Modi der Partizipation im Theater: Zuschauer bleiben, Publikum werden, Performer sein...
Nach Art „Des Knaben Wunderhorn“ sammeln gebürtige und zugewanderte Heidelberger altes und neues Liedgut, das mitsamt ihrer vertonten Erzählungen schließlich auch szenisch aufbereitet wird. Die Aufführung in den Städtischen Bühnen zusammen mit dem Philharmonischen Orchester und diversen Rap-, Tanz- und Chorgruppen wird als spektakuläres Großereignis mit über 400 Beteiligten gefeiert (Das Neue Wunderhorn von Jan Linder, Schauspielhaus Heidelberg, 2007).
Die Theaterlandschaft verändert sich
Während der Aufführung von Lars Noréns Personenkreis 3.1 an der Berliner Schaubühne im Jahre 2000 springt plötzlich ein Zuschauer auf die Bühne. Er gibt sich als Mitglied des Obdachlosenensembles Ratten 07 zu erkennen und will mitspielen – sozusagen als Experte der zur Verhandlung anstehenden sozialen Sache. Was das „postdramatische Theater“ (Lehmann 1999) seit geraumer Zeit umgekehrt, nämlich den ZuschauerInnen zumutet, bringt die SchauspielerInnen hier für Momente komplett aus der Fassung – ein „Einbruch des Realen“, der aufgrund der Beharrlichkeit des ungebetenen Mitspielers zu einer herausfordernden Situation für alle wird. Der von ihm angezettelten Sachlage ist er dann allerdings doch nicht ganz gewachsen. Er wird gebeten, die Bühne zu verlassen, was er unter lautstarkem Protest schließlich auch tut.
Was seinerzeit ein Ausnahmefall und zweifellos nicht inszeniert war, gehört heute schon fast zur Programmatik eines auf der Höhe der Zeit sich wähnenden Schauspielhauses. Nicht-professionelle SpielerInnen stehen (auch gemeinsam mit Profis) auf den Brettern, die die Welt nun nicht mehr bedeuten, sondern ein Stück Welt sind. Denn in den meisten Fällen handelt es sich nicht um LaienspielerInnen, die sich in fremde Rollen einfühlen, sondern um PerformerInnen, die ihr eigenes Leben spielen und darin mitunter auch wahre Könnerschaft zeigen.
Partizipation ist das Zauberwort, mit dem sich Theaterhäuser landauf landab neue Inhalte, neue Formate und neues Publikum „zumuten“. Sie entdecken, dass das Schauspiel gesellschaftliche Praxis nicht nur darstellen kann, sondern selbst eine Form gesellschaftlicher Praxis ist. Theater versammelt einander Fremde, macht differente Positionen erfahrbar und ermöglicht sogar nichtprofessionellen SpielerInnen, auf der Bühne zu spielen und eigene Geschichten zu erzählen. Die Menschen sollen nicht nur mental an dem theatralen Geschehen als ZuschauerInnen teilhaben, sondern sich mindestens als Publikum aktiv erleben, im besten Fall als AkteurInnen und PerformerInnen partizipieren. (1)
Das Theater involviert Menschen, die bisher anonym und still im Zuschauerraum saßen, wenn sie denn überhaupt jemals ein Schauspielhaus betreten haben. KünstlerInnen provozieren und ermöglichen die Partizipation am Theater (mitsamt seiner Tradition und seines kulturellen Erbes), möchten aber auch umgekehrt selbst an fremden Lebenswelten und nicht-bürgerlichen Lebenskonzepten teilhaben. Die Theaterhäuser öffnen sich gegenüber verschiedenen Zielgruppen und stimmen das Programm auf unterschiedliche ästhetische Vorlieben und Wahrnehmungsgewohnheiten ab. Sie lassen sich einiges einfallen und greifen auch auf „Aufführungen“ zurück, die man bis vor Kurzem in einem Schauspielhaus nicht erwartet hätte. Das Spektrum reicht vom peppigen Unterhaltungsangebot, Kinoabend, Musikevent, von der Party, Installation oder 24-Stunden-Performace bis hin zur sozialkritischen Intervention, dem Publikumsgespräch, fachwissenschaftlichen Vortrag oder Symposium. Selbst an der Stückeauswahl können sich Interessierte beteiligen – mit der Konsequenz, dass nicht nur unbekannte, sondern mitunter auch ziemlich schräge Stücke (vermutlich durch Crowdsourcing bei Facebook & Co.) ins laufende Programm gewählt werden, wie im Hamburger Thalia Theater im Jahre 2011 (Kümmel 2011: o.S.). Beim Festival „Foreign Affairs“ der Berliner Festspiele haben sich im Herbst 2012 Theaterinteressierte sogar um einen Hausbesuch der Kuratorin bewerben können, die im privaten Ambiente dann das Programm erklärt und ein anregendes Gespräch verspricht. Die Theater verlassen sich längst nicht mehr nur auf die Kraft des Schauspiels. Sie setzen auf Event, Erlebnis und Ereignis und brauchen neben RegisseurInnen, DramaturgInnen, SchauspielerInnen heutzutage nicht nur VermittlerInnen und TheaterpädagogInnen, sondern auch KuratorInnen, EventmanagerInnen, LichtdesignerInnen, FilmemacherInnen, gar PyrotechnikerInnen und dergleichen mehr. Die Theaterleute verstehen sich als GastgeberInnen, die um das Wohl ihrer Gäste besorgt sind. Der Trend zur Partizipation hat die Theaterlandschaft verändert: Die Theater sind nicht mehr dieselben und die ZuschauerInnen auch nicht mehr.
Junge Sinti bringen in Form einer Radioshow das Leben des Publikumslieblings Johann „Rukeli“ Trollmann auf die Bühne – ein Sintoboxer, dem 1933 der Meistertitel im Mittelschwergewicht aberkannt und der später im KZ ermordet wird. Am Ende steigen sie an seiner Stelle nochmals in den Ring, kämpfen und erzählen, wie es ist, heute als Sinti in Deutschland zu leben (Trollmanns Kampf – Mer Zirkales von Björn Bicker/Marc Prätsch, Junges Schauspiel Hannover, 2010).
Die Kunst gebrauchen
Die Partizipationsformate eröffnen sowohl der Institution Theater neue Handlungsspielräume wie auch den Beteiligten. Nicht nur gewinnen die Häuser neue (und insbesondere auch jüngere) Zuschauergruppen, darüber hinaus wird sichtbar, welche Potenz theatrale Verfahren mit Blick auf das politische und soziale Leben haben können – insbesondere wenn es darum geht, Prozesse der Gemeinschaftsbildung anzustoßen und Menschen zu beteiligen, die durch die Maschen des gesellschaftlichen System fallen. “Governance discovers the potential of performing to generate trust, because trust in artistic performance seems one of the few things people from opposite ends of the social stratum have in common” (Eikels 2011:5).
In der Art „temporärer Komplizenschaften“ (Seitz 2009) suchen KünstlerInnen herauszufinden, wie Individuen aktiviert, Gemeinschaften gestärkt, Identitäten gestiftet und Bedeutungen generiert werden. Sie beschäftigen sich am Ende mit einer grundlegenden Frage, nämlich wie wir in Zukunft eigentlich leben wollen. Es geht um die Vermittlung und Darstellung unterschiedlicher (und ganz besonders auch fremder) Lebenswelten im Medium der Kunst. Die TheatermacherInnen verlassen die Blackbox, um regionale Besonderheiten auszugraben und historische Ereignisse zu recherchieren, um Bilder und Geschichten zu sammeln und BewohnerInnen zu befragen. Kinder, gewaltbereite Jugendliche, Hartz-4-EmpfängerInnen, Menschen, denen Abschiebung droht, die in der dritten Generation in Deutschland leben – sie alle liefern dokumentarisches Material, das dann als theatrale Erkundung inszeniert und zurück auf die Bühne gebracht wird. (2)
Die Produktionen erzählen Geschichten aus der Heimat und wie es ist, fern der Heimat inmitten der Fremde zu leben. Sie behandeln die Sorgen, Sehnsüchte und Visionen der vor Ort lebenden Menschen, die als ZeitzeugInnen, BewohnerInnen oder Betroffene dem Theaterstück nicht nur zuarbeiten, sondern häufig dann auch selbst auf der Bühne stehen und als „Experten des Alltags“ (3) mit dem umgehen, womit sie sich am besten auskennen: dem eigenen Leben. „Rezipienten werden zu Teilnehmenden, Ko-Autoren oder Ko-Produzenten – und dies oftmals durch umfassendes intellektuelles, soziales und physisches Engagement. [...] Partizipation meint die bewusste Mitwirkung an Prozessen als Produktion von Wissen, von Situationen, von Erfahrung und auch von Objekten“ (Feldhoff 2009:24).
Die durch Partizipation eröffneten Kommunikationsräume und Betätigungsfelder machen den Unterschied zwischen Kunst und sozialer Praxis, zwischen künstlerischen und alltäglichen Aufführungen, zwischen Hoch- und Popkultur immer durchlässiger. Partizipation nährt den Wunsch nach einer Demokratisierung der Kunst. Sie soll nicht nur allen zugänglich, sondern insbesondere auch brauchbar sein. Als sozialste unter den Künsten hat das Theater immer schon die Hoffnung geweckt, auch im gesellschaftlichen und politischen Alltag Anwendung zu finden. So überrascht es nicht, dass verschiedene gesellschaftliche Bereiche (Politik, Stadtplanung, Schule, Sozialarbeit etc.) davon ausgehen, mithilfe ästhetischer und theatraler Verfahren auch brachliegende soziale, personale und handelnde Kompetenzen entwickeln zu können. „Theater soll wie andere von der Gesellschaft getragene Institutionen ein Ort der Manifestation, des Ausdrucks, auch der Forderungen solcher Gruppen sein, die man oft als die ‘Stimmlosen’ bezeichnet“ (Lehmann 2011:28). Wo die einen politische Vereinnahmung und soziokulturelle Entehrung befürchten, begrüßen andere die Möglichkeit, Individuen zu ermächtigen und Gemeinschaften zu stiften – ganz generell die Kunst in das Leben und das Leben in die Kunst zu tragen.
Es geht um Aktivierung, Autorenschaft und Kollektivierung:
Recurrently, calls for an art of participation tend to be allied to one or all of the following agendas. The first concerns the desire to create an active subject, one who will be empowered by the experience of physical or symbolic participation. [...] The second argument concerns authorship. The gesture of ceding some or all authorial control is conventionally regarded as more egalitarian and democratic than the creation of a work by a single artist, while shared production is also seen to entail the aesthetic benefits of greater risk and unpredictability. [...] The third issue involves a perceived crisis in community and collective responsibility. [...] One of the main impetuses behind participatory art has therefore been restoration of the social bonds through a collective elaboration of meaning (Bishop 2006:12).
Jugendliche aus der Silberhöhe, jener sogenannten No-go-area an der Saale, verkehren die Vorbild- und Verantwortungsfunktion ihrer Eltern – einer Generation, die vielfach zu den Verlierern der DDR-Wende gehört. Von der Sorge um die Eltern, der eigenen Ohnmacht und dem Abnabelungswunsch getrieben steuern sie in eine Spirale aus Gewalt und Hass (Opferpopp von Mirko Borscht, Thalia Theater Halle, 2009). (4)
Die Krux mit der Partizipation
Partizipation ist zum „Markenzeichen der Postdemokratie“ (Crouch 2012) geworden, gerade so, als ob die freie, gleichberechtigte und öffentliche Teilhabe noch zu erfinden wäre – wo unsere Begegnung mit Welt doch eigentlich durch Teilsein und Teilnahme bestimmt ist und Beteiligung ein demokratisches Selbstverständnis sein müsste. Um Shakespeare zu bemühen: Es scheint etwas faul zu sein – im Staate Deutschland und anderswo. Der unüberhörbare Ruf nach Partizipation deutet auf eine grundlegende Krise. Diese hat noch am wenigsten mit leeren Theaterhäusern oder mit dem fehlenden Interesse junger Menschen an der kulturellen Tradition zu tun, sondern insbesondere mit den unzureichenden Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten jener „Ausgegrenzten der Moderne“ (Bauman 2005), denen Anerkennung und ein erfülltes Leben versagt ist. “To participate [...] describes a disposition where the limitations of living come to assist people in doing something worthwhile” (Eikels 2011:8).
Die Präsenz unterrepräsentierter Gruppen auf der Bühne wird angesichts der Erfahrung von Ohnmacht und Ausschluss im gesellschaftlichen Alltag am Ende kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, eher nur ein Trostpflaster sein – zumal eine Stimme zu haben nicht automatisch bedeutet, auch den Inhalt der Rede bestimmt zu haben. Es sind Probleme, Widersprüche, Mängel oder Konflikte, die mit Hilfe partizipativer Angebote angegangen und beseitigt werden sollen. Dass Partizipation disparate Positionen zueinander bringt, ist nicht die Krux, sondern dass die zugrundeliegenden Differenzen im Prozessverlauf häufig geleugnet werden und der Dissens im Konsens untergeht. Markus Miessen (2012) spricht gar vom „Albtraum Partizipation“. Sie sei ein Gewaltakt, bei dem man Teil von etwas würde, was von vornherein auf Kooperation, Solidarität und Harmonie ausgerichtet ist. Um dieser Gleichheitsfalle zu entgehen, laufen unterrepräsentierte Gruppen (zusammen mit den KünstlerInnen) Gefahr, auf zugespitzte Weise Unterscheidungsmerkmale herauszuarbeiten. Dabei werden Gesten, Sprechstile, Kleidung, Bewegungen und ähnliches auch fiktional aufgeladen und symbolisch überhöht, das vermeintlich Eigene also regelrecht konstruiert und als Identifikationsmodell wie selbstverständlich festgeschrieben. (5)
Ohne differente Positionen gäbe es keine Partizipation. Der Widerspruch zwischen dem, was partizipierende AkteurInnen zur Darstellung bringen und dem, was durch das Beteiligungsangebot kanalisiert (auch kontrolliert) wird, ist der Partizipation gewissermaßen inhärent – insbesondere wenn es sich um ein Angebot handelt, das an bestimmte NutzerInnen und Zielgruppen gerichtet ist, um ein Wir-Gefühl zu erzeugen. Der Begriff Teilhabe mag vielleicht noch auf ein auf Augenhöhe basierendes Austauschverhältnis beruhen, aber das Wort Partizipation gründet von vornherein auf einer Asymmetrie. Anspruch und Wirklichkeit fallen dabei oft auseinander – im Besonderen, wenn Partizipation (wie etwa in der Community Art oder im sogenannten Applied Theatre) auf Empowerment zielt. Kunst wird in dieser „allgemeinen Begeisterung am Sozialen [...] als policy verstanden: als Verwaltung, Engineering und möglicherweise technokratische Bearbeitung von sozialen Problembereichen. Public Art wird zur privatistischen Version von public welfare“ (Marchart 1999).(6)
Vor diesem Hintergrund ist die von Christian Kravagna schon vor Jahren aufgeworfene Frage immer noch aktuell, ob nicht „Veränderungen auf ‘nur’ symbolischer Ebene, wie sie bestimmte Modelle partizipatorischer Praxis intendieren, gegenüber den ‘konkreten’ wieder aufgewertet werden müßten. In vielen Fällen sind sie es, die zumindest die Idee politischer Handlungsfähigkeit bewahren. Nicht zuletzt deshalb, weil sie zunächst beim politischen Bewußtsein und den Grundlagen von Mitbestimmung verweilen, ohne sich sofort dem Pragmatismus der Problemlösung zu verschreiben“ (Kravagna 1998:o.S.).
Carmen Mörsch spricht mit Blick auf Kulturelle Bildung gar von der „Kulturalisierung politischer Probleme und Verkleisterung von struktureller Gewalt“ (Mörsch 2010:o.S.). Die positive Wirkung partizipativer Angebote – gerade auch im Hinblick auf die theaterpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – ist sicher nicht in Zweifel zu ziehen. Aber das partizipative Anliegen hat längst seine Unschuld verloren. Partizipation zielt nicht immer auf die freie Entfaltung des künstlerischen Eigensinns, sondern darauf, Kompetenzen zu fördern, die die postfordistische Gesellschaft von ihnen erwartet. (7) Der Theaterwissenschaftler Jon McKenzie stellt sogar die These auf, dass die Performance das zentrale Macht-Wissen-Dispositiv ist – ein neuer Typ von Herrschaft, eine kulturelle, ökonomische und technologische Größe, die alle und alles nach seinem Potenzial beurteilt. Performance wird am Ende vielleicht „für das 20. und 21. Jahrhundert das gewesen sein, was die Disziplin für das 18. und 19. Jahrhundert war“ (McKenzie 2007 o.S.).
Bürger und Bürgerinnen machen von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch, besetzen das Rathaus, zertrümmern Autos, liefern sich Straßenschlachten. Es sind durch Kunst animierte, zwischen Fiktion und Wirklichkeit changierende Unruheszenarien, von denen die Beteiligten später im Theater erzählen und dem Publikum sogenannte Gebrauchsanweisungen übergeben werden (Baseler Unruhe von Hofmann & Lindholm, Theater Basel, 2010).
Zum Publikum werden
Mit Blick auf den gesellschaftlichen Alltag, der selbst schon im Übermaß inszenatorisch aufbereitet und ästhetisch durchdrungen ist, mag kaum verwundern, dass das Theater – wie um dem Inszenierungskult etwas zu entgegnen – heutzutage sogar schon ohne ästhetischen Schein auskommt und dabei möglicherweise sogar jener Profanierung Vorschub leistet, die Georgio Agamben (2005) mit Blick auf den gesellschaftlichen Alltag als dringlich erachtet. Doch wie viel Partizipation und somit empirische Wirklichkeit ist einem Theater zuträglich, das mitunter schon „wirklicher als die Wirklichkeit“ (Seitz 2008) ist? (8) Wie viel Nähe zu der als krisenhaft erlebten politischen Realität muss Theater eingehen, um adäquat reagieren zu können? Wie viel Distanz (und somit künstlerische Autonomie) ist nötig, um von der gesellschaftlichen Praxis unterscheidbar zu bleiben? Wo die einen bereits den Untergang der Kunst vor Augen haben, sehen andere einen endlich weiten Horizont. „Verschmelzend mit (und im steten Übergang zu) geselligem Spiel, politischer Debatte, Dokument und Demonstration bewegt sich Theater auf der Linie einer gewissen De-Ästhetisierung, die nicht das Ende seiner Kunst, sondern ein Geländegewinn ist“ (Lehmann 2011:31).
Der Zusammenhang von Kunst und Öffentlichkeit, der in dem Wort Publikum mitschwingt und schon immer die Nähe der performativen Künste zum politischen Handeln impliziert hat, ist mit dem Aufkommen des bürgerlichen Theaters weitgehend verschwunden. Die ins Dunkel, in die Anonymität und Vereinzelung versetzten ZuschauerInnen sollen ZeugInnen und nicht (wie beispielsweise noch in der Renaissance oder bei Shakespeare) MitgestalterInnen des Schauspiels sein. Vor diesem Hintergrund hat das postdramatische Theater dann auch allerlei Versuche unternommen, das kontemplative Zuschauen zu unterbrechen, das stille Sehen durch allerlei Einbrüche des Realen (mitsamt der Affektstimuli) zu erschüttern und die körperliche Anwesenheit dem Publikum wahrnehmbar zu machen. Es hat den Prozessen, die sich zwischen Bühne und Saal abspielen, neue Aufmerksamkeit geschenkt. Entsprechend hat die „Ästhetik des Performativen“ der leibliche Ko-Präsenz, die AkteurInnen und ZuschauerInnen zu einer Gemeinschaft macht, auch eine herausragende Rolle zugeschrieben (vgl. Fischer-Lichte 2004:82).
Mit Blick auf jüngste Ereignisse in den Theaterhäusern spricht Hans-Thies Lehmann (in Anlehnung an die relationale Ästhetik von Nicolas Bourriaud) von einer „relationalen Dramaturgie“, in der die Inszenierungskunst nicht mehr zentrales Moment ist, sondern die in der Aufführung gemeinsam von allen Beteiligten hervorgebrachte Wirklichkeit (vgl. Lehmann 2011:28f.). So manche sprechen sogar vom „Publikum werden“ (GEHEIMAGENTUR 2008), um die Anstrengung zu kennzeichnen, die einander Fremde (durch ein hervorgebrachtes Drittes) zu einer temporären Gemeinschaft werden lässt – ein Publikum, das per se nicht existent, sondern innerhalb des von allen Beteiligten geteilten (symbolischen oder realen) Raumes zu allererst hergestellt wird und im besten Fall dann auch seine Handlungsmacht erprobt und von seinem Rederecht Gebrauch macht.
Anstelle des Schauspiels gibt es dann mannigfache Spielarten der Versammlung – selbst inmitten eines „klassischen“ Schauspiels, wie die Aufführung von Ibsens Ein Volksfeind in der Berliner Schaubühne im Herbst 2012 zeigt. Mitten im Stück, als der Protagonist ansetzt, sein politisches Manifest zu verkünden, wird der Zuschauerraum plötzlich hell erleuchtet und das Publikum unverhofft zum Adressaten seiner Empörung gemacht. In seiner fulminanten Rede verkündet er den kommenden Aufstand und prophezeit ein Ende des Kapitalismus. Die Deklamation provoziert und entfacht eine hitzige Debatte über Politikverdrossenheit, Korruption und einiges mehr. „Brave“ ZuschauerInnen entpuppen sich als zornige WutbürgerInnen. Das Theater wird kurzzeitig (ganz im Sinne Brechts) zu einem „Kolloquium über die gesellschaftlichen Zustände“, wobei vermutlich nur der erste Redebeitrag (wenn überhaupt) von einem im Publikum sitzenden Schauspieler gekommen ist – gewissermaßen als Eisbrecher, um mit kontroversen Argumenten die Stimmung anzuheizen und die Beteiligung zu forcieren. War zu Ibsens Zeiten noch der Blick auf das Soziale vorrangig, so führt sich bei Ostermeier (zumindest in dieser Szene) die soziale Praxis selbst auf. (9)
Sieben Kinder zwischen acht und 14 Jahren sind in einem nach innen verspiegelten Kubus den Blicken der Zuschauer ausgesetzt. Ohne selbst nach draußen schauen zu können, treffen sie im Video auf sich selbst in jüngeren Jahren, blicken ihrer Zukunft entgegen, spielen ihr Älter- und Altwerden und geben heitere, tiefgründige und abgründige Rückblicke in verpasste Gelegenheiten und vergessene Wünsche (Before Your Very Eyes von Gob Squad/Campo, HAU, 2011 und Berliner Theatertreffen, 2012).
Das Symbolische der Kunst
Der Wunsch, das Publikum (innerlich wie äußerlich) zu bewegen oder Menschen ganz unmittelbar an den Produktionen zu beteiligen, ist nicht neu, hat aber neuerdings an Aktualität gewonnen. Spätestens seit den 1950er Jahren haben Situationisten, wie Guy Debord, mit ihrem kritischen Blick auf die „Gesellschaft des Spektakels“ die Zuschauerposition als passive Konsumhaltung abgewertet und die Kunst gleich ganz abschaffen wollen. Konstruierte Situationen, aktionistische Eingriffe, wohlüberlegte Interventionen sollen neue soziale Begegnungen stimulieren, Selbstbestimmung provozieren und die Möglichkeiten der Partizipation durch das Handeln erfahrbar machen (vgl. Debord 2006:96ff.).
Doch bei genauerem Hinsehen ereignet sich Partizipation am „Schnittpunkt von Aktivität und Passivität, Bewegtwerden und Bewegen. [...] Zu Partizipation kommt es, wo ein Akteur den Eindruck hat, dass sein eigenes Erleben, Erfahren und Handeln, sich in einer realen oder virtuellen Nähe zu dem anderen vollzieht“ (Brandl-Risi 2012:78). Um zu partizipieren, müssen die Szenen des Theaters also nicht leibhaftig „bewohnt“ werden, ZuschauerInnen können auch mit Hilfe ihres Einfühlungsvermögens und ihrer Vorstellungskraft „einsteigen“.
Nach der Auffassung von Jacques Rancière hat jene Umkehrung, die aus ZuschauerInnen AkteurInnen macht, die Theaterlandschaft zwar enorm bereichert, aber etwas außen vor gelassen: das mentale Abenteuer, Gesehenes mit dem eigenen Leben verbinden zu können. Seiner Auffassung nach geht es im Theater weder darum, eine Gemeinschaft oder ein Kollektivkörper zu werden noch darum, die Unterschiede zwischen Schauen und Spielen zu nivellieren beziehungsweise die Positionen einfach auszutauschen. So ist nicht die Distanz zwischen Bühne und Publikum verdächtig, sondern deren Aufhebung. Kunst sei dann kein Zeichen mehr, so Stefan Neuner unter Bezugnahme auf Rancière, keine (durch Raum und Zeit) gesandte Botschaft, „sondern unmittelbarer Austausch – und Gleichheit eine Funktion der Teilhabe an der Präsenz einer Gemeinschaft“ (Neuner 2007:4f.).
Die „Emanzipation des Zuschauers“ sieht Rancière nicht dort eingelöst, wo ZuschauerInnen selber spielen, sondern wo der Gegensatz zwischen Sehen und Handeln in Frage gestellt wird. Gegenüberstellungen wie Aktivität/Passivität seien „fleischgewordene Allegorien der Ungleichheit“, eine „Verteilung von Positionen und von Fähigkeiten und Unfähigkeiten“: „Wir lernen und wir lehren, wir handeln und wir wissen auch als Zuschauer, die in jedem Augenblick das, was sie sehen, mit dem verbinden, was sie gesehen und gesagt, gemacht und geträumt haben. [...] Jeder Zuschauer ist bereits Akteur seiner Geschichte“ (Rancière 2009:28). Sehen ist Handeln und Rezipieren immer schon eine Praxis der Beobachtung, Befragung, des Vergleichens, Deutens und der Interpretation.
Vor diesem Hintergrund setzt die Einladung der Platonov-Inszenierung von Alvis Hermanis zum Berliner Theatertreffen 2012 der klassischen Schauspielkunst (ganz im Sinne von Rancière) eine neue Aufmerksamkeit. Gegenüber jüngsten Tendenzen, das Publikum in den Mittelpunkt zu rücken, wird es hier geradezu außen vor gelassen. Die SchauspielerInnen agieren in der Black Box, als wären sie unter sich. Mit Blick auf die anderorts niedergerissene vierte Wand eröffnen die Figuren ein brillantes Spiel und bereiten eine Welt des perfekten Scheins. Sie erzwingen eine distanziert-analytische Einstellung, die eine Differenz markiert und somit den Brückenschlag fordert, der eigene Anknüpfungen möglich macht – eine Schauspielkunst, die die „Zuschaukunst“ in höchstem Maße herausfordert. Denn, so Adam Czirak (2012:15): „Man blickt nicht nur, um zu sehen.“ Der Blick ist keine Instanz der optischen Wahrnehmung, sondern mit den anderen Wahrnehmungsordnungen verknüpft, hat demzufolge eine „identitäts- und wirklichkeitskonstituierende Kraft“ und eine „kultur- und kommunikationsstiftende Macht“. Czirak zufolge erfordert beziehungsweise konfiguriert das Theater (im Unterschied zu anderen Kunstformen) eine soziale Konstellation und somit zwischenmenschliche Aspekte des Zusammenseins – „und zwar derart, dass mit der theaterästhetischen Erfahrung notwendigerweise die Frage nach den Kategorien von ‘Ich’ und ‘anderem’ aufs Spiel gerät“ (ebd.:16). Die fremden Bilder, Gesten oder Worte auf der Bühne sind nur mehr Anlass, sie mit eigenen Bildern, Gesten und Worten zu verknüpfen.
Zu ihrer Überraschung werden die Zuschauer auf die Bühne gebracht, wo sie hinter dem geschlossenen eisernen Vorhang und diesseits und jenseits einiger am Boden liegenden Neonröhren auf den Beginn des Stückes warten. Es geschieht nichts – eine gefühlte Ewigkeit lang. Der allmählich aufkommende Verdacht, dass die Spielerinnen und Spieler bereits da sind (was sich viel später durch kleine choreographische Sequenzen auch bestätigt) entfacht einen Blicktausch, durch den jeder und jede verdächtigt wird, Akteur zu sein. Es entsteht eine Dynamik, mit der nicht nur der eigene Blick die zuschauenden Anderen zu Performern macht, sondern auch die eigene leiblichen Präsenz (durch die Blicke der anderen) auf radikale Weise wahrnehmbar und erlebbar werden lässt. Das Publikum hat die erste Szene sozusagen unwillentlich selbst geschrieben (Arbeitstitel Arbeit von VA Wölfl/ Neuer Tanz am Berliner Hebbeltheater, 1999).
Das Theater kennt nur Partizipierende und war schon immer daran interessiert, unterschiedliche Modi der Partizipation zu erproben. Am Ende kommt es darauf an, was das Theater mit seinen experimentellen Erkundungen will: Ob die TheaterbesucherInnen nun ZuschauerInnen bleiben, Publikum werden oder als PerformerInnen selbst aktiv sein können – it’s all about participation.
Anmerkungen
(1) Die Beschreibung der von mir vorgeschlagenen Partizipationsmodi sind an anderer Stelle nachzulesen und sollen hier nur kurz erwähnt werden: mental (klassisches Modell), kommunikativ (zum Beispiel Publikumsgespräch), zuarbeitend (zum Beispiel durch Interviews), co-produzierend (selbstspielend, häufig gemeinsam mit SchauspielerInnen und unter professioneller Regie) oder selbst-produzierend (Eigenproduktionen) (vgl. Seitz 2012).
(2) Entscheidende Weichen hierzu hat die Kulturstiftung des Bundes 2006 mit ihrem (2013 auslaufenden) Fond „Heimspiel“ gestellt, der Produktionen gefördert hat, die sich mit der urbanen und sozialen Wirklichkeit befassen und neues Publikum gewinnen wollten.
(3) Die Theatergruppe Rimini Protokoll bringt in ihren Stücken Menschen auf die Bühne, die in ihrem „wirklichen“ Leben Experten sind – beispielsweise Trauerredner, Fernfahrer, Aktionäre, Muezzins, etc. – und spricht daher nicht von Laien, sondern von „Experten des Alltags“ (vgl. Dreysse/Malzacher 2007).
(4) Opferpopp ist von mir an anderer Stelle eingehend beschrieben worden (vgl. Seitz 2011a). Darüber hinaus habe ich mich kritisch mit zwei Schulprojekten auseinandergesetzt, die das Partizipationsanliegen auf sehr unterschiedliche Weise angegangen sind – Schule der Freiheit der Kammerspiele München und Rhythm is it! von Royston Maldoom/Philharmonie Berlin (vgl. Seitz 2011b).
(5) Siehe hierzu zum Beispiel das Machoverhalten türkischer Jungs in Scratch Neukölln von Constanza Macras (Hebbeltheater, 2003) oder die Gewaltexzesse fanatischer Fußballclubfans in Ultras von Dirk Laue (Thalia Theater Halle, 2009).
(6) Davon abgesehen, dass KünstlerInnen heutzutage ein breitgefächertes Know-how mitbringen müssen (Drittmittel einwerben, Castings durchführen, neue Aufführungsorte entdecken, neue ZuschauerInnen/Zielgruppen ansprechen etc. pp.), fördert der Erfolgsdruck eine Antrags- und Evaluationslyrik, die (entsprechend der jeweiligen Förderrichtlinien) bestimmte Buzzwords bedienen und Problemlagen beschreiben, die mitunter so gar nicht existieren.
(7) Und sie werden aus diesem Grund auch finanziell gefördert. An dieser Stelle sei kommentarlos aus einer Theaterprojektauswertung zitiert: „Allgemeiner Nutzen: Formung der Persönlichkeit, Steigerung des Selbstbewusstseins, Steigerung der Urteilskraft, Zivilcourage, Soziales Verständnis, Förderung und Nutzung von Kreativität, Steigerung der Konzentration, Stärkung des Schaffenswillens, Drang zur Tätigkeit, Stärkung der persönlichen Ausdrucksform, des Sprachgefühls, des Körperbewusstseins und der Präsentationstechnik, Teamfähigkeit, Steigerung der Wahrnehmungssensibilität. All diese erworbenen Eigenschaften ermöglichen einen aktiven Einstieg in die Arbeitswelt, innovative Arbeitsstrukturen und den Willen zur Weiterbildung. Die Fähigkeit der Kommunikation und einer positiven Kritikaufnahme sowie positiven Kritikfähigkeit an anderen wurde stark entwickelt“ (European Grouptheater 2010).
(8) So wirklich, dass es Wirklichkeiten zustande bringt, die im wahren Leben nicht mehr erlaubt sind. So hat Anfang März 2013 der Schweizer Regisseur Milo Rau im Moskauer Sacharow-Zentrum die dreitägige Gerichtsshow „Die Moskauer Prozesse“ mit Journalisten, Angeklagten, Juristen, Gläubigern etc. pp. zur Aufführung gebracht und dabei möglichst jene beteiligt, die mit tatsächlich stattgefundenen Gerichtsprozessen zu tun hatten, aber ihre Meinung nicht äußern konnten. Kein Reenactment, sondern eine Show, in der zum Beispiel eine der Aktivistinnen der Gruppe Pussy Riot ihre vor Gericht nicht gehaltene Rede zu Gehör bringt. Weil Rau angeblich keine Arbeitserlaubnis hatte, wurde die Aufführung (nebenbei bemerkt) zwar durch die russische Migrationsbehörde unterbrochen und gestört, konnte aber nicht verhindert werden.
(9) Es sei nur am Rande erwähnt, dass sich jener aufrührerische Protestler, dem das Publikum alle Sympathie schenkt, kurze Zeit später (als das Licht im Saal wieder aus- und das „Stück“ buchstäblich weitergeht) als Opportunist erweist. Man kann Ostermeiers Coup durchaus als Hieb an das Publikum verstehen, das sich im vermeintlichen Glauben an das Gute einvernehmlich zeigt und zur Partizipation hinreißen lässt.