Öffentliche Bibliotheken und ihre Rolle für Bildung und Kultur in ländlichen Räumen
Abstract
Dieser beschreibende und analysierende Übersichtsartikel setzt sich mit Auftrag und Profil der Öffentlichen Bibliotheken und ihrer Rolle für Bildung und Kultur auseinander und fokussiert sich, wo immer möglich, auf die Situation in ländlichen Räumen. Während sich in den letzten Jahren die Stadt- und Gemeindebibliotheken darum bemüht haben, von Entscheidungsträgern und Öffentlichkeit als außerschulische „Bildungseinrichtung“ anerkannt zu werden, scheint in ihrem Profil die Bedeutung von Kultureller Bildung und im Kontext deren praktikable Umsetzung etwas verloren gegangen zu sein – so eine These. Dennoch geschieht durch zahlreiche Aktionen der Programm- und Veranstaltungsarbeit im Umfeld von Lese- und Medienkompetenzförderung jedes Jahr Beachtliches in den rund 5.000 kommunal und 3.300 kirchlich getragenen Öffentlichen Bibliotheken. Geringere Wirtschaftskraft und Steuereinnahmen engen jedoch in den meisten ländlichen Regionen den Spielraum für Unterhalt und Aufgabenbreite der Bibliotheken stark ein – ihr Status als „freiwillige Leistung“ der Kommunen behindert Kontinuität und Weiterentwicklung. Zum Ausgleich des Stadt-Land-Gefälles versuchen die Länder bzw. Kirchen mit Hilfe staatlich bzw. kirchlich getragener Fachstellen und Büchereizentralen Hilfestellung in ideeller, finanzieller oder praktischer Form zu leisten, verstärkt in ländlich und kleinstädtisch geprägten Regionen. Schulbibliotheken und mobile Fahrbibliotheken bieten sich als ergänzende Lösung an, um Medienvielfalt, Informationsvermittlung und kulturunterstützende Aktionen zu den Menschen zu bringen. Attraktiv ausgestattete Bibliotheken als ‚Dritte Orte‘ sollten – auch im Kleinen – mehr als bisher mit multifunktional eingerichteten Gebäuden und Räumen hohe Aufenthaltsqualität erzeugen und auch als Standortfaktor ernst genommen werden.
Zur aktuellen Situation der Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland
Auftrag der Bibliotheken
Seit den 1990er Jahren hat sich das Bild der meist kommunal, oft auch kirchlich getragenen Öffentlichen Bibliotheken in den Städten und Gemeinden unter dem Einfluss gesellschaftlicher, technologischer und medialer Entwicklungen stark gewandelt. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlichen Bibliotheken, d.h. den Hochschul-, Landes- und Spezialbibliotheken, verfolgen die Öffentliche Bibliotheken einen Auftrag, der sich nicht auf einzelne Nutzergruppen oder spezielle Themenbereiche konzentriert, sondern den Bedürfnissen einer breiten Öffentlichkeit verpflichtet ist – Schwerpunktgebiete und fokussierte einzelne Zielgruppen nicht ausgeschlossen. Dadurch unterliegen sie in besonderer Weise aber auch den kulturellen Veränderungen und den räumlichen Entwicklungen von Städten und Landregionen (Philip 2002:3).
Mit ihrem vielfältigen Informations-, Medien- und Dienstleistungsangebot bewegen sich die Öffentlichen in einem Umfeld, das geprägt ist von sich weiter ausdifferenzierenden sozialen Milieus, demografischem Wandel, steigenden Buchpreisen, einem expandierenden Markt digitaler und virtueller Medien, nicht zuletzt einem stark wachsenden Bildungsbedarf (Plassmann/Rösch/Seefeldt/Umlauf 2011:95). In vielen Großstadt-, Mittelstadt- und Kleinstadtbereichen sind Bibliotheken als niedrigschwellige Infrastruktureinrichtung für alle soziale Schichten und Altersstufen ein viel genutzter Ansprechpartner, Wissenslieferant und sozialer Treffpunkt, der unterschiedlichste Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse befriedigt. Quantitativ gesehen sind sie seit langem die meistbesuchte kulturelle Einrichtung der Kommunen. Unverändert ist ihr genereller Auftrag geblieben, für alle Bürger*innen einen wichtigen Beitrag zur Einlösung des verfassungsrechtlich verbrieften Grundrechts zu leisten, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“ (Grundgesetz Artikel 5, Absatz 1) – und das politisch neutral, frei von Kommerz und Gewinnmaximierung und so sozial und nah am Menschen wie möglich.
Anzahl der Bibliotheken
Wenn 2018 von den 11.254 Gemeinden in Deutschland rund 3.900 über eine kommunale Öffentliche Bibliothek (mit ca. 4.980 Bibliotheksstandorten inkl. Zweigstellen) verfügen – das sind rund 44% aller Gebietskörperschaften (Deutsche Bibliotheksstatistik DBS 2017), dann ist das eine durchaus respektable Anzahl. Hier jedoch von einem engmaschigen Bibliotheknetz zu sprechen, wäre realitätsfern. Und dass weniger als die Hälfte von ihnen hauptamtlich-fachlich geleitet ist, während der überwiegende Teil aus ehren- und nebenamtlich tätigen Kräften mit oft geringerer Fachkompetenz besteht, ist eine andere Tatsache, letzteres vor allem in ländlichen Räumen und Gemeinden unter fünftausend Einwohner*innen.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen die rund 3.300 meist kleineren, zu 98% ehrenamtlich geleiteten kirchlichen Öffentlichen Büchereien, die nahezu ausschließlich in kleinstädtisch und ländlich geprägten Gebieten außerhalb der Ballungszentren dazu beitragen, dass sich die Netzstruktur und damit die politisch erhoffte gleichwertige Versorgung aller Siedlungsbereiche verbessert: Auf diese Weise wird erreicht, dass in rund 73% aller Gemeinden eine Öffentliche Bibliothek vorhanden ist, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Größe und Leistungsfähigkeit. In städtischen Ballungsgebieten sind die vorhandenen Strukturen (Öffnungszeiten, Medienbestand, Personal- und Finanzausstattung) und der Bibliotheksausbau insgesamt meist besser als im Bundesdurchschnitt, in ländlichen Regionen dagegen deutlich schlechter entwickelt – das unbestreitbare Stadt-Land-Gefälle macht sich im Bibliothekssektor besonders stark bemerkbar.
Noch einige Zahlen mehr zur Veranschaulichung: Von den bundesweit existierenden 11.254 Gemeinden haben 10.554 Gemeinden weniger als 20.000 Einwohner*innen (= 93,8% aller Kommunen), unter 3.000 Einwohner*innen gibt es ca. 7.000 Gemeinden (= 62,2% aller Kommunen). Leben in den verbleibenden 700 Kommunen über 20.000 Einwohner ca. 45,3 Mio. Einwohner, so sind es in den kleinstädtischen und anderen ländlichen Regionen 37,6 Mio. Menschen, das macht bei einer Gesamtzahl von 82,9 Mio. in Deutschland lebenden Menschen anteilig 45,4% (vgl. Statista 2018). Die hier behandelte Thematik im ländlichen Raum hat also eine unmittelbare Relevanz für mindestens ein Drittel der bundesdeutschen Einwohner*innen und für zwei Drittel aller Gemeinden.
Kulturelle Bildung in Bibliotheken
Angebote Kultureller Bildung scheinen allerdings auf den ersten Blick im Profilbild vieler Öffentlicher Bibliotheken kaum als solches speziell ausgewiesen zu sein. Dies mag daran liegen, dass der Begriff im bibliothekspolitischen Verständnis nicht hinreichend genug definiert ist oder es fehlt an prägnanten Zielsetzungen und konkretisierenden Beschreibungen: Was verbirgt sich genauer dahinter? Oder liegt dieses Desiderat daran, dass die Thematik seit jeher von anderen Kultureinrichtungen wie Museen, Theater, Musikschulen besetzt wird und Bibliotheken die Sache eher zur Seite gelegt haben? Diese Einschätzung lässt sich zumindest aufgrund der fehlenden Thematik in der bibliothekarischen Fachdiskussion ziehen. Bezogen auf Bibliotheken wäre zu hinterfragen: Welche Inhalte und Vorstellungen, Ziele und Erwartungen soll Kulturelle Bildung explizit erfüllen? Was kann und soll in Bibliotheken erreicht werden, was andere Kultureinrichtungen nicht schon besser machen? Wer profitiert davon, welchen bildungspolitischen oder wirtschaftlichen Nutzen bringt sie, welches verbesserte Image könnte damit erreicht? Ist Kulturelle Bildung ein vollwertiger Bestandteil im Kanon aller vorhandenen Bildungsfunktionen, die primäre wie auch sekundäre Bildungs- und Kulturinstitutionen teils mit, teils ohne gesetzlichen Auftrag zu erfüllen haben? Hier wären klare Einschätzungen, Zielvorgaben und Handlungsvorschläge notwendig und sinnvoll.
Wurde nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte hinweg die Öffentliche Bibliothek ausschließlich als Kultureinrichtung gesehen und so auch von Politik und Öffentlichkeit eingeordnet, so vollzieht sich seit der Wiedervereinigung ein Wandel hin zu ihrer Anerkennung als Bildungseinrichtung. Öffentliche Bibliotheken sind heute intensiv darum bemüht, sich als (sekundäre) Bildungseinrichtungen zu profilieren und von Schul- und anderen Bildungseinrichtungen sowie der Bildungspolitik als gleichwertiger Partner ernst genommen zu werden: Bildungsaufgaben zählen schließlich zu den gesetzlich verpflichtenden, finanziell stark geförderten Einrichtungen im Gegensatz zum freiwilligen Kulturbereich. Zu diesen Pflichtaufgaben würden die Bibliotheken gern gehören und ringen seit langem mit Unterstützung ihrer Verbände in Bund, Land und Kommune um eine solche Rolle.
Wenn man sich derart stark auf elementare Bildungsfunktionen fokussiert, so auch kritische Stimmen, bestehe dann nicht die Gefahr, dass jenes starke zweite kulturelle Standbein der Öffentlichen Bibliotheken in Vergessenheit zu geraten droht? Welches politische Gewicht hat heute überhaupt die „Kulturelle Bildung“ – immerhin eine Begrifflichkeit, in dem „Kultur“ und „Bildung“ scheinbar gleichwertig nebeneinander zusammengeführt werden? Festzustellen ist, dass die primären Ziele kommunaler Bibliotheksarbeit seit langem – und sehr wahrscheinlich auch in naher Zukunft – in der Leseförderung von Kindern und Jugendlichen, der Unterstützung in der (immer stärker digital ausgerichteten) Medien- und Recherchekompetenz, in der aktiven Begleitung und Hilfe bei schulischer und beruflicher (Aus-, Fort- und Weiter-)Bildung sowie bei allen Aspekten eines individuellen Lebenslangen Lernens liegen. Hier vollzieht sich ihr Kerngeschäft, hier tragen die Bibliotheken wichtige Dienstleistungen und Hilfen bei.
Oder ist alles, was Bibliotheken per se machen, letztlich Kulturarbeit und damit – wie selbstverständlich – bereits auch „Kulturelle Bildung“? Pragmatiker*innen in den Bibliotheken werden das gelassener sehen: Mal schlägt das Pendel ihrer bibliothekarischen Arbeit, ihrer Angebote und Serviceleistungen eben mehr zur „Kultur“ aus, ein anderes Mal mehr zur „Bildung“. Wenn dem so ist, dann sind die geäußerten kritischen Einschätzungen obsolet und man kann sie beruhigt streichen.
Es wäre aus Sicht des Autors wichtig, den Kulturbegriff zu erweitern und ihn in einer Neudefinition nicht allein nur auf Institutionen oder Sparten zu fokussieren. Ich teile die Einschätzung, dass besonders in kleineren Städten und Gemeinden neben Kultureinrichtungen wie Bibliotheken, Musik- und Kunstschulen sowie Museen auch in ehemaligen landwirtschaftlichen, handwerklichen oder dem Handel dienenden Gebäuden, in Klöstern, Burgen und Schlössern, neben Kulturzentren, Gemeinde- bzw. Bürgerhäusern auch Volkshochschulen, Tourismusbüros, Vereine, Nachbarschaften, Privatiers und Unternehmen als Kulturakteure aufzunehmen und zu beteiligen sind. Damit wären denn auch die wichtigsten Player genannt, mit denen je nach Region und Umfeld und auf Augenhöhe Bibliotheken partnerschaftliche Kooperationsvereinbarungen treffen sollten.
Über allen begonnenen Bestrebungen um eine Stärkung der Kulturellen Bildung schwebt allerdings ein Kernproblem: Gemeint ist, speziell auch im Bibliotheksbereich, die schwache politische und rechtliche Verankerung von Kultureinrichtungen – im Gegensatz zu Bildungseinrichtungen wie etwa Schule, Volkshochschule oder Hochschule. In der Bundesrepublik gibt es kein bundesweit geltendes Bibliotheksgesetz und seit der Wiedervereinigung haben bisher nur fünf der 16 Bundesländer eigene Bibliotheksgesetze in ihren Parlamenten verabschiedet – allerdings ohne verbindliche Normen und Verpflichtungen, so zählen Öffentliche Bibliotheken weiterhin zu den sogenannten „freiwilligen Aufgaben“ der Gemeinden (Praxishandbuch Bibliotheksmanagement 2015:25). Das heißt, keine Kommune muss eine Bibliothek aufbauen oder unterhalten, kann es aber tun, wenn sie den Auftrag ernst nimmt, den die Gemeinden aufgrund der Gemeindeordnungen im Bereich von Bildung und Kultur wahrzunehmen haben. Gestützt auf diesen allgemeinen Auftrag, Notwendiges zur kulturellen Daseinsvorsorge ihrer Bürger*innen beizutragen, unterhalten Kommunen – stark abhängig von ihrer Größe und Finanzkraft – neben Theater, Orchester, Museum, Archiv, Musik- oder Volkshochschule eben auch eine Öffentliche Bibliothek (Seefeldt/Syré 2017:26).
Bibliotheksarbeit in ländlichen Räumen
Bibliotheken in ländlichen Räumen
Ländliche Regionen, was ist das? Aktuelle verbindliche Definitionen sind eher rar. Verstanden werden sie als eine Raumkategorie, die in ländliche Kreise höherer Dichte und ländliche Kreise geringerer Dichte unterteilt wird und den verstädterten Räumen sowie den städtischen Ballungszentren gegenübersteht. Wie inzwischen unter Fachleuten unbestritten, gibt es den ländlichen Raum eigentlich gar nicht. Breit akzeptiert ist heute, dass ausschlaggebend für das Attribut „ländlich“ der Grad der Entfernung zum nächsten Mittel- oder Oberzentrum sowie die Siedlungsstruktur oder der Grad an landwirtschaftlicher Prägung bestimmend ist.
Die Fakten sind eindeutig: Je kleiner und damit wirtschaftlich schwächer eine Kommune ist, umso geringer fallen meist das kulturelle Engagement und die Pro-Kopf-Ausgaben für die Kultur an – so gesehen eine Art von Teufelskreis. Es bleibt finanziell nur wenig Spielraum, ein hinreichend attraktives Kulturangebot zu unterbreiten oder neue mobile Vermittlungsformate anzubieten. Um gerade in ländlichen Regionen Kulturangebote zu nutzen, müssen Kinder, Jugendliche sowie Berufstätige und Senior*innen oftmals lange Wege in die nächst größere Mittel- oder Großstadt zurücklegen, was oft durch einen eingeschränkten ÖPNV oder die Einbindung in den Ganztagsschulbetrieb erschwert wird. Die heutige Realität ist für bestimmte gesellschaftliche Gruppen ernüchternd: Zwar kann das Leben auf dem Land durchaus idyllisch, erholsam und ruhig sein, jedoch für viele auch einsam, wenn es keinen bedarfsorientierten Bus- oder Zugverkehr oder Menschen ohne Autos gibt, also die persönliche Mobilität der Menschen und damit die Erreichbarkeit für sie wichtiger Einrichtungen wie Supermarkt, Arzt, Apotheke, Schule, Gemeindeverwaltung, Vereinshäuser und Kultureinrichtungen stark eingeschränkt ist. Die zunehmend älter werdenden Menschen registrieren diese Entwicklung mit Sorge und Hilflosigkeit. Die leicht anwachsende Zahl von beispielsweise ehrenamtlich organisierten Bürgerbussen zum individuellen Transfer von A nach B mag eine rühmliche Ausnahme sein. Bürgernahe Einrichtungen, ob standortfest oder mobil, am besten fußläufig oder zumindest mit geringem Aufwand an Verkehrstechnik zu erreichen, wären da schon ein wichtiger Pluspunkt für die ländliche Region. Liefer- und Paketdienste aller Art kämen für bestimmte Bedarfe ergänzend oder alternativ durchaus auch in Frage.
Ziele der Bibliotheksarbeit
Wenn auch das Ziel, eine möglichst breite Öffentlichkeit aller Schichten und Gruppen anzusprechen und an die Öffentlichen Bibliotheken heranzuführen, allgemeingültig bleibt, so stehen fast überall die jungen Benutzergruppen der 3- bis 16-Jährigen im Fokus der Bibliotheksarbeit – im städtischen wie im ländlichen Bereich sind die Erfahrungen annähernd gleich. Sprach- und Lesefähigkeit werden von allen politischen und fachlichen Akteuren als die entscheidenden Grundvoraussetzungen für den Erwerb von Bildung, schulischen und beruflichen Erfolg angesehen. Im Einklang mit der gewachsenen Bedeutung von Sprach- und Leseförderung und der Vermittlung von Recherche- und Medienkompetenz konzentrieren sich die Bibliotheken – gerade auch in kleineren Kommunen und den kirchlich getragenen Büchereien – auf Angebote und Dienste für die jungen Altersgruppen von sechs bis 16 Jahre, vermehrt auch schon der Zwei- bis Fünf-Jährigen (Plassmann et al 2011:96). Oftmals sind mehr als ein Drittel der Buch- und Medienbestände auf diese Benutzergruppe ausgerichtet und eine entsprechende altersgerechte Mobiliarausstattung und Raumaufteilung unterstützt dieses Anliegen.
Dementsprechend spielt die Kinder- und Jugendliteratur und die zahlreichen Möglichkeiten ihrer aktiven Nutzung und Darbietung eine bedeutsame Rolle im Aufgabenprofil aller Öffentlichen Bibliotheken. Den Bibliothekar*innen ist bewusst, dass gerade dieses Medium einen entscheidenden Beitrag zur Lesesozialisation leistet, bei dem das Lesen schlechthin als eine der grundlegenden Kulturtechniken gelernt wird. Lernhandlungen wie das selbstständige Erfassen, Verstehen und Erkennen der sozialen Wirklichkeit, wie sie von Pädagog*innen erläutert werden, werden durch das Lesen maßgeblich beeinflusst. Lesekompetenz also bietet eine wichtige Grundlage für Partizipation und das bereits in der frühen Kindheit.
Bibliotheken als Lern- und Freizeitort
Die Begriffe Leseförderung – im speziellen auch Lesekompetenz und Leseleistung – werden von Pädagog*innen und Bibliothekar*innen jedoch unterschiedlich definiert und genutzt. Unter Leseförderung wird im Allgemeinen eine etwas unscharf definierte Sammelbezeichnung für verschiedene methodische Verfahren verstanden, die das Leseinteresse, die Lesemenge, die Leseflüssigkeit oder das Textverständnis fördern und verbessern sollen. Leseförderung im bibliothekarischen Sinne soll zum Lesen animieren und ein stabiles Leseverhalten aufbauen, also eine positive Beeinflussung von Lesemotivation und Lesegewohnheit erzeugen. Hier bieten Öffentliche Bibliotheken jeder Größenordnung, im städtischen wie im ländlichen Umfeld, mit ihren alters- und entwicklungsgerecht ausgewählten Buch- und Medienbeständen die jeweils passende Lektüre an.
Schaut man sich die Vielfalt der dargebotenen Aktionen und Veranstaltungen an, so haben die meisten Bibliotheken gesellschaftliche und soziale Funktionen übernommen und sich zu Kommunikations- und Kulturzentren entwickelt, die die soziale und kulturelle Infrastruktur einer Kommune bereichern (Plassmann et al 2011:96). Unbestritten ist ihre Bedeutung und Funktion als öffentlicher Treffpunkt, als Freizeit- und als Lernort gewachsen. Vor dem Hintergrund einer langsam steigenden Verarmung bestimmter Bevölkerungsgruppen und sozialer Milieus – die Schere zwischen Arm und Reich klafft nach Erhebungen jedes Jahr ein Stück weiter auseinander – gewinnen sozialpolitische Aspekte in der Bibliotheksarbeit wieder an Gewicht. Bücher zu kaufen, ist für viele Menschen aller Altersschichten nicht selbstverständlich und nicht überall ist zuhause ein eigener PC mit Internetzugang verfügbar.
Ein weiteres erkennbares Desiderat ist das häufige Fehlen einer handlungsbasierten Projektion von Kultureller Bildung im Bibliotheksbereich des ländlichen Raumes. Traditionelle Kulturarbeit von Museen, Theatern, Musikschulen etc. war bisher nahezu ausschließlich als Stadtkultur definiert, Dörfer und Kleinstädte kannten sie nur begrenzt. Allein die nur eingeschränkt verfügbaren Mittel und die begrenzte Raumgröße vorhandener Öffentlicher Bibliotheken reduzieren die Chancen stark, als attraktiver Standort für kulturelle Aktivitäten wahr- und ernst genommen zu werden.
Situation der Bibliotheken in ländlichen Räumen
Wie sieht die Realität in ländlichen Regionen unterhalb von 5.000 Einwohner*innen aus? Die (kommunal oder kirchlich getragenen) Bibliotheken sind räumlich deutlich kleiner als in Mittel- und Großstädten mit mehreren hundert oder tausend Quadratmetern Fläche. Oft steht nicht mehr als ein Gebäude in Klassenraumgröße von rund 50-70 qm zur Verfügung. Die Öffnungszeiten pro Woche beschränken sich auf sechs bis zehn Stunden, verteilt auf zwei oder drei Tage. Die Erwerbungsetats für Medien sind geringer und liegen oft nur um oder unter ein Euro pro Einwohner*in. Die Leitung arbeitet ehrenamtlich, ggf. ist ein Team von zwei bis vier Mitarbeiter*innen im Einsatz, in kirchlichen Büchereien sogar bis zu zehn oder 15 Personen. Das ehrenamtliche Engagement ist oft sehr couragiert und um Professionalität bemüht, aber alles in allem nur dort zufriedenstellend aufgestellt, wo es mit Hilfe von staatlich oder kirchlich getragenen Fachstellen kontinuierliches fachliches Know How erhält.
Ein entscheidender Punkt ist also die Frage: Existieren in einem Bundesland staatlich bzw. kirchlich getragene oder unterstützte Fachstellen oder Büchereizentralen, die fachlich steuernd eingreifen, mit Ideen, Konzepten und Maßnahmen motivieren, qualitativ angemessene Aus- und Fortbildungsangebote bereithalten, wenn möglich unterschiedliche Anreiz- und Finanzierungshilfen anbieten können und damit als Motor und Initiator für eine breit gefächerte Palette an Unterstützungsleistungen auftreten? In 15 der 16 Bundesländer – außer Berlin – sind Fachstellen solcher Art vorhanden (24 staatliche und 15 kirchliche), die trotz unterschiedlicher personeller und sächlicher Ausstattung und Aufgabenstellung insbesondere im kleinstädtischen und dörflichen ländlichen Raum unerlässliche Partner der Stadt- und Gemeindebibliotheken sind (Seefeldt/Syré 2017:69-71). Bei allen kultur- und bildungspolitischen Planungen und Überlegungen der Entscheidungsträger von Bund, Land und Kommune bezüglich der künftigen stärkeren und nachhaltigen Förderung des ländlichen Raumes müssten im Bibliotheksbereich die Fachstellen unbedingt mitbeteiligt werden.
Bibliotheken als ‚Dritte Orte‘ – auch im Kleinen
Ein Schlagwort hat wie kaum ein zweites die aktuelle Fachdiskussion um neue Konzepte und Profilbildung belebt: Bibliotheken als Dritte Orte. Der aus der Soziologie entlehnte Fachbegriff beschreibt die strategische Entscheidung von Bibliotheken, sich neben vielen anderen Profilierungsvorhaben vor allem auch als Kommunikationsort und gesellschaftlichen Raum neu zu entwickeln. Öffentliche Bibliotheken, wenn sie sich als solche Dritte Orte verstehen, wollen mit ihren Gebäuden nicht nur auffällige architektonische Akzente setzen, also außen wie innen von der Bevölkerung gesehen werden und mit Hilfe einer hohen Aufenthaltsqualität die Funktion von breit anerkannten sozialen Orten übernehmen. Tatsächlich prägen eine wachsende Zahl moderner Bibliotheksneubauten oder Umbauten historischer Gebäude viele Orte in bemerkenswertem Maße.
Nach dem Vorbild anderer Bibliotheken beispielsweise in Skandinavien, Großbritannien, den Niederlanden oder den USA haben einige Bibliotheken Ideen entwickelt angestellt, wie sich im eigenen Haus oder im nahen Umfeld andere Dienstleistungseinrichtungen integrieren lassen: Tourist-Informationen, Volkshochschulen, Museen, Restaurants, Cafeterien, Buchhandlungen, Bankfilialen oder Ausstellungs- und Konferenzräume sind Beispiele. Bibliotheken zu lebendigen Lernorten und Informationszentren zu entwickeln, die Räume fürs Arbeiten Einzelner oder von Gruppen bereithalten, gerät in Großstädten den Fokus bibliothekarischer Zielsetzungen. Dies auch im kleineren Rahmen auf die ländlichen Regionen zu übertragen, wäre eine sinnvolle synergiestiftende Herausforderung und Aufgabe. Nicht nur Lernen oder wissenschaftliches Arbeiten, auch Kunst-Ausstellungen oder Theaterprojekte, Musik- und Gesangsabende lassen sich in angemessen großen, multifunktional eingerichteten Bibliotheksräumen gut durchführen. Da die Bedürfnisse der Benutzer*innen und Teilnehmer*innen unterschiedlich sind, bedarf es einer flexiblen, technisch aktuellen und vielseitig nutzbaren Raumausstattung.
Wie die Diskrepanz zwischen der Zahl aktiver Medien-Entleiher*innen und der weitaus höheren Anzahl der ermittelten Besucher*innen in Bibliotheken belegt, existiert ein erheblicher Bedarf an öffentlich zugänglichen sozialen Kommunikations- und Veranstaltungsräumen. Schon heute ist die Cafeteria aus einer modernen Bibliothek nicht mehr wegzudenken. Angenehm möblierte Räume, sogenannte „Living Rooms“, etablieren sich in angelsächsischen und skandinavischen Bibliotheken, in denen sich die Besucher zwanglos zum Gespräch, zum Surfen im Internet, zum Kaffeetrinken oder zu entspanntem Lesen aufhalten können. Oder sie können bei Bedarf Kunstobjekte betrachten, Musik hören oder miteinander in Theaterkursen und Projekten interagieren. Innenarchitekt*innen müssen sich mehr denn je einer erlebnisorientierten Gestaltung variabler und sicher auch „funktionsfreier“ Räume widmen. Zudem sollten Öffnungszeiten bis in die Abendstunden und am Wochenende, bei Bedarf auch sonntags, selbstverständlich werden können. Die Bibliothek von heute – nicht erst die von morgen und auch die kleinere auf dem Lande – ist im Sinne des Dritten Ortes ein Haus kollektiver Inspiration, ein Ort mit Ambiente und Stil, wo man sich gerne aufhält und zwanglos der Welt der Informationsrecherche, der Bücher und modernen Medien, der Menschen und ihren literarischen oder künstlerischen Werken begegnet (Seefeldt/Syré 2017:142). Letztlich werden Bibliotheken dieser Art auch zum Standortfaktor und Frequenzbringer für die örtliche Wirtschaft oder den Tourismus.
Programm- und Veranstaltungsarbeit als eine Säule kultureller Bildungsangebote
Wenn klar ist, dass viele der Bibliotheksangebote als kulturelle Bildungsarbeit zu verstehen sind, dann haben Öffentliche Bibliotheken ein großes Pfund, mit dem sie wuchern können: Ihre zahlreichen Veranstaltungen. Allein die Programm- und Veranstaltungsarbeit, die Öffentliche Bibliotheken wöchentlich und monatlich leisten – und häufig auch in den Klein- und Kleinstbibliotheken ländlicher Regionen – ist enorm und wächst jährlich an, quantitativ und durchaus auch qualitativ betrachtet. 2015 wurden insgesamt rund 374.000 Veranstaltungen von und in (rund 8.500) Bibliotheksstandorten durchgeführt. Rund die Hälfte der Veranstaltungen richtete sich an Kinder: Bibliothekseinführungen Ausstellungen, Lesungen, Musik-, Theater-, Kleinkunstaktionen u.a. (Datenposter 2016:Bibliotheken zählen! Berichtsjahr 2015). Statistisch gesehen gab es pro Bibliothek 44 Veranstaltungen im Jahr. Das entspricht im Monat drei bis vier Veranstaltungen. In vielen kleinen Gemeindebüchereien – gerade in Orten unter 3.000 Einwohner*innen –ist es durchaus realistisch, pro Monat zwei und mehr Veranstaltungen unterschiedlichster Art und Zielgruppen durchzuführen, meist in Kooperation mit Kindergärten und Schulen und auch dort.
Bei der Programm- und Veranstaltungsarbeit geht es den Bibliotheken – neben pädagogischen Aspekten wie Lesemotivation und Sprachbildung, Medienkompetenzgewinnung und Fortbildung oder Kreativität, Unterhaltung und sinnvolle Freizeitgestaltung ebenso um gesellschaftspolitische Aspekte wie etwa Teilhabe am demokratischem Dialog – natürlich auch darum, die book- und non-book-Bestände proaktiv in die Öffentlichkeit zu tragen und breite Zielgruppen in die Bibliotheken zu holen.
Aus den vielfältigen Aktionsbeispielen kann hier nur ein kleiner Teil schlaglichtartig skizziert werden. Dazu gehören:
- Regelmäßige Vorlesestunden für Kinder von 1-7 Jahren
- Durchführung von Bilderbuchkinos für Kinder von 4-7 Jahren
- Autor*innenlesungen und Begegnungen mit Illustrator*innen
- Spiel- und Bastelnachmittage nach Buchvorlagen
- Video- und Film-Vorführungen für alle Altersgruppen
- Durchführung von „Sommerleseclubs“ in den Ferien
- moderne Formen wie interaktive Boardstories, social reading und transmediales Erzählen
- Lese-Workshops und Literaturgesprächskreise für verschiedene Altersstufen
- Organisation von Schreib- und Literaturwerkstätten
- Lesenächte mit Schulklassen oder gemischten Kinder- und Jugendgruppen
- diverse Formen von Klassenführungen: erlebnis-, themen- oder auskunftsorientiert
- Einrichten einer Tauschbörse, einer Leseecke oder eines Bücherregals in einer Schulklasse (Seefeldt/Syré 2017:80).
Leseförderung
Ein Augenmerk legen Bibliotheken verstärkt auf Maßnahmen zur geschlechtersensiblen Leseförderung, die dann greifen, wenn verschiedene Partner kooperieren und sich ergänzen: Gefragt sind Eltern, Erzieher*innen, Lehrer*innen, Bibliotheken, Buchhandlungen, Verlage und nicht zuletzt die Politik. Forschungsergebnisse zeigen, dass geschlechtsbezogene Vorurteile sowohl die Bildungsergebnisse von Mädchen und Jungen als auch deren Berufsentscheidung beeinflussen können. Es geht hier weder um das Beibehalten von überkommenen Rollenvorstellungen noch um Gleichmacherei. Bei Mädchen wie Jungen ist es wichtig, ihre Bedürfnisse und Interessen individuell zu erfahren und ihre Vorlieben zuzulassen. Neben der besonderen Leseförderung für Jungen bleibt unbestritten auch die Mädchenleseförderung bedeutsam, gerade um deren Neigung für frauenuntypische Themen und Berufe zu erkennen.
Neben den konventionellen Buch-Medien fallen vermehrt digitale und multimediale Angebote in den Blickpunkt moderner Leseförderung. Zu nennen sind hybride Bilderbücher, die nach dem Prinzip der Augmented Reality funktionieren: Hier erleben Kinder im Kita-Alter das klassische Bilderbuch mit Text auf ihrem Tablet oder Smartphone über verschiedene Apps einmal anders, d. h. mit Geräusch- und Video-Beispielen. Für ältere Kinder gibt es Angebote, per App eigene E-Books zu erstellen oder Social-Reading-Angebote, die den online geführten Austausch über Texte zulassen.
Kooperationsprojekte
In Ergänzung zu den von den Ländern finanzierten Aktionen hat sich seit geraumer Zeit der Bund in die Leseförderung eingebracht. Das geschieht vor allem durch eine Zusammenarbeit des Bundesforschungsministeriums (BMBF) mit der Stiftung Lesen und dem Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv), dem Borromäusverein, dem Evangelischen Literaturportal, dem Sankt Michaelsbund und der Fachstellenkonferenz (Seefeldt/Syré 2017:81). Die in den letzten Jahren vor allem vom BMBF entwickelten Förder- und Kooperationsmodelle, an denen sich pro Jahr viele Dutzend Öffentliche Bibliotheken, speziell über den dbv als Koordinator, beteiligen, um mit theater-, kunst-, musik-, denkmal-, gesangs- und medienbezogenen Einrichtungen und Gruppierungen Gemeinschaftsprojekte zu entwickeln, sind wichtige Aktionen mit einer steten Herausforderung: Die angebotenen Projekte gelten in der Beantragung, Vor- und Nachbereitung als recht bürokratisch, arbeits- und personalaufwendig, da im intensiven Gedankenaustausch mit anderen Kultureinrichtungen am Ort praxisbezogene und ideelle Schnittstellen und Synergien auszuloten und später in durchführbare Aktionen umzusetzen sind. Einige der Projekte, die z.B. Programmkinos, Kinder- und Jugendtheatergruppen, Jugendscheunen, Brauchtumsvereine wie Gesangsvereine, Amateurtheater oder Musikschulen ansprechen, scheinen auf den ersten Blick inhaltlich an der traditionellen Arbeit vieler Bibliotheken vorbeizulaufen. Wer den Blick jedoch weitet, kreativ ist und über den Tellerrand schauen kann, wird entdecken, dass sinnvolle Kooperationen mit verteilten Rollen sehr wohl möglich sind. Manchmal verhindert vielleicht der Konkurrenzgedanke eine Annäherung. Netzwerke zu entwickeln ist zwar zeit- und personalaufwändig, dennoch unverzichtbar.
Der eingeleitete Wandel wird langsam sichtbar. wie eine zunehmende Zahl an Initiativen und Kooperationen von Öffentlichen Bibliotheken mit anderen örtlichen Kultureinrichtungen belegt, vor allem im kleinstädtischen Raum. Geringer fällt offensichtlich die Aktionsvielfalt in Regionen mit vorwiegend dörflichen Strukturen aus. Unter Verwendung aller Arten von book- und non-book-Medien – die in Öffentlichen Bibliotheken generell und obligatorisch mehr oder minder breit vorhanden sind – wurden in den letzten zwei, drei Jahren einige vielversprechende Projekte entwickelt und partnerschaftlich gemeinsam durchgeführt wie:
- In Ferien-Workshops erstellten Kinder und Jugendliche der 4.700-Einwohner*innen-Stadt Erdmannhausen (Baden-Württemberg) unter dem Titel „Entdecke dein Erdmannhausen – Actionbound für Erdmannhausen“ mit der App Actionbound Rallyes durch die Stadt. Sie drehten eigene Filme bzw. filmten Interviews und fotografierten Bilder für die Erstellung von Comics.
- In der Stadtbücherei Schneverdingen in der Lüneburger Heide, einer Gemeinde mit 19.000 Einwohner*innen, wurden unter dem Titel „Kinderbücher, Filme & Apps“ in zehn Lesetandems zwischen Kindern und Senior*innen gebildet. Während der wöchentlichen Treffen wurde die Lesekompetenz der Kinder durch gemeinsames Lesen, Vorlesen und die Nutzung von Lese-Apps gefördert. Kinobesuche von Buchverfilmungen rundeten das Programm ab.
- Im Projekt „Natur meets Technik – erstelle deine Story“ der Stadtbücherei Espelkamp
in Nordrhein-Westfalen mit 25.000 Einwohner*Innen erstellten Kinder in einer Ferienprojektwoche nach gemeinsamer Lektüre eines Sachbuches und einem Besuch beim Förster mit Tablets eigene Foto-Stories zu Tieren im Wald.
Im Rahmen des vom BMBF finanzierten und dem dbv zusammen mit der Stiftung Digitale Chancen organisierten Projekts Lesen macht stark: Lesen und digitale Medien konnten von 2013 bis 2017 in 16 Bundesländern unter Beteiligung von Bibliotheken mehr als 350 Bündnisse für Bildung realisiert werden, davon schätzungsweise 15% von Bibliotheken im klein- und mittelstädtischen Bereich. In den Projekten zur Förderung von Lese- und Medienkompetenz stand die eigenständige kreative Mediennutzung im Vordergrund. Dabei bildete stets ein (vor)gelesener Text den Ausgangspunkt der Aktion, der als Grundlage für eine Weiterentwicklung mit Hilfe von digitalen Medien, Social-Media-Anwendungen, Gaming, Geo- oder Edu-Caching sowie Film- oder Hörspielprojekten diente. Ehrenamtliche unterstützten die hauptamtlichen Bündnispartner vor Ort. Begleitend führte die Stiftung Digitale Chancen für die jeweils teilnehmenden Ehrenamtlichen eine kostenlose Qualifizierungskampagne mit Fortbildungskursen im Umgang mit neuen Medien durch (Seefeldt/Syré 2017:81).
Wichtige Ergänzungsfunktionen durch Fahrbibliotheken und Schulbibliotheken
Fahrbibliotheken
In der örtlichen wie auch überörtlichen Informations- und Medienversorgung nehmen neben den gebäudegebundenen Bibliotheken nach wie vor mobile Bibliotheken eine unverwechselbare Rolle ein. Solche Fahrbibliotheken werden nicht nur in den Großstadt-Randbezirken, sondern stark auch in dünn besiedelten ländlichen Regionen eingesetzt: Es sind unterschiedlich große Bücherbusse, die auf ihren fahrplanmäßigen Touren mit festen Standorten im Wochen- oder Zweiwochenturnus zwischen 3.000 und 6.000 Medien mitführen. In Deutschland sind 2013 ca. 90 Fahrbibliotheken mit rund 100 Fahrzeugen im Einsatz. 1995 waren es noch 150 Busse. Trotz der sinkenden Zahl der Fahrzeuge ist ihre Benutzung und Resonanz in der Bevölkerung auf hohem Niveau konstant geblieben. Die Busse bieten sich neben der Ausleihe von Medien für viele Gruppen auch als attraktiver Lern-, Spiel- und Vorleseorte an (Seefeldt/Syré 2017:59). Gerade in ländlichen Regionen wäre es dringend geboten, die Zahl der beispielsweise durch Landkreise getragenen Bücherbusse zu erhöhen und sie als Ersatz für nicht vorhandene standortgebundene Bibliotheken einzusetzen.
Mit der Einrichtung von Fahrbibliotheken verbunden ist meist der politische Wille, das vorhandene Stadt-Land-Gefälle hinsichtlich der Bibliotheksangebote zu verringern. Während in vielen Landgemeinden Bücherbusse auch kleine soziale und kulturelle Treffpunkte sind, fungieren sie in Großstädten als mobile Zweigstellen und fahren vielfach Schulen und Kindergärten an. Bisweilen ersetzen sie ortsgebundene Zweigstellen, die aus Einspargründen geschlossen werden. Vorrangige Zielgruppen sind Kinder und Jugendliche, Mütter und Väter mit Kleinkindern, Senior*innen und indes auch Geflüchtete. Eine Zusammenarbeit mit Einrichtungen wie Kindergarten, Grund- und weiterführende Schule gehört zur Kernaufgabe. Ebenso wie in den standortfesten Bibliotheken werden Bücherbusse zur Leseförderung genutzt, indem in ihnen Bibliothekseinführungen, unterrichtsbegleitende Lesestunden und themenbezogene Projekte für Kindergartengruppen und Schulklassen angeboten werden. Kooperationsverträge erfüllen zwischen den Institutionen gute Dienste, indem sie Ziele und Aufgabenverteilung gemeinsam festlegen sowie Schritte zur Realisierung beschreiben. Als sicher größte Vorteile kann die Fahrbibliothek damit werben, mobil und flexibel zu sein: Auf Änderungen in der Bevölkerungs- oder Infrastruktur kann sie mit neu angepassten Haltestellen und Fahrplänen rasch reagieren, Haltezeiten verlängern oder kürzen und Medienangebote erweitern. Fahrbibliotheken ermöglichen Schulkindern den regelmäßigen Besuch einer Bibliothek, häufig sind sie fester Bestandteil des Unterrichts (Seefeldt/Syré 2017:74).
Schulbibliotheken
Ähnliche Möglichkeiten für ergänzende Kultur- und Bildungsarbeit bieten ebenso die Bibliotheken in den Schulen. Schon allein zahlenmäßig verfügen Kleinstädte und größere Dörfer über mehr Grundschulen als über Gemeindebibliotheken. Seit Jahrzehnten sind Bibliotheken und Schulen eng miteinander verknüpft, wenn auch die Zusammenarbeit der Schulen und ihrer Schulbibliotheken mit den Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken lange Zeit hinweg sträflich vernachlässigt worden ist. Ähnlich wie mobile Bibliotheken können Schulbibliotheken und -mediotheken einen Beitrag leisten, die kulturelle Integrität eines Ortes oder einer Region zu stärken und ihre Nutzer*innen, Lehrer*innen ebenso wie Schüler*innen, als aktive Kulturförderer zu gewinnen. Voraussetzung ist das Vorhandensein räumlich, personell und medial zufriedenstellend ausgestatteter Schulbibliotheken – hier sieht die Realität in Stadt und Land völlig unterschiedlich aus.
Die Einrichtung, Ausstattung und fachliche Betreuung vieler Bibliotheken an Schulen ist hierzulande – gemessen an den Standards in skandinavischen und angloamerikanischen Ländern – nach wie vor unbefriedigend. Obwohl in der öffentlichen Wahrnehmung ihre Präsenz im Schulalltag zunimmt, führen sie oft genug ein Schattendasein. Zwar grundsätzlich nicht infrage gestellt, führen ungünstige Rahmenbedingungen und Kompetenzkonflikte zu einer extrem heterogenen Schulbibliothekslandschaft. Während in Großstädten Schulbibliotheken oft fachlich geführte Zweigstelle eines großstädtischen Systems sind, überwiegt in Mittel- und Kleinstädten die organisatorisch selbständige Schulbücherei, die i.d.R. von Lehrer*innen nebenamtlich organisiert und geleitet und in der Alltagspraxis von Schüler*innen, Eltern und anderen angelernten Kräften ehrenamtlich geführt werden. Es ist honorabel, aber aus fachlicher Sicht auch ernüchternd, dass bundesweit rund 90% der geschätzt mehr als 8.000 Schulbibliotheken und -mediotheken nur durch bürgerschaftliches Engagement neben- und ehrenamtlich tätiger Kräfte ihre Aufgabe erfüllen können.
Dort, wo eine angemessene finanzielle, personelle und räumliche Ausstattung vorhanden ist, erfüllen Schulbibliotheken als Informationszentrum, Unterrichtsraum, Kommunikationsplattform, kulturelles Zentrum, auch als Zentrum für Medienproduktionen, und zur Freizeitgestaltung und Leseförderung wichtige kulturelle Funktionen. Dank der Zunahme an Ganztagsschulen und regelmäßigem Nachmittagsunterricht rücken Schulbibliothekskonzepte in den Vordergrund, in denen sich die Einrichtung zugleich als Lernort sowie Ort der Entspannung und Betreuung positioniert. Neu wäre, sie noch stärker als kultureller Ort zu platzieren, so etwa durch:
- gemeinsame Veranstaltungen von Gemeindebibliothek und Schulbibliothek wie Autor*innen-Lesungen, Kleinkunst- und Puppentheater-Aufführungen,
- Ausbau als attraktives Forum für Vorträge, Diskussionen, Übungen u.a. oder
- frühzeitige und regelmäßige Nutzung von Bestand und Raum im Rahmen des Unterrichts der Fächer Kunst, Musik, Deutsch, z.B. mit Theater- und Literatur-AG.
Ausblick
"Kulturelle Bildung ist der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe und zu gesellschaftlichem Zusammenhalt", wie es die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Meiden, Monika Grütters, immer wieder betont (Pressemitteilung Nr. 234/2018 der Bundesregierung). Wenn zugleich Kulturelle Bildung für die Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen als unverzichtbar erklärt wird, dann kann das konsequenterweise nur bedeuten, dass alle Aspekte rund um Kulturelle Bildung mit guten Ideen und langfristigen Aktionen, fairen Kooperationsmodellen und einfach handhabbaren Vorgaben, vor allem aber mit angemessenen finanziellen Ressourcen und Anreizen zur Teilnahme kontinuierlich begleitet und gefördert werden sollten. Einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen gehen beispielgebend voran, in dem sie Kulturelle Bildung zum Kern des Bildungs- und Erziehungsauftrags in formeller, nicht-formeller und informeller Bildung deklarieren (vgl. Arbeitsstelle Kulturelle Bildung in Schule und Jugendarbeit NRW).
Den Absichtserklärungen sollten wie überall Taten folgen: Beim Ausbau der künstlerisch-kulturellen Bildung in Schulen, in der außerschulischen Jugendbildung und Jugendkulturarbeit sowie in den diversen Kultureinrichtungen der Städte und Gemeinden sollten noch viel mehr sinnvolle Projekte und Aktionen finanziell und organisatorisch angestoßen werden. Alle zur Teilnahme motivierten Kultur- und Bildungseinrichtungen müssen sich auf Augenhöhe mit dem Ziel begegnen und vernetzen, praktikable und faire Kooperationsmodelle abschließen zu wollen. Die in solchen Papieren oft vergessenen (Öffentlichen) Bibliotheken sind selbstverständlicher Teil dieses Paktes. Das ist im Zeitalter von gefälschten Fakten, wachsendem Populismus und Nationalstaatendenken, realen Handelskriegen und Unsicherheiten über die Folgen der Ausbreitung von künstlicher Intelligenz und Robotisierung auch für die Bibliotheken in Stadt und Land keine geringere Herausforderung.