No Education! Impulsbeitrag im Forum THEORIE zur Frage „Kulturelle Bildung ohne Vermittler?"
„Das Kind wagt sich mühelos ins Fremde vor“ Patti Smith
Das Allensbacher Schreckgespenst oder Publikum im Wandel
Wenn der visionäre Horizont einer Gesellschaft durch Kultur und Kunst bestimmt wird, dann darf beides nicht mehr nur als zu vermarktendes Produkt, sondern muss stärker als Quelle, als Potenzial verstanden werden, das in allen Menschen vorhanden und für alle Menschen zugänglich ist. Wir sind umgeben von Diskussion, die genau diese Dynamiken in den Blick nehmen und kritisch danach fragen, welches Wachstum dem Menschen wirklichen Fortschritt und höhere Lebensqualität bringt.
Die Lösung eines Problems führt meistens zu nächsten Problemen. Eine technische Erfindung oder ein zivilisatorischer Fortschritt ruft oft unbequeme Neben-Wirkungen, überraschende Pathologien oder Störfälle auf den Plan. Das Kreuzfahrschiff erfand den Untergang, das Atomkraftwerk den Supergau, das Internet die digitale Überwachung, die Kultursubvention den Kulturinfarkt. Seit dem Ende der Nullerjahren prägt die Forderung nach nachhaltigen Strategien auch die programmatischen Orientierungen im Bereich von Theater, Musik, Tanz und Bildender Kunst. Der Begriff der Nachhaltigkeit ist heute längst Teil eines Denk- und Handlungsbildes, das sich als Gegenentwurf zu Kollaps und Krise versteht.
Doch eine nachhaltige Ästhetik, eine nachhaltige Kulturpraxis - was kann das konkret bedeuten?
Die Ruhrtriennale ist ein internationales Festival der Künste. In und um Essen, Duisburg, Dortmund, Gladbeck, Bochum und Bottrop bespielt es postindustrielle Räume und Orte: ein Dampfgebläsehaus, eine Maschinenhalle, eine Kokerei, eine stillgelegte Zeche oder der Trichter einer Mischanlage. Sie verwandelt diese Orte in Bühnen für zeitgenössische Kunstformen. Gegründet von Gérard Mortier nach dem Vorbild der Salzburger Festspiele hat die Ruhrtriennale im Laufe der Jahre ihr eigenes Problem produziert: ein überaltertes, eher bürgerliches Publikum. Als der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels 2012 die Ruhrtriennale übernimmt, sind er und sein Team mit dem Phänomen konfrontiert, dass Organisationen ab einem bestimmten Moment ihrer Entwicklung dazu neigen, unintelligent zu handeln. Theater, Konzerthäuser, Festivals und Museen haben realisieren müssen, dass ihre Fixierung auf ein bürgerliches Publikum unintelligent geworden ist. Im Parkett sitzt das sogenannte Allensbacher Schreckgespenst in Gestalt hellhäutiger, eher weiblicher, eher älterer Mittelschichtangehörige. Die Prognosen des gleichnamigen Instituts für Demoskopie und Milieustudien, die demografische Eigenschaften wie Bildung, Beruf und Sprache mit realen Lebenswelten verbinden, sprechen eine klare Sprache: Der demographische Wandel führt zu einem kleineren Reservoir an Publikum und gleichzeitig zu einem Wandel seiner Struktur. Immer größer und bedeutsamer wird dabei die Gruppe der abwesenden, der verschwundenen Zuschauer. Wo sind die Kinder Jugendliche und Erwachsene aus Familien mit Migrationsgeschichte und aus bildungsfernen Milieus? Warum finden Sie keinen Zugang zu den für sie als verriegelt erlebten Räumen von Kunst und Kultur? Viele Häuser und Betriebe haben sich in den letzten Jahren organisiert und den pädagogischen Imperativ nach „mehr Bildung und Vermittlung“ beim Wort genommen. Die Ruhrtriennale lädt zu einem Perspektivwechsel ein: Sieht und hört man tatsächlich nur, was man weiß? Oder führt nicht auch die Kant’sche „begriffslose, ästhetische Wahrnehmung“ zu einer tiefen, künstlerischen Erfahrung? Mit der Programmreihe „No Education“ hat das Festival mit seiner Einladung zu einer Kunst des Nicht-Verstehens viel Bewegung gebracht in die eingespielten Verhältnisse von Kunst, Kind und Bildung.
Der Kontinent Kindheit
Für die Ohren und Augen von heute kann die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst eine chaotische Erfahrung auslösen. Wir werden mit einer Sprache konfrontiert, deren Vokabular, deren Syntax wir möglicherweise nicht kennen. Von Projekten zu kulturellen Bildung und Vermittlung wird in solchen Momenten Großes und Nützliches erwartet: eine kulturelle Alphabetisierung, mehr Sach- und Fach-, mehr Sozial- und Ichkompetenz. Ausgangspunkte sind Unwissenheit und Stumpfheit und am Ende steht die Idee von einem sensiblen Kind und einer besseren Welt.
Die Frage, die sich stellt: Ist es also immer wichtig zu wissen, wer John Cage war oder Pina Bausch? Wo das Nature Theater of Oklahoma liegt oder warum es in der Oper, die Samuel Beckett und Morton Feldmann sich ausgedacht haben, kein Libretto und keine Arien gibt, sondern nur einen langen Schrei? Projekte, die erziehen, fördern oder vermitteln, haben eines gemeinsam: Die Hauptquelle liegt außerhalb des kindlichen Universums. Der Vermittler gibt vor, einen Schlüssel zu einem Reich von Codes und Kenntnissen zu haben, den das Kind nicht hat. Und er neigt dazu, mit seinen Übungen und Vorträgen, Kinder zu Containern zu machen für das Wissen und die Bilder, die er selbst gesammelt hat.
Das Interesse von Künstlern an Kindern als Sujet hat eine lange Geschichte. Die Faszination für unregulierte Spontaneität und Kontrollverlust, die Idealvorstellung von Kindheit als utopischen Kontinent, die Begeisterung für das Kreatürliche und Ursprüngliche, das Interesse an der informellen Dynamik ihrer Beziehungen, an Formen von Gewalt und Aggression - all diese Aspekte machen das Thema und den Mythos Kind zu einer endlosen Matrix für vielfältige Bildkonstruktionen und Motivgruppen. Kunstwerke, die Kinder ins Bild oder in Szene setzen, reflektieren häufig den Status des Kindes mit und ordnen ihm Attribute zu. Sie alle tragen einige, vermutlich sogar die meisten dieser Bilder in Ihrem Bildgedächtnis: das heilige Kind (in der christlichen Kunst), das Kind als kleiner Erwachsener (Velasquez), das behütete und folgsame Kind (Philipp Otto Runge), das widerspenstige, grausame oder traurige Kind (Wilhelm Busch, Heinrich Hoffmann), das Straßenkind (Heinrich Zille), das behinderte Kind (Diane Airbus), das Kind als Krieger (Paul Klee) oder das erotische Mädchen (Balthus).
Auf der Bühne hat es Ende der 90er Jahre einen Kippmoment gegeben. Regisseure und Choreografen beginnen Stücke zu entwickeln von Kindern für Erwachsene. Alain Platel („Allemaal Indiaan“), Tim Etchells („That Night follows Day“), Stephan Kaegi und Lola Arias („Airport Kids“) die Gruppe Gob Squad („Before your very Eyes“), Arpad Schilling („A Papno“) oder Heiner Goebbels („When the mountain changed it’s clothing“ ) – sie alle zeigen in ihren Arbeiten, wie die Welt der Kinder und Jugendlichen von Erwachsenen entworfen und definiert wird. Sie zeigen Glücksprojektionen und Spielarten der Erwachsenenherrschaft: Erziehung, Disziplin und Bevormundung.
No Education sucht nach anderen Formen der Sichtbarkeit von Kindern und Jugendlichen auf dem Kunstfeld. Sie treten als Kritiker, Karikaturisten, Köche und Bauherren auf. Kulturelle Teilhabe bedeutet nicht nur Dabeisein, sondern auch Einfluss und Entscheidung! Die Mitglieder der offiziellen Festivaljury stellen sich jeden Abend dieselbe Frage: „Hat mir das Kunstwerk gefallen?“ „War es in meinen Augen interessant oder weniger interessant?“ Das Kind erlebt auf sehr direkte und sinnliche Art und Weise, dass es mächtig und wichtig ist. Es erlebt, dass die Welt der Kunst und Kultur es ernst nimmt und daran interessiert ist zu erfahren, was es fühlt und was es denkt.
Für eine Kunst des Nicht-Verstehens. Ein Manifest
Als No Education vor zwei Jahren Form annahm und für viele Diskussionen sorgte, begann ich ein Manifest zu verfassen. „Manifeste werden normalerweise von wütenden Menschen verfasst“, schreibt Orhan Pamuk als er für sein „Museum der Unschuld“ in Istanbul ein Manifest verfasste. Er liebe Museen, sie machen ihn glücklich: „Ich nehme sie sehr ernst, deshalb habe ich dieses Manifest verfasst: nicht als Zornesausbruch, sondern als Plädoyer.“ Auch No Education ist kein zorniges Manifest, es ist ein Plädoyer für eine Kindheit, wie wir sie nicht mehr kennen und wahrhaben wollen. Kindheit ist die schmerzhafte Erfahrung von Differenz, Kindheit ist Anteilnahme an fremder Subjektivität. Was das bedeutet, lässt sich nicht abstrakt erklären, man muss es erforschen und sinnlich erfahren. Das Theater ist immer noch einer der besten Räume, um mit Fremdheit gelassen umzugehen. Für das Indianische in der Kindheit und in der Kunst, dafür kämpft dieses Manifest.
No Education ist eine Gegenwehr. Manchmal ist es einfacher, zu beschreiben was eine Sache nicht ist. Es geht nicht nur um Bildung, sondern um eine Haltung. No Education ist eine Haltung, die man nicht unterrichten, vermitteln oder erzwingen kann, sondern nur praktizieren. Tauscht man das große Gesellschaftsprojekt von einer ästhetischen Erziehung aus gegen die Idee von einem Laboratorium für Erfahrung und Ermittlung, öffnen sich ganz neue Perspektiven. Klassische Projekte zur kulturelle Bildung und Vermittlung suggerieren uns, erst Kennerschaft befähige zu einer tiefen künstlerischen Erfahrung. Dabei unterschätzen wir häufig, was ein Mensch, also auch ein Kind, an Fähigkeiten und Intuition mitbringt. Dazu gehört auch, die Sprache der Kunst zu verstehen. Es geht um das Erleben der eigenen Kompetenz: Eine Landschaft der Empfindung, eine Choreographie aus Staub, die Exaktheit einer Bewegung, den Sound einer Stadt – Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind gleichermaßen offen für das suchende Nachspüren von Form, Raum und Resonanzen.
No Education basiert auf dem unbedingten Vertrauen, dass jeder, unabhängig von seiner Herkunft und seiner Bildung, ein direktes unvoreingenommenes Verhältnis zu Kunst entwickeln kann.
No Education ist nicht nur eine Kultur für alle, sondern viele Kunstformen für viele. Es geht nicht um die Vermittlung einer Leitkultur. Die Künstlerinnen und Künstler laden uns ein, über den Blickwinkel der Kunst den tiefgreifenden Wandel zu reflektieren, den Individuen in den globalisierten Gesellschaften des 21. Jahrhundert erfahren. Im Vorfeld wird jedes Projekt durchleuchtet: Ist es egalitär? Ist es zugänglich ohne besondere Vorkenntnisse? Trägt es zu einem aufgeklärten Verständnis von einer interkulturellen Gesellschaft bei? Fördert es neue künstlerische Entwicklungen.
In No Education begegnen Kinder dem inspirierten Wechselspiel zwischen Musiktheater, Theater, Tanz, Performance, Konzert, Soundart und Bildender Kunst. Sie erleben Sound als Teil einer Videoinstallation, experimentelle Performance als Landart oder als Textproduktion, eine Choreografie als malerischen Akt, Zeichnung als Installation, eine Diskussion zwischen Künstlern als performatives Ereignis. Es gibt dabei keinen Grund, einem Zuschauer Komplexität zu ersparen, und sei er noch so klein. Jede Überforderung kann die Wurzel einer tiefen Erfahrung sein.
No Education ist ein Mehrgenerationenprojekt. No Education basiert auf der Beobachtung, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen offen sind für ästhetische Erfahrungen. Schluss mit Arealen und Ritualen, die nur Erwachsenen vorbehalten sind.
No Education eröffnet ein Terrain, in dem Nicht-Wissen oder Nicht-Verstehen zu keiner schmerzhaften oder ausgrenzenden Erfahrung führen, sondern ein neues, sinnliches Verstehen entzünden.
No Education kann unsere Erfahrung von Wirklichkeit vervollständigen. Neugierde und Ängstlichkeit gehören zu den archaischsten Gefühlen, mit denen der Mensch seiner Umgebung, also auch der Kunst, entgegentritt. Das Theater gibt diesen Spiel- und Reflexionsformen, die uns über den Augenblick erheben, einen Raum, eine weiten Horizont, eine Höhe, eine Ferne. Wir üben, bereit zu sein, für das was wir noch nicht kennen und wofür wir möglicherweise noch keine Begriffe haben. Wir lernen, mit Komplexität und Fremdheit gelassen umzugehen und uns intuitiv zu orientieren.
No Education ist eine Übung in Aufmerksamkeit, (ob konzentriert oder unkonzentriert, das tut nichts zur Sache). Eine Stunde Kunst, das ist eine Stunde ohne die Omnipräsenz anderer Reize und Anforderungen. No Education zeigt, dass auch das stille Staunen und leise Forschen eine prinzipielle Antwort sein kann auf die uns umgebene Flut an Impulsen und Anforderungen.
No Education heißt nicht: Keine Bildung, keine Erziehung. No Education bedeutet, dass Samira, Betül, Nelly, Sena, Vivian, Selenay, Eske, Annika, Zoe und Noelle in der 1. Reihe sitzen. No Education schafft Situationen für kulturelle Inklusion. No Education bedeutet auch, dass Kinder gleichzeitig Zugang haben zu John Cage, Igor Strawinsky, Rimini Protokoll, Smartphones und dem world wide web.
No Education begreift Nachhaltigkeit nicht als Verzichtsappell (weniger Kunst, weniger Freiheit, weniger Vielfalt, weniger Großprojekte), sondern öffnet neue Aktions- und Experimentierräume. Die tatsächlichen Effekte, ihre Relevanz und die mögliche Transformationskraft werden erst Jahre später zu spüren sein, weil sie dazu beitragen, eine grundlegend andere Vorstellung von kultureller Bildung zu etablieren. Eine, in der nicht die kulturelle Alphabetisierung und das Erlernen von Codes und Chiffren im Mittelpunkt steht, sondern die Persönlichkeit des Menschen, seine Intuition und die Bereitschaft, sich ins Fremde vorzuwagen. Ob mühelos, vermittelt oder unvermittelt - das tut am Ende nur noch wenig zur Sache.