Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Interventionen in der kulturellen Bildungspolitik: Das Positionspapier „Bildung und digitaler Kapitalismus“
Abstract
In der kritischen Auseinandersetzung mit den Strukturen des digitalen Kapitalismus und seinen Auswirkungen auf Begriffe, Subjekte und Ziele von Bildung sowie bildungspolitische Programmatiken und digitale Infrastrukturen der Bildung formierte sich 2021 die Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus. Der Beitrag skizziert (im zweiten Teil) das aktuelle Positionspapier der Initiative „Bildung und digitaler Kapitalismus“, um kritische Perspektiven auf digital-kapitalistische Formationsprozesse zu thematisieren und gleichzeitig den Diskurs um alternative, nachhaltige Entwicklungspfade in wissenschaftlichen Kontexten, pädagogischen Handlungsfeldern und bildungspolitischen Öffentlichkeiten zu diskutieren. Vor dem Hintergrund von Entwicklungen des Politischen, von Governance-Perspektiven und Einflussmöglichkeiten von Infrastrukturen Kultureller Bildung werden (im ersten Teil) Probleme der politischen Kommunikation und die Rolle von Positionspapieren als Möglichkeit zivilgesellschaftlicher Interventionen allgemein eingeordnet. Der Beitrag endet mit dem Nachdruck des diskutierten Positionspapiers, an welchem der Autor dieses kubi-online Artikels mitgewirkt hat.
Teil 1: Politik als Kampf um Macht und Herrschaft
Hinweise zur Entwicklung des Politischen
Der Begriff der Politik geht auf die griechische Polis zurück und bezieht sich darauf, wie die freien Bürger die Regeln ihres Zusammenlebens diskutieren und festlegen (vgl. Meier 1989). Bei einigen Beschreibungen dieser Art der Politikgestaltung kann der Eindruck entstehen, als ob hier das Habermassche Ideal des herrschaftsfreien Diskurses, bei dem lediglich die Kraft des besseren Argumentes zählt, realisiert worden wäre. Doch handelte sich hierbei um eine Konstruktion und ein Narrativ, das vermutlich wenig mit der Realität zu tun hatte. Denn nur eine Minderheit konnte sich an diesen Prozessen der Entscheidungsfindung der griechischen Polis beteiligen und dies allein schon deshalb, weil hinreichende finanzielle Ressourcen notwendig waren, um die Tage ohne produktive Arbeit auf der agora diskutierend zu verbringen. Frauen, Besitzlose, Zugewanderte (Metöken) und Sklaven waren von dieser Art der Entscheidungsfindung ausgeschlossen.
Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen, dass individuelle Interessen bei den zu treffenden Entscheidungen eine wichtige Rolle spielten und dass die Möglichkeiten, eigene Vorstellungen durchzusetzen, ungleich verteilt waren. Es handelte sich um eine Ungleichverteilung von Macht, wenn man dies gemäß Max Weber (1972:28) als „jede Chance (versteht), innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstände durchzusetzen“. Weber unterscheidet Macht von Herrschaft, nämlich als „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (ebd.:28; auch Berger 2009). Ein Mittel der Herrschaftsausübung ist Gewalt. In diesem Sinne kann man die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Macht und der Gewaltausübung beschreiben (Mann 1990/1991).
Doch muss man sehen, dass es neben dieser sichtbaren Form von Machtausübung andere subtilere Formen gibt, den eigenen Willen durchzusetzen. Denn Gewaltausübung ruft Widerstand hervor, dessen Niederschlagung zumeist mit erheblichen Kosten verbunden ist (Fuchs 2018). Daher ist die Geschichte der Macht auch eine Geschichte von Strategien, die Unterstützung der Menschen und damit die Legitimierung der eigenen Macht auf eine andere Weise zu gewinnen. So behauptete man etwa, dass die eigene Machtposition von Gott oder den Göttern gewollt ist, was oft genug von willfährigen Priestern bestätigt wurde. Man inszenierte seine Macht und Herrschaft mithilfe ästhetischer Mittel (Zeremonien, Umzüge, entsprechende Kleidung und Architektur; siehe etwa Busch 1987 zur politischen Funktion von Kunst), die die eigene Stellung sichtbar machen sollten. Man engagierte Geschichtsschreiber, die ein Narrativ erfanden, das die eigene Machtposition historisch legitimieren sollte.
Allerdings gab es immer wieder auch Überlegungen, politische Ordnungsstrukturen zu finden, die dem wachsenden Bedürfnis der Menschen nach Mitgestaltung entsprachen. So entstanden die Strukturelemente heutiger demokratischer parlamentarischer Ordnungen (Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Übertragung der Regierungsgewalt auf Zeit, Wahl und Abwahl von Regierungen etc.; siehe Schmidt 2008 oder Sartori 1997). Es entstand zudem in der Neuzeit eine Öffentlichkeit, in der politische Fragen diskutiert wurden (Habermas 1962 und Gerhardt 2012). Damit entstanden zugleich Strategien, auf diese Öffentlichkeit einzuwirken. Auf der mentalen Ebene setzte sich durch, was insbesondere Norbert Elias beschrieben hat, dass äußerer Zwang zunehmend so verinnerlicht wurde, dass die Menschen von selbst das tun, was sie tun sollten. Man entwickelte Strategien der Sozialdisziplinierung, etwa durch Abmilderung sozialer Härten wie die Entwicklung eines Sozialversicherungssystems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Michel Foucault hat diesen Wechsel in den Strategien der Machtausübung in seinen Gouvernementalismusstudien (Foucault 2004) untersucht.
Mit der technischen Entwicklung der neuen digitalen Medien ist ein weiterer „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ verbunden. Denn es ist nicht, wie es Visionäre (wie John Perry Barlow) in früheren Zeiten voraussagten, im Internet zur Entwicklung eines Reiches der Freiheit gekommen, sondern es ist (auch) ein Feld „alternativer Fakten“ und Fake News entstanden, das aufgrund der möglichen Anonymität oft genug alle Standards zivilen Verhaltens vergessen lässt. Die Anzahl der Schriften, die auch deshalb einen Niedergang des (ohnehin nur in relativ wenig Staaten praktizierten) parlamentarisch-demokratischen Systems prognostizieren, wächst ständig. Man muss allerdings sehen, dass Wandel und Transformation essentielle Bestandteile in der Entwicklung der modernen Gesellschaften sind. In diese Veränderungsprozesse sind die unterschiedlichen Gesellschaftsbereiche, die Subsysteme Politik, Wirtschaft, Zusammenleben und Kultur und ihre wechselseitigen Beziehungen (der Soziologe Richard Münch spricht von „Interpenetration“) einbezogen, sodass die politische Gestaltung des Gemeinwesens an Komplexität gewonnen hat.
In den letzten Jahren hat man versucht, diese gewachsene Komplexität begrifflich mit dem Konzept der Governance zu erfassen (siehe etwa den Beitrag von Detlef Sack in Fuchs/Braun 2016). Man spricht zum einen von einem Mehrebenensystem, in Deutschland also etwa von der kommunalen, der Länder- und der Bundesebene, wobei in den letzten Jahrzehnten internationale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union, der Europarat, die NATO, weitere ökonomische Zusammenschlüsse wie etwa die OECD sowie die Vereinten Nationen mit ihren Unterorganisationen (etwa der UNESCO) genannt werden müssen. Ein zweiter Aspekt ist die Berücksichtigung einer Vielzahl von Akteuren mit ihren je spezifischen Interessen und Handlungsmöglichkeiten auf jeder Ebene.
Man unterscheidet zudem eine normative und eine analytische Konzeption von Governance. In einer normativen Perspektive wünscht man sich eine öffentlich-private Zusammenarbeit, man spricht von Partnerschaften, von Good Governance, man setzt auf Benchmarking und Dialog. In einer nüchternen analytischen Zugangsweise untersucht man die entstandenen Netzwerke, die Hierarchien in diesen Netzwerken, die Strategien der Aushandlung. Der Politikwissenschaftler Detlef Sack (a.a.O.) kritisiert allerdings an diesen Ansätzen, dass Fragen der Macht und Machtverteilung nicht hinreichend berücksichtigt werden.
Kulturelle Bildung in unterschiedlichen Politikfeldern und die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen
„Europa hat den Staat erfunden.“ – So beginnt eine preisgekrönte „Geschichte der Staatsgewalt“ (Reinhard 1999). In dieser historischen Darstellung wird sorgfältig nachgezeichnet, wie nicht bloß die Idee eines „Staates“ als politischer Organisationsform entstand und sich entwickelte, sondern wie unterschiedliche Elemente eines real existierenden Staates wie Hof, Hauptstadt, Rechtsentwicklung, Verwaltung, Finanzierung etc. entstanden sind. Gerade in der deutschen Tradition ist – nicht zuletzt unter Bezug auf die politische Philosophie von Hegel – eine starke Zentrierung auf den Staat festzustellen. Lange Zeit war es kaum denkbar, sich eine Politik vorzustellen, die neben dem Staat auch andere Akteure kennt. Dabei gab es nicht bloß eine entstehende Öffentlichkeit in der Neuzeit, in der Einfluss auf die politische Willensbildung nicht bloß der Untertanen, sondern auch der Machthaber genommen wurde, es entstanden vor allem im 19. Jahrhundert die großen politischen Strömungen (Liberalismus, Konservativismus, Sozialismus) und Parteien, deren Programmatik sich an diesen Weltanschauungen orientierte.
Ein Machtfaktor in Europa war zudem immer auch die Kirche, wenn man etwa an den jahrhundertelangen Streit zwischen Papst und deutschem Kaiser denkt. Dies betrifft auch die Entwicklung des Rechtssystems, wobei der Rechtshistoriker Uwe Wesel (1997) die Konkurrenzsituation zwischen weltlichem und römischem Recht positiv als Motor der Rechtsentwicklung insgesamt bewertet. Nicht immer wird zudem berücksichtigt, welche wichtige Rolle der entstehende Verwaltungsapparat spielt. Insbesondere war es das Problem der Finanzierung der wachsenden Staatsaufgaben durch Steuern, für dessen Lösung man hochqualifiziertes Personal benötigte (Raphael 2000). Dies wiederum ist aufs engste mit der Entwicklung eines Bildungssystems verbunden, dessen Aufgabe wesentlich die Bereitstellung entsprechend qualifizierter Menschen in den unterschiedlichsten Bereichen staatlicher Aktivitäten war.
Bei der lange üblichen Konzentration auf die „Haupt- und Staatsaktionen“ in der Geschichtswissenschaft hat man nicht immer genügend berücksichtigt, dass der Staat auf Organisationen angewiesen war, die außerhalb seiner administrativen Struktur lagen. Ökonomische Zusammenschlüsse wie etwa die Hanse oder die verschiedenen Handelskompanien der Kolonialmächte (England, Niederlande, Frankreich etc.), später die Parteien und Gewerkschaften wurden zunehmend wichtiger in der politischen Gestaltung, weil sie Menschen und Ressourcen repräsentierten, ohne die der Staat seine Aufgaben nicht erfüllen konnte. Heute spricht man von der Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen, und dies nicht bloß auf nationaler, sondern sogar auf internationaler Ebene. Auch auf der Ebene der Vereinten Nationen weiß man die Bedeutung großer internationaler zivilgesellschaftlicher Organisationen als wichtige Bündnispartner zu schätzen, ohne die bestimmte Aktivitäten im Bereich der Menschenrechte oder des Umweltschutzes gar nicht durchzuführen wären. Natürlich bleibt dem Staat auch in finanzieller Hinsicht – man denke etwa an die erheblich gewachsene Staatsquote – eine Reihe hoheitlicher Aufgaben, man kann sogar ein Anwachsen so genannter Staatsaufgaben registrieren, gegen das insbesondere liberale Politiker*innen protestieren (Grimm 1994). Der Einfluss zivilgesellschaftlicher Organisationen wird heute in vielen Bereichen akzeptiert und genutzt und ist in einzelnen Politikfeldern wie etwa der Sozial- und Jugendpolitik sogar gesetzlich vorgeschrieben. Allerdings gibt es Unterschiede bei den Funktionslogiken in den verschiedenen Politikbereichen. So gibt es im Bereich der Kultur- und Jugendpolitik zwar die Möglichkeit einer Steuerung durch die Zuteilung von Finanzen, doch gibt es eine sehr stark ausgeprägte und zum Teil grundgesetzlich oder durch Einzelgesetze abgesicherter Autonomie der entsprechenden Einrichtungen und Organisationen. Eine top-down-Steuerung, und dies durch den Staat, ist in diesem Feld nicht vorgesehen. Kulturpolitiker*innen wehren sich zudem vehement gegen eine solche Idee, zumal sie auch nicht im Einklang mit Art. 5 des Grundgesetzes sein dürfte (Kunstfreiheitsgarantie). Anders ist dies im Feld der Bildungspolitik, welches in Deutschland – im Gegensatz zu vielen anderen modernen Staaten – fest in staatlicher Hand ist. So sind die Kommunen zumeist Schulträger, die Länder beschäftigen und finanzieren die Lehrerschaft, zumeist versehen mit einem Beamtenstatus, der zu einer besonderen Treuepflicht gegenüber dem Staat verpflichtet. Die Länder haben zudem die Gestaltungsmacht über die zu vermittelnden Inhalte in der Schule.
Zwar mischen sich auch im Bildungsbereich Lehrer- und Elternverbände sowie zuständige Fachgewerkschaften in bildungspolitische Debatten ein und können über eine mobilisierte Öffentlichkeit durchaus Einfluss auf die entsprechende Gestaltung des Bildungswesens nehmen, doch bleibt die Entscheidungskompetenz letztlich beim Staat, wobei das Parlament zwar gewisse Grundsatzentscheidungen treffen kann, aber gerade in diesem Politikfeld die Macht der Verwaltung nicht unterschätzt werden darf. Weitere Beteiligungsmöglichkeiten ergeben sich dann, wenn Kommissionen – etwa zur Entwicklung von Lehrplänen – einberufen werden. Allerdings können in diesen Kommissionen zumeist nur Vorschläge entwickelt werden, bei denen es keine Verpflichtung des Staates zur Annahme gibt. Es gibt zudem in den unterschiedlichen Politikfeldern offizielle Beratungsgremien wie das Bundesjugendkuratorium auf der Basis des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, zudem werden häufig Menschen aus dem Wissenschaftsbereich beauftragt, Gutachten zu bestimmten Problemlagen und Fragestellungen zu erstellen. Man kann in all diesen Fällen von „soft power“ sprechen. Rechtlich wäre zwar eine top-down-Steuerung in diesem Bereich möglich (Art. 7 GG) und es gibt neben ausführlichen Schulgesetzen in den Ländern eine enorme Zahl weiterer Vorschriften und Erlasse, doch ist es schon lange eine ernüchternde Erfahrung, dass eine solche Steuerung nicht funktioniert. Man hat daher in den letzten Jahrzehnten die Einzelschule als wichtigen Akteur jeder Schulreform (wieder-)entdeckt (vgl. Fend 2009).
In der Geschichte der Bildungspolitik spielten zudem immer wieder Publikationen eine Rolle, die von Einzelpersonen oder Organisationen in die Debatte eingebracht wurden. Bis heute wird etwa die Schrift zur Bildungskatastrophe des Philosophen Georg Picht zitiert. Es gab zwischen 1966 und 1975 den Deutschen Bildungsrat, der vom Bund und den Ländern gegründet worden ist und der eine Reihe einflussreicher Gutachten und Studien und vor allem einen „Strukturplan für das Bildungswesen“ veröffentlicht hat. Letztlich stießen seine Vorstellungen auf den Widerstand in Politik und Verwaltung. Im Hinblick auf Kulturelle Bildung hat man zudem bemerkt, dass man diese bei der Bildungsgesamtplanung vergessen hatte, sodass man rasch einen „Ergänzungsplan musisch-kulturelle Bildung zum Bildungsgesamtplan“ im Jahr 1977 veröffentlichte, der zwar interessante konzeptionelle Vorschläge etwa zur Zusammenarbeit unterschiedlicher Träger auf kommunaler Ebene enthielt, aber zu einer Zeit erschienen ist, als es den Deutschen Bildungsrat schon nicht mehr gab.
Es gibt eine lange Liste bildungspolitischer Interventionen unterschiedlicher Organisationen und Personen. So haben sich immer wieder Wirtschaftsverbände mit entsprechenden Qualifikationsforderungen in die Bildungsdebatte eingemischt bis hin zu dem ambitionierten Projekt der bayerischen Wirtschaft, in dem unter der Leitung des Erziehungswissenschaftlers Dieter Lenzen eine Gesamtkonzeption einschließlich der Finanzierung vorgelegt. Einflussreich waren immer wieder auch internationale Impulse, wobei internationale Vergleichsuntersuchungen speziell zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht (z. B. TIMSS) eine wichtige Rolle spielten und die zuletzt in die PISA-Untersuchungen einmündeten.
Zivilgesellschaftliche Organisationen haben also unterschiedliche Möglichkeiten der Einflussnahme: die Veröffentlichung von Konzeptvorschlägen und Forderungskatalogen, Kritik an geplanten oder getroffenen Maßnahmen im Bereich des Bildungswesens, Gutachten und Stellungnahmen, die Beteiligung an den unterschiedlichsten Beratungsgremien, die Beteiligung an parlamentarischen Anhörungsverfahren, formelle und informelle Kontakte mit Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung etc. Basis all dieser Aktivitäten ist eine begründete und reflektierte Positionierung zu dem infrage stehenden Problem. Positionspapiere spielen also eine strategisch wichtige Rolle bei allen Versuchen der Einflussnahme auf die politische Gestaltung.
Zur Rolle von Positionspapieren
Das Problem der politischen Kommunikation besteht darin, mit Argumenten einen in der Regel unbekannten und heterogenen Adressatenkreis von der Richtigkeit der eigenen Vorstellungen zu überzeugen. Insbesondere bedeutet dies, dass man berücksichtigen muss, dass Argumente und die theoretischen Kontexte, auf die man sich bezieht, verstanden werden müssen. Man muss zudem daran denken, dass Aufmerksamkeit inzwischen zu einem knappen Gut geworden ist, sodass man die Länge des Argumentationspapiers und das Anspruchsniveau im Hinblick auf die angesprochene Zielgruppe anpassen muss. Ein beliebtes Vorgehen in der politischen Kommunikation besteht daher darin, griffige Leitformeln und Slogans – möglicherweise als Kurzform eines umfassenderen Positionspapiers – zu finden (vgl. Fuchs 2011). Eine entsprechende Studie für den Bereich der Kulturpolitik habe ich wie folgt vorgestellt:
„Sowohl in der Politik, aber auch im Management von Kultureinrichtungen und -verbänden braucht man überzeugende Argumente für das eigene Anliegen. Bei solchen Argumentationen, die eine Zwischenstellung zwischen Legitimation, seriöser Begründung und Werbung haben, spielen immer wieder Leitbegriffe eine Rolle. Der Bezug auf solche Begriffe (zum Beispiel „Kultur für alle“, „Bürgerrecht Kultur“, „Kultur als Wirtschaftsfaktor“) erspart oft langwierige Ausführungen. Das Buch zeigt anhand praktischer Beispiele, welche Dimensionen sich im Umgang mit solchen Leitformeln unterscheiden lassen und was man im Umgang mit ihnen beachten muss.“ (Fuchs 2011)
Es geht also darum, im spezifischen Medium der Sprache, als „Macht dieser symbolischen Form“ (im Sinne von Ernst Cassirer), überzeugende Formulierungen zu finden, die sowohl einer gründlicheren kritischen Reflexion ebenso standhalten wie sie Überzeugungskraft im Hinblick auf die unspezifischen Zielgruppen gewinnen können.
Dass man mit Begriffen Politik machen kann, ist schon lange bekannt. Begriffe haben nämlich nicht nur eine kognitive Bedeutung, sie haben auch eine emotionale Wirkung. Man denke etwa an Begriffe wie Krieg, Steuererklärung oder Strafmandat und an die Emotionen, die diese Begriffe auslösen. Auf der anderen Seite gibt es die Begriffe der Solidarität, der Nächstenliebe oder der Steuerrückzahlung, die ebenfalls – dieses Mal allerdings positive – Emotionen auslösen dürften. Im politischen Kontext weiß man daher ebenso wie im Bereich der Werbung schon lange, dass es sich lohnt, um bestimmte Begriffe zu kämpfen. So hatte die CDU unter dem Generalsekretär Kurt Biedenkopf eine Arbeitsgruppe Semantik mit der Aufgabe gegründet, entsprechende sprachliche Untersuchungen vorzunehmen. Ein Beispiel war der Versuch, den anerkannten Begriff der „Solidarität“, der eng mit der Arbeiterbewegung und der SPD verbunden war, für sich nutzbar zu machen. Offenbar war dieser Versuch erfolgreich, denn sehr bald sprach man von der „Solidarität mit den Vereinigten Staaten“ bei deren Krieg gegen Vietnam. Es ging also geradezu um eine Umkehrung der ursprünglichen Bedeutung, die sich auf die wechselseitige Unterstützung von Schwachen bezog und die nunmehr die Parteinahme für eine Weltmacht bedeuten sollte, die ein armes Volk mit einem Vernichtungskrieg überzog.
Die oben im kulturpolitischen Kontext genannten Konzepte einer Kultur für alle oder eines Bürgerrechts Kultur waren im kulturpolitischen Diskurs erfolgreich, wurden von vielen genutzt und waren zudem anspruchsvoll und umfangreich begründet. Allerdings zeigt sich auch hierbei ein bestimmtes Phänomen, dass nämlich ein diskursiver Erfolg nicht unmittelbar zu einer Umsetzung in der Praxis führt. Vielmehr muss man 50 Jahre nach der Formulierung dieser Slogans feststellen, dass sie bei aller Beliebtheit in der kulturpolitischen Praxis kaum hinreichend umgesetzt worden sind.
Interessant ist zudem, dass die Zielrichtung der genannten Slogans primär auf eine Entwicklung und Veränderung der Praxis zielte, dass sie zugleich aber auch in wissenschaftlichen Diskursen aufgegriffen und kritisch reflektiert wurden. Das hat zur Folge, dass sich solche Positionierungen an unterschiedlichen Kriterien messen lassen müssen: eine gewisse Akzeptanz in einer breiten und heterogenen Zielgruppe, die Möglichkeit einer praktischen Realisierung und eine kritische Analyse der theoretischen Konsistenz und Fundierung. Zudem spielt eine Rolle, in welcher Weise Positionierungen und Slogans zustande kommen und welche Personen und Personengruppen sie tragen und verantworten. Im nächsten Teil sollen diese Aspekte an einem aktuellen Beispiel, nämlich dem Positionspapier der neu gegründeten Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus aufgezeigt werden, dessen Mit-Initiator der Autor dieses Beitrags ist.
Teil 2: Das Beispiel „Bildung und digitaler Kapitalismus“
Allgemeine Überlegungen zur Logik eines Positionspapiers
Positionspapiere zivilgesellschaftlicher Organisationen haben unterschiedliche Funktionen. Sie wirken nach innen in die entsprechende Organisation hinein, indem sie eine gemeinsame konzeptionelle Basis formulieren und damit ein Mittel der Integration von Personen sind, die neben dem gemeinsamen Interesse, aufgrund dessen die jeweilige Organisation gegründet worden ist, durchaus unterschiedliche Sichtweisen, Werthaltungen und Perspektiven haben können. Damit das Positionspapier eine solche Funktion erfüllen kann, muss es Konsens unter den Mitgliedern finden, was etwa dadurch hergestellt wird, dass bereits der Entstehungsprozess des Papieres partizipativ und demokratisch angelegt ist und die unterschiedlichen Sichtweisen in dem Papier berücksichtigt werden. Dabei ist zu sehen, dass auch innerhalb der Organisation Fragen der Macht und des Deutungsrechtes eine Rolle spielen, so wie es etwa der Berliner Organisations-Soziologe Horst Borsetzky (und bekannter Krimiautor ky) unter dem Thema „Machiavellismus und Mikropolitik“ (Borsetzky 1988) als Aspekt einer Organisation untersucht hat. Die Notwendigkeit einer Einigung hat auch zur Folge, dass ein solches Positionspapier nicht notwendigerweise denselben konsistenten Begründungszusammenhang haben kann, wie man es bei einem wissenschaftlichen Papier einzelner Autor*innen erwartet. Das bedeutet für die Beteiligten, Zugeständnisse hinsichtlich der möglichen Abweichung von der eigenen fachlichen Position machen zu müssen und Kompromisse einzugehen.
Bei der Frage nach der Wirksamkeit nach außen ist zu berücksichtigen, dass man es mit einer Vielzahl unterschiedlicher Zielgruppen zu tun hat. So macht es einen Unterschied, ob man Kolleginnen und Kollegen im Wissenschaftsbereich ansprechen und überzeugen will, ob man politische Gestaltungswünsche hat und deshalb in Politik und Verwaltung hineinwirken oder ob man ein allgemeines Publikum für die eigene Position gewinnen will. Offensichtlich hat die Entscheidung für eine bestimmte Zielgruppe Auswirkungen darauf, in welcher Sprache und auf welchem Abstraktionsniveau ein Positionspapier verfasst ist, über welche Kanäle man es kommunizieren will und wie lang es sein darf. Hierbei spielt eine Rolle, dass es kaum Handlungsfelder gibt, in denen keine Positionierungen und entsprechende Akteure vorhanden sind. Das bedeutet, dass man sich in einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Einfluss begibt, sodass auch hierbei Fragen der Macht und des Einflusses eine Rolle spielen.
Mit diesen – sicher unvollständigen – Überlegungen sind einige Hinweise für eine Analyse gegeben. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Berücksichtigung der bekannten Lasswell-Formel, die der amerikanische Politik- und Kommunikationswissenschaftler Harold D. Lasswell im Jahre 1948 veröffentlicht hat: Wer sagt was über welchen Kanal zu wem mit welcher Wirkung? Man kann die hier aufgeführte Liste von W-Fragen durch die folgenden Fragen noch erweitern: Wozu wird etwas gesagt? Wie und in welcher Form wird etwas gesagt? Wie wird das Gesagte begründet? Was ist der Anlass für die Veröffentlichung? In welchem Kontext ist die Veröffentlichung entstanden?
Skizze des Positionspapiers „Bildung und digitaler Kapitalismus“
Kontext und Anlass
Das hier vorzustellende und zu analysierende Positionspapier wurde von der im Jahre 2021 gegründeten „Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus“ erstellt (dort findet sich auch das hier vorgestellte Papier sowie weitere Informationen und Texte). Mitglieder dieser Initiative sind Expert*innen aus dem Bereich der Medien und der Allgemeinen Pädagogik. Als Ziel dieser Initiative formuliert das Positionspapier:
„Wir als Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus möchten einen Beitrag leisten, um digital-kapitalistische Formationsprozesse in kritischer Perspektive zu thematisieren und gleichzeitig alternative, nachhaltige Entwicklungspfade in wissenschaftlichen Kontexten, pädagogischen Handlungsfeldern und bildungspolitischen Öffentlichkeiten zu fördern. Hierzu gehört wesentlich, den aktiven, selbstbewussten und kompetenten Umgang mit digitalen und anderen Medientechnologien im Kontext eines umfassenden Verständnisses von Bildung und Medienbildung zu unterstützen.“ (2)
Anlass sowohl für die Gründung der Initiative als auch für das vorliegende Positionspapier ist eine als krisenhaft empfundene Entwicklung des Kapitalismus:
„Krisendynamiken und gesellschaftliche Transformationsprozesse werden auf vielen Ebenen beschrieben und kritisiert: eine spekulative Finanzwirtschaft, ein globales Erstarken von rechtspopulistischen und -terroristischen Bewegungen, imperiale Interventionen und Kriege, Krisen der Sozial- und Gesundheitssysteme, die allgegenwärtige Klimakrise und viele mehr.“ (ebd.)
Diese krisenhafte Entwicklung wird durch die Nutzung digitaler Technologien noch verstärkt, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens und Prinzipien der Digitalisierung ähnlich sind. Genannt werden: die Messbarkeit von Prozessen, Kostenfaktoren, Tauschwerten und Profitraten, was eng mit der numerischen Repräsentation von Daten unterschiedlichster Art korrespondiert.
Das Papier weist allerdings darauf hin, dass die „Zusammenhänge zwischen den genannten Krisendynamiken und Transformationsprozessen (…) wissenschaftlich und politisch unterschiedlich gedeutet“ (ebd.) werden. Während die einen eine Chance für ein verbessertes Wachstum durch den Prozess der Digitalisierung und möglicherweise eine Lösung der Probleme sehen, sehen andere eine Verschärfung der genannten Krisen (3). Es geht insgesamt darum, diese krisenhafte Entwicklung abzuwenden.
Im Hinblick auf die Pädagogik ist der folgende Hinweis wichtig:
„Hierzu gehört wesentlich, den aktiven, selbstbewussten und kompetenten Umgang mit digitalen und anderen Medientechnologien im Kontext eines umfassenden Verständnisses von Bildung und Medienbildung zu unterstützen.“ (ebd.)
Welche Bildung ist notwendig?
Der bildungstheoretische Teil des Positionspapiers knüpft an die kritische Darstellung der Entwicklung des digitalen Kapitalismus an:
„Bildung wird von digital-kapitalistischen Akteur*innen und Logiken zunehmend auf ein operationalisier-, mess- und steuerbares Konzept anwendungsorientierten Wissens verkürzt und mit einem psychologischen Verständnis von Lernen gleichgesetzt. Mit am deutlichsten offenbart sich dies in den Diskussionen um „digitale Bildung“: Der Begriff setzt einen dezidierten Schwerpunkt auf technisches Anwendungswissen und reduziert Formen der Selbstbildung auf ein instrumentell-funktionales Verständnis dieses Wissens.“ (3)
Forciert wird diese reduzierte Form von Bildung dadurch, dass sich inzwischen ein „bildungsindustrieller Komplex“ entwickelt hat, der einen erheblichen Einfluss auf die Politik hat. Das Papier weist darauf hin, dass in der Verkaufsargumentation dieser Unternehmungen durchaus Begriffe auftauchen, die in pädagogischen Diskursen positiv konnotiert sind (Kreativität, Diversität, Flexibilität), allerdings hier lediglich affirmativ und verkürzt verwendet werden. Die Marketingstrategien und Lobby-Aktivitäten der entsprechenden Unternehmungen sind erfolgreich, wie man etwa daran sehen kann, dass bildungspolitische Positionierungen einflussreicher politischer Organisationen wie etwa der Kultusministerkonferenz nicht nur die Argumentationen übernehmen, sondern auch unter Ausklammerung einer kritischen Hinterfragung der Medienentwicklung sich auf bloße Ausstattungsfragen konzentrieren (Abschnitt 2.4 des Positionspapiers).
Bildungspolitische Forderungen
Auf der Basis der hier skizzierten kritischen Analyse werden acht bildungspolitische Forderungen formuliert. Es geht um ein umfassenderes Verständnis von Bildung, was insbesondere eine kritische Reflexion der digitalen Technologien einschließt. Es geht um das Bildungsziel, Kinder, Jugendliche und Erwachsene „darin zu unterstützen, Medien aktiv, reflektiert und selbstbewusst zu nutzen.“ (4) Es geht um ein Zurückdrängen der IT-Wirtschaft und die Ermöglichung, über gesellschaftliche Alternativen zu einem digitalen Kapitalismus nachzudenken. All dies soll auch dadurch unterstützt werden, dass es von Konzernen unabhängige digitale Infrastrukturen und Plattformen geben soll und alle pädagogischen Fachkräfte eine entsprechende Grundbildung in Medien erhalten müssten.
Aspekte einer Analyse
Das Positionspapier bezieht sich – ohne dass dies ausdrücklich erwähnt wird – kritisch auf bereits vorhandene Strukturen, Förderprogramme und Positionierungen verschiedener Akteure im Bereich der Medienbildung. Eine kritische Sicht auf diese Entwicklungen und Strukturen ist der Anlass dafür, diese Kritik explizit zu formulieren und zu begründen und auf der Basis dieser Kritik bildungspolitische Forderungen und Empfehlungen zu formulieren. Eine wichtige Zielgruppe besteht also aus denjenigen, die die als krisenhaft empfundene Entwicklung mittragen oder sogar forcieren. Zudem geht es um eine generelle Sensibilisierung für die Notwendigkeit, einen anderen Weg einzuschlagen.
Ein erstes Problem dürfte dabei darin bestehen, dass sich bereits am Leitbegriff in der Überschrift, nämlich „digitaler Kapitalismus“, die Geister scheiden werden. Zwar wird der Kapitalismus-Begriff inzwischen in unterschiedlichen Disziplinen auch von solchen Wissenschaftler*innen verwendet, die sich keineswegs dem linken oder sogar marxistischen Spektrum zurechnen (siehe Plumpe 2020), doch ist diese Bezeichnung unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in liberalen und konservativen Kreisen nach wie vor verpönt. Man muss also davon ausgehen, dass bereits die Überschrift sowie der Name der Initiative eine Signalwirkung für die anvisierten Zielgruppen hat.
Der Katalog bildungspolitischer Forderungen basiert nicht nur auf der beschriebenen krisenhaften Entwicklung, die man ursächlich dem digitalen Kapitalismus zuschreibt, sondern auch auf einem normativ gesetzten Verständnis von Bildung, das von seinem Anspruch her über „Medienbildung“ hinausgeht. Auch dies kann Einfluss auf die Akzeptanz des Positionspapiers haben, da man berücksichtigen muss, dass ein solches Bildungsverständnis vermutlich in der Praxis weit verbreitet ist, aber in einzelnen, durchaus einflussreichen Diskursgruppen in der Erziehungswissenschaft umstritten ist (vgl. Fuchs 2023).
Das Papiers geht zudem von der Überzeugung aus, dass bei der Diskussion von Fragen der Bildung – auch im Medienbereich – gesellschaftliche, ökonomische, politische und kulturelle Kontexte berücksichtigt werden müssen. Es ist allerdings festzustellen, dass nicht nur in Teilen der Medienpädagogik, sondern auch in anderen Bereichen wie etwa der Kulturpädagogik gesellschaftskritische Diskurse zum Teil nicht (mehr) stattfinden. Man kann geradezu von einer Entpolitisierung erziehungswissenschaftlicher Felder sprechen, was insofern negative Folgen haben könnte, als dort Personen für die Praxis qualifiziert werden, bei denen man eine kritische Haltung, so wie sie im Positionspapier gefordert wird, nicht notwendigerweise voraussetzen kann.
Man wird also sehen müssen, in welcher Weise es gelingt, Bündnispartner für das Anliegen zu finden, so wie es der Schlusssatz des Positionspapiers formuliert. Ein Problem könnte hierbei sein, dass zwar andere Felder als die Medienpädagogik explizit im Text angesprochen werden (politische Bildung, Kulturelle Bildung, Bildung für die nachhaltige Entwicklung etc.), der Tenor des Papiers jedoch sehr stark medienpädagogisch geprägt ist, sodass es fraglich ist, inwieweit sich Fachkräfte aus anderen pädagogischen Handlungsfeldern angesprochen fühlen. Dieses Problem könnte auch deshalb entstehen, weil die Argumentationen auf einen kritischen und kompetenten Umgang mit Medien zielen, aber nicht berücksichtigt wird, dass immer noch weite Felder etwa im Bereich der Kulturpädagogik (wie etwa Tanz, Theater, in weiten Teilen die Musik, Zirkus- und Spielpädagogik) ohne Nutzung digitaler Medien auskommen. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund eines umfassenden Bildungsbegriffs relevant, bei dem der Aspekt der Sinnlichkeit und Körperlichkeit mit einbezogen werden muss. Auch aus diesem Grund hat Christian Rittelmeyer (2018) infrage gestellt, ob es überhaupt legitim ist, von einer „digitalen Bildung“ (ein Begriff, den das Positionspapier auch ablehnt) zu sprechen, weil sich seiner Meinung nach Digitalität und Bildung nicht miteinander vereinbaren lassen.
Wirksamkeit
Es war oben davon die Rede, dass man im Hinblick auf die Wirksamkeit eines Positionspapiers von einer Binnen- und einer Außenwirkung sprechen kann. Bei der Binnenwirkung geht es um die Frage der Integration unterschiedlicher Personen unter dem Dach einer gemeinsam getragenen Organisation. Dieser Aspekt ist nicht unwichtig, denn gerade bei Positionen, die nicht zum Mainstream gehören, hat der Zusammenschluss von Gleichgesinnten große Bedeutung. Man kann Treffen und Tagungen organisieren, ganz so, wie es die Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus bereits getan hat. Sie ist 2022 mit einer bundesweiten Tagung an die Öffentlichkeit getreten und konnte so ihr Anliegen formulieren. Damit hat man zugleich weitere Menschen erreicht, die sich für die Fragestellung interessieren.
Desweiteren ist eine Publikation geplant, die die Möglichkeit bietet, die in dem Positionspapier notwendigerweise nur kurz angerissenen Thesen, Argumente und Fragestellungen ausführlicher darzustellen und zu begründen. Es gibt inzwischen eine Webseite, auf der Vorträge und Impulse der Tagung veröffentlicht sind. Das Positionspapier ist also ein weiteres Instrument, dem Anliegen der Initiative ein Profil zu verschaffen. Auch aufgrund der Mitglieder ist dafür gesorgt, dass das Anliegen in der entsprechenden scientific community – im Wesentlichen ist es bislang der Bereich der Medienpädagogik – sichtbar wird.
Damit ist bereits ein Aspekt der Außenwirkung angesprochen. Man zeigt, dass es neben dem Mainstream eine Anzahl von Personen gibt, die begründet Kritik an der Gesellschaftsordnung und an einer Bildungspolitik, die ein affirmatives Konzept von (Medien-)Bildung fördert, üben und die Alternativen vorschlagen. Mit der Initiative ist ein neuer Akteur auf die Bühne getreten, was bedeutet, dass andere Organisationen, die ein ähnliches Anliegen vertreten, eine Entscheidung treffen müssen, ob sie diesen neuen Akteur ignorieren, ihm widersprechen oder eine Kooperationsbeziehung eingehen.
Die Resonanz der unterschiedlichen öffentlichen Aktivitäten wie Tagung, Buchpublikation, Webseite und Positionspapier sowie damit verbundene Veröffentlichungen in Fachpublikationen durch Mitglieder der Initiative wird zudem zeigen, inwieweit der Anspruch, über Medienpädagogik hinaus wirksam zu werden, erfüllt werden kann.
Aufgrund der obigen Analyse des Papiers lässt sich vermuten, dass mithilfe dieses Papiers dieser Anspruch allein nicht eingelöst werden kann, dass es daher weiterer Denkanstrengungen bedarf, um die Relevanz des Themas und der Ziele der Initiative und des Positionspapiers auch außerhalb der Medienpädagogik aufzuzeigen. Immerhin lässt sich feststellen, dass zumindest in Teilen der Medienpädagogik ein kritisches gesellschaftliches Bewusstsein vorliegt, das in anderen pädagogischen Arbeitsfeldern wie etwa der Kulturpädagogik nicht (mehr) in dieser Weise anzutreffen ist. Möglicherweise trägt die Initiative mit ihren Aktivitäten dazu bei, dass in anderen Feldern dieses Defizit als empfindlicher Mangel empfunden wird, sodass man sich dort wieder an kritische Traditionen erinnert, die in früheren Zeiten existierten.
Forschungsfragen
Aus bildungstheoretischer Sicht ergeben sich zumindest zwei interessante Forschungsfragen. Ausgangspunkt ist die kaum zu bestreitende Tatsache, dass Menschen, die in einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft leben, sich im Interesse ihres Überlebens die Strukturen und Handlungslogiken dieser Gesellschaft so weit aneignen müssen, dass sie handlungsfähig bleiben. Der Psychologe Klaus Holzkamp nennt eine solche Kompetenz „restriktive Handlungsfähigkeit“ (Holzkamp 1983). Anzustreben ist jedoch einer „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“, die zwar die Handlungslogik in einem kapitalistischen System beherrscht, die aber auch in der Lage ist, in eine kritische Distanz zu ihr zu treten. Die Frage ist also, wie ein kritisch-reflektierender Ansatz in der Medienpädagogik im Umgang mit digitalen Medien gestaltet sein muss, sodass eine solche verallgemeinerte Handlungsfähigkeit entstehen kann. Diese Fragestellung ist deshalb spannend, weil es die im Papier angesprochene Strukturähnlichkeit von Digitalität und Kapitalismus gibt, sodass man fragen kann, wie man innerhalb einer solchen ubiquitären Struktur aus dieser aussteigen kann. Denn man muss davon ausgehen, dass man kapitalistische (und digitale) Handlungslogiken verinnerlicht hat, die auch dann wirksam werden, wenn man offline ist.
Damit ist die zweite Fragestellung verbunden. Wenn sich die (aktualisierte) Schillersche Vision (aus seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ aus dem Jahr 1795) realisieren lässt, quasi in einer Oase außerhalb des gesellschaftlichen Handlungsdrucks die Möglichkeit freiheitlichen Handelns genießen zu können, so wie dies in den oben genannten analogen Künsten geschieht: Ist es dann möglich, der mentalen Formung durch die kapitalistische Gesellschaft einen alternativen Formungsprozess, der idealerweise zur Entwicklung einer verallgemeinerten Handlungsfähigkeit im Sinne von Holzkamp führen könnte, entgegen zu setzen (vgl. Fuchs 2014)? In jedem Fall zeigt sich, dass eine Auseinandersetzung mit den Strukturen des digitalen Kapitalismus und seinen Auswirkungen auf die Formung des Subjekts auch für solche pädagogischen Felder notwendig ist, die (noch) nicht der digitalen Handlungslogik unterworfen sind.
Bei einer solchen Zugriffsweise dürfte das im Moment populär werdende Konzept der Subjektivierung hilfreich sein, das ursprünglich auf Michel Foucault zurückgeht (siehe Ricken u.a. 2019). Bei der ersten Rezeptionswelle von Foucault und insgesamt der poststrukturalistischen Ansätze aus Frankreich hat man in der deutschen Erziehungswissenschaft nur den Aspekt der Unterwerfung des Subjekts unter gesellschaftliche Verhältnisse betrachtet. Mittlerweile hat man jedoch den dialektischen Charakter dieses Prozesses bei Foucault erkannt, dass es nämlich neben dem Prozess der Unterwerfung auch einen Prozess der Ermöglichung und des Empowerments gibt. Damit dürfte eine gute theoretische Fundierung für Forschungen gegeben sein, die sich mit den oben formulierten Fragestellungen befassen.
Das nachfolgend im Original wiedergegebene Positionspapier bezieht sich auf diverse Analysen und Aussagen von Mitglieder der Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus und weiterer Autor:innen. Siehe die Webseite der Initiative: https://bildung-und-digitaler-kapitalismus.de/.
Bildung und digitaler Kapitalismus
– ein Positionspapier
Dieses Papier formuliert grundlegende Positionen der Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus im genannten Themenkontext. In Abschnitt 1 wird das Verhältnis von Kapitalismus und digitalen Technologien beschrieben und kritisch betrachtet. Abschnitt 2 skizziert das Verhältnis von Bildung und digitalem Kapitalismus, und zwar auf vier Ebenen:
- Begriffe, Subjekte und Ziele von Bildung
- Bildungspolitische Programmatiken
- Digitale Infrastrukturen der Bildung
- Didaktiken und Bildungsmaterialien
Daran schließen in Abschnitt 3 pointierte bildungspolitische Forderungen und Empfehlungen an.
Wir als Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus möchten einen Beitrag leisten, um digital-kapitalistische Formationsprozesse in kritischer Perspektive zu thematisieren und gleichzeitig alternative, nachhaltige Entwicklungspfade in wissenschaftlichen Kontexten, pädagogischen Handlungsfeldern und bildungspolitischen Öffentlichkeiten zu fördern. Hierzu gehört wesentlich, den aktiven, selbstbewussten und kompetenten Umgang mit digitalen und anderen Medientechnologien im Kontext eines umfassenden Verständnisses von Bildung und Medienbildung zu unterstützen.
Dies bedarf einer inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bildungsbereichen, wie etwa Medienbildung, kultureller und politischer Bildung, gewerkschaftlicher Bildungsarbeit, einem kritischen Journalismus, Initiativen im Bereich freies Wissen, informatischer und ökonomischer Bildung sowie von Bildung für eine Nachhaltige Entwicklung (BNE), auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene.
1. Kritik am digitalen Kapitalismus
Krisendynamiken und gesellschaftliche Transformationsprozesse werden auf vielen Ebenen beschrieben und kritisiert: eine spekulative Finanzwirtschaft, ein globales Erstarken von rechtspopulistischen und -terroristischen Bewegungen, imperiale Interventionen und Kriege, Krisen der Sozial- und Gesundheitssysteme, die allgegenwärtige Klimakrise und viele mehr. Zudem durchdringen digitale Technologien sehr viele alltäglichen und gesellschaftlichen Bereiche: etwa Wirtschaftsbereiche, politische Öffentlichkeiten, Pandemiemanagement und mobile Kommunikation. Sie betreffen in vielfältiger Form den Umgang mit dem Planeten Erde, kulturellen Gütern und menschlicher Arbeitskraft. Vielfach erweist sich ‚die Digitalisierung‘ als Verstärker für Krisendynamiken und für sozio-ökonomische Ungleichheiten. Gleichzeitig ermöglichen digitale Technologien die Organisation zivilgesellschaftlicher Kräfte im Sinne von Gegenöffentlichkeiten und Gegenhegemonien. Digitalisierung durchzieht nahezu alle Dimensionen von Gesellschaft sowie die Vorstellung einer jeden Person von sich selbst und der Lebenswelt. Wir sind davon überzeugt, dass die spezifischen Ausformungen der genannten Phänomene grundlegend durch kapitalistisches Wirtschaften geprägt sind.
Kapitalistische Wirtschaftsmodelle gibt es weltweit in verschiedenen Formen. Zum digitalen Kapitalismus liegen inzwischen zahlreiche Analysen vor. Generell sind einige grundlegende Strukturprinzipien zu nennen. Dazu gehören das Prinzip der Kapitalakkumulation (Profitstreben) und der Monopolbildung, die Ausbeutung von Lohnarbeitenden und der Natur, das Prinzip der Reduktion von Kosten für menschliche Arbeitskräfte durch den Einsatz neuer Technologien, oder auch das Prinzip der Ökonomisierung und Kommerzialisierung möglichst vieler gesellschaftlicher Bereiche, um für die Kapitalakkumulation stets neue Areale zu erschließen.
Kapitalistische Wirtschaftsformen erhalten durch die Nutzung digitaler Technologien einen gewaltigen Schub. Dabei korrespondiert die Messbarkeit von Prozessen, Kostenfaktoren, Tauschwerten und Profitraten eng mit der numerischen Repräsentation von Daten unterschiedlicher Art. Die Miniaturisierung und Modularisierung digitaler Bausteine tragen entscheidend dazu bei, Arbeitsaufwand zu reduzieren, Fertigungstechniken und Logistik bei der Maschine-zu-Maschine-Kommunikation zu informatisieren. Mensch und Leben werden zunehmend den Logiken und Rhythmen von digital-kapitalistischen Infrastrukturen und dem Ausbau von Künstlichen Intelligenzen untergeordnet. Schließlich ermöglicht digitale Interaktivität eine ständige Verfügbarkeit von Menschen und Maschinen. Hinzu kommen neuartige Formen der Marktkontrolle und die Aushöhlung demokratischer Strukturen auf vielen Ebenen – auch in Verbindung mit der Nutzung kommerzieller digitaler Plattformen durch demokratiegefährdende Akteur:innen und Strukturen.
Die Zusammenhänge zwischen den genannten Krisendynamiken und Transformationsprozessen werden wissenschaftlich und politisch unterschiedlich gedeutet. So betonen manche positive Wirkkräfte der Digitalisierung, um die Effizienz des Wirtschaftens ressourcenschonend zu steigern. Andere verweisen auf wachsende ökologische und gesellschaftliche Schäden fortschreitender Digitalisierung. Andere sehen gerade im historischen Argument des technischen Fortschritts die Lösung von bspw. dem Klimawandel oder der Einlösung partizipativer Teilhabeprozesse. Manche setzen politisch auf eine Reform kapitalistischen Wirtschaftens, um es vom ‚Wachstumszwang‘ zu befreien. Andere halten den Kapitalismus für unreformierbar und fordern seine Überwindung. Und natürlich gibt es in diesen Debattensträngen mehr als zwei Positionen.
Dies gilt in ähnlicher Form für Dimensionen von ‘Bildung’ im Zusammenhang mit digital-kapitalistischen Formationen. Trotzdem bündelt Abschnitt 2 einige Kritikpunkte an aktuellen Auffassungen und Entwicklungen. Es ist notwendig, sich differenziert und kritisch mit Fragen der Digitalisierung auseinanderzusetzen. Dazu gehört – gerade im Bildungsbereich – ein Hinterfragen von Interessen und Strukturen, die Gewährleistung einer pädagogischen Professionalität und demokratischer und transparenter Prozesse.
2. Bildung und digitaler Kapitalismus
Bezogen auf Bildungskontexte wird deutlich, dass digital-kapitalistische Wirkungsweisen sich auf verschiedenen Ebenen einschreiben.: So prägen digital-kapitalistische Akteur:innen und Logiken mit zunehmender Vehemenz und Durchschlagskraft auch den Bildungsbereich.
Akteur:innen im deutschen Bildungssystem wird vorgeworfen, sich im Vergleich zu anderen Ländern zu spät und unzureichend mit Fragen der Digitalisierung befasst zu haben. Die private digitale Bildungsindustrie nutzt diese Situation, um nicht nur mit Digitaltechnologien, also Geräte, Programme und Plattformen, Einfluss zu nehmen, sondern auch mit dem massiven Einwirken auf bildungspolitische Entscheidungsträger:innen sowie auf curriculare Entwicklungen. Dies führte dazu, dass Privatisierung und Kommerzialisierung der sogenannten „digitalen Bildung“ im öffentlichen Bildungswesen inzwischen weit fortgeschritten sind. Größere Teile der Bildungspolitik unterstützen den Vormarsch der IT-Industrie im Bildungssystem und treiben diesen mit passförmigen Leitlinien und Förderprogrammen aktiv voran.
2.1 Begriffe, Subjekte und Ziele von Bildung
Bildung wird von digital-kapitalistischen Akteur:innen und Logiken zunehmend auf ein operationalisier-, mess- und steuerbares Konzept anwendungsorientierten Wissens verkürzt und mit einem psychologischen Verständnis von Lernen gleichgesetzt. Mit am deutlichsten offenbart sich dies in den Diskussionen um „digitale Bildung“: Der Begriff setzt einen dezidierten Schwerpunkt auf technisches Anwendungswissen und reduziert Formen der Selbstbildung auf ein instrumentell-funktionales Verständnis dieses Wissens. Lernenden Subjekten wird dabei einerseits ebenenübergreifend Fähigkeit und Bereitschaft zugesprochen, Verantwortung für das eigene Handeln und Leben zu haben und zu übernehmen („digitale Souveränität“). Andererseits manifestiert sich etwa in curricularen Bildungszielen, aber auch in zahlreichen digitalen Technologien in Bildung und Alltag die Aufforderung zu einer zu bewältigenden Anpassungsleistung an gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse, wodurch wiederum Verantwortung entzogen wird. Orientierungswissen, medienkritische Reflexionen, Formen des kreativ-ästhetischen Ausdrucks sowie die soziale, technische und politische Gestaltbarkeit dieser Verhältnisse rücken demgegenüber in den Hintergrund. Die weitgehende Reduktion von (‚digitaler‘) Bildung auf digitalisierungsbezogene Kompetenzen geht mit einer Absage an ein umfassendes Verständnis von Bildung und Medienbildung einher, welches eine Persönlichkeitsbildung im Kontext gemeinschaftlicher und sozial-kommunikativer Bildungs- und Lernprozesse anstrebt. Beiläufig genannte Leitziele wie Kritik, Reflexivität, Selbstbestimmung und soziale Verantwortlichkeit werden anhand der instrumentellen Verkürzungen letztlich wirtschaftlichen Interessen untergeordnet. ‚Bildung für alle‘ verkommt zu einem neoliberalen Slogan.
2.2 Bildungspolitische Programmatiken
Bildungspolitische Programmatiken und Entscheidungen der letzten Jahre zeigen deutlich, dass politische Entscheider:innen die unter 2.1 kritisierten Deutungsweisen und Instrumentalisierungen von ‚Bildung‘ offensiv vorantreiben. Durch die Wahl von Begriffen oder Buzzwords, von Expertisen und Modellen, von Bezugstheorien und -disziplinen werden solche Deutungsweisen auf allen Ebenen des Bildungssystems dominant in Stellung gebracht. Dies betrifft z.B. Steuerungsentscheidungen, Bildungsberatung, Kompetenzfestlegungen und Bildungsmaterialien. Diese Bereiche werden seit geraumer Zeit systematisch für Angebote der EdTech-Industrie und wirtschaftsnaher Organisationen und Stiftungen geöffnet. Es geht vor allem um eine Überbetonung informatischer Inhalte. Eine umfassende Medienbildung und eine Kritik an bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen werden an den Rand curricularer Rahmenpapiere gedrängt.
So sind auch im Bildungsbereich ein konsequenter Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu gewährleisten. Es ist nicht akzeptabel, dass durch die Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch offene und versteckte Werbung für kommerzielle Anbieter:innen und durch die Nutzung bestimmter Software Profitlogiken kapitalistischen Wirtschaftens unterstützt werden. Notwendig ist eine klare Abgrenzung von Bestrebungen eines bildungsindustriellen Komplexes. Innerhalb enger Grenzen sind Kreativität, Diversität und Flexibilität in einem instrumentell verkürzten Bildungsverständnis als Wertschöpfungsfaktoren erwünscht. Die Vorstellung anderer Ziele und Strukturen von Bildung, Gesellschaft und Wirtschaft überschreiten jedoch den gewünschten Rahmen.
2.3 Didaktiken und (digitale) Bildungsmaterialien
Die Digitalität der Kultur wirft auf neue Weise die Frage nach didaktischen Prämissen für Bildungsangebote zur Vermittlung der Komplexität der digital-vernetzten Welt auf. Wie kann in institutionellen und informellen Bildungsangeboten ein Verständnis digital-kapitalistischer Strukturen eröffnet, über Alternativen nachgedacht und eine kritische Position gefördert werden? Zur Medienkritik gibt es eine Vielzahl medienpädagogischer Vorschläge, die durch didaktische Überlegungen z.B. aus dem Bereich einer politischen und kulturellen Bildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), Naturwissenschaftsdidaktik, Wirtschaftspädagogik, informatische Bildung erweitert werden. Im Zentrum steht dabei insbesondere die Anforderung, eine medienkritische Position mit Blick auf digital-kapitalistische Strukturen zu entwickeln und gleichzeitig eine – subversive, kreative – Teilhabe an medialen Gemeinschaften zu ermöglichen.
Digitale Infrastrukturen sind nicht nur Arbeitsplätze und Werkzeuge für Bildung und Lernen. Die Architektur und das Design von Hard- und Software prägen informelle und institutionelle Bildungsräume und die Zusammenarbeit aller Akteur:innen. Sie implizieren didaktische Setzungen, etwa in den Bereichen Wissen (durch Speicherlogiken, automatisierte Designvorschläge u.v.m.), Zeit (Rhythmisierung durch Zeitlimits, Zeitmessungen u.v.m.) und Raum (etwa im Spannungsfeld von Mobilität und Ubiquität digitaler Medien). Dies nimmt Einfluss auf die Gestaltung der kleinsten pädagogischen Einheit: des Verhältnisses von Lehrenden und Lernenden in Hochschule, Schule und außerschulischen Bildungseinrichtungen. Die nur teilweise selbstbestimmte Wahl einer bestimmten Infrastruktur und bestimmter Bildungsmaterialien legt die Stoßrichtung von Bildungsangeboten fest und limitiert die Ausgestaltung einer pädagogischen Beziehung.
2.4 Digitale Infrastrukturen in der Bildung
Innerhalb des Diskurses um eine ‚Digitalisierung von Bildung‘ liegt der Fokus häufig auf Ausstattungsfragen statt auf pädagogischen Aspekten. Im Sinne eines umfassenden Verständnisses von Bildung und Medienbildung geht es jedoch in erster Linie um Lern- und Bildungsprozesse in, über, mit und durch (digitale/n) Medien sowie um das kreative Zusammenspiel von vielfältigen Ausdrucks- und Darstellungsformen. Fragt man nach Medien, die das Erreichen von Lern- und Bildungszielen unterstützen können, sollten alle Medienformen in Betracht gezogen und nach ihrem pädagogisch-didaktischen Gehalt eingeschätzt werden. Auch digitale Medien werden im Hinblick auf ihre didaktischen Möglichkeiten beurteilt und entweder gezielt eingesetzt oder ein adäquateres unterstützendes Medium gewählt. In konsequenter Umsetzung fördert dies eine Differenzierung und Heterogenisierung von Medien-/Didaktiken, Medienbildungsangeboten und -ausstattungen, statt einer Standardisierung und Normierung Vorschub zu leisten, die häufig mit einer Engführung von IT-Anwendungen verbunden ist. Eine Konzentration auf wenige IT-Angebote – hard- und softwareseitig – widerspricht dem pädagogischen Selbstverständnis von ergebnisoffenen Bildungs- und Lernprozessen und interpersonalen Interaktionen.
3. Perspektiven & Forderungen
Für die Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus sind folgende Anliegen besonders wichtig:
- Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Digitalität: Die persönliche Entwicklung und das Zusammenleben der Menschen sind abhängig von der Ermöglichung und Begrenzung durch Lebensbedingungen. Bildung und Medienbildung können nicht unabhängig von technologischen, ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen betrachtet werden.
- Umfassender Begriff von Bildung: Notwendig ist ein Verständnis von Bildung und Medienbildung, dasüber eine Reduktion auf „digitalisierungsbezogene Kompetenzen“ und „digitale Bildung“ weit hinausgeht. Medienbildung sowie ein kritisch-reflexiver Umgang mit digitalen Bildungstechnologien lassen sich nicht auf Skills und Anwendungskompetenzen reduzieren. Es braucht eine differenzierte Sicht auf Chancen und Problemfelder von digitalen Technologien in der Bildung. Der Ausbau einer Vermessung von Bildung ist kein Konsens!
- Bildungsziele: Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind darin zu unterstützen, Medien aktiv, reflektiert und selbstbewusst zu nutzen. Hierzu gehört auch die Thematisierung normativer Fragen (u.a. Grund- und Menschenrechte, Menschen- und Gesellschaftsbilder, ethische Reflexionen, Macht- und Herrschaftskritik) sowie die Förderung demokratischer und partizipativer Denk- und Handlungsweisen. Die Zielperspektive von Bildung ist also in der Relation einer Persönlichkeitsbildung mit einer gemeinwohlorientierten gesellschaftlichen Bildung in und mit Communities zu denken.
- Gestaltungskraft, Ambivalenzen und inklusive Perspektiven von Bildung: Gestalterische Potenziale insbesondere digitaler Medien sind für eine lebensweltnahe Bildung und eine anschauliche Daten- und Medienkritik zu nutzen. Dies umfasst die Thematisierung von Spannungsfeldern, Widersprüchen und Dilemma-Situationen in der Nutzung von (digitalen) Medien. Ebenso wichtig ist die Förderung einer inklusiven und zielgruppensensiblen Bildung, gerade für Menschen aus bildungsbenachteiligenden Verhältnissen.
- Institutionalisierung von Medienbildung: Eine Grundbildung Medien für alle pädagogischen Fachkräfte ist in der Aus-, Fort- und Weiterbildung zu verankern. Eine solche Grundbildung Medien fördert nicht nur digitalisierungsbezogene Kompetenzen, sondern orientiert sich an einem umfassenden Verständnis von Medienbildung. Bereits vorhandene Erfahrungen und Modelle einer Grundbildung Medien sind auszuwerten und allen Interessierten zugänglich zu machen. Bildungs- und Wissenschaftsministerien sowie Hochschulen haben entsprechende Personal- und Sachmittel für eine Grundbildung Medien und auch für vertiefende, medienbezogene (Wahlpflicht-)Studiengänge dauerhaft zur Verfügung zu stellen.
- Offene Infrastrukturen für Bildung: Alle Bildungsbereiche benötigen gemeinwohlorientierte digitale Infrastrukturen und Plattformen, die unabhängig von kommerziellen Konzernen und IT-Firmen sind. Es geht um die Entwicklung und den Ausbau von Alternativen zu herstellergebundener, interoperabler und nachhaltiger Software; es geht um die Förderung von Freier und Open Source Software (FOSS), von frei lizenzierten Bildungsmaterialien (OER) und um die Umsetzung weitreichenden Schrankenregelungen im Urheberrecht für Bildungszwecke; es geht insgesamt um staatlich geförderte, demokratisch kontrollierte digitale Infrastrukturen, die z.B. Rückkanäle für Datentracking ausschließen und somit Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung möglichst umfassend, technisch stabil und nutzungsfreundlich ermöglichen.
- Wider Kapitalinteressen in der Bildung: Die Rolle und der wachsende Einfluss der IT-Wirtschaft im Bildungsbereich sind kritisch zu reflektieren und transparent zu machen. Werbung für kommerzielle Produkte gehört nicht in öffentliche Bildungseinrichtungen. Notwendig ist eine verbesserte Qualitätssicherung von Bildungsmedien und -materialien unter Einbeziehung verschiedener Akteur:innen, darunter auch Initiativen und Organisationen im Bereich freies/offenes Wissen.
- Bildung für gesellschaftliche Alternativen: Fragen nach Alternativen zu (digital-)kapitalistischen Formationen sind verstärkt zum Thema von Bildungsprozessen zu machen, z.B. in Form von Zukunftswerkstätten. Hierzu gehören Kooperationen mit kritischen Tech-Initiativen, gemeinwohlorientierten IT-Firmen und weiteren Organisationen, z.B. im Bereich der nachhaltigen Bildung und der ökonomischen Bildung. Hierzu bedarf es zugleich gesellschafts- und wirtschaftspolitisch der Stärkung alternativer, gemeinwohlorientierter Wirtschaftsstrukturen jenseits einer Konzentration auf Profite.
Die Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus ist an einer breiten Kooperation mit anderen Initiativen, Organisationen und Netzwerken interessiert, um gemeinsame Schnittmengen zu finden und auf dieser Grundlage gemeinsam in bildungs-, medien-, wissenschafts- und professionspolitischen Öffentlichkeiten auf diese wichtigen Anliegen und Ziele aufmerksam zu machen.
Das Positionspapier wurde am 22. Mai 2023 veröffentlicht.
Zitationsvorschlag: Initiative Bildung und digitaler Kapitalismus (Mai 2023): Bildung und digitaler Kapitalismus – ein Positionspapier, veröffentlicht unter einer CC BY 4.0 Lizenz auf https://bildung-und-digitaler-kapitalismus.de/positionspapier/.