Normativität der Ästhetischen Bildung

Von der Orientierung an der Notwendigkeit zur Orientierung an der Möglichkeit

Artikel-Metadaten

von Jörg Zirfas

Erscheinungsjahr: 2023/2022

Abstract

Die zentralen Dimensionen der Ästhetischen Bildung sind Wahrnehmen und Urteilen, Gestalten und Stilisieren und das Interesse an der Welt und anderen Menschen. Historisch lässt sich ein Wechsel von einem objektiven zu einem subjektiven Modell der Ästhetischen Bildung konstatieren. In der voraufklärerischen Regelpoetik geht es um die Nachahmung von ewigen, schönen, wahren und guten Gesetzmäßigkeiten: In der Bildung dürfen nur diese Gesetzmäßigkeiten zur Nachahmung gebracht werden, da alles, was Menschen früh und intensiv aufnehmen, zur zweiten Natur wird. In der modernen Erfahrungsästhetik geht es dagegen um Kreativität, um die Orientierung an Möglichkeit, Spiel, Experiment, Kritik und Selbstzweckhaftigkeit: Es geht um die Entwicklung eines individuellen Geschmacks, um subjektive Erfahrungen und originelle Weiterentwicklungen. Für die Moderne lassen sich vor diesem Hintergrund zwei normative Modelle Ästhetischer Bildung skizzieren: ein verstehendes und partizipierendes Modell, das sich den vorgegebenen und normativen Stilen und Gestaltungen affirmativ anpasst; und ein distanzierendes, erschütterndes und veränderndes Modell, das zum Bruch mit den vorherrschenden Symbolisierungsweisen und ästhetischen Praktiken führt. Ästhetische Bildung ist heute einer Normativität des Möglichen verpflichtet und damit auch der Möglichkeit, andere Möglichkeiten des Normativen auszuloten.

Einleitung

Der vorliegende Artikel unternimmt den Versuch, der Normativität der Ästhetischen Bildung in ihrer Geschichte nachzugehen. Der Begriff der Norm, der auf das lat. norma, Winkelmaß, Richtschnur, Regel zurückgeht, das wiederum vom gr. kalon, Maßstab, Regel abgeleitet wird, stammt wohl ursprünglich aus der Architektonik, wo er im Sinne von Winkelmaß und Richtschnur gebraucht worden ist, bevor er dann auf geistige und kulturelle Phänomene übertragen wurde. Dabei kann das architektonische Maß und die geistige Regel sowohl aus der (göttlich gedachten) Natur selbst, die als Baumeisterin verstanden worden ist, wie auch aus ihrem ihm zugrunde liegenden Vernunftgesetz abgeleitet werden (vgl. Hofmann 1984). Historisch betrachtet orientiert sich der (ästhetische) Normbegriff bis in die Neuzeit hinein an Vorstellungen der Vollkommenheit und Schönheit, am regelgeleiteten (künstlerischen) Handeln und an einer Einfügung in eine zunächst noch gottgewollte, später dann vernunftkonstituierte Ordnung. Die (ästhetische) Norm ist einerseits deskriptiv zu verstehen, insofern sie einen Maßstab, ein Vorbild oder ein Ideal beschreibt und andererseits präskriptiv, insofern sie fordert, diesem Maßstab gerecht zu werden und dafür Vorgaben, Regeln und Mechanismen benennt.

Da es keine allgemeingültige Definition der Ästhetischen Bildung gibt und da die Ästhetik im wörtlichen Sinn erst seit den 1750er Jahren – begründet durch Alexander Gottlieb Baumgartens (1714–1762) Schrift „Aesthetica“ (2 Bde. 1750–1758) – zur Entfaltung kam (vgl. Baumgarten 1983), ein Nachdenken über Ästhetik jedoch seit der griechischen Antike belegbar ist, soll hier, ein weiter Begriff der Ästhetischen Bildung in Anschlag gebracht werden. Ästhetische Bildung ist eine sinnlich-reflexive, emotional-imaginative und performativ-handlungsbezogene menschliche Praxis, eine

„reflektierende und in Urteilen sich präsentierende Bildungsform, die in besonderer Weise die prozessualen Möglichkeiten für Übergänge, Verknüpfungen und das In-Beziehung-Setzen von Wahrnehmungen, Erfahrung und Imaginationen auf der einen und Kunst, Schönheit und die mit ihr verbundenen Zeichen und Symbole auf der anderen Seite betrifft“ (Bilstein/Zirfas 2009: 20).

Für den Begriff Ästhetischer Bildung zeichnen sich folgende Akzentuierungen ab: Ästhetische Bildung lässt sich strukturell durch die Merkmale 1. Aisthesis, Erfahrung und Geschmack, 2. Poiesis, Gestaltung und Stilisierung und 3. Katharsis, Fantasie und Identifikation erfassen (vgl. Noack Napoles/Zirfas 2018). Aisthesis verweist auf den Aspekt, vor allem durch die Auseinandersetzung mit den Künsten andere Seh- und Hörgewohnheiten einüben zu können bzw. umgekehrt darauf, durch eine ästhetische Erfahrung von Welt, die nicht unbedingt mit künstlerischen Artikulationen gleichzusetzen ist, Welt anders wahrnehmen und verstehen zu können. Poiesis verweist auf die Möglichkeiten, die Welt, in der man lebt, mithilfe der Kunst zu gestalten und zu einer besseren zu machen und 3. Katharsis führt den Menschen aus seiner individualistischen Perspektive heraus und öffnet ihn für kommunikative Haltungen und soziale Identifikationen. Anders formuliert: Die zentralen Dimensionen der Ästhetischen Bildung sind Wahrnehmen und Urteilen, die Gestaltung und Stilisierung und das Interesse an der Welt und anderen Menschen (vgl. Klepacki/Zirfas 2021). Diese Dimensionen sind historisch betrachtet in unterschiedlichen ästhetischen Bildungsfigurationen unterschiedlich akzentuiert und verdichtet worden. Für das Abendland lassen sich dabei folgende Konzeptionen schlagwortartig benennen: kalokagathia, vir bonus, imago dei, uomo universale, gentleman, homo ludens et experimentalis, Möglichkeitssinn (vgl. Tatarkiewicz 1978ff.; Parmentier 2004; Zirfas et al. 2009–2021).

Zu konstatieren ist, dass es einen großen Umbruch in den Debatten der Ästhetischen Bildung gab, der mit dem in der Frühen Neuzeit beginnenden Übergang von einem metaphysischen zu einem nachmetaphysischen Denken verbunden ist, und der mit dem Wechsel von einer objektiven zu einem subjektiven Modell der Ästhetischen Bildung einhergeht. Es kann auch von einer voraufklärerischen Regelpoetik gesprochen werden, die dann in eine moderne Erfahrungsästhetik transformiert wird. Über Jahrhunderte hinweg wurden Kunst und Ästhetik metaphysisch gedacht, das meint, von kosmologischen, religiösen und ontologischen Vorstellungen verstanden. Wer sich mit den Künsten auseinandersetzte, bildete in eins damit ein Verhältnis zum Kosmos, zu Gott, zur Natur, zur Vernunft oder zum Sein aus. Bis in die Neuzeit hinein wurde die Ästhetische Bildung von einer Regelpoetik, einem normativen Modell von Künstler*innen (Vasari), einer spezifischen Zweckdienlichkeit der Künste und dem präskriptiven normativen Modell einer mimetischen Beziehung zwischen Kunst und Realität beherrscht. Die Schönheit diente als absolute Norm Ästhetischer Bildung, denn ihre Merkmale der Ordnung, Harmonie, Einheit, Anmut, Ausgewogenheit und Vollständigkeit sicherten nicht nur den Weg zu einem neuen Blick auf sich und die Welt, sondern immer auch zu einer objektiven Wahrheit – etwa im Sinne der platonischen Ideen und einer allgemeingültigen Ethik – etwa in Form der religiösen Frömmigkeit (vgl. Eco 2004; Schmidt/Zirfas 2019). In diesem Sinn ist die Schönheit nicht nur mit der Wahrheit, sondern auch mit dem Guten identisch.

Die ästhetisch-notwendige Normativität der Metaphysik

Platon (427–347 v. Chr.) äußert – trotz seiner ansonsten kritischen Haltung der Kunst gegenüber – eine explizite Wertschätzung der Musik für die Erziehung. Denn die richtige, also wohlklingende Musik wirke positiv auf die Seele des Menschen ein und damit werde die Liebe zur Schönheit und auch zur Moral und Wahrheit angebahnt. Objektive Schönheit als letztgültige Einheit der Differenzen wird hier – wie in der gesamten Antike – gerade auch in einer pädagogischen Perspektive zu einer idealen Bezugsnorm (vgl. Perpeet 1961; Grassi 1962). Dem Prinzip der Nachahmung (mimesis) kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu: In der Erziehung darf nur Schönes zur Nachahmung gebracht werden, da alles, was Menschen früh und intensiv aufnehmen, zur zweiten Natur wird. Ziel ist das Erziehungs- und Bildungsideal der kalokagathia als einer Verbindung von Schönheit und Tugend.

Bei Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelt sich Ästhetische Bildung zu einer grundlegenden Notwendigkeit bürgerlicher Existenz in der antiken Polis, in der zum einen ästhetisches Tun integraler Bestandteil des Lebens war und in der zum anderen ein tugendhaftes Leben direkt mit den Tätigkeiten der Ästhetik in Verbindung gebracht wurde. Die Ästhetische Bildung als Teil der persönlichen tugendhaften Vervollkommnung eines jeden Menschen ist hier also zweckhaft, überindividuell und normativ. Es geht nicht um freie ästhetische Entfaltung als Selbstzweck, sondern um die Bildung eines ganz bestimmten Menschen, nämlich der Athener Staatsbürger.

War für die Griechen die kalokagathia der Inbegriff bürgerlicher Vollkommenheit, so äußerte sich die vollkommene Übereinstimmung von Schönheit und Güte im Denken der Römer analog in der Gestalt des vir bonus, des guten, tadellosen Mannes. In ihm gehen das Soziale, das Ethische und das Ästhetische eine enge Verbindung ein. Insofern bezeichnet das Decorum bei Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) eine ideale, äußerlich wahrnehmbare Analogie von körperlicher und charakterlicher Schönheit. Objektive Schönheit als äußere Manifestation eines inneren Seinszustands ist damit ein Zeichen von menschlicher Anmut und Würde. Es gilt, ein harmonisches Leben ausbilden, um letztlich in erster Linie zu einem gesitteten Mitglied des Staats zu werden.

Schönheit ist im christlichen Mittelalter nicht nur ein abstrakter Begriff, mit dem die ästhetische Wertigkeit eines Kunstobjekts beschrieben werden kann, sondern sie ist in dem von Gott geschaffenen großen Weltengefüge ganz konkret erfahrbar (vgl. Assunto 1982; Eco 1991). Eine Bildung an der Schönheit der Dinge wurde deshalb in Verbindung gebracht mit der Entwicklung eines Bewusstseins für die metaphysische Schönheit des Göttlichen. Grundsätzlich wurde die Welt im Mittelalter als ein in sich logisch geschaffener, umfassender harmonischer Korrespondenzbau erachtet, in dem alles auf die göttliche Schönheit verweist. Ästhetische Bildung zielt insofern darauf, mittels einer Schärfung des sinnlichen Erkenntnisvermögens die göttliche Wahrheit hinter den Dingen besser erkennen zu können. Bildungstheoretisch betrachtet muss der Mensch folglich in seinem Leben zur Schau der transzendenten Schönheit Gottes geführt werden. Diese ist jedoch nicht ohne den Umweg des Erfassens irdischer Schönheit zu denken, die sich in Maß, Zahl, Proportion und Harmonie ausdrücken lässt. Aus diesem Grund ist mittelalterlichen Kunstwerken neben ihrer metaphysisch-kontemplativen Gesamtcharakteristik auch stets ein eigentümlich gebrauchsbezogener Aspekt zu eigen: Sie können den Weg zu göttlicher Schönheit anbahnen.

Die metaphysische Aufladung der Kunst wurde gerade für die christliche Religion, welche die Realität als göttliche definierte, hoch attraktiv, da sich mit dieser mimetischen Kopplung von Kunst und Welt Ästhetische Bildung zugleich als religiöse verstehen ließ – wer Bilder sieht und Musik hört, sieht und hört immer Gottes Welt; und wer Gottes Welt zum Ausdruck bringen will, kann diese gerade durch die Welt der Bilder und Töne erreichen. Ästhetische Bildung verschmilzt hier die Immanenz der Welt und der Künste mit der Transzendenz der Religion.

Überaus deutlich zeigt sich diese theologische Rück- bzw. Einbindung von Kunst und Schönheit bei Thomas von Aquin (1225–1274): Als gebildet erweist sich der Mensch dann, wenn er sich als Konzentrat und Repräsentant einer göttlichen Einheit versteht, welche die Welt und das Selbst nach Maßgabe dieser Einheit organisch im Hinblick auf seine Vollendbarkeit formt. Bildung zielt auf den unendlichen Vollzug des Selbst als imago dei, als Ebenbild Gottes. Von daher ist die Erfahrung der Schönheit nicht gleichzusetzen mit einem psychologischen Überwältigungserlebnis oder mit einer imaginativen Transformationserfahrung oder gar mit der kreativen Hervorbringung eines Gegenstands. Schönheit bedeutet im prinzipiellen Sinn des Mittelalters das Wissen um die komplexe Ordnung des Seins.

Der ästhetische Blick in die Natur führt ebenso zum Bewusstwerden der Schönheit Gottes (Petrarca) wie die Auseinandersetzung mit der Sprache, der Schrift oder (spiritueller) Musik (Desiderius Erasmus, Martin Luther, Philipp Melanchthon); aber auch die Bebilderung der Welt schafft, wie paradigmatisch im Orbis sensualium pictus von Johann Amos Comenius vorgeführt, eine ästhetische Auffassung der religiösen Kosmogonie. Ästhetische Bildung entwickelt den Geschmack am Göttlichen (Ignatius von Loyola) und führt die Menschen auf die Bahn zur seligmachenden Gottesschau – wie etwa bei Plotin, Augustinus und Thomas von Aquin.

Bildungstheoretisch wurde in der italienischen Renaissance mit der Idee des uomo universale, dem universal gebildeten Menschen bzw. des gentil uomo, dem allseitig gebildeten adligen Mann, ein Ideal entworfen, das mit seiner engen Verbindung von Bildung und Kultur äußerst nachhaltig das europäische Bildungsdenken beeinflusste und in vielfältigen Formen, z. B. in der des englischen gentleman (etwa bei John Locke), weiterexistierte. Das Ideal des gentil uomo wurde zuerst im Jahre 1528 von Baldassare Castiglione (1478–1529) in seinem Buch über die Geschicke des Hofmanns („Il libro del cortegiano“) beschrieben. Dieses Bildungsmodell entwirft ein Ideal ästhetisch-höfischer Bildung, bei dem die Menschen weniger für die Belange von Hof und Stadt ausgebildet werden; vielmehr werden diese Bildungsräume für die zu Bildenden und Gebildeten funktionalisiert. Realisiert werden sollte eine umfassende literarisch-künstlerisch-philosophisch-ästhetische Bildung, die dem Menschen zu einer eleganten, geistreichen, anmutigen und geschliffenen Lebensweise verhelfen sollte. Dabei setzt auch dieses Modell voraus, dass – wie in der Antike – eine Bildungsschicht vorhanden war, die das Bedürfnis nach Bildung empfand und die die entsprechenden Mittel hatte, um in Muße ihrer Bildung nachgehen zu können.

Noch sehr viel umfassender zeigt sich das Konzept des Universalmenschen der Renaissance bei Leon Battista Alberti (1404–1472), der sich selbst paradigmatisch zu einem ästhetisch-tugendhaft vollendeten Menschen stilisierte. Zeit seines Lebens war er bestrebt, sich selbst und die Dinge der Welt – er war u. a. Baumeister – vollendet harmonisch kunstförmig zu gestalten. Bildung ist bei Alberti dabei sehr deutlich als ein doppelt gerichteter Formschaffungsprozess aufzufassen, der sich sowohl auf die äußere Welt als auch auf das innere Selbst bezieht. Gleichwohl in beiden Fällen die Ästhetische Bildung stark auf das sich bildende Subjekt bezogen ist, so ist das Streben nach umfassender Selbstvervollkommnung bei Castiglione und Alberti nicht zweckfrei, sondern zielt im Kern immer auch auf gesellschaftliche Anerkennung ab. Mit Leonardo da Vinci (1452–1482) und Giorgio Vasari (1511–1574) wird die Ästhetische Bildung im Kontext einer Kunst als Wissenschaft der Erfahrung und einer normativen Entwicklung hin zur artistischen Vollkommenheit diskutiert.

Die ästhetisch-kontingente Normativität der Nach-Metaphysik

In der Aufklärung ereignet sich der Umbruch zu einer subjektiven Produktions- und Rezeptionsästhetik, die sich schon frühneuzeitlich sehr zaghaft abzuzeichnen beginnt (vgl. Schneider 1996; Ehrenspeck 1998). Die Aufklärung bringt, so könnte man zugespitzt sagen, das Subjekt als entscheidende Instanz in der Erfahrung von Kunst und Ästhetik erst hervor. Langsam wird der enge normative Zusammenhang von Schönheit, Wahrheit und Güte auf der einen und der von (kosmologischen, göttlichem, natürlichen) Vorbild auf eine mimetisch-artistischen Wiedergabe auf der anderen Seite aufgelöst. Ästhetische Bildung wendet sich mehr und mehr von einer mimetischen Bezugnahme zum (kosmologischen, göttlichen, natürlichen, vernünftigen) Vorbild ab und einer reflexiven Wende zu sich selbst zu. Ästhetische Bildung stellt normativ um von der mimetischen Orientierung am Notwendigen, d. h. an ewigen, unveränderlichen, wahren und guten Gesetzmäßigkeiten auf die Orientierung an der Möglichkeit und der Kontingenz, auf Spiel, Experiment, Kritik, Selbstzweckhaftigkeit oder kurz: auf die Etablierung einer eigenen Ordnung mit eigenen Notwendigkeiten. Dadurch löst sie den jahrhundertelang bestehenden zwingend objektiv-normativen Konnex zwischen der Schönheit, der Wahrheit und dem Guten auf und etabliert einen Zusammenhang von individuellem Geschmack, subjektiver Erfahrung und kreativer Weiterentwicklung.

Bei Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) wird Ästhetische Bildung noch als eine nostalgische Nachahmung der antiken künstlerischen Überlieferungen in „edler Einfalt und stiller Größe“ begriffen. Dabei werden die antiken Kunstwerke nicht als Katalysatoren der produktiven, ästhetischen Kräfte, sondern als unmittelbare Vorbilder für Rezeption und Produktion verstanden. Doch schon Immanuel Kants (1724–1804) Reflexionen zum Geschmack legen eine subjektivere Einstellung nahe, die Ästhetische Bildung nicht auf die Übereinstimmung mit ausgewählten, als objektiv oder natürlich geltenden Kunstregeln, sondern auf die Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand zu beziehen. Dazu sollte man eine kontemplative Haltung einnehmen können, die mit einem „interesselosen Wohlgefallen“ einhergeht. Im engeren Sinne am bedeutsamsten aber erscheint die Fähigkeit der Ästhetischen Bildung überhaupt, in ein ästhetisches Spiel von Verstand und Einbildungskraft eintreten zu können.

Zwischen einer objektivistischen und einer subjektivistischen normativen Position Ästhetischer Bildung bewegt sich auch Friedrich Schiller (1759–1805). Ausgehend von einer Diagnose der Entfremdung oder Zerrissenheit von Vernunft und Sinnlichkeit, von Ratio und Einbildungskraft, bietet die Ästhetische Bildung eine Überwindung dieser Situation an. Denn in dem von ihm propagierten „ästhetischen Zustand“ sind Sinnlichkeit und Vernunft gleichermaßen tätig. Die Aufhebung der Entzweiung ist nur in der Welt des Scheins und des Spiels möglich, im „wesenlosen Reich der Einbildungskraft“. Denn das ästhetische Spiel macht den Menschen erst zum eigentlichen Menschen. Ästhetische Bildung wird als Spiel mit der Schönheit – mit der lebendigen Form – bestimmt, in dem der sinnliche und der formale Trieb des Menschen gleichermaßen zum Ausdruck kommen können.

Mit Friedrich Nietzsche (1844–1900) bekommt die Ästhetische Bildung eine radikal individuelle Fundierung. Ihre Aufgabe besteht darin, einen individuellen und originären Geschmack zu entwickeln, der bis zur „Bildung der Eingeweide“ führt. (Der Umgang mit) Kunst wird damit zur eigentlichen Aufgabe des Lebens; die daraus resultierende Lebenskunst hat einen quasi religiösen Charakter, insofern sie das Leben selbst möglich und sinnvoll machen soll. Ästhetische Bildung wird so zur grundlegenden anthropologischen Bildung und das Leben selbst zu einer künstlerischen Grundübung. In seiner Gegenüberstellung von apollinischer (bildnerischer) und dionysischer (musikalischer) Kunst erinnert Nietzsche zudem daran, dass im ästhetischen Bildungsgeschehen nicht nur (apollinische) Form- und Harmoniemomente, Sublimation und maßvolle Rationalität ihren Ort haben sollen, sondern auch (dionysische) Schreckens- und Leidensmomente sowie Verschmelzungs- und Rauscherfahrungen.

Ästhetische Bildung verwirklicht sich nach Ansicht von Gert Selle (geb. 1933) in der produktiven und rezeptiven Selbst-Konfrontation des Subjekts mit der es umgebenden Kultur an der Schnittstelle von Sinnlichkeit und symbolischer Sinnstrukturiertheit. Entscheidend dabei ist die Auseinandersetzung mit den Spezifika, der Struktur, der Funktion und den Potenzialen von Sinnlichkeit und Erfahrung in der Ästhetischen Bildung. Diese Auseinandersetzung geschieht vor allem dort, wo das Individuum mit einer Situation konfrontiert ist, die es verunsichert, in der es sich ausgesetzt fühlt oder in der es mit widerständigen Sachverhalten zu tun hat. Diese Situierung bedingt die Notwendigkeit einer Reflexion von Wahrnehmung und Erfahrung und damit auch Möglichkeiten der Weiterentwicklung des Subjekts, denn ein Nichtverhalten ist unmöglich. Damit sich dieses Wirkungspotenzial der Situierung entfalten kann, müssen nach Selle jedoch die „Ernsthaftigkeit der Selbstaussetzung“, die „Selbstbeobachtung im Wahrnehmen und Handeln“ und die „Dichte der Darlegungs- und Bewußtmachungsformen im ästhetischen Versuch“ (Selle 2000: 165) zum Tragen kommen. Genau aus diesem Grund plädiert Selle dann auch für eine „pädagogische Bescheidenheit“ (ebd. 1990: 23), aus der heraus nicht nur die „unberechenbaren Selbstbewegungsfähigkeiten des Subjekts“ (ebd.) und die „selbstbestimmten Suchbewegungen“, sondern insbesondere auch das „Anarchisch-Unkontrollierte ästhetischer Erfahrungsprozesse“ (ebd.) und damit eben offene Prozesse der Selbst-Bildung (und nicht durchkonstruierte Prozesse der Fremd-Erziehung) pädagogisch anerkennbar werden können.

Dennoch hat auch die moderne Form der Ästhetischen Bildung mit ihrer Fokussierung auf individuelle Erfahrungen weder den Bezug zur Wahrheit noch den zur Moral komplett aufgegeben. Vielmehr das Gegenteil ist der Fall (vgl. Winzen 2007). Indem Ästhetische Bildung aus dem metaphysischen Korsett eindeutiger und fester Beziehungen zwischen Epistemologie, Moral und Ästhetik entlassen wird, kann sie selbst unterschiedliche epistemologische und moralische Allianzen eingehen. Sie kann konform gehen mit nationalistischen Ideen und Praktiken, wie wir sie bei Richard Wagner, Alfred Lichtwark oder in brutaler Form im NS-Staat wiederfinden; sie kann aber auch – etwa mit Gotthold Ephraim Lessing, Arthur Schopenhauer oder Richard Rorty – eine Mitleidsethik implizieren oder mit Theodor W. Adorno, Klaus Mollenhauer und Gerd Selle davon überzeugt sein, dass sie ein „Ort“ der A-Funktionalität ist, der vor allem der Nicht-Instrumentalisierung und der Freiheit dient. Indem Ästhetische Bildung in den vergangenen 250 Jahren immer intensiver Formen des Spiels, des Experiments, der Kritik, der Transformation und der Möglichkeiten integriert hat, erscheint nun als Metanorm die Beweglichkeit der Kontingenz selbst: Dass man die Dinge auch anders sehen (hören, schmecken, riechen, fühlen etc.) kann.

Eine zugleich individualistische, dann aber auch stark nationalistische Tendenz lässt sich bei Alfred Lichtwark (1852–1914), einem der zentralen Protagonisten der Kunsterziehungsbewegung, nachzeichnen. Lichtwark ging es nicht nur um eine Ausbildung der Sinnlichkeiten, sondern auch um eine kollektive (nationale) Geschmacksbildung. Angesichts der Diagnose eines gegenüber Frankreich und England als inferior eingeschätzten deutschen Geschmacks verfolgt Lichtwark nicht nur das Ziel einer sinnlichen Erziehung, sondern auch das einer nationalen moralisch-ästhetischen Geschmacksbildung, die alle Lebensbereiche – von der äußeren Erscheinung bis hin zur individuellen Lebensführung – umfassen sollte, womit er einer Ästhetisierung des Alltags Vorschub leistete, die dann von der Bauhaus-Pädagogik aufgegriffen werden konnte. In der Ästhetischen Bildung geht es zentral um eine durchgängige ästhetische Gestaltung des Lebens, d. h. auch um eine durchgehende moralische, wertaufgeladene Ästhetisierung des Menschen und seiner Umwelt. Die Ästhetische Bildung wird dabei zum Experimentierfeld für eine Nation, die ihre moralischen Qualitäten angemessen darstellen kann.

Ästhetische Bildung ist eine Form der Moralischen und Politischen Bildung, da sie neue Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsprozesse in Gang bringen kann; sie kann Vorurteile überwinden und einer neuen besseren demokratischen und pluralistischen, nicht ideologischen Gesellschaft Vorschub leisten. Dieser Gedanke ist von Richard Rorty (1931–2007) unter dem Begriff der Solidarität wieder aufgegriffen worden. Solidarität meint den Blick auf den anderen und zugleich die „Fähigkeit, immer mehr zu sehen, daß traditionelle Unterschiede […] vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblick auf Schmerz und Demütigung“ (Rorty 1992: 310). Dabei unterstellt Rorty, dass sich diese Solidarität vor allem durch traurige und aufwühlende Grausamkeiten schildernde Geschichten hervorbringen lässt. Eine moralische Kultur in Form von Geschichten gilt Rorty als die Grammatik, welche die Solidarität moderner Gesellschaften, ja, die der Welt-Polis zu etablieren in der Lage ist. Die Ästhetik wird in dem Moment zur Ethik, in dem es den Dichter*innen gelingt, sich via Literatur so in den anderen hineinzuversetzen, dass sie das Bild der anderen nachempfinden können. „Der neugierige, sensible Künstler wird zum Paradigma des moralischen Verhaltens, weil er der einzige ist, der immer alles merkt.“ (Ebd.: 258)

Klaus Mollenhauer (1928–1998) bestimmt Ästhetische Bildung einerseits als hermeneutische bzw. ästhetische Alphabetisierung, bei er es darum geht, nicht sprachliche ästhetische Figurationen historisch-kulturell lokalisieren und sie in einem umfangeichen Sinne verstehbar werden zu lassen; andererseits auch als kreative Leistung, insofern Menschen in Ästhetischer Bildung ihre eigene, individuelle Symbolisierungsfähigkeit erfahren können (vgl. Mollenhauer 1996). Anders formuliert: Nur jene verstehen etwas von der Kunst und Kultur, die sie auch zu „lesen“ verstehen; und nur jene können sich selbst zum Ausdruck bringen, die eine Form für ihre sinnlichen Impressionen und Imaginationen (er-)finden. Ästhetische Bildung wird als ein oszillierendes Phänomen zwischen materiell-sinnlichen und hermeneutischen Aspekten verstanden, das einerseits dezidiert subjektbezogen als auch historisch-kulturell situiert ist und andererseits in diesem Zwischen zur reflexiven Bewusstwerdung ebendieser Aspekte aufruft. Klassisch normativ erscheint der Hinweis von ihm, dass sich Ästhetische Bildung vor allem an der sogenannten legitimen Hochkultur und Avantgarde-Kultur orientieren soll, weil diese mit ihren gelungenen Kunstwerken die ästhetischen Paradigmen ästhetischer Erfahrungen mit Bezug zu den Aufmerksamkeiten auf den sinnenhaften Zugang zur Welt für Rezipient*innen wie Produzent*innen in ausgezeichneter Weise zum Ausdruck bringen sollen. Ein Plädoyer für die Selbstzweckhaftigkeit ästhetischer Bildungsprozesse lässt sich seiner Skepsis gegenüber einer Didaktisierung des Künstlerisch-Ästhetischen entnehmen: Dadurch, dass ästhetische Wirkungen nur „egologisch“ (Mollenhauer 1990: 484) artikulierbar sind, stellen sie ein „Sperrgut“ (ebd.) dar, dass „in einem Projekt von Pädagogik, das seine Fluchtpunkte in klaren Verstandesbegriffen und zuverlässigen ethischen Handlungsorientierungen sucht“ (ebd.), nur in einer zerstückelten Art und Weise „in die pädagogische Kiste paßt“ (ebd.).

Normativität der Ausbildung und der Herausbildung

Formal betrachtet können ästhetische Bildungsprozesse Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungsperspektiven für die Möglichkeiten des Spiels zwischen eintauchendem Gewahrsein, symbolischer Interpretation und reflexiver Distanznahme erzeugen (Johann Wolfgang von Goethe). Im Experimentieren mit bestimmten Wahrnehmungsformen und unterschiedlichen Erkenntniszugängen und ihren Verhältnissen untereinander wird das sinnlich-wahrnehmende Selbst- und Welterlebnis gebildet (vgl. Burghardt/Zirfas 2015). Ästhetische Bildung lässt sich in diesem Sinne als eine Transformation von grundlegenden ästhetischen Selbst- und Weltverhältnissen, die durch die Konfrontationen mit dem für das Subjekt Neuen, dem Nichtgewussten und Fremden bedingt wird, definieren. Die Normativität der Ästhetischen Bildung besteht dementsprechend darin, einen leiblich-kognitiven Wechselprozess zwischen dem Selbst und dem Kunstgegenstand auf den Weg zu bringen, indem das Ich ein anderes, aber auch der Gegenstand ein anderer und schließlich auch das Verhältnis von Ich und Kunstgegenstand ein anderes wird – ohne dass es zu einer vollständigen Erkenntnis der genannten Trias kommen könnte. Das ästhetische Spiel des Erkennens hat notwendige blinde Flecken. Es führt dabei zu einem dialektischen Prozess der Selbstentfremdung und Selbstverständigung, zur Dialektik von Sinnlichkeit und Bedeutung sowie von Entäußerung und Verinnerlichung (Georg Wilhelm Friedrich Hegel).

Schematisch lassen sich an dieser Stelle zwei normative Modelle Ästhetischer Bildung skizzieren, eine selbst- und welterschließende (verstehende und partizipierende) und eine selbst- und weltverändernde (verunsichernde und erschütternde) ästhetische Praxis. Seel (1993: 49) spricht hier von einer „Ausbildung gegebener Lebensweisen“ einerseits und einer „Herausbildung aus ihnen“ andererseits:

„Während die Ausbildung und Welterschließung sich den gegebenen, auch vorgegebenen und somit normativen Stilen und Gestaltungen affirmativ anpasst, kommt es in der Herausbildung und Weltverunsicherung zum Bruch mit den vorherrschenden Symbolisierungsweisen und zu einer Distanzierung von Lebenswirklichkeit. […] Intendieren die einen Erkenntnis und Teilhabe, geht es den anderen um Distanz und Freiheit.“ (Weiß 2018: 130)

Das ästhetische Modell von John Dewey (1859–1952) kann als Modell der Intensivierung bzw. der Ganzheitlichkeit der Ästhetischen Bildung gelten. Dewey geht davon aus, dass der Ursprung der Kunst in der menschlichen Erfahrung liegt; Kunst als Erfahrung meint, Gegenstände der Kunst so wahrzunehmen, wie alle anderen Lebensbereiche (Dewey 1980: 11). Das bedeutet aber auch, dass für Dewey jede Erfahrung ästhetisch im Sinne einer sinnvollen und ganzheitlichen Dimension ist. Während im lebensweltlichen Alltag häufig weder Zeit noch Raum bleibt für geordnete Erfahrungen, bilden anhand der Kunst gewonnene Erfahrungen Möglichkeiten des Bewusstwerdens von Harmonie, Einheit, Klarheit und Vollständigkeit. Damit verbunden sind Individualität, Intensität und Emotionalität (vgl. ebd.: 228, 267). Kurz: Der Mensch geht in der rhythmischen Harmonie ästhetischer Erfahrung ganz auf.

„In dem Maße, in dem Erfahrung eine Erfahrung ist, bedeutet sie erhöhte Vitalität. [... Sie bedeutet] den aktiven und aufgeweckten Umgang mit der Welt. Auf ihrem Höhepunkt bedeutet sie die vollständige gegenseitige Durchdringung des Ich und der Welt der Dinge und Ereignisse.“ (Ebd.: 28; H. i. O.)

Die Kunst wiederum ist als Formgebung des Stoffs in der Lage, das Unbedeutende bedeutend werden zu lassen, dem Unscheinbaren einen Wert zu verleihen und dem Alltäglichen etwas Transzendentes abzugewinnen. Gerade weil das Kunstwerk eine „abgerundete, intensive Erfahrung darstellt, hält es die Kraft lebendig, die gewöhnliche Welt in ihrer ganzen Fülle zu erfahren. Dies tut es, indem es die Rohmaterialien jener Erfahrung auf einen durch Form geordneten Stoff reduziert“ (ebd.: 155). Ein Kunstwerk ist ein wahrnehmbares, in Form gebrachtes Ganzes, das aus der Integration von Einzelelementen besteht: „Danach mag man Kunst definieren als das Wirken jener Kräfte, die die Erfahrung eines Ereignisses, eines Objektes, einer Szene oder Situation zu ihrer eigenen, integralen Erfüllung bringen.“ (Ebd.: 159, H. i. O.).

Michel Foucault (1926–1984) hat in seiner „Ästhetik der Existenz“ den Schwerpunkt der Ästhetischen Bildung auf die Erarbeitung neuer Formen des Lebens, auf die Formung seiner selbst, auf eine Praxis der Freiheit und auf eine Transformation des Lebens gelegt. Ästhetische Bildung bedeutet nach Foucault, eigene Stilistiken auszubilden, die kulturellen Richtlinien seines Lebens selbst zu erfinden, ästhetische Selbsterfindung mit spielerisch-ethischer Selbstbeherrschung konvergieren zu lassen. Sie hat auch eine kritische Seite, die darauf zielt, dass sich Individuen in ihrer Ästhetischen Bildung einerseits in archäologischer Form mit Wissenssystemen auseinandersetzen müssen, um in Erfahrung zu bringen, in welchen Formen sie sich selbst denken, und in welchen spezifischen Formen sie sich selbst „bewahrheiten“ bzw. die Wahrheit ihrer selbst artikulieren; insofern geht es einer Ästhetischen Bildung um eine „Archäologie des Wissens“ (Michel Foucault). Sie müssen sich andererseits auch genealogisch mit Machtbeziehungen auseinandersetzen, um ihn Erfahrung zu bringen, in welche Disziplinar- und Kontrollmechanismen sie involviert sind und welche sie habitualisiert haben. Insofern geht es einer Ästhetischen Bildung auch um eine Genealogie der Macht. Und schließlich geht es einer Ästhetischen Bildung auch um die Fragen der konkreten Gestaltung von Selbst- und Weltbeziehungen. Anders formuliert: Nur dann, wenn ich weiß, wie ich mich bisher gedacht und identifiziert habe und nur dann, wenn ich mir bewusst gemacht habe, wie ich regiert worden bin – durch andere wie durch mich selbst – kann ich auch neue Formen des Lebens entwickeln, die meinen eigenen (ästhetischen) Schwerpunktsetzungen und meinen eigenen stilistischen Gestaltungen näherkommen. Die Transformation Ästhetischer Bildung lässt sich mit Foucault nicht positiv bestimmen, sondern nur negativ auszeichnen: Sie ist unabschließbar, keinen spezifischen kulturellen Normen verpflichtet, in ihr ist nicht alles verstehbar und praktisch verfügbar, es geschieht Unerwartetes und insofern bleibt sie in hohem Maße unsicher.

In den ästhetischen Erfahrungen ist der Mensch in einem intensiveren Austausch mit sich und den Dingen. Damit ist ein bestimmter Ereignischarakter verknüpft, da sich in ihnen neue Bedeutsamkeiten bilden. Hierbei geht es nicht um Gewohnheitserfahrungen, sondern um Erfahrungen einer Andersartigkeit bzw. um ein Anderswerden der Erfahrung: Man sieht plötzlich mit anderen Augen, hört mit anderen Ohren (vgl. Küpper/Menke 2003). Seel fasst die Leistungen der ästhetischen Erfahrungen wie folgt zusammen:

„Sie lassen bis dahin Unmögliches möglich und bis dahin Mögliches unmöglich werden. Zugleich aber machen sie spürbar, dass in den bekannten Möglichkeiten Unmöglichkeiten und in den bekannten Unmöglichkeiten Möglichkeiten lauern – und dass dieser Latenzzustand die Gegenwart ist.“ (Seel 2004: 75)

In der ästhetischen Wahrnehmung wird die Selbstwahrnehmung zur Fremdwahrnehmung. Die ästhetische Erfahrung ist eine liminale Erfahrung, eine Grenz-, Übergangs- oder auch Unterbrechungserfahrung. Man löst sich von gängigen Wahrnehmungsformen und Geschmacksurteilen, von bedeutsamen Fantasien und etablierten Ausdrucksweisen. Daher können ästhetische Erfahrungen Transformationen und Bildungsprozesse des ästhetischen Subjekts bedingen (vgl. Zirfas 2004). So finden wir in der ästhetischen Erfahrung Grenzziehungen zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit, Manifestem und Latentem, Alltags- und Kunsterfahrungen, selbstzweckhaften und selbstbezogenen Erfahrungen, die zwischen Selbst-, Welt- und Sozialbezug, Eigen- und Fremdzeiten, Eigen- und Fremdräumlichkeit, Materialität und Bedeutung, Affirmation und Negation, Unaussprechlichkeit und Sprachfindung, kunstbezogenen und -transzendierenden Bezügen, Ein- und Vieldeutigkeit, Können und Unbeherrschbarkeit, Realität und Schein (vgl. Brandstetter 2012; Bubner 1989).

Die Grundsituation der ästhetischen Erfahrung ist die Erfahrung eines anderen, auf die das Subjekt eine Antwort finden muss: Es fällt uns etwas auf, das wir bislang noch nicht wahrgenommen haben. Das andere wird in der ästhetischen Erfahrung zum Ausdruck einer möglichen Welt (Robert Musil); die ästhetische Erfahrung dekonstruiert die ontologische Statik, weil mit ihr andere aisthetische, aber auch theoretische und praktische Möglichkeitsspielräume aufscheinen (Zirfas 2014). Die Ästhetische Bildung ist somit einer Normativität des Möglichen verpflichtet und damit auch der Möglichkeit, andere Möglichkeiten des Normativen auszuloten.

Verwendete Literatur

  • Assunto, Rosario (1982): Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln: DuMont.
  • Baumgarten, Alexander Gottlieb (1983): Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Hamburg: Felix Meiner.
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  • Brandstetter, Ursula (2012): Ästhetische Erfahrung. In: Bockhorst, Hildegard/Reinwand, Vanessa-Isabelle/Zacharias, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Kulturelle Bildung. München: kopaed, S. 174–180.
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Anmerkungen

Mit dem Untertitel Von der Orientierung an der Notwendigkeit zur Orientierung an der Möglichkeit erschien dieser Beitrag Normativität der Ästhetischen Bildung zuerst in:
Keuchel, Susanne/Zierfas, Jörg (Hrsg.) (2022): Normativität der Kulturellen Bildung. Schriftenreihe Kulturelle Bildung, vol. 69. München: kopaed.

Die Wissensplattform Kulturelle Bildung Online dankt dem kopaed-Verlag und den Herausgeber*innen für die Möglichkeit der Zweitveröffentlichung.

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Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Jörg Zirfas (2023/2022): Normativität der Ästhetischen Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/normativitaet-aesthetischen-bildung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/y94d-fn21.

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