Mimesis

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von Ulf Otto

Erscheinungsjahr: 2013/2012

Thema und Begriffsbestimmung

Mimesis, von altgr. μίμησις, wird seit der Renaissance mit dem lat. imitatio gleichgestellt und seit Mar­tin Opitz‘ „Buch von teutscher Poeterey“ von 1624 im Sinne von „Nachäfferey“, später dann lange als Nachahmung übersetzt. Seit den Anfängen der Moderne ist Mimesis innerhalb der ästhetischen und poetischen Theoriebildung einer nicht abreißenden Kritik ausgesetzt, die der mimetischen Bezug­nahme auf Wirklichkeit mit Forderungen nach einer autonomen und nicht­-repräsentationalen Kunst begegnet (Iser 1991). Nicht zuletzt die Betonung der selbstreferentiellen und wirklichkeitskons­tituierenden Aspekte von Kunst und Theater im Kontext einer performativen Wende der Kulturwis­senschaften scheint maßgeblich von einem solchen „antimimetischen Affekt“ (Ott 2010) getragen zu sein. Die rezente Auseinandersetzung mit dem Begriff beginnt daher seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zumeist mit der Rehabilitierung und Ausweitung des Konzeptes und untersucht Mimesis auch jenseits der Kunst als ein kulturelles Vermögen mit anthropologischen Fundamenten.

Damit knüpft die gegenwärtige Diskussion auch an mögliche Ursprünge des altgriechischen Begriffs an, der einerseits im Umfeld von Chor und Tanz gesucht wird, andererseits mit der possenhaften Kunst des atellanischen Mimos in Verbindung gebracht wird (Koller 1954). Anschließend an ein solches Verständnis von Mimesis als ästhetischer und theatraler Praxis ließe sich denn auch das Potential der Mimesis im Bereich der Kulturellen Bildung ausloten. Denn anders als das bürgerliche Projekt ästhetischer Erziehung und Menschenbildung durch empfindsame Selbstreflexion zielt Mimesis als aktive ästhetische Aneignung von Welt und Wirklichkeit zuvorderst auf gesellschaftliche Teilhabe (siehe Larissa von Schwanenflügel/Andreas Walther „Partizipation und Teilhabe“).

Historische Dimension

In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass die Karriere der Mimesis mit der didaktisch und pädagogisch begründeten Ausweisung aus Platons idealem Staat beginnt und lange Zeit von der antitheatralen Kulturpolitik der Kirchenväter bestimmt bleibt. Denn als Prinzip der Kunst ist Mimesis in Platons Augen schon nur begrenzt nützlich, weil sie in der Abbildung einer Welt, die ohnehin selbst nur eine Abbildung ist, dem Wahren nicht allzu nahe zu kommen vermag; als anthropologische Eigenart des Menschen hingegen, sich nachahmend, nacheifernd und angleichend auf Welt zu beziehen, erscheint sie Platon als eine Macht, die es zu fürchten gilt. Denn gefährlich kann die Mimesis vor allem dann werden, wenn es die falschen Vorbilder sind, die zur Darstellung kommen, oder – schlimmer noch – die Darstellung selbst falsch ist, d.h. beispielsweise Götter und große Männer als unzulänglich dargestellt sind und anderen Despektierlichkeiten ausgesetzt werden. Im Sinne einer staatstragenden Erziehung und um Verderbnis und Verführung von den heranwachsenden Generationen fernzuhalten, spricht sich Platon daher dafür aus, die realen Mimen aus dem Staate zu verbannen.

Aristoteles, der an Platon anschließend in der Poetik die künstlerischen Spielarten der Mi­mesis vornehmlich in Hinblick auf ihre ästhetischen Mittel differenziert, verhält sich ambivalent zum platonischen Ausschluss der Mimesis. Einerseits wertet er die Mimesis auf, indem er ihr mit der kathartischen Wirkungsästhetik eine positive soziale Funktion zuordnet, andererseits aber domestiziert er sie so zugleich, weil er ihre Wirkung auf die psychosoziale Reinigung des Gesellschaftskörpers reduziert – und setzt damit das platonische Projekt der Entmachtung der Mimesis in subtilerer Form fort. Dementsprechend sind es bei Aristoteles auch nicht die konkreten Tatsachen aus Geschichte und Gesellschaft, auf die sich Mimesis darstellend bezieht, sondern ein Mögliches und Allgemeines, das als Gegenstand der Darstellung dienen soll. Wenn von Nachahmung der Natur bei Aristoteles die Rede ist, dann meint das insofern nicht die Natur als vorhandenes Gegebenes, sondern als ein schaffendes Werden. Mimesis ist so als ein ästhetisches Verfahren des vergegenwärtigenden Erscheinen-­Lassens zu verstehen (Neschke 1980). Erst Renaissance und Aufklärung legen Mimesis dann für lange Zeit aufs Abbild fest. Ohne jedoch dabei aus den Augen zu verlieren, dass jedes Abbild immer auch ein Vorbild ist.

Wenn es fortan also für Kunst und Theater gleichermaßen gilt, eine außerhalb des Cartesischen Geistes angenommene Wirklichkeit in den Rahmen der nun von den nützlichen Techniken geschie­denen schönen Künste zu stellen, dann hat dies nicht nur unter Maßgabe rationalistischer Wahr­scheinlichkeit, sondern gleichzeitig aristokratischer Schicklichkeiten zu geschehen. Während die höfische Gesellschaft die Mimesis so in ihrem Sinne zur Repräsentation von Macht und Maßstäben zu nutzen weiß und ihr eine architektonisch und literarisch abgesicherte Institution zuweist, baut das Bürgertum diese Institution zur Bildungsanstalt um und stellt sie ins Zentrum der Emanzipa­tion und Disziplinierung der sich formierenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Der Bildungsauftrag stellt Mimesis fortan in den Dienst der empfindsamen Reifung innerer Persönlichkeit und richtet sie auf individuelle Spiegelbilder statt auf kollektive Vorbilder aus. Ein gutes Theaterstück solle nicht jedermann zum Helden machen, schreibt Richard Steele, der Herausgeber der Moralischen Wochenschrift „The Tatler“ 1710, aber es gebe ihm sicherlich „ein lebendigeres Gefühl von Tugend und Verdienst, als er vor Betreten des Theaters besaß“ (Kindermann 1961:175).

Wurde also auch schon zuvor die pädagogische Wirkung repräsentativer Mimesis genutzt und gefürchtet, so erlangt die Mimesis erst im bürgerlichen Theater den umfassenden Auftrag zur Bildung von Mensch und Nation (Fiebach 2007). Damit aber ist auch schon der moderne Bruch in und mit der Mimesis angelegt, der schließlich in Kants dritter Kritik endgültig hervorbricht. Denn je deutlicher die Kunst auf die Abbildung einer objektivierten Außenwelt festgelegt wird, desto stärker tritt ihr im Gegenzug eine subjektivierte Innenwelt entgegen, sodass die Mimesis im 19. Jh. zugleich als Abbildung gefeiert und verfemt wird. Während im Naturalismus Alltag und Armut zum Gegenstand einer mit wissenschaftlichen Ansprüchen betriebenen Darstellung werden (Auerbach 1946), gerät mit der Romantik und der Autonomie des Genies der mimetische Weltbezug unter Verdacht – hundert Jahre bevor die Avantgarden mit der Wende zum 20. Jh. die Abbildung der Wirklichkeit dann durch den Angriff auf sie ersetzen und Mimesis den Anschein des Reaktionären verleihen.

Aktuelle Situation

Anfang des 20. Jh.s wird Mimesis dann wiederholt als außerkünstlerisches und vorsprachliches Vermögen (Benjamin 1933/2002b) wiederentdeckt, aus dem funktionalen Korsett der Kunstauto­nomie befreit und als anthropologische Kompetenz geweitet. Damit wird nicht zuletzt an Aristoteles’ Bestimmung der Mimesis als menschlicher Spezifik angeschlossen, die sich mit Anbeginn der Kindheit im Lernen und in der Freude am Schauen äußere (Aristoteles 1984:11). Mimesis wird hieran anknüpfend häufig als Anverwandlung an ein Anderes gedacht, als eine Möglichkeit, sich ähnlich zu machen und stellvertretend für Anderes einzustehen, die nicht unbedingt mit Abbildung im bildlichen Sinne zusammenfällt. (Gebauer/Wulff 1992). Für Theodor W. Adorno stammt ein solches mimetisches Verhalten von der Magie ab und findet innerhalb der verwalteten Rationalität der Moderne seine Zuflucht in der Kunst (Adorno 1970:86f.). Bei René Girard hingegen hat Mimesis einen zutiefst ambivalenten Charakter, da er von einem mimetischen Wunsch ausgeht, der durch den Antrieb zur nachahmenden Angleichung nicht nur den Fortbestand der Kultur gewährleistet, sondern zugleich auch Rivalität und Gewalt hervorbringt und den Bestand der Gesellschaft so­mit zugleich gefährdet (Girard 1972). Auch Robert Weimann, der ausgehend von der Rolle des Shakespeare’schen Theaters in den frühneuzeitlichen Umbrüchen des elisabethanischen Englands und in Auseinandersetzung mit der Mimesis im französischen Poststrukturalismus (Derrida 1967) einen pragmatischen und historisch fundierten Begriff von Mimesis entwickelt, versteht Mimesis als eine Form ästhetischer Aneignung, die mit Ähnlichkeiten operiert und dem Zeichengebrauch voraus liegt (Weimann 1988). Mimesis wird so einerseits als ein sinnlich­-körperlicher Vorgang begriffen und ist andererseits immer schon auf das Verhältnis von Darstellung und Macht bezogen: „Mimesis wäre im Gegenteil als Tätigkeit, Performanz und Aneignung innerhalb des Repräsentationsvorgangs [Herv. i. O.] selbst aufzuspüren“ (Weimann 1988:12).

Ausblick

Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich Mimesis – in Abgrenzung von Doktrinen rationaler Weltabbildung und in Anknüpfung an Formen spielerischer Weltaneignung – als eine historischen Wandlungen ausgesetzte ästhetische Praxis verstehen, die nicht nur alltäglich und körperlich, weltgebunden und gemeinschaftsbildend ist, sondern auch beständig das Verhältnis des Eige­nen zum Anderen problematisiert (Taussig 1993). Eben darin aber erweist sich die Reichweite des Konzepts für das Feld der Kulturellen Bildung. Denn statt eines autonomen und elitären Kunstbegriffs, der sich in der Betonung von postmoderner Selbstreferenz und performativer Wirklichkeitskonstitution tendenziell noch verschärft, treten mit der Betonung der mimetischen Aspekte der Künste ästhetische Erfahrungen und kulturelle Teilhabe in den Vordergrund. Kunst weniger als Werk, denn als Praxis und Prozess beschreibend, erfährt das Machen gegenüber dem Betrachten eine Aufwertung, und die mimetische Aneignung von Welt hört auf, den Exper­tInnen vorbehalten zu sein. Jenseits der philosophischen Angst vor der Macht der Mimesis, ihrer politischen Funktionalisierung oder ihrer künstlerischen Institutionalisierung ließe sich mimeti­sches Agieren als aneignendes, widerständiges und sich selbst in Frage stellendes Handeln als wesentlich für kulturelle Bildungsprozesse begreifen. Denn für gesellschaftliche Teilhabe könnte gegenwärtig nicht nur die Fähigkeit zur spielerischen Aufgabe der eigenen Identität eine entschei­dende Fähigkeit sein – die im frappierenden Einklang mit den Anforderungen postfordistischer Ökonomie stände –, sondern auch immer noch das, was schon Platon an der Mimesis gefürcht hat: die Möglichkeit, große Männer klein zu machen – und sei es nur zum Schein.

Verwendete Literatur

  • Adorno, Theodor W. (1970):

    Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

  • Aristoteles (1987):

    Poetik. Stuttgart: Reclam.

  • Benjamin, Walter (1933/2002b):

    Über das mimetische Vermögen. In: Ders. (Hrsg.): Medienästhetische Schriften (123-126): Frankfurt/M.: Suhrkamp.

  • Derrida, Jacques (1967):

    De la grammatologie, Paris: Les Éditions de Minuit.

  • Fiebach, Joachim (2007):

    Inszenierte Wirklichkeit. Kapitel einer Kulturgeschichte des Theatralen. Berlin: Theater der Zeit.

  • Foucault, Michel (1966):

    Les Mots et les Choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard.

  • Girard, René (1972): La violence et le sacré. Paris: Grasset.
  • Iser, Wolfgang (1991): Mimesis und Performanz. In: Ders. (Hrsg.): Das Fiktive und das Imaginäre. Per­spektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Kindermann, Heinz (1961): Theatergeschichte Europas, Bd. IV. Salzburg: Otto Müller.
  • Koller, Hermann (1954): Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. Bern: Francke.
  • Ott, Karl-Heinz (2010): Die vielen Abschiede von der Mimesis. Wiesbaden: Franz Steiner.
  • Platon (1962): Politeia, übersetzt v. Friedrich Schleiermacher. Hamburg: Rowohlt.
  • Zimbrich, Ulrike (1984): Mimesis bei Platon. Frankfurt/M.: P. Lang.

Anmerkungen

Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hrsg. Bockhorst/ Reinwand/ Zacharias, 2012, München: kopaed) veröffentlicht.

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Ulf Otto (2013/2012): Mimesis. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/mimesis (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/92552.307.

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