Der Meister ist immer der Fluss, oder: Die Autorität des Unvorhersehbaren
Reflexionen zum Lehren und Lernen von Improvisation in Musik und Tanz und darüber hinaus
Abstract
Musikalische und tänzerische Improvisation erfordern mehr als das Beherrschen eines Instruments, des eigenen Körpers und geeigneter Techniken; sie beruhen auf kognitiven Prozessen, die Kreativität, Aufmerksamkeitssteuerung, multimodale Wahrnehmung, Empathie und Kommunikation miteinander verbinden. Ausgehend von der musikalischen Improvisation sowie der Tanz- und Bewegungsimprovisation wird hier der Frage nachgegangen, inwieweit eine allgemeine, disziplinübergreifende Improvisationsfähigkeit angenommen werden kann und auf welchen Fähigkeiten und Fertigkeiten diese beruht. Daran anknüpfend stellt sich die Frage: Wenn Improvisation „an sich“ erlernbar und trainierbar ist, wie kann und sollte sie dann gelehrt oder vermittelt werden? Zur Beantwortung dieser Fragen werden ausgewählte sozial-, musik- und kognitionswissenschaftliche Perspektiven herangezogen und miteinander in Beziehung gesetzt. Daran anknüpfend werden ausgewählte Prinzipien und Ideen aus dem Unterricht von Peter Jarchow erläutert, dessen Werk als Pianist, musikalischem Wegbegleiter Gret Paluccas und Improvisationslehrer an bedeutenden Hochschulen die Geschichte der musikalisch-tänzerischen Improvisation maßgeblich mitgeprägt hat.
Gibt es eine allgemeine Improvisationsfähigkeit?
Im Ankündigungstext der 13. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung (2022) ist zu lesen: „Die Corona-Krise, aber auch andere gesellschaftliche Transformationsprozesse, […] unterstreichen die Relevanz improvisatorischer Praxis. Technologischer, ökologischer und politischer Wandel bringt […] Unsicherheiten und Gelegenheiten hervor, die Improvisationskompetenz erfordern und ermöglichen […].“ Diese und ähnliche Formulierungen legen nahe, dass das Improvisieren Erfahrungen und Kompetenzen mit sich bringt, die zunehmend gebraucht werden, und dass die Gesellschaft davon profitieren würde, wenn diese Kompetenzen mehr und besser gelernt und gelehrt werden könnten. Dies setzt voraus, dass es so etwas wie eine allgemeine disziplin- und domänenunabhängige Improvisationsfähigkeit gibt, und dass diese gelernt, geübt und gelehrt werden kann. Von der Überlegung ausgehend, inwieweit Improvisationsfähigkeit als ein „meta-skill“ existiert, als eine generelle Fähigkeit, die sich auch zwischen Disziplinen und Domänen übertragen lässt, geht dieser Artikel den Fragen nach, worauf diese Fähigkeit möglicherweise beruht, und wie - und mit welchem Ziel - sie unterrichtet und trainiert werden kann. Dabei liegt der Fokus hier exemplarisch auf den Domänen Musik und Tanz, wobei weder der Anspruch besteht, das breite Spektrum der musikalischen und tänzerischen Improvisation in all ihren Disziplinen und Funktionen abzudecken, noch die Absicht, andere Bereiche der (künstlerischen) Improvisation auszugrenzen.
Ergänzend zu ausgewählten sozial-, musik- und kognitionswissenschaftlichen Perspektiven werden pädagogisch-didaktische Prinzipien und Ideen aus dem Improvisations-Unterricht von Peter Jarchow herangezogen, den die Autorin im Rahmen einer Weiterbildung am Exploratorium Berlin (2023) erleben durfte. Peter Jarchow hat als Pianist, Hochschullehrer, musikalischer Wegbegleiter von Gret Palucca (Jarchow/Stabel 1999) und Gründer des Deutschen Instituts für Improvisation die Geschichte der musikalischen und tänzerischen Improvisation maßgeblich mitgeprägt. Auch er geht offensichtlich von einer Übertragbarkeit improvisatorischer Fähigkeiten aus, wenn er schreibt: „Der Alltag eines jeden Menschen ist mit vielen unvorhergesehenen Dingen kleineren oder größeren Ausmaßes gespickt, die Improvisationserprobte schneller erkennen und auf die sie besser reagieren können. Auch in der Musik als Interpretierende sind sie im Vorteil“ (Jarchow 2019:416).
Die Begriffe Improvisieren und Improvisation werden in diesem Artikel weitestgehend synonym verwendet und nicht im Sinne einer Differenzierung von Prozess und Produkt (Figueroa-Dreher 2012:188). Während die Differenzierung zwischen dem Prozess des Komponierens als Handlung und der Komposition als dessen Ergebnis sinnvoll erscheint, ist eine entsprechende handlungstheoretisch basierte Differenzierung von Improvisieren und Improvisation nicht immer sinnvoll und kann auch im wissenschaftlichen Diskurs zu Konfusion führen (Figueroa-Dreher 2015:18ff.). Alternative Betrachtungsweisen mit Wurzeln in der tanzpädagogischen, tanzphilosophischen und kognitionswissenschaftlichen Literatur werden später erläutert.
Improvisation in Musik und Tanz
Dass Musik und Tanz bereits in ihrer Entstehungsgeschichte eng zusammenhängen, lässt sich auf verschiedenen Ebenen argumentieren (Fitch 2016; Fink/Bläsing/Ravignani/Shackleford 2021). Peter Jarchow ist überzeugt, „dass zu Urzeiten Bewegung und Laute (später Musik und Tanz) untrennbar miteinander verbunden waren […]. Der durch eine Bewegung hervorgerufene Klang erweckte die uneigennützige Freude am Klang und an der Bewegung“ (Jarchow 2019:410). Die wissenschaftlich-theoretische Betrachtung der Improvisation in Musik und Tanz unterscheidet sich dagegen durchaus. Die Kultursoziologin Silvana Figueroa-Dreher merkt an, dass Modelle für Improvisation nahezu ausschließlich in der systematischen und kognitiven Musikwissenschaft entwickelt worden sind (Figueroa-Dreher 2015:47). Ihre umfangreiche Sichtung der Fachliteratur aus Soziologie, Psychologie, Musikwissenschaft, Kreativitätsforschung und Philosophie führt zu der Feststellung, dass musikalische Improvisationsprozesse im Wesentlichen durch sechs Eigenschaften gekennzeichnet sind (Figueroa-Dreher 2015:57):
- Gleichzeitigkeit von Erfinden und Ausführen von Musik (ebd.:11ff) - darin unterscheidet sich die Improvisation wesentlich von der Komposition (ebd.:18ff.);
- Undeterminiertheit bzw. Unfixiertheit des Materials, die zu Unerwartetem führen kann - diese ist graduell, sie ergibt sich je nach Art der Musik aus dem Verhältnis von Regeln und Freiräumen (ebd.:12ff);
- Kreativität als „schöpferisches Moment“, als Fähigkeit, Neues und Originelles hervor zu bringen (nicht jedoch im Sinne eines kreativen Handlungsprozesses (ebd.:23ff), dazu später mehr);
- Spontaneität - Unmittelbarkeit zwischen Impuls und Handeln, einem inneren Antrieb folgend; die Fähigkeit, spontan musikalische Sinnzusammenhänge zu produzieren, beruht jedoch auf Lernprozessen und setzt damit Erfahrung mit der Materie voraus (Figueroa-Dreher 2015:30).(ebd.:28ff);
- Automatismus - darunter werden hier generell automatisierte, hauptsächlich sensomotorische Abläufe oder technical skills gefasst, die keine Aufmerksamkeitsressourcen mehr benötigen (ebd.:30ff);
- der Interaktionsbezug - dieser wird insbesondere im Hinblick auf den Jazz als konstituierend für die Improvisation angesehen (ebd.:33ff).
Zum Aspekt der Kreativität merkt die Autorin an, der Prozess der Improvisation sei zwar kreativ, jedoch kein kreativer Prozess im Sinne der Kreativitätsforschung, da dieser die vier Phasen Präparation - Inkubation - Illumination - Verifikation (Wallas, 1926:79ff) beinhalten müsse (Bullerjahn 2005: 603-605, zitiert nach Figueroa-Dreher 2015:24). Darüber hinaus sei umstritten, „ob es sich beim Improvisieren um eine Form des Problemlösens handelt, wie es das vier-Phasen-Modell voraussetzt“ (ebd.). Sie fasst zusammen, Improvisieren stelle „eine Handlungsweise dar, die sich von anderen Formen kreativen Handelns dadurch unterscheidet, dass es nicht als problemlösendes Handeln begriffen werden kann. Die spontane Dimension des Improvisierens macht darauf aufmerksam, dass keine zeitliche Distanz zwischen Erfinden und Handeln besteht. Anstelle von Ideen werden Impulse unmittelbar in fließende Musik umgewandelt und die Phasen des kreativen Handelns, wie sie in der herkömmlichen Kreativitätsforschung formuliert wurden, erweisen sich als irrelevant bzw. inexistent“ (Figueroa-Dreher 2015:28).
Zu anderen Ergebnissen kommt die Tänzerin und Theaterwissenschaftlerin Friederike Lampert, insbesondere was die Punkte Kreativität und Problemlösung angeht. Sie nähert sich dem Thema der Tanzimprovisation aus einer kulturhistorischen Perspektive, bei der die Rolle der Improvisation im künstlerischen Tanz des 21. Jahrhunderts im Zentrum steht. Dabei interessiert sie sich weniger für eine allgemeine Improvisationsfähigkeit, wohl aber für improvisatorische Fähigkeiten, die sie unter dem Begriff „Kunst der Kombinatorik“ zusammenfasst (Lampert 2007:179):
- Ein „responsive body“ sein, ein antwortender Körper - dazu gehören das Führen und Folgen; Balance halten zwischen physischen Körpern, aber auch zwischen Innen- und Außenwelt; gestalten und gestalten lassen, senden und empfangen;
- Kombinatorische Probleme lösen - Entscheidungen treffen und zu ihnen stehen: Bewegungsmuster weiterführen, variieren oder brechen, und wann und wie lange; Kontraste schaffen, Risiken eingehen;
- Schnell denken und antizipieren - hierfür bedarf es einer hohen Aufmerksamkeit, Konzentration und Wachheit, und einer genauen Beobachtung des Geschehens, um Entscheidungen schnell zu treffen, im Fluss;
- Schnell tanzen und Risiken eingehen - akzeptieren, dass der Körper manchmal schneller tanzt als der Geist; das heißt auch: Kontrollverlust akzeptieren, ein spielerischer Umgang mit dem Risiko, mit off-balance; Überraschungen zulassen, sich auch von sich selbst überraschen lassen;
- die Imagination nutzen - neben dem im Moment Wahrgenommenen auch Impulse aus der eigenen Vorstellung (Erinnerungen, Emotionen, Bilder) Einfluss auf die Bewegung nehmen lassen;
- für die Gruppenimprovisation: die Kunst der Verschaltung, Kommunikation auf der Basis multisensorischer Wahrnehmung (Dröge 2003, zitiert nach Lampert 2007:180).
Diese Auflistung zeigt einige Übereinstimmungen mit der von Figueroa-Dreher für die musikalische Improvisation vorgestellten. Die Punkte „schnell denken“ und „schnell tanzen“ lassen sich zumindest in Annäherung dem Aspekt der „Gleichzeitigkeit von Erfinden und Ausführen“ zuordnen. Bei Figueroa-Drehers Auseinandersetzung mit dem Thema Kreativität klingt der von Lampert hervorgehobene Punkt der Imagination an, jedoch auch der Aspekt der Problemlösung. Laut Figueroa-Dreher werden beim Improvisieren jedoch gerade keine Probleme gelöst, was unter anderem die Definition von Improvisation als kreativem Akt in Frage stellt. Lampert dagegen hebt diesen Punkt als ein Grundprinzip hervor und betont: „Problem wird hierbei nicht negativ bewertet, sondern durchaus positiv, da Probleme die Kreativität der tanzenden Person antreiben“ (Lampert 2007:181).
Improvisation und Problemlösung
Die Fähigkeit zur kreativen Problemlösung spielt eine besonders prominente Rolle bei der geplanten Improvisation, die Lampert (2007:189) einerseits von der ungeplanten Improvisation, andererseits von Interpretation und Verkettung abgrenzt. Die geplante Improvisation weist demnach einen mittleren Improvisations- und Planungsgrad auf und mäandert zwischen Offenheit und Geschlossenheit, zwischen dem Fallen ins Chaos und der Wiederherstellung einer Ordnung. Basierend auf Aufgaben mit komplexen Strukturvorgaben hat die geplante Improvisation das höchste Potential, den Improvisierenden und ihrem Publikum Neues und Überraschendes zu bieten (Lampert 2007:189). Der Ansatz, künstlerische Improvisation aus einer fordernden Problemstellung heraus entstehen zu lassen, findet sich bei verschiedenen zeitgenössischen Choreograph*innen wieder, unter anderem bei William Forsythe, der von den Tänzer*innen nicht nur ein hohes technisches und künstlerisches Niveau erwartet, sondern auch herausragende Fähigkeiten im Umgang mit konzeptuellen Herausforderungen (Lampert 2007:158ff; Vass-Rhee 2010:394ff).
Ein noch grundlegenderes Verständnis von Problemlösung findet sich bei Nicolai Bernstein, einem der Begründer der modernen Bewegungswissenschaft. Bernstein betrachtet motorisches Lernen generell als einen Prozess der Anpassung, in dem gelernt wird, Bewegungsprobleme der gegebenen Situation entsprechend zu lösen (Bernstein 2014:181ff). Gelernt und geübt wird laut Bernstein nicht der exakte Bewegungsablauf, sondern das Finden von Lösungen für ein gegebenes Bewegungsproblem unter verschiedenen Voraussetzungen. Auch beim wiederholenden Üben wird nie die genau gleiche Bewegung reproduziert, da sich die Ausgangssituationen immer, wenn auch minimal, unterscheiden. Bernstein spricht hier von Wiederholung ohne Wiederholung: was tatsächlich wiederholt wird, ist nicht ein Muster von Muskelkontraktionen, sondern der Prozess der Problemlösung (Reed/Bril 2014:435). Würde tatsächlich beim Üben oder Trainieren immer exakt derselbe Bewegungsablauf wiederholt, so Bernstein, gäbe es keine Verbesserung, da auch „Fehler“ immer wiederholt würden und damit kein Fortschritt im Lernen erreicht werden könnte. Von dieser Betrachtungsweise ist der Schritt zur Problemlösung in der Improvisation nicht mehr weit - es müssen nur die Probleme entsprechend herausfordernd gestaltet werden.
Auch bei Peter Jarchow klingt die Idee der Wiederholung ohne Wiederholung an, wenn er schreibt: „Mikroskopisch betrachtet ist wohl keine Interpretation mit einer anderen deckungsgleich, sondern weist kleinste improvisatorische Unterschiede auf. Als Gegenpol gilt gemeinhin die ›Freie‹ Improvisation, die so frei nun auch nicht wieder ist, weil die Atmosphäre des Raumes, die Tageszeit, die Verfassung der Spieler und auch der Zuhörer die Improvisation maßgeblich beeinflussen, und abgesehen von dieser Bindung eigentlich nur die allererste Aktion ›frei‹ ist, denn die zweite Aktion ist für Spieler und Zuhörer nur im Zusammenwirken mit der ersten wahrnehmbar, gleich ob konform oder konträr“ (Jarchow 2019:409).
Von der Tanzimprovisation zur erweiterten Kognition
Trotz der zuvor erläuterten Nähe zwischen Musik und Tanz gibt es auch Unterschiede, die gerade in Hinsicht auf die theoretische Einbindung des Themas eine wichtige Rolle spielen. Ein wesentlicher Unterschied liegt in der zentralen Rolle des Körpers und der Untrennbarkeit von improvisierender Person und Prozess – für Tänzer*innen ist der eigene Körper nicht nur das Instrument, das es zu beherrschen gilt, der Körper ist der oder die Improvisierende selbst. Figueroa-Dreher zitiert in ihrer Studie einen Musiker mit den Worten: „Egal wie gut man Kanu fahren kann, durch Stromschnellen und alles, der Meister ist immer der Fluss. Nicht man selber und seine Künste und die Virtuosität. Der Fluss ist der Chef und dem müssen wir folgen. Und der Fluss ist die Musik“ (Figueroa-Dreher 2015:252). In Analogie zu diesem Bild könnte man hinzufügen: während Musiker*innen im Kanu fahren, schwimmen Tänzer*innen, sie sind dem Fluss noch unmittelbarer ausgesetzt.
Diese Unmittelbarkeit der Innenperspektive, dieses physische Eins-Sein mit dem schöpferischen Akt und Werk, ist ein wichtiger Aspekt bei Autor*innen, die neben ihrer philosophischen oder wissenschaftlichen Expertise auch über professionelle Tanzerfahrung verfügen. Darauf verweist auch Matthew Henley, wenn er sagt, der Tanz habe von Anfang an ein Gegennarrativ zum Cartesischen Dualismus und zu Computer-Metaphern angeboten (Henley 2021:129). Die Philosophin Maxine Sheets-Johnstone beruft sich auf ihre Erfahrung als Tänzerin und Choreographin, in der sie sich selbst tanzend in schöpferischer und forschender Einheit erlebt, in einem Zustand erhöhter Aufmerksamkeit und veränderter Selbst- und Zeitwahrnehmung: „To say that in improvising, I am in the process of creating the dance out of the possibilities that are mine at any moment of the dance is to say that I am exploring the world in movement; that is, at the same time that I am moving, I am taking into account the world as it exists for me here and now in this ongoing, ever-expanding present“ (Sheets-Johnstone 2011:422). Ähnliches findet sich bei Aili Bresnahan, die über die Zeitwahrnehmung der Tänzerin schreibt:„thinking-while-dancing takes place in an ever-changing present of which she is aware even while it is constantly changing, even if this is specious rather than the precise dividing line between future and past“ (Bresnahan 2017:343).
Michele Merritt verbindet die beschriebene Unmittelbarkeit des erlebten Denkens im Tanz mit der enaktivistischen Argumentationslinie der Kognitionswissenschaft, wenn sie schreibt: „Movement just is thought, and thought, in the case of improvisational dance, consists in the movement“ (Merritt 2013:99). Damit verweist sie auf aktuelle Diskurse in der Kognitionswissenschaft (Henley 2021:130; siehe auch Newen/deBruin/Gallagher 2018); diesen zufolge ist Kognition charakterisiert durch vier Eigenschaften („4E“), sie ist
- verkörpert (embodied)
- und durch den physischen Körper und seine sensomotorischen Schnittstellen funktional in die umgebende Welt eingebunden (embedded),
- notwendigerweise handlungsgebunden (enactive) sowie
- ausschließlich existent in der Interaktion zwischen kognitiven Systemen (extended).
Diese Auffassung lässt sich abgrenzen von eher klassischen kognitionswissenschaftlichen Perspektiven, die davon ausgehen, dass es einen kognitiven „Offline“-Modus gibt (Wilson 2002:262), in dem die Umwelt und die eigenen Handlungen intern repräsentiert werden, was ein mentales „Probehandeln“ ermöglicht (siehe Ryan/Gallagher 2020 für eine ausführliche Betrachtung dieser Ansätze im musikalischen Kontext).
Die hier vertretene Perspektive lässt sich auch anwenden auf die zuvor thematisierte Abgrenzung zwischen Improvisation und Komposition: Komposition (sowie Choreographie) beruht, zumindest potentiell, auf Kognition im Offline-Modus und damit auf internen Repräsentationen von Tönen, Klängen, Körpern, Bewegungen, Bildern, Strukturen, Konstellationen. Komponist*innen und Choreograph*innen können somit in ihrer Vorstellung schöpferische tätig sein (und damit kreativ im Sinne der Kreativitätstheorie, siehe Figueroa-Dreher 2015:24), das Werk und der Akt seiner Schaffung sind zeitlich-räumlich entkoppelt. Die Improvisation entspricht dagegen dem „4E“-Erklärungsmodell, hier entsteht und besteht das Werk unmittelbar im schöpferischen Handlungsprozess, in der Interaktion der Improvisierenden.
Denken lernen
Ausgehend von einem verkörperten, situierten, handlungsbasierten und erweiterten Kognitionsbegriff argumentieren die Philosophen Christian Kronsted und Shaun Gallagher, dass Tanzimprovisation generell die Fähigkeit zum problemlösenden und kritischen Denken unterstützt. Als maßgeblich benennen sie vier grundlegende Fähigkeiten, die durch (improvisationsbasiertes) Tanztraining gestärkt werden können:
- die Bereitschaft zur Exploration, zum Suchen von Möglichkeiten, mit der Umwelt zu interagieren (Kronsted/Gallagher 2021:41ff.). Der Psychologe James J. Gibson hat hierfür den Begriff der „Affordances“ geprägt, im Sinne von Handlungsangeboten, die uns unsere Umgebung macht (Gibson 1979). Laut Gibson beeinflussen unsere aktuellen Bedürfnisse und Absichten unsere Wahrnehmung maßgeblich, weshalb wir Objekte immer unter dem Aspekt ihrer entsprechenden Verwendbarkeit oder Zweckdienlichkeit wahrnehmen. Beim improvisierten Tanz befinden sich die Tanzenden in einem wechselseitigen ringförmigen Prozess des ständigen Schaffens und Wahrnehmens von Handlungsangeboten und Möglichkeiten zur Interaktion: mit dem eigenen Körper, mit Anderen, mit Musik, Klang, Raum, Objekten, Kräften, etc. (Kronsted/Gallagher 2021:42).
- Empathie und die Fähigkeit zur Perspektivübernahme sind grundlegende Voraussetzungen für die gemeinsame Improvisation, aber auch für die intuitive Erkenntnis, ob die aktuelle Improvisation vom künstlerischen Standpunkt aus gerade gelingt und in welche Richtung sie entwickelt werden könnte (Kronsted/Gallagher 2021:43ff.). Dabei erfordert die Improvisation
- einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit und Konzentration, mit besonderem Fokus auf die propriozeptive, kinästhetische und haptische Wahrnehmung, ein ständiges aktives „Fühlen“ und Suchen nach neuen Angeboten zur (Inter-)Aktion, und einen bewussten Umgang mit der Aufmerksamkeitssteuerung, und mit der Entscheidung, was gerade wichtig ist und was nicht (Kronsted/Gallagher 2021:48). Schließlich erfordert die Tanzimprovisation
- das Brechen von Gewohnheiten und das Verlassen gewohnter Pfade in der Bewegung sowie im Denken (Kronsted/Gallagher 2021:49ff.). Die Tanzenden befinden sich in einem hyper-bewussten Zustand, in dem Bewegungsgewohnheiten und habituierte Reaktionen erkannt, in Frage gestellt und aufgebrochen werden können und stattdessen neue Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten gesucht und gewählt werden. In der Praxis der Tanzimprovisation, so argumentieren die Autoren, kann das Erkennen und Verweigern habituierter Reaktionen und das Aushalten des durch die Gravitation des Gewohnten entstehenden Sogs geübt und auf andere Situationen übertragen werden. Das bewusste (und trainierte) Sich-Gewohnheiten-Widersetzen eröffnet neue Handlungs- und Entscheidungsräume und damit neue Ansätze beim Lösen von Problemen in verschiedenen Kontexten und Lebenssituationen.
Die von Kronsted und Gallagher auf der Basis philosophischer, kognitionswissenschaftlicher und tanzpraktischer Expertise (Christian Kronsted ist selbst Breakdance-Profi) entwickelten Ideen finden pädagogisch-didaktische Resonanz in den Unterrichtsprinzipien von Peter Jarchow. Hier orientiert sich der Lehrende primär an den Fähigkeiten der Einzelnen und der Gruppe, entwickelt Aufgaben „aus den Lernenden heraus“ und ermöglicht so den Prozess gemeinsamer Improvisation. Ein wichtiger Aspekt ist dabei der Umgang mit Regeln und Vorgaben. Die pädagogische Herausforderung, die „schöpferische Laune“ der Lernenden zu bewahren, verlangt von den Lehrenden oft ambivalentes Denken und Handeln. In Jarchows Unterricht manifestiert sich dies beispielsweise in „unlösbaren“ Aufgaben oder paradoxen Anweisungen wie „Spiel ein lautes Stück sehr leise“ oder „Mach deutlich aber unbemerkt ein Crescendo“. Zu erleben, wie in der gemeinsamen Improvisation solche unlösbaren Aufgaben doch gelöst werden und dabei originelle und musikalisch überzeugende Werke entstehen können, ist oft beeindruckend und bereichernd. Solche Improvisationen entwickeln ihre eigene Dynamik und nehmen die Improvisierenden mit auf eine Reise, in der das Unvorhersehbare den Ton angibt. Dabei können Regeln im Moment entstehen und das Geschehen bestimmen, bis sie – ebenfalls unvorhergesehen – wieder verworfen werden.
Der Umgang mit Regeln
Die Bindung an eine vom Lehrenden formulierte Aufgabe ist in Jarchows Unterricht zunächst unumstößliches Gesetz; indem die Improvisierenden diese Bindung anerkennen, lernen sie, den viel größeren Freiraum zu entdecken. Es ist dabei die Aufgabe der/des Lehrenden, den Lernenden Wege aufzuzeigen, diesen Freiraum wahrzunehmen und zu nutzen, und so ihre eigenen Möglichkeiten improvisatorischen Handelns zu erfassen und zu kultivieren. Im Unterricht formuliert Jarchow dies gerne exemplarisch so: „Ich verbiete dir, das Tempo zu verändern. Ich erlaube dir aber, dich diesem Verbot zu widersetzen.“ Oder als Antwort auf die Frage einer Teilnehmerin, ob sie auch andere als die wenigen vorgegebenen Töne spielen dürfe: „Hättest Du nicht gefragt, hättest Du gedurft!“. Das Erkennen, Annehmen und bewusste Brechen einer Regel ist ein gänzlich anderer und ein anspruchsvollerer Prozess als das bloße „tun was man will“ - diese Erkenntnis zu vermitteln ist Jarchow wichtig.
Auch der Choreograph Johnathan Burrows beschäftigt sich in seinem vielbeachteten A Choreographer’s Handbook mit dem Thema und formuliert prägnant: „The rules are only useful if they are working, and I can break them when I want, so long as I know that I’m breaking them“ (Burrows 2010:41), oder: „Try breaking the rules on a need to break the rules basis“ (Burrows 2010:41). Dass das Thema des Regelnbrechens sich auch mit dem der paradoxen Anweisungen verbinden lässt, zeigt er mit der Anregung: „If the rule is to have no rules, then maybe you could try breaking that?“ (Burrows 2010:41).
Die beschriebenen Ansätze und Aufgaben können musikalisch wie tänzerisch umgesetzt werden; sie finden jedoch auch zahlreiche Anwendungsparallelen in der Kunst, in der Pädagogik und im täglichen Leben. Das Befolgen von Regeln, insbesondere in Unterrichtskontexten und gegenüber Lehrer*innen und anderen Autoritätspersonen, ist zumeist stark habituiert und konditioniert, und ein kategorisches, unreflektiertes Sich-Widersetzen wäre sicher ungünstig, oftmals auch gefährlich. Eine gut trainierte Fähigkeit, Regeln und Vorgaben zu überprüfen, in Frage zu stellen und sie gegebenenfalls gezielt zu brechen oder von ihnen gezielt abzuweichen, kann in vielerlei Hinsicht sinnvoll oder sinnstiftend sein; darin stimmen Jarchow und Burrows mit Kronsted und Gallagher überein. Das Spektrum der Anwendungsmöglichkeiten reicht von der musikalischen und tänzerischen Improvisation über kreative Ideen in herausfordernden Situationen bis zum zivilen Ungehorsam.
Fazit
Vor dem Hintergrund dieser komplexen Zusammenhänge und verschiedenen Perspektiven sind erschöpfende Antworten auf die anfangs gestellten Fragen nach einer allgemeinen Improvisationsfähigkeit und ihrer Lern-, Lehr- und Übertragbarkeit schwer anzubieten. Jedoch lässt sich abschließend festhalten, dass die Fähigkeit zum (künstlerischen) Improvisieren aus wissenschaftlicher Perspektive auf kognitiven Prozessen basiert, die Kreativität, zielgerichtetes Handeln, kontrollierte Aufmerksamkeitssteuerung, multimodale Wahrnehmung sowie Empathie und Kommunikation miteinander verbinden. Ferner erfordert die Improvisation einen inneren Zustand, in dem kognitive Prozesse „online“, in der aktuellen Handlung und potentiell zwischen Personen stattfindet; dabei spielen - anders als bei der Komposition oder der Choreographie - „offline“-Prozesse wie mentale Simulation und interne Repräsentation eine untergeordnete Rolle. Die Fähigkeit zur Improvisation beruht offensichtlich auf verschiedenen Fähigkeiten, die eher grundlegender Natur sind als an eine Domäne gebunden, wenn auch ihre Ausprägung durch die disziplinäre Erfahrung und Expertise beeinflusst ist. Dazu gehören:
- Disziplinäre (technische) Expertise: Automatisierung grundlegender Bewegungsabläufe und Reaktionen (dies bedingt auch das „schnelle Tanzen“ bei Lampert, schnelles Klavierspielen, etc.), Expert*innenwissen auf verschiedenen Ebenen;
- Kognitive „Online“-Fähigkeiten: erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration auf das Wahrgenommene; bewusste, kontrollierte Aufmerksamkeitssteuerung, Reaktionsbereitschaft und Schnelligkeit im Denken und Handeln, Risikobereitschaft, Wahrnehmung von Interaktionsmöglichkeiten, Responsivität;
- Kognitive „Offline“-Fähigkeiten: Imagination, Fantasie, Zugang zu inneren Impulsen, Erinnerungen und Emotionen;
- Soziale Fähigkeiten: Empathie und Perspektivübernahme, multimodale Kommunikation, „Verschaltung“ mit Anderen, Geben und Nehmen;
- „Höhere“ kognitive Fähigkeiten („Denken“): Probleme lösen, Entscheidungen treffen und zu ihnen stehen, Bereitschaft zum Abweichen von Gewohnheiten und Verlassen der Komfortzone, Infragestellen von Regeln und Vorgaben.Die meisten dieser Fähigkeiten sind nicht an eine künstlerische Domäne gebunden, wenn man von konkreten technischen Fertigkeiten und dem Kennen der jeweiligen Regelwerke absieht. Andere haben eine disziplinspezifische Ausprägung hinsichtlich der primär beteiligten Sinnesmodalitäten oder der Rolle des Körpers. Viele dieser Fähigkeiten, insbesondere die letzteren, sind potentiell unabhängig von der Domäne; sie lassen sich sowohl durch improvisatorische Aktivitäten in Musik und Tanz trainieren und auf andere Lebensbereiche übertragen, als auch aus anderen Lebensbereichen heraus auf die künstlerische Improvisation anwenden. Die Prozesse, die der musikalischen und künstlerischen Improvisation zugrunde liegen, spielen auch beim Lösen konzeptueller Probleme und beim kritischen Denken in Alltagssituationen eine Rolle und können diese unterstützen. Dies wirft ein helles Licht auf den musikalischen und tänzerischen Improvisationsunterricht - nicht im Sinne von „Musik bzw. Tanz macht intelligent“, wohl aber im Sinne von „musikalische und tänzerische Improvisationen trainieren das Denken“ - für jede Person und Gesellschaft, in Krisen- und in anderen Zeiten.