Musikalische Bildung im System der Schule. Unterricht im Spannungsfeld zwischen Anpassungsdruck und Neuorientierung
Abstract
Die künstlerischen Schulfächer müssen mit dem Dilemma umgehen, dass sie sich relevant erklären möchten für ein System schulischen Lernens, obwohl es ihre Aufgabe sein müsste, sich anderer Weltzugänge zu bedienen, um sich gegen die in den Schulen vorfindlichen Lernkulturen zu stellen. Der Beitrag positioniert Musikunterricht und Kunst als einen Raum zweckfreier Autonomie, als No-Education-Projekt, welches sich den Logiken von Schule verweigern und das System aus der Enge ökonomischen und formalen Denkens befreien könnte. Musik als Kunst macht den Unterschied, um Dinge auf eine andere Art und Weise in den Blick zu nehmen und Blick- und Hörwinkel zu verändern. Transformiert auf den Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule hieße dies: Nur wenn im Musikunterricht eine andere, eben die der Kunst eigenen Sprache gesprochen wird, ist die Stimme der Musik im Weltgewimmel der Schule überhaupt vernehmbar. Nur ein Musikunterricht, der das schulische System überschreitet und sich damit über die Grenzen des Alltags hinausbegibt, ist unverzichtbar. Dabei gilt es nicht, sich in einer anderen Wirklichkeit zu finden, um sich in innerer Emigration gegen die Gemeinschaft zu stellen. Lachenmanns „Verweigerung“ ist nicht die eines solchen wortlosen Aussteigers, sondern es ist die „Verweigerung“ von Gewohnheiten. Und es gilt auch für den Musikunterricht, dass wir durch eine solche Verweigerung von Gewöhntem die Welt erst erkennen können.
Das Schulfach Musik gehört in allen Bundesländern von den Klassen 1-10 zu den sogenannten Pflichtfächern und findet sich als ein solches im allgemeinbildenden Fächerkanon verankert. Es ist das Ergebnis einer hundertjährigen Fachgeschichte, dass das Schulfach Musik sich aus einem ausschließlich musischen Tun heraus emanzipiert hat zu einem Fach, in dem über das Musizieren hinaus ein fundiertes Wissen zum Verstehen von Musik mit wissenschaftspropädeutischem Anspruch erworben wird, bzw. erworben werden soll: Musikunterricht wurde so zum unverzichtbaren Bestandteil Kultureller Bildung, durch die reformierte Oberstufe (1972) wurde er gleichberechtigt im Konzert der sprachlichen Fächer, wurde so systemrelevant, abiturrelevant.
Doch das System, für das der Musikunterricht einst relevant sein wollte, hat sich inzwischen insgesamt verändert. Mit Beginn der PISA-Erhebungen wurde das gesamte Bildungssystem nach betriebswirtschaftlichen Mustern ausgelegt: Bildung wurde zu einem Investitionsobjekt, das den diesbezüglich entlarvend aussagekräftigen Begriff des ‚Humankapitals‘ geprägt hat, eine verordnete Kompetenzorientierung, die einzig nach dem Verwertbaren fragt. Äußerlich erkennbar war dies an verschiedenen Wellen von Restaurationsbewegungen, um die alte Ordnung verpflichtender ‚Haupt‘-Fächer wiederherzustellen, was die Möglichkeit der Wahlpflichtbereiche einschränkte, in der Oberstufe ein vertiefendes Lernen in Leistungs- oder Neigungskursen erschwerte, die Anteile der künstlerischen Schulfächer insgesamt einschmolz und damit den Musikunterricht weiter marginalisierte.
Gilt es nun, sich den Herausforderungen dieses Wandels zu stellen, Musikunterricht dem schulischen Wirksamkeitsgetriebe auszusetzen, um so die eigene Existenz und die des Schulfachs Musik zu sichern und die künstlerischen Schulfächer nicht gänzlich zur Disposition zu stellen?
Hier wird ein anderer Standpunkt vertreten, nämlich dass es Aufgabe der Kunst – und damit auch des Musikunterrichts – sein muss, die der Kunst eigene Sprache zu sprechen und sich damit auch gegen ein vorfindliches System zu stellen. Im Rahmen dieses Beitrags gilt es daher, die aktuellen fachdidaktischen Diskurse zu beleuchten und eine Perspektiven zu entwickeln, um das System Schule mit den der Kunst ureigenen Mitteln von innen heraus zumindest ein Stück weit zu verändern.
Musikunterricht im Kontext der künstlerischen Schulfächer
Wenn hier vom Musikunterricht im institutionellen Gefüge der Schule die Rede sein soll, dann müssen auch die anderen künstlerischen Schulfächer, ihre Fachtraditionen, die Spezifika ihrer künstlerischen Praxen und die sich hier immer abzeichnenden Konfliktlinien zwischen allgemeingültigen, begrifflich fassbaren und auch messbaren Erkenntnisgewinnen und den allen künstlerischen Praxen inhärenten individuellen Selbst- und Weltsichtweisen in den Blick genommen werden. Und es liegt in den unterschiedlichen Fachtraditionen begründet, dass im Kunst- und Musikunterricht mit der für beide Künste zugrundeliegenden Atelier- und Publikumsperspektive (Langer 2018:624) unterschiedlich umgegangen wird: Lässt sich für die Bildende Kunst die Unwiederholbarkeit schöpferischer Prozesse in Anschlag bringen, dann gilt das für die Musik nur, wenn man sich darauf einlassen möchte, dass es nicht das ‚Werk‘ an sich gebe, sondern „so viele Stücke, wie es Aufführende oder gar Aufführungen gibt“ (Langer 2018:253). Und wenn nun das Hören als ein individueller Prozess in diese Matrix eines Werks von der kompositorischen Idee bis hin zum inneren Besitz aufgenommen werden soll, dann ließe sich das auch für die Publikumsperspektive geltend machen und es gäbe so viele Stücke, wie es Hörende gibt. Doch gerade wenn es im Musikunterricht um das Fortführen von Lerntraditionen aus den anderen (Lern-)Fächern, um das Einüben von musikpraktischen Fertigkeiten und von jederzeit abrufbarem Wissen geht, das sich dann auch objektiven Bewertungsmaßstäben stellen muss, dann werden doch die aus dem Instrumentalunterricht präsenten Reproduktionsmechaniken eines regelgeleiteten Kompetenzerwerbs wachgerufen, die das Schöpferische vom (nur) Nachahmenden trennen und den Reichtum an Möglichkeiten einer hier aufgezeigten musikalischen Matrix auf dem Altar der im System Schule zu vermittelnden Sinnordnungen opfern. Kein Kunstwettbewerb würde wagen, es der musikalischen Zunft gleichzutun, um sich mit reproduzierenden Annäherungen an ein nachgezeichnetes Lächeln der Mona Lisa zu begnügen und sich aus diesem Gestalten heraus kulturerschließend über historisch-informierte Maltechniken zu verständigen. Und doch kann leider nicht in Abrede gestellt werden, dass auch mit Blick auf den vorfindlichen Kunstunterricht von solchen, der Institution Schule geschuldeten, Kulthandlungen berichtet werden muss: Das Ergebnis sind dann uniformierte Schneemannarmeen, die das Fenster des Klassenraums dekorieren, oder nach Bauvorschrift hergestellte Kastanienmännchen. Wenn selbst hier das Potenzial für individuelle Erfahrungsmöglichkeiten nicht angesprochen, geschweige denn nicht hinreichend ausgeschöpft zu sein scheint, wie erst sieht es dann in einem an der abendländisch-klassischen Tradition orientierten Musikunterricht aus, wo allein die reproduzierend-nachschöpfende Umsetzung einer vorfindlichen Urtextausgabe Lern- und Übestrategien bestimmen und allein das Abpressen eines dem Werk eingeschriebenen Gehalts einen geistigen Rang zu besitzen scheint?
Das vergleichsweise junge Unterrichtsfach Darstellendes Spiel/Theater schleppt nicht das hier für das Fach Musik nur angedeutete Gepäck der Fachkonventionen mit, die dazu prädestiniert scheinen, ein schulisches Regelsystem des Übens und Aneignens zu akzeptieren, um sich auf diese Weise in ein solches Berechtigungswesen einzufügen. Was als Darstellendes Spiel bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge der damaligen Prozesse von reformpädagogischer Schulentwicklung die Schulkultur bereichern wollte, hat sich in seinen Kernmomenten bis heute erhalten. So gibt sich dieses künstlerische Fach widerspenstiger, um sich im vorfindlichen System gerade nicht auf Kosten der facheigenen, reichhaltigen Erfahrungsmodi begrenzen zu lassen.
Auch im Kunst- und Musikunterricht bestehen mit Blick auf die gespürten Einschränkungen und eine in Frage gestellte Kunstfreiheit schon immer Widerstrebungen, sich diesen schulischen Prinzipien bedingungslos zu unterwerfen, was dazu führte, die durchaus provokante Frage zu stellen, ob man sich hinsichtlich der hier erlebten Begrenzungen diesem System nicht gänzlich widersetzen sollte: „Die Pflichtklientel der schulischen Kunstpädagogik ist längst in die Freiheit ästhetischer Lebensgenüsse, in attraktive Projekte der Kinder- und Jugendkulturarbeit oder in die Jugendkunstschulen davongelaufen“ (Selle 1991:18). Die Intensivierung ästhetischer Lernprozesse sei „im Gitter der schulischen Fächerstruktur unerfüllbar“, weil „formale Bedingungen des Lernens“ sich die „Inhalte der Lehre unwiderruflich zurichten“ (Selle 1991:18): „Tropfenweise quasi therapeutisch verabreichter Kunstunterricht kann die Schule nicht von innen ändern“ (Selle 1991:20). Selbst von einer Abschaffung des Kunstunterrichts im Sekundarbereich ist hier die Rede: „Was einmal das reformpädagogische Startsignal zu einer frühen Öffnung der Schule zum Leben draußen hin gegeben hat, wird zunehmend in eine Fachschublade eingesperrt, die bloß noch klemmt“ (Selle 1991:18).
Ähnliche Szenarien für den Musikunterricht wurden von Hermann J. Kaiser geäußert: „Können wir, ja müssen wir uns eine Schule vorstellen, in der es zwar ganz viel Musik, aber keinen Musikunterricht mehr gibt?“ (zit. nach Bäßler 2023:11). Dass dieses Gedankenspiel ausgerechnet im Rahmen einer Festveranstaltung zum 50-jährigen Bestehen des Verbandes Deutscher Schulmusiker gewagt und Gert Selles „Begründung einer Alternative zum Kunstunterricht“ in den Verbandsmitteilungen des Fachverbands für Kunstpädagogik platziert wurde, mag zunächst verstören, wo es doch gerade die Fachverbände der künstlerischen Schulfächer sind, die es sich zur Aufgabe machen, für den Erhalt ihrer Fächer zu sorgen. Die Conclusio aus Gert Selles Problembeschreibung, das ästhetische Projekt als „ein zum Regelunterricht konkurrierendes Modell für Lernaktivitäten in der Schule“ (Selle 1991:20), ist im Bereich der musikalischen Bildung längst in einer für den musikalischen Lernprozess gebotenen Kontinuität installiert: Hier sind es die AG-Bereiche und die in manchen Bundesländern installierten (und jüngst wieder zur Disposition gestellten) instrumental- und vokalpraktischen Kurse (mit dem Appendix eines musiktheoretischen Feigenblattes), die sich gegen das System stellen und den Regelunterricht in der gymnasialen Oberstufe bereits ersetzen. Fortgeschrieben wird hier nur, was in den gängigen Praxen von Vokal- und Instrumentalklassen der Mittelstufe vorgelebt wird, sich aber für einen wissenschaftspropedeutischen Unterricht der gymnasialen Oberstufe nicht immer in der gebotenen Weise als anschlussfähig erweist. Das Ergebnis ist dann auch hier genau das, was Hermann J. Kaiser bereits vorausgesehen hat: eine Schule mit ganz viel Musik, aber ohne Musikunterricht. Ob sich hier die systemimmanenten Widersprüche auflösen und sich verschiedene Formen des Lernens verbinden lassen oder ob ein Parallelkanon zum neuen Regelunterricht entwickelt wird, der das aus dem Musizieren abgeleitete (und sich manchmal auch in diesem begnügenden) Lernen zur neuen Regel erklärt, kann durchaus diskutiert werden.
Anpassung 1: Musikunterricht im System der Noppensteinschule
Einer der entscheidenden Gründe für den weltweiten Erfolg von Lego ist, dass es ab 1965 als System geplant wurde. Die Entwicklung ging vom nicht verankerbaren Baustein hin zum haftenden. Dies ermöglichte nun bewegliche Modelle über alle Altersstufen hinweg, bei denen sich alle Steine gegenseitig ergänzen, immer zusammenpassen und in allen Bauvorhaben (wieder-)verwendet werden können. Wie solch ein Noppensteinsystem auch die Grundlage für das Lernen in der Schule bildet, zeigen die über Fachgrenzen hinweg vereinheitlichten Rahmenbedingungen zu Lernorganisation und Leistungsüberprüfung, deren Klemmkraft sich wohl nicht trefflicher fassen lässt als in jenem sich selbst erklärenden Bekenntnis, das anschlussfähiges Lernen zu ermöglichen scheint und sich in einem alles andere unterwerfenden Begriff fassen lässt: Die Rede ist von „Bildungsstandards“.
Als von diesen längst noch nicht gesprochen werden sollte, ging es in der 1972 eingeführten reformierten Oberstufe darum, sich von den Gleichheitsprinzipien eines für alle verbindlichen Unterrichts zu lösen. Die Fächer wurden in Aufgabenfelder unterteilt, das Fach Musik ordnete sich dem sprachlich-literarisch-künstlerischem zu, es gab die Möglichkeit der Leistungskurse, der Regelunterricht wurde zu einem Neigungsunterricht, der Musikunterricht wurde wie das Fach Kunst zum gleichberechtigten Noppenstein, durfte zum Hauptfach werden. Wenn einzelne Noppensteine sich als austauschbar erweisen sollen, um sich konform in dieses System einzugliedern, dann muss man auch von den künstlerischen Fächern die entsprechenden Klemmkräfte erwarten dürfen: „Der Kunstunterricht muß bewirken, daß der Schüler sich auch vor Kunstwerken zur Reflexion entschließt“ (Wilhelm 1969:395f.), heißt es in Theodor Wilhelms Standardwerk „Theorie der Schule“, dessen Untertitel „Hauptschule und Gymnasium im Zeitalter der Wissenschaften“ deutlich macht, dass es hier nicht nur um eine Exzellenzinitiative für eine musikalisch vorgebildete Bildungsklientel geht: „Wissenschaft ist die Signatur unserer Zeit. Darum muß unsere Schule eine Wissenschaftsschule sein“ (Alt 1970:41), das galt auch für die von Theodor Wilhelm im Untertitel ausdrücklich benannte Hauptschule. Als Appendix einer alleinerziehenden historischen Musikwissenschaft ergab sich dann die Musikpädagogik ihrer Aufgabe, sich um die Vermittlung dieser Inhalte zu bemühen, um den Musikunterricht in dieses System der schulischen Noppensteine einzugliedern. Der Blick geht dabei stets vom Ziele aus, definiert sich gymnasial über ein hier abzulegendes Abitur, auch wenn dieses letztlich nur von einem mittlerweile verschwindenden Bruchteil im Fach Musik angestrebt wird.
Wenn es dann neben dem praktischen Musizieren in einem nicht durchgängig erteilten Musikunterricht noch um die Auseinandersetzung mit einer zu erlernenden Sprache geht, was in einer Wissenschaftsschule mit dem hier für notwendig zu erachtenden Eindringen in die Geheimnisse der musikalischen Analyse unwiderruflich verbunden bleibt, dann ist all dieses nur möglich in einem Unterricht des Elementarisierens und Vereinfachens, der nicht mehr erreichen kann als jene oberflächlichen Auseinandersetzungen, die Hans Heinrich Eggebrecht wenig wohlwollend als „Gänsefüßchenwissenschaft“ (Eggebrecht 1980:96) bezeichnet. Gemeint ist hier jener Musikunterricht eines schulischen Gleichmachens, wo das Noppenstein-Prinzip von Schule als System auch auf den musikalischen Gegenstand selbst angewendet wird und es mehr um den kleinsten, in der Klasse gemeinsam bestimmbaren Nenner als um ein größtmögliches Vielfaches geht. Zentral gestellte und mit einem Erwartungshorizont versehene Aufgaben im Abitur tragen ihren Teil dazu bei, dass jedes wissenschaftliche Fragen, das immer nach ungewissen Ausgängen verlangt, und individuelles Vertiefen eigener Interessen geradezu verhindert werden. Wie dieser Unterricht von denen wahrgenommen wird, die sich von solch einem theorielastigen Musikunterricht des Beschreibens und Benennens nicht abschrecken lassen und sich diesen Anpassungen stellen, wird deutlich, wenn man hier jene befragt, die sich der Musik ganz verschrieben haben: „Schulmusiker ist für mich kein Musiker, das ist ein Lehrer mit Fach Musik. Er muss versuchen, eine Musik zu vereinfachen, so dass es jemand, der von nichts Ahnung hat, kapiert. Dabei geht an der Musik so viel kaputt. Wenn wir in der Schule eine Mahler-Sinfonie durchgenommen haben, die ich kurz zuvor im Orchester gespielt habe, hat mir das fast wehgetan. Musiklehrer [sein] ist eben eine frustrierende Sache, für den Lehrer selbst und für die Schüler“ (Bastian 1987:737). Noppensteine schenken Sicherheiten, weil sie uns suggerieren, das Unverfügbare verfügbar zu halten. Sie scheinen aber jene wenig glücklich zu machen, die ihre Freiheit ästhetischer Weltzugänge bereits außerhalb des Regelunterrichts erleben dürfen: im leibhaftigen Musizieren, aber auch in der hörenden Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Ernstfall. Warum nur gilt es als ausgeschlossen, dass die Atelierperspektive des Komponierens und Musizierens und die individuellen Publikumsperspektiven des Rezipierens in der Schule in gelingender Weise zusammenkommen dürfen?
Anpassung 2: Musikunterricht als angeleitete Handwerkslehre
Wenn die Kunst in einem systemkonformen Unterricht ihre Widerspenstigkeit verlieren muss, wenn Kunst und Regel sich in einer von Gert Selle in Abrede gestellten Weise zu vertragen haben, dann bleibt immer noch die Strategie, die Kunst selbst in ihr eigenes System der Regeln zu stellen. Das führt dann dazu, dass wir immer beim ersten Glied ansetzen müssen, um uns die Grundlagen einer hier zu erlernenden technischen Basis anzueignen, wo Verfehlungen zu vermeiden sind: Dies führt zu einem Unterricht, der „die Ausführenden demütig hinter die Werke zurücktreten lässt und an deren Ende die Frage aufgeworfen wird, ob die instrumentalen Handwerker überhaupt als Musiker im emphatischen Sinne bezeichnet werden können“ (Röbke 2009:12). Wenn sich nun in der Instrumentalpädagogik „die Gewichte in Richtung der motorischen, der ‚sportlichen‘ Seite des Musizierens verschoben“ haben, dann ist die „Spaltung zwischen Komponisten, die erfinden und schaffen, und Instrumentalisten, die zu funktionieren haben, fortgeschritten und die Entfremdung des instrumentalen Novizen von der Musik fast unvermeidlich“ (ebd.:13). Dass es beim Erlernen eines Instruments immer zuallererst um die Beherrschung technischer Fähigkeiten geht, deren Nutzbarkeit vertagt wird, fügt sich behände in ein gewohntes System, das schulisches Lernen immer mit nachträglichen Verwendungsmöglichkeiten verknüpft. In der Musik scheint für viele solch ein Prinzip der Anleitung zu herrschen: „Wir schlagen vor, in den Klassen 5 und 6 regelmäßig in (fast) jeder Musikstunde – oder zumindest über längere Phasen hinweg – rund zehn Minuten für die Erarbeitung musikalischer Fähigkeiten auf der Basis ‚direkter Instruktion‘ zu veranschlagen, um eine gemeinsame Basis für alle Kinder zu ermöglichen“ (Jank 2013:127). Das schlechte Gewissen des Autors schlägt durch – und es soll hier nicht verschwiegen werden, dass Werner Jank in seiner überarbeiteten Neuauflage den Halbsatz zur direkten Instruktion weglässt (Jank 2021:148). Es herrscht aber weiterhin das Anleitungsprinzip, die Rede ist dann von einer altbewährten Papageienmethode, die hier keineswegs negativ konnotiert scheint. Solche Hierarchien scheinen in den Begriffen Unterweisen und Unterrichten ohnehin vorgezeichnet, transportiert werden sie im Bild eines buntgefiederten Papageien, der manchmal in Grundschulen in Form einer Handpuppe auch noch leibhaftig auftreten darf. In solch einer spielerischen Weise findet das Instrument des Herrschens und Beherrschens einen Zugang in den Musikunterricht: „Oft wird erwartet, der Lehrling verinnerliche die Lektion des Meisters gleichsam durch Osmose. Der Meister führt vor, wie man eine Sache erfolgreich macht, und der Lehrling muss herausfinden, wo der Schlüssel dafür liegt“ (Sennett 2008:243), die Ausübenden werden zu Replikant*innen, um sich in der Schule ganz dem musikalischen Grundprinzip des „Führen[s] und Folgen[s] in Chor und Orchester“ (Müller-Blattau 1934) zu ergeben. Was Joseph Müller-Blattau zu seiner Zeit als musikalisches Urprinzip beschrieben hat, sollte mit den uns bekannten Folgen auch für das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben in Anschlag gebracht werden. Ohne Not dringt hier zudem das von Peter Röbke beschriebene Dilemma, Menschen dazu zu bringen, sich „technische Fähigkeiten anzueignen“, deren Nutzen aber erst „wirklich einsehbar“ sei, wenn man über diese schon hinlänglich „verfügen würde“ (Röbke 2009:14), in den schulischen Musikunterricht ein, das sich im Übrigen wenig von dem in anderen schulischen Lernfächern ebenso erwarteten Aneignungshandwerk unterscheidet. Stillschweigend wird dabei vorausgesetzt, dass Lernstrategien und Übetechniken der traditionsbehafteten ‚klassischen‘ Musikkultur für alle musikalische Praxen generalisiert werden können, um hier die selbsterlebte Instrumental- und Chorsozialisation auf ein schulisches Lernen zu übertragen.
Aus dem Althochdeutschen kommend, ist ‚Kunst‘ schließlich die Substantivierung des Verbums ‚können‘ und bezeichnet etwas, was man beherrscht, sei es Kenntnis, Wissen oder instrumentale Meisterschaft: Es muss also etwas ‚gekonnt‘ werden, damit von Kunst die Rede sein darf. Auf diese Weise gleicht sich der Musikunterricht den in jeder Kammerchorprobe erlebten Gewohnheiten an und fügt sich damit selbst in Funktionszwänge, die nicht nur akzeptiert, sondern geradezu wohlwollend angenommen werden. Und hier muss der Einwand geltend gemacht werden, dass ein im Musikunterricht immer noch geltendes Recht der Instruktionen und Belehrungen in anderen Fächern längst überwunden ist. Darf nicht auch im Fach Musik ein Unterricht möglich sein, der seine Vorbilder in den informellen Lernstrategien popularmusikalischer Praxen sucht, wo „ein holistisches Lernen über die Wege des Hörens und Imitierens dominiert“ und „jeder Lernende scheinbar genau weiß, warum er sich welcher Musik mit Hingabe widmet“ (Röbke 2009:7), wenn die Auseinandersetzung mit Musik nicht in einzelnen Lektionen geschieht? Anders als in der bildenden Kunst, dürften sich für den Musikunterricht die „Verunterrichtungs-Institutionen“ (Selle 1991:18) eher außerhalb der Institution Schule finden lassen: Die Handwerkslehre des Instrumentalunterrichts hat sich jedoch über das gemeinsame Musizieren in den Schulkontext eingenistet, es wurde hier zum leitenden Lernprinzip, um sich von dort aus auch in andere Handlungsfelder, etwa in das Hören und Reflektieren auszubreiten.
Anpassung 3: Musikunterricht als „Betriebshelfer“ im Wirksamkeitsdiskurs
Dass Musik, und hier der im späten 19. Jahrhundert allenfalls randständige und fakultativ praktizierte Gesangsunterricht, als ein unverzichtbares Bildungsmittel gerühmt wird, weil sie den „ganzen inneren Menschen“ (Schöne 1899:53) erreicht und in „gleichnachhaltiger Weise auf Gemüt, Phantasie und Denken heilsam einwirkt“ (ebd.), gehört zwar zu den bis heute immer wiederholten Bekenntnissen, doch gilt damals wie heute der Musikunterricht als Betriebshelfer, um vorfindliche Systeme zu stärken. Das musikalische Training dient also dem außermusikalischen Ernstfall, ihre Wirksamkeit muss die Musik außerhalb ihrer selbst unter Beweis stellen. Es waren die Transfereffekte des Singens und Musizierens, die es zu 1899 in einer kaiserlichen Ordre zu beloben galt, hier ging es um die Indienstnahme des Singens zur „Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande“ (zit. n. Lemmermann 1984:631). Wilhelm II ließ keine Gelegenheit aus, auf die benannten Bildungsziele hinzuweisen, die Georg Rolle in seiner Didaktik und Methodik des Schulgesangsunterrichts (1913) gerne aufgriff: „Bei Eröffnung der Schulkonferenz am 4. Dezember 1890, die im Beisein Sr. Majestät des Kaisers erfolgte, hat dieser gesagt: ‚Ich suche Soldaten; wir wollen eine kräftige Generation haben.‘ Nun, eine kräftige Generation gibt’s nicht ohne kräftige Lungen, und dazu kann am besten mithelfen der richtige Schulgesangsunterricht“ (zit. n. Lemmermann 1984:661). Außerdem erfahren wir in dieser Schrift, dass „der Gesangsunterricht in hygienischer Beziehung von ungeheurer Bedeutung“ (zit. n. Lemmermann 1984:660) ist, weil das für das Singen benötigte „Tiefatmen“ der „Lungentuberkulose, des furchtbarsten Feind der Volksgesundheit“ (zit. n. Lemmermann 1984:661) in einer Weise vorbeugt, wie die „neuerdings in höheren Schulen Preußens eingeführten, täglich vorzunehmenden Freiübungen“ (zit. n. Lemmermann 1984:661) es nicht vermögen. Solche positiven Auswirkungen des Singens, das gesund hält, kognitive Leistungen fördert und unser Immunsystem stärkt, werden bis heute intensiv beforscht, um die Ergebnisse zur Schau zu stellen (Kreutz 2015). Der Mediziner, Gerontologe und Kunstsachverständige Peter Beckmann, Sohn des Malers Max Beckmann, trägt dies 1974 angesichts drohender Kürzungen des Musikunterrichts geradezu hymnisch vor:
„Der Musikpädagoge sollte lernen, sich als einen wichtigen Helfer im System der Schule zu verstehen, der den Schüler durch seinen Unterricht in die Lage versetzt, anderen Unterrichten besser zu folgen, als er es ohne diesen Unterricht tun kann. Seine Kollegen mit anderen Lehraufträgen sollten lernen, daß der Musikpädagoge nicht ein den Stundenplan belastender Zeitkonkurrent ist, sondern ein Betriebshelfer von einmaliger Bedeutung. Nur dann wird es möglich sein, unsinnige Beschränkungen des Musikunterrichtens an unseren Schulen aufzuhalten und diesem Unterricht wieder den notwendigen Raum zu geben. […] Der im Bereich der Gesundheitsbildung tätige Arzt redet an den wissensvermittelnden Pädagogen vorbei, wenn er die gesundheitsbildenden Faktoren schildert, die in der Praxis des Musikunterrichtes wirksam werden. Es sind entscheidende Beiträge zur Gehörbildung und Hörerziehung, wichtig für zahlreiche spätere industrielle Berufe. Es sind Beiträge zur Förderung des richtigen Atmens, wichtig für die Herz-Kreislaufbilanz“ (Beckmann 1974).
Fast anekdotisch muten diese Worte eines kunstaffinen Mediziners an, der seiner Empörung über den „Schrumpfungsprozess“ des Musikunterrichts Ausdruck verleiht und meint, die spärlich-punktuellen Begegnungen mit der Musik in der Schule auf diese Weise verteidigen zu können, indem er „gesundheitsbildende Faktoren“ für die „Herz-Kreislaufbilanz“ unterstellt, die in einer kontinuierlichen Chorarbeit sicher erreicht werden können, nicht aber das Singen legitimieren sollten, das im Regelunterricht nur eines von vielen Handlungsfeldern des Musikunterrichts besetzt. Wie lässt sich überhaupt die Wirksamkeit von Musik und Musikunterricht empirisch nachweisen, wenn der vorfindliche und hier dann zu untersuchende Regelunterricht immer ein gestutzter Musikunterricht im vorfindlichen System bleibt, der sein eigentliches Potenzial gar nicht entfalten kann, weil er sich ausschließlich in jenes Regelsystem zu begeben hat, das es dann durch ihn zu stützen gilt? Wie in Platons Höhlengleichnis vermögen wir hier nicht das wirkliche Sonnenlicht zu erblicken, sondern dürfen die Musik immer nur gleich dem Schattenspiel an der Wand betrachten, weil wir eben im schulischen Höhlenkino zu verweilen haben. Die aus solch einem einschränkenden Regelsystem abgeleiteten Zielvorstellungen und erhobenen Bewertungskriterien werden zu der gefährlichen Fiktion, die Musik sei auf diese Ziele hin abgerichtet und in der Schule so auszurichten, als müssten wir auf diese Weise nach möglichen Ressourcen für ihre Selbsterhaltung suchen.
Rettungsversuch 1: Systemwechsel
Spricht man mit Kindern oder Erwachsenen über ihr eigenes Lernen, dann ist immer die Rede von ungesteuerten Such- und Erkundungsbewegungen, vom Flow, von der Lust abzutauchen, um sich ganz einem Gegenstand zuzuwenden und die Zeit dabei zu vergessen. Geht es dann um Schule, werden Lernsysteme erwartet, die es systematisch zu ordnen und zu gestalten gilt. Vergessen scheint, dass in der Wissenschaft ursprünglich von Neugier und Nutzen, curiositas und utilitas gesprochen wurde und das Streben nach Erkenntnis stets damit begann, die menschliche Neugier, den ‚Wissenstrieb‘ zu befriedigen. Erst als die Idee dazu kam, die Welt nicht nur zu verstehen, sondern diese zu verändern und damit auch einen Nutzen davon zu haben, vollzog sich ein Paradigmenwechsel, der heute u.a. dazu geführt hat, dass in jedem Forschungsantrag das zu generierende Wissen und seine Verwertung im Vorgriff beschrieben werden muss.
Man muss nicht Immanuel Kant bemühen, der zwischen dem Hingezogensein zum Objekt, der habituellen sinnlichen Begierde, und dem vernunftgeleiteten Interesse mit Achtung vor dem Gesetz zu unterscheiden suchte. Es reichen die uns allen zugegangenen Belehrungen, dass mit dem ersten Schultag der Ernst des Lebens beginne und es fortan darum gehe, sich in diesen einzufügen, aus dem nun zu erlebenden System heraus ein Projekt für die Zukunft zu schmieden, sich von eigenen Neigungen zu befreien, um es in solch einem Entledigungsprozess zu etwas zu bringen: „Denn die Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig, und wenn es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nötigen sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein“ (Kant 1974:247). Michael Hampe, der in seiner „Philosophie der Zwecklosigkeit“ (2024) immer wieder erzählende, autobiografische Momente einmischt, und damit selbst auch die Grenzüberschreitungen zwischen Philosophie und einer ungebundenen künstlerischen Prosa wagt, beschreibt hier seine eigene Neigung zur Dichtung, die auf die Musik übertragen werden kann: „Für Gedichte gibt es kein Geld oder fast keines. Wer immer nur dichten will, nimmt das Leben offenbar nicht ernst, kümmert sich zu wenig um sein Einkommen, wie klar ihm die Welt beim Dichten auch erschien. Mir erschienen die Dichtenden, wenn ich las, was sie geschrieben hatten, als die ‚Ernstesten‘, die das, was ihnen erschien, ‚wirklich‘ wahrnahmen und dann auch davon sprechen konnten. Alle anderen waren für mich als Teenager armselige Projektemacher“ (Hampe 2024:78).
„Dichtung verdichtet, Dichter sagen es dichter als andere“ (Hörisch 2005:104), so ließe sich der Gedankengang fortsetzen, um das Erkenntnispotenzial der Kunst auf eine Formel zu bringen und gleichzeitig die höhere Auflösung in Anschlag zu halten, mit der sich ein Objekt in künstlerischen Medien beschreiben und darstellen lässt. So sah es Paul Cézanne als seine Aufgabe an, mit seinen Organen des Sehens – dazu gehörte neben dem Auge auch Palette und Pinsel – das Sichtbare zu erspüren, um es mit dem ihm eigenen, subjektiven Blick wiederzugeben: „Die Frage nach dem Meisterwerk scheint obsolet angesichts der neuen Aufgabe des Künstlers, Bewußtsein und Existenz miteinander in Berührung zu halten“ (Gohr 1992:22). Wie oft haben wir im Laufe der Geschichte erleben müssen oder dürfen, wie die Kunst nicht dem Gewesenen oder dem Seienden, sondern dem Kommenden zugewandt war. Prospektiv richtet sie den Blick auf das Noch-nicht-Seiende und erschließt auf diese Weise der Wissenschaft ihre künftigen Möglichkeiten, die sich eben nicht in Begriffen, sondern in Vorgriffen zeigen, die sich dem Modus des Ästhetischen bedienen: „Jede Epoche hat diese dem Träumen zugewandte Seite, die Kinderseite. Für das vorige Jahrhundert sind es die Passagen [angelehnt an die überdachten Ladenpassagen, in denen Benjamin als Flaneur sich gerne bewegte]. Während aber die Erziehung früherer Generationen in der Tradition, in der religiösen Unterweisung, ihnen diese Träume gedeutet hat, läuft heutige Erziehung einfach auf die ‚Zerstreuung‘ der Kinder hinaus“ (Benjamin 1991:1006). Erst in einem Zwiegespräch zwischen Kunst und Wissenschaft, in wörtlich zu nehmenden ‚Verdichtungen‘, können Überschneidungen, Ausfransungen als solche kenntlich gemacht werden, um mit dem feineren Sensorium mehr zu sagen, als die Wissenschaft uns je zu denken geben kann: „Es ist nur zu bedauern, daß diese automatische Verknüpfung, die weitgehend unterbewußt ist, heute beträchtlich gelitten hat und einer synthetischen Denkweise geopfert wurde. Wir haben der Wissenschaft und der Kunst je ein abgestecktes Feld zugewiesen, und seit dem Tag, da das Bewußtsein durch den Biß in den Apfel der Erkenntnis geweckt wurde, verletzen wir die Einheit der Harmonie, die charakteristisch ist für des Menschen Vorstellung von der vollkommenen Vergangenheit und ihrem Gegenteil, der vollkommenen Zukunft – dem Garten Eden und dem Himmel –, wo Kunst und Wissenschaft ohne Zweifel eins waren und immer eins sein werden“ (Menuhin 1981:8). Und damit geht es um mehr als nur darum, die Künste als einen komplementären Weltzugang zu protegieren, ihre Kompensationsqualitäten herauszustellen, um hier ein Gleichgewicht im Menschen wiederherzustellen.
So scheint es immer noch mehr als angebracht, sich mit Christoph Richter gegen einen Musikunterricht zu stellen, der sich einzig als Erfüllungsgehilfe der „von oben“ verordneten Notwendigkeiten versteht, um die Frage zu stellen und sich dem anzunehmen, was „an der Musik musikalisch und musikalisierend ist (Richter 2005:22): Solch ein Musikunterricht müsse „das neu geordnete System Schule bereichern, verbessern und aus der Enge ökonomischen und formalen Denkens befreien“ (Richter 2005:15).
Rettungsversuch 2: Flucht in einen „verborgenen Kultus der Künste“
Wie Effizienzsteigerung und Totalisierung der Schule auf eine einseitig ökonomisch ausgerichtete Bildung nicht nur die künstlerischen Schulfächer eliminiert, sondern auch in unserem Alltag andere Lebensentwürfe nahezu verdrängt, ist bereits oft besprochen worden (Oberschmidt 2014 u. 2022). Das liegt nicht nur daran, dass Schule zum alleinigen Lebenseinhalt unserer Kinder und Jugendlichen wird oder zumindest als äußerst dominierend wahrgenommen wird. Derlei Verdichtungen betreffen auch unser fremdbestimmtes, modularisiertes und ebenso straff durchorganisiertes und auf Effizienz getrimmtes Freizeitverhalten (Straub 2019). Bereits Friedrich Nietzsche hat sich in seinen berühmt gewordenen Schulreden gegen ein solches System gestellt und möchte den damals bereits aufgeladenen Bildungsbegriff für das System Schule in den vorfindlichen Realitäten gar nicht mehr in Anschlag bringen: „Also es giebt keine Bildungsanstalten! […] Ich für meinen Theil kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnoth: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich.“ Die Schulen bezeichnete er als „Anstalten der Lebensnoth“ (Nietzsche 1988:717), in denen es eben darum ging, das Lebensnotwendige zu vermitteln, wohlwissend, dass Schule immer solch eine Stätte der Lebensnot bleiben muss.
Wenn sich Nietzsche hier über das vorfindliche Bildungssystem als ein Zweckbetrieb beklagt, muss dabei berücksichtigt werden, dass es ihm noch leicht fallen durfte, die notwendigen Korrekturen für sich selbst vornehmen zu dürfen, gab es doch damals noch den verordneten „Studien- und Ausschlafetag“: „An diesem Tage konnten die Pförtnerschüler eine Stunde länger schlafen, und dann gab es den ganzen Tag weder Schul- noch Lesestunden, sondern nur Repetierstunden, in denen die Schüler das in der Woche Gelernte auf seine Festigkeit überprüfen und sich im übrigen völlig eigenen Studien überlassen konnten“ (Janz 1981:69).
Die Suche nach solchen Enklaven scheint eine menschliche Grundkonstante zu sein: Gerade in der Schule, die gezeichnet ist von kollektiven Erkenntnisprojekten, liegt es nicht nur im Wesen der Musik, Gemeinsamkeit zu stiften, sondern es gilt hier auch zu erfahren, wie sie dem Einzelnen erscheint, wie das Erfahrene sich im individuellen Erleben und Deuten mischt, wie sich hier die verschiedenen Ebenen des Erfahrens und Deutens beeinflussen, wenn es gilt, Vorläufigkeiten und Vagheiten auszuhalten, um einen eigenen Standpunkt zu finden, diesen zu vertreten und auch zu bewahren.
My Way ist der Titel eines sehr persönlich gehaltenen Filmportraits über Helmut Lachenmann. Auch wenn sich während des Films die klingende Melodie von Frank Sinatra einmischt, darf der Titel My Way für den von Lachenmann beschrittenen (Lebens-)Weg des Erlebens und Deutens in Anschlag gebracht werden. Im Film spricht Lachenmann über sein eigenes No-Education-Projekt, das er „Verweigerung“ nennt: „Ich benutze diesen Begriff der Verweigerung und ich stelle mich damit in eine Tradition, die für mich zurückreicht, soweit es Kunst in der Musik gibt. Kunst als Aufforderung des nochmal Durchdenkens, als Aufforderung des Sich-verunsichern-Lassens, als Aufforderung, sich zu verändern. Ich finde, es gibt kein Hören, ohne sich zu verändern“ (Lachenmann/Pöpel 2021). Wenn Kunst sich auf diese Weise verweigert, sich gegen ein System stellt, auf zweckfreie Autonomie beharrt, dann sind das letztlich die vielleicht besten Argumente für einen Musikunterricht, der sich auf diese Weise unentbehrlich macht: Er ist der Welt abhanden gekommen, wie es im von Gustav Mahler vertonten Rückert Text heißt: „Ich bin gestorben dem Weltgewimmel // Und ruh’ in einem stillen Gebiet. // Ich leb’ in mir und meinem Himmel, // In meinem Lieben, in meinem Lied“ (Rückert 1821/1983:).
Auch auf diese Weise macht die Kunst den Unterschied, wenn es gilt, sich gegen ein schulisches Weltgewimmel zu stellen, um dieses mit den eigenen und nur den Künsten zuzusprechenden Mitteln zu verändern. Musik ist relevant, weil sie den Unterschied macht, weil sie Dinge auf andere Art und Weise in den Blick nimmt, weil sie dazu auffordert, unsere Blick- und Hörwinkel zu verändern: „Und in dem Zusammenhang halte ich das, was wir Komponisten machen, wahrscheinlich für überflüssig. Also, wenn ich streike, dann bricht das Leben nicht zusammen. Aber gerade weil ich überflüssig bin, bin ich unverzichtbar. Das ist der Bereich, wo wir uns über die Grenzen des Alltags hinaus daran erinnern, dass wir geistbegabte Kreaturen sind. Und das ist der Sinn, warum wir überhaupt auf dieser Erde rumspazieren“ (Lachenmann/Pöpel 2021).
Transformiert auf den Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule hieße dies: Nur wenn im Musikunterricht eine andere, eben die der Kunst eigenen Sprache gesprochen wird, ist die Stimme der Musik im Weltgewimmel der Schule überhaupt vernehmbar. Nur ein Musikunterricht, der das schulische System überschreitet und sich damit über die Grenzen des Alltags hinausbegibt, ist unverzichtbar. Die Sehnsucht des Menschen nach Übereinstimmung mit sich selbst, die sich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts im hier angefügten Rückert-Text zeigt, besteht heute mehr denn je, das Verlangen nach dem, was man immer weniger findet, ist größer geworden. Dabei gilt es nicht, sich in einer anderen Wirklichkeit zu finden, um sich in innerer Emigration gegen die Gemeinschaft zu stellen. Lachenmanns „Verweigerung“ ist nicht die eines solchen wortlosen Aussteigers, sondern es ist die „Verweigerung“ von Gewohnheiten. Und es gilt auch für den Musikunterricht, dass wir durch eine solche Verweigerung von Gewöhntem die Welt erst erkennen können.