Musiktheater für junges Publikum in Deutschland – Zwischen traditioneller Oper und postdramatischen Erzählformen
Abstract
Musiktheater für junges Publikum hat sich weit über den deutschsprachigen Raum hinaus zu einem zentralen Genre im aktuellen Theaterbetrieb entwickelt und gilt als wichtiger Bestandteil Kultureller Bildung. Neben den nach wie vor sehr präsent vertretenen Kinderopern, -musicals und -singspielen ist in diesem Feld ein intensives Experimentieren mit neuen musikalisch-theatralen Erzählweisen und Konzepten zu beobachten, die in einem unmittelbaren Bezug zu aktuellen Entwicklungen im Musiktheater für Erwachsene stehen. Der Beitrag widmet sich neben einem historischen Überblick über die Entstehung des Musiktheaters für junges Publikum v.a. aktuellen dramaturgischen Erzählkonzepten und bringt diese in einen Zusammenhang mit den wechselnden institutionellen, kultur- und bildungspolitischen Erwartungen an dieses Genre.
Die Zielsetzung, ein junges Publikum über eigene Kompositionen für das professionelle Musiktheater zu begeistern, verfolgen die Theaterleiter seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Diese Entwicklung lag, ähnlich wie bereits zehn Jahre zuvor im Kinder- und Jugendtheater, in der Sorge begründet, dass ein großer Teil der Bevölkerung im Zuge politischer und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse Theater und insbesondere das Musiktheater als tradierte Form bildungsbürgerlicher Hochkultur nicht mehr uneingeschränkt in die eigene Lebens- und Erfahrungswirklichkeit zu integrieren vermag. Während Kinder- und Jugendtheater in Deutschland auch in der freien Theaterszene beheimatet ist, zeigt sich die Sparte „Musiktheater für junges Publikum“ im deutschsprachigen Raum stark im Stadttheatersystem verankert. Auch wenn die Verwendung von Musik ein zentrales Gestaltungselement innerhalb der Produktionen kleiner, überwiegend freier Bühnen mit eigener Spielstätte ist, zeigen diese jedoch eine geringere Aktivität im Musiktheater (Renz 2017:21), was v. a. mit den hohen Ressourcen und Produktionskosten zu begründen ist. Durch diese enge institutionelle und damit finanzielle, dispositionelle und künstlerische Anbindung der Sparte Musiktheater für Kinder und Jugendliche an die Theater bzw. Opernhäuser (vgl. Hartmann 2019:37; Schaback 2020), ist zu begründen, warum sich die Herausbildung eines eigenen Repertoires für junges Theaterpublikum insbesondere seit dem 19. Jahrhundert immer von den wechselnden Schwerpunkten erwachsener Erwartungen und Interessen beeinflusst zeigt.
Von Märchenstücken zu postdramatischen Erzählformen mit Musik
Blickt man in die Entstehungsgeschichte zurück, so handelt es sich bei vielen Werken des 19. Jahrhunderts, die für ein kindliches bzw. jugendliches Publikum gespielt wurden, nicht ausschließlich um Kompositionen, die den damals gängigen Gattungstypen Oper und Singspiel (u.a. Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel von 1893 oder Dornröschen von 1902, Leo Blechs Aschenbrödel von 1905 oder auch Siegfried Wagners An allem ist Hütchen schuld! von 1916) nahestehen, sondern um Schauspiele und Erzählungen mit Musik (Joseph Haas Die Bergkönigin, Carl Reineckes Märchen-Dichtung Aschenbrödel), die dem musikalischen Theater zuzurechnen sind. In seiner gesamten gattungstypologischen Vielfalt, die sich oftmals in spartenübergreifenden Ansätzen niederschlug, diente das (musikalische) Kindertheater nicht nur einem jugendlichen, sondern auch einem erwachsenen Publikum zur Unterhaltung (Braun 1963:12). Theater als eine Form bürgerlicher Repräsentationskultur eröffnete dabei ein generationenübergreifendes Vergnügen, das zum einen an den Seh- und Hörgewohnheiten der Erwachsenen anknüpfte und zugleich in der Verwendung märchenhafter Stoffe – das Märchen genoss im 19. Jahrhundert als „Medium der literarischen Sozialisation“ (Dettmar 2008:50) hohes Ansehen und vereinte Unterhaltsamkeit mit erzieherischen Ansprüchen – auch ein junges Theaterpublikum ansprach.
Dagegen erfolgte die Heranführung an die zeitgenössische Musik bzw. an das Musiktheater in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts außerhalb des institutionalisierten Theater- bzw. Konzertwesens. Hatte Ellen Key in ihrer Schrift Das Jahrhundert des Kindes (1900) die Förderung der individuellen Anlagen und Begabungen des einzelnen Kindes als wichtigstes Ziel der Schule beschrieben, wurde von Leo Kestenberg, während seiner Amtszeit als Musikreferent des preußischen Kultusministeriums (1918 bis 1932), die Musik „als Mittel der Persönlichkeitsbildung in einen umfassenden Bildungszusammenhang“ gestellt und eine „Reform der Schulmusik und der Volksbildung“ (Kim 2000:37) eingeleitet. In diesem Anspruch unterschieden sich diese Kompositionen eindeutig von den Schuldramen des 16. bis hin zum frühen 18. Jahrhundert, in denen insbesondere die „religiöse Unterweisung, die Erbauung und das Erlernen der lateinischen Sprache“ (Regler-Bellinger 1996:43) im Vordergrund standen.
Dieses Umdenken innerhalb der schulischen Praxis stieß bei den Komponisten auf Gegeninteresse: Als Reaktion auf die Opernentwicklung nach Wagner und um die entstandene Kluft zwischen der musikalischen Avantgarde-Bewegung und den „Musikbedürfnissen breiterer Bevölkerungsschichten“ (Krabiel 1993:11) zu schließen, öffnete Paul Hindemith die Baden-Badener Musiktage – ein Festival, das sich mit den künstlerischen und ästhetischen Wegen der Neuen Musik auseinandersetzte – auch der Laienmusikbewegung. Im Kontext der Gebrauchsmusik entstanden, neben den Liedern für Singkreise, zahlreiche Schulopern und Szenische Spiele (Hindemiths Wir bauen eine Stadt von 1930, Paul Dessaus Das Eisenbahnspiel von 1932 oder Paul Höffers Das Matrosenspiel von 1933). Alle diese Stücke waren allein für die schulische Praxis ausgelegt, eine Ausrichtung an der Gattung Oper war nicht beabsichtigt (vgl. Braun 1996:80, Kim 2000:137, Krabiel 1993:133). Mitte der 60er Jahre verlor die Schul- und Jugendoper an Bedeutung (vgl. Schenk 2001:205), da fortan im Musikunterricht, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Adornos Kritik an der Jugendbewegung, die zentralen Werke der Musikgeschichte in den Mittelpunkt rückten: Die Vermittlung von historischem Wissen trat seither an die Stelle des gemeinsamen Musizierens.
Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zeichnet sich eine Neuausrichtung der Gattungstypen für eine jugendliche Publikumszielgruppe ab, die nunmehr wieder eng an die Produktions- und ästhetischen Wirkungsweisen institutionalisierter Theater gebunden ist. Opernbearbeitungen von bestehenden (Repertoire-)Werken stellen im Rahmen dieser Hinwendung an ein junges Theaterpublikum einen „wichtigen Zwischenschritt“ (Jahnke 2002:11) innerhalb der Herausbildung eines spezifischen Repertoires dar. Die einzelnen Opern-Adaptionen zeigen in ihrem Umgang mit der Vorlage unterschiedliche Ansätze: Etwa durch die Einführung einer Erzähler- bzw. Identifikationsfigur, durch Kürzungen des originalen Text- oder Musikumfangs sowie durch Neu- bzw. Umdichtungen bestehender Libretti unter Beibehaltung des originalen, meist gekürzten Notentextes. Darüber hinaus weisen einige Adaptionen bestehender Opern interaktive Elemente auf, bei denen das Publikum in die Aufführung einbezogen wird und auf der Bühne innerhalb eines fest umrissenen Handlungsrahmens mitmachen darf.
Seit Mitte der 80er Jahre kommt zu diesem Repertoire eine kontinuierlich anwachsende Zahl an Neukompositionen namhafter Komponisten hinzu, in der Hans Werner Henzes Pollicino (uraufgeführt 1980 beim Cantieri Internazionale d’Arte in Montepulciano) eine Vorreiterfunktion übernahm (Regler-Bellinger 1996:47). Seither entstehen vor allem Opern, in einigen Fällen auch Singspiele (etwa Wilfried Hillers Traumfresserchen, UA 1991 Bremer Theater) und Musicals (etwa Ostendorfs Alice im Wunderland, 1978), deren Libretti meist auf handlungsintensiven Geschichten der Kinder- bzw. Jugendliteratur (Frank Schwemmers Robin Hood oder Pierangelo Valtinonis Pinocchio) beruhen. Innerhalb dieser Werkgruppe sind aber auch Kompositionen zu verzeichnen, deren dramaturgische Konzeptionen durch die Einbeziehung narrativer Erzählstrukturen, mit der Funktion von Gesang bzw. dem Verhältnis von Sprache, Gesang und Musik, wie sie für den Gattungstypus Oper bis ins beginnende 20. Jahrhundert verbindlich war, im Sinne des Musiktheaters experimentieren (Gerard Beljons Hans und Gretchen oder Jens Joneleits Sneewitte).
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts entstehen darüber hinaus auch musikdramatische Erzählformen, die zum einen dem Instrumentalen Theater nahestehen, zum anderen eine Auseinandersetzung mit anderen musikalischen Stilrichtungen (Jazz oder Popmusik) und mit der Geräuschhaftigkeit von Musik bzw. Ansätze performativen (Musik-)Theaters erkennen lassen. Diese freien musikdramatischen Erzählformen werden meist in anderen Produktionszusammenhängen – oftmals unter direkter Einbeziehung der Zielgruppe – kreiert: An die Stelle der rein szenischen Umsetzung eines bereits vertonten Librettos tritt hier die Zusammenarbeit von Librettist*in, Komponist*in, Regisseur*in, Dramaturg*in, Sänger*in und Instrumentalist*innen im Autorenkollektiv. Viele Opernhäuser arbeiten im Rahmen von Projektentwicklungen mit freien Theatern (z.B. die Junge MET, ein Zusammenschluss zwischen dem freien Theater Pfütze Nürnberg und dem Theater Fürth sowie die Deutsche Oper zusammen mit dem Theater o.N.) oder Musikern der Freien Szene (Staatstheater Mainz im Rahmen des Fonds 360o der Kulturstiftung des Bundes) zusammen. Auch entstehen viele Produktionen auf der Basis von Projektförderungen (z.B. an der Wiener Taschenoper) oder werden durch Institutionsförderung ermöglicht (Lübecker Taschenoper).
Verbindendes Merkmal dieser Projektentwicklungen ist es, einen Stoff oder ein Thema für ein bestimmtes Haus und ein spezifisches Publikum während der Proben zu entwickeln und dabei mit neuen dramaturgischen Konzepten und Erzählformen zu experimentieren. Fixiert wird am Ende oftmals nur eine Spielvorlage, so dass im Falle einer Wiedereinstudierung das neue Team in der Regel zu anderen musikalisch-theatralen Lösungen kommt. Obwohl sich in den vergangenen Jahren die Beschäftigung mit neuen musikalisch-theatralen Konzepten verstärkt hat, treten derartige Produktionen jedoch anteilmäßig hinter die Opernkompositionen für ein junges Publikum zurück, was dem Verhältnis von Opern- und Musiktheaterkompositionen in den Spielplänen für ein erwachsenes Theaterpublikum entspricht.
Vielfalt als Spiegel erwachsener Erwartungshaltungen
Die aktuelle gattungstypologische Entwicklung im Musiktheater für junges Publikum steht in unmittelbarer Wechselbeziehung zu der veränderten Erwartungshaltung der Kultur- und Theaterschaffenden an dieses Genre. Während sich bereits in den 1920er Jahren eine Umbruchsituation angekündigt hatte, in der man sich durch die Praxis des musikalischen Schul- und Lehrstückes nicht nur eine nachwachsende Publikumsschicht, sondern letztlich eine nachhaltige Veränderung der Rezeptionsweise der Theaterzuschauer und damit den Durchbruch einer neuen Theaterästhetik erhoffte (Krabiel 1993:20), so haben sich seit den letzten dreißig Jahren die Erwartungshaltungen an das Musiktheater für junges Publikum stärker auf einen bildungspolitischen Aspekt fokussiert: Als staatlich bzw. städtisch finanzierte Institutionen müssen sich die Theater und Opernhäuser in Zeiten einschneidender Haushaltskürzungen und finanzieller Sparprogramme ihres bildungspolitischen Auftrags und ihrer gesellschaftlichen Relevanz mit jeder Spielzeit aufs Neue versichern. Theater, und insbesondere das Musiktheater, vermag es, kindlichen und jugendlichen Zuschauer*innen einen ästhetischen Erfahrungsraum zu eröffnen, in dem eine Auseinandersetzung und sinnliche Wahrnehmung von Musik, Sprache, Gesang und Bühne befördert wird. Das Erleben dieses Verweiszusammenhanges innerhalb einer Theateraufführung fungiert dabei als Bindeglied, das die „alltäglichen Erfahrungen mit denen der künstlerischen Gestaltungsversuche verbindet“ und somit die „Chance zum Wechsel der Perspektive, zur neuen Sicht auf ein Stück Wirklichkeit (und auf die eigene Person)“ (Hentschel 2004:167) eröffnet. Damit erwirkt die Auseinandersetzung mit dem Musiktheater sowohl auf die Darsteller*innen – sofern Laien in das Spiel einbezogen werden – als auch auf die Zuschauer*innen einen Erfahrungsgewinn, der eine wichtige Ergänzung zum rein wissensvermittelnden Anspruch des Schulunterrichts darstellt. Eng mit den künstlerischen und kreativen Erfahrungen verknüpft, erweist sich auch der Education-Gedanke, der in den letzten Jahren in einer Vielzahl von Musiktheater-Projekten realisiert wurde. Die (sozio-)pädagogische Wirkungsweise dieser Projekte wie sie kontinuierlich an der Komischen Oper, dem JOIN Stuttgart, an der Jungen Deutschen Oper oder auch an der Kinderoper Lichtenberg verfolgt werden, liegt v. a. im Aufbrechen kultureller und sozialer Grenzen sowie in der Vermittlung eines besonders intensiven Gemeinschaftserlebnisses, das sich während des Probenprozesses sowie innerhalb der Aufführungen herausbildet. Auf diese Weise hat sich das Kinder- und Jugendmusiktheater mittlerweile zu einem wichtigen Bestandteil ästhetischer Bildung entwickelt, den die Theater und Opernhäuser als Teil ihres kulturellen Bildungsauftrages für sich reklamieren und daraus ihre Subventionen gegenüber der Politik rechtfertigen.
Wahrnehmungsszenarien im Musiktheater für junges Publikum
Theater ist in erster Linie ein Ereignis, das mit allen Sinnen erfahren werden kann. Vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Weiterentwicklung neuer Medientechnologien besinnt sich das Musiktheater für junges Publikum auf seine ureigenste Qualität und sucht weniger die Auseinandersetzung mit den klangtechnischen Möglichkeiten elektronischer Medien, sondern setzt auf Präsenzerfahrung im Theater und mit den Mitteln des Theaters. Innerhalb der verschiedenen theatralen Konzepte geht es nicht darum, die systematisierend-distanzierende Rezeption, sondern die Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrung selbst ins Zentrum zu rücken – eine Entwicklung, durchaus Parallelen zum (Musik-)Theater für Erwachsene seit den 60er Jahren aufweist.
Musiktheater für junge Zuschauer hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren unterschiedlichen Erzählformen geöffnet, die nach neuen musikdramatischen Erzählformaten suchen und dabei die Produktionsstrukturen der Stadt- und Staatstheater hinterfragen. Insbesondere das Klangfestival (vormals Big Bang), FRATZ Festival, Spurensuche 2018, Symposien in Mannheim und Oldenburg sowie zuletzt der Kongress HAPPY NEW EARS 2016 in Mannheim befördern dabei Begegnungen mit Freien Gruppen aus dem deutschsprachigen Raum, aber auch aus Belgien, den Niederlanden oder Schweden und versuchen, diesen produktiven künstlerischen Austausch über Erzählformen, ästhetische Handschriften und Produktionsprozesse auch in die Stadt- und Staatstheater zu tragen, um dort erstarrte Strukturen zu hinterfragen und aufzubrechen. Dabei erweist sich das Musiktheater für junges Publikum nicht allein als ein Experimentierfeld für zeitgenössische Erzählformen und Kompositionsweisen, sondern zugleich auch als ein Ort, an dem eine Begegnung mit einer Kunstform ermöglicht wird, die, im Unterschied zu den digitalen Medien, das Ereignishafte und Unmittelbare einer Theateraufführung erlebbar werden lässt. Noch viel stärker als im Erwachsenentheater spielt das Wissen um die Hör- und Seherfahrungen eines jungen Publikums eine entscheidende Rolle, weshalb die Theatermacher*innen immer schon unterschiedliche Strategien verfolgt haben, um das „Verständnisproblem“ zu lösen, das jedes theatrale Zeichensystem enthält.
Seit es professionelles Theater für junges Publikum gibt, ist es das Ziel der Theatermacher*innen, die Lust und Freude junger Menschen am Theater zu wecken. Allerdings hat sich im 21. Jahrhundert die Vertrautheit im Umgang mit der Kunstform Theater verloren. Darüber hinaus hat Theater durch ein vielfältiges Kultur- und Freizeitangebot Konkurrenz bekommen, neue Medien mit anderen Erzählweisen haben sich entwickelt, Seh- und Hörerfahrungen haben sich verändert. All das beeinflusst das Erzählen auf dem Theater und steht immer in einem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Entwicklungen, denn auch das Publikum ist diverser, heterogener geworden; es kommt aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und Kulturkreisen.
Theater besinnt sich heute viel stärker als früher seiner medialen Spezifität und setzt auf das Erleben und die sinnliche Erfahrung innerhalb der theatralen Fiktion. Es versteht sich nicht als reine Bildungsinstitution, sondern ermöglicht eine Kunsterfahrung, bei der die Wahrnehmung und das ästhetische Erleben im Vordergrund stehen.
Neugier stimulieren
Die Herausforderung jeder Theaterproduktion liegt darin, die Zuschauer*innen in den Zustand des Staunens zu versetzen, ohne dabei die Grenze der Überforderung zu überschreiten. Hier können die Begriffe ‚Einfühlung‘ und ‚Abstraktion‘ aus Wilhelm Worringers Überlegungen zur Kunstbetrachtung (Worringer 1908) auf den Vorgang des Zuschauens bzw. Zuhörens übertragen werden. Dabei wird der*die Zuschauer*in durch das Moment der ‚Einfühlung‘ zu einem Teil der theatralen Handlung. Die ‚Abstraktion‘ dagegen erlaubt es ihm die Komplexität der Alltagswelt zu verlassen und in die Symbolhaftigkeit von Sprache, Klängen, Bildern, und Gesten einzutauchen. Am Beispiel der Produktion Tanz Trommel des Mannheimer SCHNAWWL und Kevin O’Day Balletts – 2014 in der Kategorie Regie Kinder- und Jugendtheater mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnet – lässt sich dies verdeutlichen. In Tanz Trommel geht es um unterschiedliche Welterfahrung, überführt in ein künstlerisches Zusammenspiel von Tanz, Klang, Raum, Licht und Video, das im übertragenen Sinn einen Kommunikationsprozess zwischen den Performern darstellt.
Die Spielfläche ist zunächst durch eine Mauer getrennt. Zu Beginn des Spiels erkunden die Tänzerin und der Schlagzeuger den sie umgebenden Raum. Das Besondere dabei ist jedoch ihre Spielhaltung: Arme, Füße und Hände der Tänzerin scheinen beinahe eigenwillig auf eigene Entdeckung gehen zu wollen. Sie lassen sich kaum bändigen, suchen die Berührung mit der Umwelt. Der Schlagzeuger experimentiert zunächst mit den verschiedenen Klängen seines eigenen Körpers, danach untersucht er die Mauer auf ihre klanglichen Möglichkeiten.
Damit etablieren die Performer in ihrem Spiel die Haltung von Neugier und Lust am spielerischen Entdecken, die den Auslöser darstellt, die eigene Welt zu verlassen und auf die Geräusche und Bewegungen zu reagieren, die von der jeweils anderen Seite der Mauer zu vernehmen sind. Dies geschieht beispielsweise indem die Tänzerin auf Klänge und Rhythmen reagiert, oder der Schlagzeuger körperliche Impulse aufnimmt und klanglich weiterführt. Auf der szenischen Ebene ist das Zusammenspiel zwischen Klang und Bewegung noch erweitert, da alle musikalischen und tänzerischen Aktionen dem Impuls folgen, die einzelnen Bauelementen der Mauer zu erkunden: Weitere, bislang versteckte Klangeigenschaften der Mauer werden entdeckt (aus einem runden Bauelement wird eine Trommel), Bauteile der Mauer werden als Podeste oder mitspielende Objekte in die tänzerischen Bewegungsabläufe integriert. Doch jedes Spiel „im Modus eines Entdeckens verändert sich“ (Iser 2002:259). Aus dem Spiel ergeben sich im Fortgang des szenischen Geschehens wechselnde Momente der Freude und des Übermuts, aber auch des Streits und der Abgrenzung.
Die Einzigartigkeit entsteht für den Moment, sie ist flüchtig und nur als besondere Form der Kommunikation zu erfahren, bei der erst die Anwesenheit von Darstellern, Musikern, Sängern und Zuschauern die theatrale Situation entstehen lässt. Die Faszination, die von live produzierten Klängen und Musik sowie der körperlichen Präsenz eines Tänzers oder Sängers während einer Aufführung ausgeht, erstreckt sich dabei eben nicht nur auf die visuellen Eindrücke. Stattdessen setzt das Theater auf das Zusammenwirken der theatralen Ausdrucksebenen (u.a. Bühne, Sprache, Musik, Gesang, Bewegung, Licht) und vermag auf diese Weise alle Sinne der Zuschauer*innen anzusprechen. Da alle Klangereignisses immer unmittelbar ganzkörperlich wirken, wird für die Zuschauer*innen das Geschehen auf der Bühne nicht nur visuell nachvollziehbar, sondern über die geräuschhafte Ebene auch miterlebbar. Folgt man der Definition des Kulturwissenschaftlers Kaspar Maase, lässt sich dieses Erleben als eine Präsenzerfahrung beschreiben, bei der die „Fokussierung und Intensität der Wahrnehmung [eine] sinnliche und reflexive Offenheit für die Einmaligkeit des Gegenwärtigen“ (Maase 2007:96) herstellt und auf diese Weise eine ästhetische Erfahrung begründet.
Körperbezogenes Wahrnehmen
Niet drummen des belgischen Theaters De Spiegel für Kinder ab dem Krabbelalter wurde beim Kongress HAPPY NEW EARS (Mannheim 2016) erstmals im deutschsprachigen Raum gezeigt. Die Produktion entstand einem kollektiven Probenprozess, in dem der Regisseur und die Musiker gemeinsam mit ihrem Zielgruppenpublikum spielerisch nach Klängen und ihren Wirkungsweisen geforscht haben. Dieser Spielraum, auch ‚Cabane‘ genannt, ist Grundlage jeder Neuproduktion; an diese Ergebnisse schließen sich die Fragen künstlerischer Umsetzung an. Im Falle von Niet drummen entwickelte sich die Klangforschung zu einer Installation, die während der Vorstellung bespielt wird und im Anschluss daran den Kindern als Klangspielplatz dient.
Trommeln, Klangstäbe und -flächen aus verschiedenen Materialien sind mit kindlichem Spielzeug wie Murmelbahnen verbunden, wodurch sich ein nahtloser Übergang vom kindlichen Spiel in ein Klangspiel eröffnet. Man verfolgt die Vorstellung sitzend im Kreis innerhalb der zeltartigen Konstruktion, die den Zuschauer*innen eine behagliche Geborgenheit vermittelt. Die Verwendung angenehmer, gut riechender Materialien wie Holz, ist eine wichtige Voraussetzung im Theater von Anfang an!. Die Installation reagiert auf die kindliche Selbst- und Welterfahrung, indem sie ein unmittelbares Interagieren der Musiker mit dem Publikum zulässt und Raum gibt, für ein körperbezogenes Wahrnehmungsverhalten der Kinder (Krabbeln, Aufstehen, Zeigen etc.). Immer wieder beziehen die Musiker auch den Tastsinn der Kinder ein, der wie eine Art taktile Gedächtnisfunktion bei Kindern funktioniert, etwa, wenn die Musiker den Kindern Materialien oder ihre Instrumente zum Anfassen geben.
Gleichzeitig werden im Theater für die Allerkleinsten Wahrnehmungsweisen der Kunstform Theater eingeübt. Man begibt sich an einen Ort, der dem Alltag entrückt ist und an dem andere Spielregeln gelten. Im Theater für diese Zielgruppe geht es nicht um Repräsentation und ‚Als-ob‘, dennoch signalisieren die Musiker durch ihre Körperhaltung, inwieweit Zu-geschaut und Zu-gehört werden soll, oder ob ein Interagieren zugelassen ist. Wilfried Gruhn hat auf die Bedeutung hingewiesen, die der körperlichen Bewegung innerhalb des kindlichen Wahrnehmungsverhaltens zukommt (vgl. Gruhn 2017:8).
Während der Aufführung bespielen die Musiker einzelne Klangelemente der Installation. Charakteristisch ist dabei, dass jedes Klangereignis bewusst eingeführt wird und es zu keiner Überschneidung unterschiedlicher Klänge/Vorgänge kommt. Transparenz und Fokussierung sind dabei wichtiges Prinzip, um die Konzentration des Publikums nicht zu überfordern. Das Gespür für das Verhältnis von sinnlichen Reizen und dem Aufnahmevermögen der Kinder ist ebenfalls ein wichtiger Erkenntnisgewinn, den die Mitglieder des Theater De Spiegel aus den verschiedenen Cabanes gewonnen haben und immer weiter erforschen.
Wichtige Momente dieses musikalisch-theatralen Erzählens sind die fortwährenden Übergänge zwischen akustischen und visuellen Ereignissen, aus denen vorübergehend ein kurzes Zusammenspiel der Musiker entsteht, das alle theatralen Ebenen einbezieht, etwa wenn eine herabfallende rote Murmel plötzlich als roter Lichtfleck auf dem durchscheinenden Fell der Handtrommel erscheint und für ein paar Minuten ein spielerisches Potenzial entwickelt: Der Fleck wird zu einem frechen roten Punkt, der sich von den Musikern nicht fangen lassen will. Dem roten Punkt wird währenddessen eine heitere Querflötenstimme zugeordnet, die das Spiel des Punktes musikalisch nachzeichnet, verschiedene Trommeln treten dazu und initiieren ein musikalisches Fangen- und Versteckspiel. In dieser kurzen Szene wird das intermediale Zusammenwirken von Klang, Licht, Bewegung und Gesten der Musiker deutlich: Klänge werden zu Bildern, entwickeln sich zu szenischen Aktionen. Aber auch umgekehrt kann, wie im Fall der Murmel, ein visueller Vorgang zu einem Klangereignis, und damit zu einem theatralen Ereignis werden.
Grundlegend für diese Hörereignisse ist jedoch, dass jeder Klang aus einem Zusammenwirken mehrerer Stimmen entsteht: Jedes Ding erklingt durch etwas und mit einer bestimmten Klangfarbe. Man spricht im wahrnehmungsästhetischen Sinn vom „polyphonen Hören" (Schmicking 2003:286). Dieses hat sich von der Gegenständlichkeit und dem strukturierenden Hören im Sinne Adornos befreit und versucht nicht aus der Alltagserfahrung heraus, jedem Klang ein verursachendes Ereignis der „Dingwelt“ (Adorno 1984:145) zuzuordnen. Vielmehr geht es darum, alle an einem Klang beteiligten Ereignisse, etwa beim Anschlagen einer Trommel, die Bewegung des Schlägers, die Körperbewegung des Instrumentalisten zu erfassen und auf ihre Eigenschaften hin zu überprüfen. Ohne eine inhaltlich-logisch-kausale Geschehensfolge zu bedienen, wird in Niet drummen deutlich, dass über die intermediale Verschränkung den optischen, klanglichen und gestischen Aktionen eine Ereignishaftigkeit entsteht, die im Sinne einer intermedialen Erzähltheorie (Wolf 2002) narrative Qualität (siehe dazu Plank 2017) besitzt und sich an alle Sinne richtet.
Partizipative Klangerfahrung
Juliane Kleins Der unsichtbare Vater basiert auf der gleichnamigen Geschichte von Amelie Fried. Das Libretto entstand 2009 in Zusammenarbeit der Komponistin mit der damaligen Leiterin der Jungen Oper Stuttgart Barbara Tacchini und wurde für weitere Aufführungen immer wieder auf die neuen Räume und Musiker angepasst. Es richtet sich an Kinder ab 8 Jahren. Das Stück erzählt die Geschichte von Paul, der sich seit der Trennung seiner Eltern in eine Fantasiewelt geflüchtet hat und in der Vorstellung lebt, sein Vater sei nicht ausgezogen, sondern lebe immer noch unsichtbar bei ihm. Deshalb kann Paul auch Ludwig, den neuen Freund seiner Mutter, nicht akzeptieren. Erst als er feststellt, dass Ludwig ein Freund seines Vaters ist und mit ihm früher in einer Band Schlagzeug gespielt hat, kann Paul ihn mit anderen Augen sehen.
Bei Juliane Klein findet zum einen eine Theatralisierung von Klängen, Musizier- und Singvorgängen statt, zum anderen werden die Zuschauer*innen als gleichberechtigt Mitmusizierende in das Stück eingebunden. Die Theatralisierung erfolgt durch die Einbeziehung spezifischer Geräusche (Akkuschrauber, Wasserkocher etc.), die als klangliches Zeichen für konkrete Tätigkeiten (z. B. Kochen oder Aufräumen der Wohnung) stehen und zugleich zeitliche Verläufe andeuten. Über die musikalische Funktion hinaus erhalten diese Gegenstände also die Funktion szenischer Requisiten und lassen eine variable Klangkulisse entstehen. Die andere Ebene betrifft die Charakterisierung der Figuren. Während Paul als Gesangsstimme angelegt ist, werden die drei Hauptfiguren von Musikern übernommen. So werden die Figuren des Vaters und Ludwigs durch den klanglichen Kontrast zwischen einem Melodieinstrument (Saxophon) und einem rhythmisch orientierten Schlagzeugpart charakterisiert, während das Akkordeon eine harmonische Brücke zwischen beiden Instrumentalstimmen schlägt, die der Figurenbeziehung entspricht: die Mutter zwischen dem „unsichtbaren“ Vater und ihrem neuen Freund Ludwig. Die Saxophon-Stimme dagegen besitzt insofern performative Eigenschaften, da sie auf die szenisch nicht präsente Figur des „unsichtbaren Vaters“ verweist und dieser im Erklingen eine akustische Präsenz verleiht. Dabei ist das Spielen des jeweiligen Instrumentes in das szenische Spiel der Figur integriert; auf diese Weise erfolgt der Übergang zwischen Sprechen und Instrumentalstimme fließend, so dass die Musiker den Figuren sowohl musizierend, als auch sprechend ‚ihre Stimme‘ leihen können. Alle Darsteller*innen bleiben durchgehend als Musiker*innen und Rollenträger*innen sichtbar, wodurch sich der Wechsel zwischen musikalischer und theatraler Ausdrucksfunktion immer vor den Augen des Publikums vollzieht.
Das Stück bezieht aber auch Momente partizipativer Klangerfahrung ein. So werden während der Aufführung Sprechchöre des Publikums abgerufen, die eine Stunde vor der Aufführung mit den Musikern einstudiert werden und neben der musikalischen Mitwirkung die Identifikation mit den einzelnen Figuren und deren Handlungen vertiefen. Im Finale des Stückes treten die Zuschauer*innen dann aus ihrer Beobachterrolle heraus. Die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum wird aufgehoben und das Publikum eingeladen, mit Paul den ‚Jahrmarkt‘ zu besuchen und dort seinen Geburtstag zu feiern. Obwohl keine individualisierten Aktionen der Zuschauer*innen stattfinden, zielt dieses Spielkonzept auf eine kontinuierliche persönliche Einfühlung in die Handlung ab. Zunächst kommentierend, dann im Zusammenspiel mit den Figuren auf dem Jahrmarkt. Die intensivste Annäherung an die Figuren erfolgt, wenn die Zuschauer*innen Paul gratulieren: Durch das gemeinsame Singen des Geburtstagsliedes werden die Zuschauer*innen nicht nur auf der Handlungsebene zu „Freunden“ von Paul, sondern auch Teil der musikalischen Ebene, so dass dieser Vorgang äußeres Zeichen einer intensivierten Bindung, bzw. Identifizierung mit der Figur Pauls wird.
Transparenz der Klänge
Auch bei der Produktion Kleines Stück Himmel handelt es sich um eine Stückentwicklung, die von der Deutschen Oper Berlin und dem Theater o. N. 2016 entwickelt wurde. Wir treffen in diesem Stück zunächst auf zwei Figuren, die als Charaktere nicht weiter profiliert werden. Sie leben in Harmonie zusammen. Manche Abläufe in ihrem Alltag haben sich allerdings ritualisiert oder abgenutzt. Dies hören wir an den ‚Dialogen‘, die, nur mehr floskelhaft reduziert, einzelne Wörter enthalten. Als eine dritte Figur auftaucht, verändert sich ihr Alltag. Es beginnt ein Zusammenspiel der Figuren, das zunächst auf der rein musikalischen Ebene bleibt, dann aber auch Assoziationsräume aus der kindlichen Erfahrungswelt öffnet. Innerhalb des Stückes wird das Aufeinander-Schauen und -Hören, die musikalische Kommunikation und das Zusammenspiel der Musiker zu einer Metapher für gemeinschaftliches Verhalten und ein gemeinschaftliches Miteinander innerhalb einer Gruppe. Auch das spielerische Auspropieren der unterschiedlichen Klanginstrumente im Stück findet eine Entsprechung im kindlichen Spiel, das den ständigen Wechsel verschiedener Spielhaltungen kennt (während des Essens wird aus einer Gabel ein Flugzeug etc.).
Die Bühne ist reduziert auf einen Stuhl und einen Tisch. Beide deuten zwar konkrete Gegenstände an, können jedoch auch als Klanginstrumente auf immer neue Weise bespielt werden. Auch kleinere Requisiten (Wassergläser, Goldfischglas) werden im Rahmen szenischer Aktionen oder auch als Instrumente genutzt. Es dominieren Klangfarben, die aus dem Bespielen von Wasser, Gläserreiben oder dem tiefen Ton der Bassklarinette hervorgehen. Die dritte Figur unterscheidet sich von den beiden anderen, da sie sowohl über das Kostüm als auch über ihre musikalische Charakterisierung eine neue Farbe in das Geschehen einbringt.
Da in jeder Aufführung visuelle und akustische Ereignisse zusammenwirken, ist die Erlebniszeit, die die Konzeption dem Zuschauer/Publikum überlässt das komplexe Geschehen zu erfassen, eine wichtige Gelingensbedingung. In der Produktion Kleines Stück Himmel wird deutlich, dass alle szenischen Vorgänge und Klangereignisse auf Transparenz und Durchhörbarkeit hin abgestimmt sind. So werden zunächst nur zwei Klangobjekte („Stuhlharfe“ und „Gläserorgel“) präsentiert. Erst im weiteren Verlauf treten weitere Instrumente und Klangmaterialien hinzu, so dass das Erscheinen jedes neuen theatralen und klanglichen Ereignisses von den Zuschauer*innen bewusst wahrgenommen werden kann. Die Bewegungen, Blicke und Haltungen der drei Musiker sind dabei immer auf ein gegenseitiges Zuhören und Zuschauen hin ausgerichtet. Um die Konzentration auf kleine Veränderungen szenischer und musikalischer Abschnitte zu erhalten, wird das Publikum über das Narrativ der Wiederholung zum intensiven Hinhören und -sehen animiert, wodurch auch kleine inhaltliche Veränderungen, die das theatrale Erzählen anreichern bewusst wahrgenommen werden können.
Neuerfahrung und Wiederbegegnung
Theater bedient sich immer mimetischer Prozesse und vermag es, sein junges Publikum auf künstlerisch-inhaltlicher Ebene zu aktivieren, sich auf das theatrale Geschehen einzulassen und in der Begegnung mit dem Fremden auch eine soziale Erfahrung anzustoßen (vgl. Waldenfels 2015:241). In diesem Sinne ist das Fremde und Unbekannte, das nach Waldenfels jeder Kunsterfahrung innewohnt, eine Herausforderung, auf die es zu reagieren gilt – nicht nur wenn es sich um Kunst für ein junges Publikum handelt. Der Zugang zum Musiktheater wird vor allem dadurch ermöglicht, dass die Zeichenhaftigkeit des theatralen Geschehens an Erfahrungsbereiche der Zielgruppe rückgekoppelt ist und zwischen Besonderen und Vertrauten, zwischen Neuerfahrung und Wiederbegegnung. Dabei werden auf der Ebene des theatralen Geschehens Instrumente und deren Spielweisen, Klangmaterialien, der Einsatz von Gesang und Sprache, aber auch musikalische Phänomene (Lautstärke, Klangfarben, Rhythmus, Stille etc.) sowie die Musizierpraxis selbst (z.B. das innermusikalische Hören) den jungen Zuschauer*innen aus den szenischen Vorgängen heraus verständlich gemacht. Diese setzen allerdings nicht auf einen großen kausalen Erzählzusammenhang, sondern deuten kurze spielerische Aktionen und Interaktionen oder poetische Stimmungen (Ausgelassenheit, Traurigkeit) zwischen den Musiker/Performern an (vgl.: Plank-Baldauf 2019:134-142).
Dies geschieht über die entsprechende szenische Rahmung und das Gestenrepertoire der Mitwirkenden sowie über das intermediale Zusammenwirken der theatralen Ebenen. Hier schafft das musikalisch-theatrale Geschehen ein Bewusstsein dafür, dass sinnliche Wahrnehmung ein aktiver Vorgang ist, der nicht zwischen Hören und Sehen trennt, sondern die Objekte unserer Wahrnehmung in ihrer Komplexität anerkennt. Es geht dabei nicht um eine Hierarchisierung von akustischen und visuellen Ereignissen, sondern um ein Erfahrbarmachen ihrer speziellen Ausdrucksqualitäten, aber auch ihrer medialen Differenzen. Gleichzeitig liegt der besondere Reiz dieser Produktionen in ihrem Changieren zwischen einem rein musikalischem Klang-Ereignis und dem Zusammenwirken von Szene, Sprache/Gesang, Klang, Geste und Licht. Bewusstes Zu-Hören erweist sich in diesem Sinne nicht mehr als abgetrennte Sinneswahrnehmung, sondern meint ein Eintreten „in diese Räumlichkeit, von der ich zur selben Zeit durchdrungen werde“ (Nancy 2014:26) und damit eine theatrale Erfahrung.
Inszenierung von Wahrnehmungsvorgängen
Erzählen mit den Mitteln des Theaters heißt für die Theatermacher*innen sich mit den Hör- und Seherfahrungen ihres Publikums auseinanderzusetzen. Die Suche nach einem durchgehenden Sinn, einer fortlaufenden kausalen Erzählung ist im Rezeptionsverhalten junger Zuschauer*innen weniger stark ausgeprägt. An dieser Offenheit setzen die Theatermacher*innen an und entwickeln ihre Strategien theatralen Erzählens.
Charakteristikum postdramatischer Erzählformen ist es, für die ästhetische Qualität eines theatralen Geschehens zu sensibilisieren, ohne dabei die Mittel des Theaters zu ‚erklären‘. Damit zählt es zu einem grundlegenden Prinzip des Erzählens im Theater für junges Publikum, szenische Vorgänge als theatrale Fiktionen oder im Akt ihrer Entstehung zu zeigen und erfahrbar zu machen. Damit besteht die Performanz theatraler Erfahrungen nicht allein im „materialen Verkörpern von Botschaften“ – einer Definition von Performanz nach Uwe Wirth (2002:9). Vielmehr zeichnet sich Theater für junges Publikum gerade dadurch aus, alle visuellen und akustischen Ereignisse zu einem unmittelbaren Live-Erlebnis und damit zu einer sinnlichen Erfahrung werden zu lassen, indem das bewusste Zu-Sehen und Zu-Hören des Publikums u.a. über die Gesten und Haltungen der Musiker*innen oder die Theatralisierung von Klang- und Sehereignissen bewusst mitinszeniert werden (vgl.: Dalferth; Plank 2019).
In seinem Anspruch, durch seine postdramatischen Erzählstrukturen kreative Erfahrungsprozesse zu initiieren, erweist sich das Theater für ein junges Publikum als ein wichtiger Bestandteil ästhetischer Bildung, da es den Zuschauer*innen eine sinnliche Welt eröffnet, in der die Kausalitätsprinzipien und Zielorientierung der alltäglichen Wirklichkeit an Bedeutung verlieren. Stattdessen rückt das Wechselspiel von Wahrnehmen und Denken, von Gefühl und Verstand in den Vordergrund.