habe ich versucht mit den Techniken, die ich beim ersten Exemplar erarbeitet habe, darzustellen, aber mir gelang es nicht so wie ich wollte. Weil ich ohne Kleber gearbeitet habe, konnte ich auch nicht alles befestigen, sondern musste die Rollen ausstopfen und ineinander bauen, damit sie nicht auseinanderfallen. Nach einigen Versuchen habe ich es doch noch geschafft ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen […]“ (Od_WS2223, vgl. Abbildung 7).
Allerdings zeigen die Daten auch, dass sich andere Studierende schwer damit taten, auf gestalterische Herausforderungen produktiv zu antworten und daher mit Frust und/oder einem Abbruch des Gestaltungsprozesses reagierten:
„Nachdem wir in einer Gruppe versucht haben einen Menschen zu bauen sind wir beim Körper gescheitert. Das Bein war fertig aber danach war es uns ohne andere Hilfsmittel wie Kleber nicht möglich einen Körper zu bauen. Nach dieser Enttäuschung war ich dann total ideenlos und mir fiel nichts mehr ein, was ich mit den Rollen noch machen könnte“ (Ve_WS2223, vgl. Abbildung 8).
Daneben führte auch die in der Konzeption des Seminares enthaltene Offenheit und damit einhergehend eine fehlende, von außen vorgegebene Aufgabenstellung oder Sinnhaftigkeit zu hemmenden Momenten. Vor allem die Frage nach der Zweck- und Zielgerichtetheit der stundenlangen Auseinandersetzung mit einer großen Menge an Toilettenpapierrollen sorgte für Unmut und Blockaden im gestalterischen Tun.
„Die Aufgabe fühlt sich etwas merkwürdig an, was ich an der Uni einfach nicht gewohnt bin. Diese Banalität und Zufälligkeit der Aufgabe macht mich gerade einfach müde, weil ich merke, wie ich versuche irgendwelche Gedanken zu erzwingen, um der Aufgabe gerecht zu werden, obwohl es gar keine Vorgaben oder Maßstäbe für diese Aufgabe gibt. Genau das irritiert mich etwas“ (Ro_WS2223).
„Jetzt hatte ich ganz viele Schnipsel. Ich stand also vor den Schnipseln und dachte nur „Was mache ich jetzt damit?“ Nachdem ich darauf keine Antwort fand, stelle ich mir die Frage, wofür wir das eigentlich jetzt machen und was unser Ziel ist, vor allem, weil dieses Seminar keinem anderen von mir bisher belegtem ähnelte“ (Ve_WS2223).
„Ich hatte keine Ideen mehr und auch keinen Antrieb, mir neue Ideen auszudenken. Außerdem hatte ich im Hinterkopf immer den Gedanken, was ich besser mit dieser Zeit anfangen hätte können oder welche Aufgaben ich noch zu erledigen hätte“ (St_WS2223).
Resümierend lässt sich bis hierhin festhalten, dass die Offenheit der Seminarkonzeption zum einen offene, explorierende und kreative Gestaltungsprozesse ermöglicht hat. Die dafür konstitutive Haltung der Offenheit, das Spezifische des Materials zu empfangen und nicht zu vorschnell unter bereits bekannte Kategorien zu subsumieren, ist der notwendigen Offenheit im Zuge eines Generierens neuen Wissens im Rahmen qualitativer Sozialforschung strukturlogisch ähnlich und man könnte in diesem Zusammenhang diskutieren, inwiefern ergebnisoffene Gestaltungsprozesse, die keinen pragmatischen Zwängen unterliegen, diese Art von Haltung besonders ermöglichen oder fördern.
Zum anderen ist auch deutlich geworden, dass die Offenheit der Seminarkonzeption durchaus hemmend oder gar überfordernd gewesen ist. Wie kann man diese empirischen Beobachtungen einordnen bzw. worauf verweisen diese?
5. Resümee
Schaut man sich noch einmal den Titel des Beitrags an und versucht die Frage zu beantworten, inwiefern Möglichkeiten des Transfers zwischen kreativen Gestaltungsprozessen und wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen bestehen, muss zunächst reflektiert werden, auf welcher Ebene diese Frage beantwortet wird.
Auch wenn zwischen der ästhetischen Theorie Schillers und den erkenntnistheoretischen Annahmen qualitativer Sozialforschung mehr als 300 Jahre liegen, können dennoch – auf einer theoretischen Ebene – verwandtschaftliche Ähnlichkeiten zwischen den Sinngenerierungs- oder auch Erkenntnisprozessen in der Kunst und Wissenschaft ausgemacht werden. Es konnte herausgearbeitet werden, dass sowohl dem Theorie-Empirie-Verhältnis in der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung als auch dem Form-Stofftrieb-Verhältnis in der ästhetischen Theorie Schillers eine wechselseitige Dynamik zwischen Prozessen des Hervorbringens (Ideen, Konzepte, Begriffe, Theorien, Formen) und des Empfangens (Phänomene, Eindrücke, Wahrnehmungen, Empirie, Stoffe) zugrunde liegt. Aufgrund dieser verwandtschaftlichen Dynamik, so kann angenommen werden, konstatiert Schiller für diese Zusammenhänge sogar, dass jedem Erkenntnisakt zunächst ein ästhetischer Zustand (unbemerkt) vorausgeht (vgl. Schiller 1795/2000, 21. Brief). Neben dieser verwandtschaftlichen Strukturlogik konnte ebenso herausgearbeitet werden, dass eine Haltung der Offenheit für beide Formen der Sinngenerierung relevant ist. Dass diese Haltung allerdings kein Selbstläufer ist, konnte exemplarisch anhand der Studie zum Seminar „Schiller meets Remida“ nachvollzogen werden. Spannend daran ist, dass erste empirische Ergebnisse daher in einem Spannungsverhältnis zu theoretischen Konzeptionen zu stehen scheinen, da freien, kreativen, experimentellen und ergebnisoffenen Settings oftmals ein Spielraum zugesprochen wird, der eben vor allem ästhetische Auseinandersetzungen ermöglichen und fördern soll.
Vor dem Hintergrund der hier präsentierten Ergebnisse in Hinblick auf kreative Gestaltungsprozesse kann daher Folgendes festgehalten werden:
Die Offenheit der Seminarkonzeption und die damit einhergehende Aufforderung, dem eigenen Tätig-Sein selbst einen Sinn zu verleihen, hat zunächst einmal dazu geführt, dass nicht nur ästhetische, sondern auch mathematische, physikalische und literarische Sinnzusammenhänge hervorgebracht wurden. Daher wird im Rahmen dieses Lehr-Lernforschungsprojektes auch von kreativen Gestaltungsprozessen gesprochen und beispielsweise nicht von ästhetischen. Es ist dennoch die Rede von Gestaltungsprozessen, da diese ganz allgemein als ein Wechselspiel von hervorbringenden und empfangenden Momenten verstanden werden, ohne eben im Vorfeld schon sagen zu können, in welche Sinnzusammenhänge sie überführt werden. Sinnzusammenhänge können dabei in Anlehnung an Mollenhauer ganz allgemein als eine Vermittlung zwischen einer individuellen Ausdrucksrichtung und einer Mitteilungsform beschrieben werden (vgl. hierzu auch Borg-Tiburcy 2019). Die individuelle Ausdrucksrichtung bringt im Gestaltungsprozess etwas Individuelles und Besonderes zum Ausdruck und wird mithilfe eines kulturellen Formenrepertoires in eine Mitteilungsform überführt (bspw. mithilfe von Sprache, Bildern, gestalterischen Darstellungsweisen), die auch für andere nachvollziehbar ist. Erst wenn eine „individuelle Ausdrucksrichtung in eine Mitteilungsform“ (Mollenhauer 1996:125) überführt wird, kann nach Mollenhauer überhaupt erst „die Rede sein von einem ‚Sinn‘ […]. Damit ‚Sinn‘ nachvollziehbar, verständlich, also als ‚Sinn‘ überhaupt identifizierbar wird, können die ‚Darstellungsprinzipien‘ die kulturellen Muster, die Seh- und Hörgewohnheiten oder -erfahrungen einer gegebenen historischen Lage nicht völlig entbehren. Sie sind gleichsam das Transportmittel, mit deren Hilfe individueller Sinn an andere gelangt“ (Mollenhauer 1996:125). Sinnzusammenhänge werden dem Verständnis dieses Beitrages nach also als kleinste gemeinsame Einheit kultureller Bildungsprozesse verstanden, auch wenn Letzteres etwas tautologisch anmutet, da Bildungsprozesse diesem Verständnis nach immer kulturell kontextualisiert sind. Potenziell bildend sind kreative Gestaltungsprozesse dann, wenn das Material die Sinnzusammenhänge nicht vorgibt und die Gestaltenden dazu aufgefordert werden, diese selbst zu erzeugen. Die Suche nach einem gestalterischen Sinn kann durchaus krisenhaft sein, wie im empirischen Material exemplarisch gezeigt werden konnte. Die Offenheit der Seminarkonzeption und die damit verbundene Aufforderung etwas mit dem Material zu tun, hat somit eine Vielzahl unterschiedlicher Sinnzusammenhänge hervorgebracht, auch wenn diese in qualitativer Hinsicht bezogen auf die Dynamik der Prozesshaftigkeit und hinsichtlich unterschiedlicher Formen von Kreativität noch ausdifferenziert werden müssen. Die Gestaltungsprozesse werden im Rahmen der Studie daher als kreativ im doppelten oder im noch zu differenzierenden Sinne verstanden: und zwar in Anlehnung an Schiller als kreativ erster Art, wenn der Formtrieb als schöpferische Kraft Ideen generiert und umsetzt, und als kreativ zweiter Art, wenn sich sowohl frei zu den Eindrücken, als auch frei zu den Ideen und Konzepten verhalten wird. Kreativität erster und zweiter Art wird hier somit in qualitativer Hinsicht differenziert, ohne dies jedoch zu werten.
Die Offenheit der Seminarkonzeption hat darüber hinaus allerdings auch zu Frust und Irritationen geführt. Frust wurde vor allem dann erzeugt, wenn eigene Ideen aufgrund der Beschaffenheit der Materialien oder fehlender Hilfsmittel nicht realisiert werden konnten. Dass damit unterschiedlich umgegangen wurde, konnte in ersten Ansätzen bezüglich einer Änderung von Gestaltungsstrategien oder auch eines Gestaltungsabbruches gezeigt werden.
Besonders interessant erweisen sich die Ergebnisse hinsichtlich der rekonstruierten Irritationen, da sich diese nicht nur auf den Gestaltungsprozess bezogen haben, sondern auch und vor allem auf die institutionellen Rahmenbedingungen des Studiums.
Denn es scheint, dass vor allem die Zweckgerichtetheit des universitären Rahmens vor dem Hintergrund der Offenheit der Seminarkonzeption zu Irritationen geführt hat. Diese Irritationen bezogen sich daher nicht ausschließlich auf die Dynamiken im Gestaltungsprozess, sondern auch und vor allem auf Irritationen hinsichtlich der Aufgabenstellung im universitären Kontext. Mit diesen Irritationen wurde nicht nur unterschiedlich umgegangen, sondern sie haben über die Gestaltungsprozesse hinaus etwas zur Sprache gebracht, das für das Entstehen von etwas Neuem konstitutiv ist: die Reflexion eigener Resonanzen. Neben der Möglichkeit, neue Perspektiven auf spezifisches Material und Materialitäten zu bekommen, eröffnete die offene Seminarkonzeption und die Gestaltungsprozesse eine (neue) Perspektive auf den eigenen Umgang damit, auf die eigene Haltung dem Studium gegenüber sowie eine Reflexion der institutionellen und organisationalen Rahmenbedingungen und Logiken. Resümierend kann festgehalten werden, dass es im Rahmen der Gestaltungsprozesse zwar vordergründig, aber nicht ausschließlich um das Hervorbringen von Artefakten ging, sondern insgesamt um einen Anstoß zur Reflexion hinsichtlich eigener Lern- und Bildungsprozesse.
„Besonders beeindruckend fand ich die Offenheit der Dozentin für unsere Eindrücke. Egal welche Idee ich entwickle, sie ist gut und wird nicht kritisiert. Das beruhigt mich. Ich empfand es als ungewohnt, dass die Dozentin sich gegenüber unseren, Ideen, Gedanken und Projekten so wertschätzend verhielt. Selbst die sehr frustrierten Mitstudierenden wurde von ihr begleitet, ohne etwas vorgegeben zu bekommen. Damit ermöglichte sie eine Autonomieerfahrung, ohne sich von den Studierenden abzuwenden. Somit ist die erste Erkenntnis, die die Remida-ähnliche Materialerkundung bezüglich meiner eigenen schulischen und universitären Bildung anstieß, die, dass mir Lehrende selten in dieser Form begegnet sind: auf Augenhöhe, interessiert, begleitend, unterstützend, nicht anleitend. Ich habe mich in meiner schulischen und universitären Bildung selten so ernst genommen und fähig gefühlt (…). Ich konnte durch das Erleben von fremden pädagogischen Ansätzen (Reggiopädagogik) Distanz zu meiner eigenen Lernerfahrung gewinnen und diese reflektieren. Als Selbsterfahrung ist die Materialerkundung außerdem besonders eindrucksvoll, weil die Reflektion nicht auf theoretischer Ebene (…) stattfindet, sondern über echte, individuelle Empfindungen wie Frustration, Langeweile, Spaß. In Kombination mit der zugehörigen schriftlichen Dokumentation bietet die Materialerkundung langanhaltende Reflektionsmöglichkeiten“ (G-B_WS2223).
Die im Titel enthaltene Frage nach der Möglichkeit eines Transfers zwischen kreativen Gestaltungsprozessen und wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen (die im Rahmen des Beitrags eher theoretisch argumentiert wurde), müsste demnach auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse mindestens um biographische Reflexionsprozesse erweitert werden.