Mediopassives Musizieren: Ein Modell für elementare Gruppenimprovisation im inklusiven Kontext?!
Abstract
Improvisation ist als eine gängige Musikpraxis Teil formaler wie non-formaler (musikalischer) Bildungsprozesse, z.B. in der elementaren Musikpädagogik (EMP), der Community Music oder auch im schulischen Musikunterricht. Vor dem Hintergrund inklusiver Anforderungen an Kulturelle Bildung rückt die Bedeutsamkeit des Gemeinsamen im musikalischen Lernen in den Vordergrund. Wir fragen in unserem Forschungsprojekt danach, wie Gruppenmusizieren und Improvisieren im inklusiven Kontext gelingen kann, wenn als Zieldimensionen neben der psychosozialen, gleichermaßen die ästhetische, am künstlerischen Musizieren orientierte Dimension, hinzutritt. Eine mediopassive Einstellung erweist sich, so die These, als günstig, um situationssensitiv im Sinne der Orientierung am Künstlerischen improvisieren zu können.
In unserem Beitrag wird mit dem Mediopassiven Musizieren ein elementarer, gemeinsamer Unterrichtsgegenstand und das zugehörige didaktische Modell vorgestellt. Dieser erweist sich, als eine musikalische Handlungsdisposition, insbesondere für Improvisationsprozesse als relevant.
Einleitung
In unserem Forschungsprojekt „MUSINC – Music inclusive“ gehen wir der Frage nach, wie sich (vielfältiges) künstlerisches Musizieren, wozu wir auch das Improvisieren zählen, in inklusiven Gruppenunterrichten besonders gut entfalten kann. Dabei verfolgen wir ein weites Inklusionsverständnis, das auf gesellschaftliche Teilhabe abzielt (vgl. Werning, 2017:19).
Den Begriff des künstlerischen Musizierens entlehnen wir von Michael Dartsch, der die künstlerische Qualität, John Dewey folgend, an der Auseinandersetzung und der Einstellung der Musizierenden gegenüber ihrem Material festmacht (Dartsch 2019:45ff). Es handelt sich um einen weiten Musikbegriff, der alle Umgangsweisen mit Musik beinhaltet (im Sinne der EMP zählen dazu auch Tanz und Sprache). Dartsch fokussiert in seinen Überlegungen vor allem die Beziehung zwischen Subjekt und Material; wir möchten diesen Begriff um die soziale Beziehungsebene erweitern, da diese gerade für den inklusiven Kontext von Bedeutung ist.
Als Ausgangspunkt wählen wir zunächst Überlegungen für das Gelingen von Gruppenimprovisationen, um von dort aus das Mediopassive Musizieren als elementaren Gegenstand zu konturieren. Anhand von Beispielsituationen aus unseren Forschungsdaten, wie im folgenden Absatz beschrieben, erläutern wir anschließend das zugehörige didaktische Modell und stellen die Zusammenhänge zur Gruppenimprovisation in inklusiven Gruppen dar. Dabei verfolgen wir die These, dass sich das Mediopassive Musizieren als elementarer, gemeinsamer Unterrichtsgegenstand für das Improvisieren in inklusiven Kontexten besonders anbietet, da Mediopassivität als eine Einstellung zwischen aktiv und passiv – in Anlehnung an Hartmut Rosa (2019) – sowohl gelingende künstlerische als auch soziale Prozesse und Beziehungen begünstigt.
Forschungsrahmen
Unser Forschungsprojekt baut auf den methodologischen Überlegungen der Grounded-Theory-Methodologie (kurz GTM) nach Anselm L. Strauss (vgl. Strauss 1998) auf, da sich ein explorativer Zugang in zirkulärem Ablauf sowie die Erhebung verschiedener Daten in Auseinandersetzung mit theoretischen Überlegungen angeboten hat.
Bei den Datensätzen handelt es sich um videografierte Seminarsitzungen über zwei Semester (2021/22), 16 transkribierte Gruppendiskussionen mit Studierenden, videografierte Unterrichtseinheiten unserer inklusiven Lehrpraxisgruppe (2022) sowie Forschungstagebücher.
Die Stunden von „MUSINC“ sind im Sinne unseres Modells (siehe unten) aufgebaut. Es handelt sich um eine inklusive Musikpraxis Gruppe, bestehend aus derzeit 11 Kindern bzw. Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren, die sich wöchentlich trifft. Zudem nehmen in jeder Stunde 2 Dozentinnen sowie Studierende der Elementaren Musik- und Tanzpädagogik und Lehramt Sonderpädagogik/Musik teil. Ziel der Stunden ist es, im Sinne der EMTP vielfältig künstlerisch zu musizieren, also mit unterschiedlichen Ausdrucksmedien zu gestalten.
Gelingensaspekte von Gruppenimprovisationsprozessen
Über das Wesen und die Aspekte des Gelingens von musikalischer Improvisation wurde schon vielfältig aus verschiedenen Perspektiven wie Musikpädagogik, Soziologie und Improvisationsdidaktik publiziert (u. a. Gagel 2010, Beidinger 2014, Weber 2020, Figueroa-Dreher 2016, Rüdiger 2015). Dabei kristallisieren sich wesentliche Aspekte heraus. Für Werner Beidinger (2014) ist „Das Gelingen bzw. eine qualitativ hohe Einstufung des Improvisationsergebnisses [ist dabei] nicht von der Virtuosität, sondern vielmehr vom Level des Beteiligt-Seins, von der Bereitschaft des Zulassens oder dem Grad an entstandener Kommunikation abhängig. Die Qualität des Ergebnisses beruht auf dem gemeinsamen Gestaltungswillen: Die Improvisation kann somit zwar voller Zufälle, aber nie beliebig sein!“ (Beidinger 2014:106). Die künstlerische Qualität entsteht Beidinger zufolge durch den Gestaltungswillen, der Beliebigkeit ausschließt, was nach Dartsch (2019) mit künstlerischem Musizieren zu fassen wäre. Bei Weber (2020), Gagel (2022), Rüdiger (2015) und Figueroa-Dreher (2016) finden sich ähnliche Aspekte. Hier zeigen sich als zentrale Kategorien und Komponenten des improvisatorischen Handelns u.a.:
- eine offene Haltung und Situationsflexibilität (Figueroa-Dreher 2016): Darüber hinaus auch eine „notwendige Überraschungskompetenz, bei der die Spieler auch ertragen müssen, dass etwas Unangenehmes, Verwirrendes oder Nicht-Gelingendes passiert, auf das man keinen Einfluss hat.“ (Gagel 2010:53)
- Reflexions- und Handlungskontrolle: „wollen sich Musiker nicht mit jedem nur möglichen Klangergebnis zufriedengeben, werden Operationen der Kontrolle, Reflexion und Steigerung der musikalischen Handlungen relevant“ (Eckhardt 1995:298, zit. Nach Weber 2020:145). Erst eine Mischung aus Intuition und Bewusstheit führt zu einem Zustand, „bei dem sich das Unvorhergesehene nicht nur einfach vollzieht, sondern auch eine packende Qualität oder verwandelnde Kraft haben kann.“ (Mäder et al. 2013:9)
- Wissensrepertoire und Strategien zur Generierung von Material: Eine Flexibilität und Qualität wird dadurch ermöglicht, dass Musiker*innen „durch intensives Üben einen hohen Grad an Spielerfahrung und dadurch an Kenntnis ihres Instruments erreichen.“ (Figueroa-Dreher 2016:169)
- Hören und Interaktion: „Insbesondere interaktive und dialogische Aspekte stellen sowohl konstitutive Momente für das gemeinsame Musizieren in Gruppenimprovisationen dar, als auch für den Erwerb der hierzu notwendigen generativen Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (Weber 2020:152). Die Ideenfindung geschieht innerhalb der Interaktion zwischen den Musiker*innen, in der das musikalische Repertoire aller Spielenden genutzt werden kann.
Mediopassivität als Disposition
Den Begriff Mediopassivität verwenden wir in Anlehnung an Hartmut Rosa (2019). In den indogermanischen Grammatiken existiert das Medium oder Mediopassiv als Genus Verbi zwischen Aktiv und Passiv und drückt zwar eine unmittelbare Auswirkung auf die Handelnden aus, allerdings ohne dass diese die Handlung selbst ausführen (vgl. Lühr 2012). Hartmut Rosa nutzt den Begriff des Mediopassiven aus soziologischer Perspektive, um eine bestimmte Einstellung zur Welt zu beschreiben, die „unter anderem ein zumindest partielles Aufgeben der Situations-, Impuls- und Handlungskontrolle sowie selbstzensierender Instanzen [impliziert] und [...] mit dem Erleben eines entspannten, aber aktivierten Zustandes und einer spezifischen Konzentration und Wachheit im Hier und Jetzt [einhergeht]“ (Pfleiderer/Rosa 2020:35). Rosa beschreibt also ein Weltverhältnis, das von jeweils wechselseitig konstitutiven Beziehungen ausgeht, in denen nicht die eine Seite Täter*in oder Ausübende*r, also aktiver Part einer Handlung und die andere Opfer, Erleidende*r, folglich passiver Part ist, sondern sich die Beziehungen wechselseitig als Dialog zwischen beiden Seiten vollziehen (vgl. Rosa 2019:47). Beim gemeinsamen Improvisieren wird auf vielfältige Weise musikalisch gehandelt und interagiert. In einer mediopassiven Einstellung können sich musizierende Personen als handelnd erfahren, ohne das Geschehen zu kontrollieren. Hartmut Rosa zufolge kann eine mediopassive Einstellung als Voraussetzung für gelingende musikalische Selbst-Welt-Beziehung gefasst werden.
Am Beispiel des Tanzens eines Tangos lässt sich dies recht eindrücklich nachvollziehen. Der Tanz als solcher emergiert als ein Drittes zwischen zwei Tanzenden und somit auch Kommunizierenden – im argentinischen Tango auch improvisierenden – Partner*innen, wobei zwischenzeitlich auch nicht mehr klar sein muss, welche*r der beiden eigentlich entsprechende Impulse aussendet und ob diese nicht sogar auch vom Tanz selbst ausgehen können.
Mediopassivität als Unterrichtsgegenstand
Zunächst war es notwendig, Mediopassivität als Gegenstand von Unterricht zu erfassen. Dafür stand die Phänomenologie des Unterrichts nach Wolfgang Sünkel Modell. Anhand dieser ließen sich Erkenntnisse aus der künstlerischen Forschung mit Studierenden (siehe Absatz zum Forschungsrahmen) zum Gegenstand Mediopassives Musizieren verdichten (Leinen-Peters/Niggemeier 2023, i.V.). Im Sinne Sünkels ist ein Unterrichtsgegenstand keine Zusammenstellung von Informationen, die als Wissensbeständen in die Köpfe von Lernenden gelangen sollen, sondern im Begriff des Unterrichtsgegenstands selbst ist das Bildungsziel enthalten. Die Formulierung des Unterrichtsgegenstands ist gleichzusetzen mit einer Beschreibung des Leit- oder Bildungsziels, auf das die Themen und Aufgabenstellungen des Unterrichts ausgerichtet sind und in dem sie ihre Begründung finden. Unterrichtsgegenstände fasst Sünkel als objektivierte Tätigkeitsdispositionen und meint damit dasjenige, was sich Schüler*innen im Unterricht im Hinblick auf ihre eigenen Fähigkeiten aneignen. Ihre Arbeit besteht darin, die objektivierte Tätigkeitsdisposition (in unserem Fall das Mediopassive Musizieren) in eine subjektive zu verwandeln (vgl. Sünkel 1996:81). Dies geschieht anhand von Problemen, die es handelnd zu lösen gilt. Lehrende müssen dafür den Gegenstand problematisieren, das heißt, ihn so strukturieren, dass sich den Schüler*innen der Sinn auf einer subjektiven Ebene erschließt. Tätigkeitsdispositionen enthalten auch immer Willensbestandteile (vgl. Sünkel, 1996:70). Dafür müssen Lehrende die Struktur des Gegenstands (sog. Strukturmomente, die aus einzelnen identifizierbaren Kenntnissen, Fertigkeiten und Motiven bestehen) erfassen und aufbereiten. Der Unterrichtsgegenstand artikuliert sich nach dieser Problematisierung in Aufgaben und Unterrichtsthemen.
Für das Mediopassive Musizieren konnten wir folgende Strukturmomente identifizieren:
- Situationssensivität
- Vertrauen und Kontrollverlust
- Selbstwirksamkeitserwartung
- Bereitschaft zur Offenheit
Die Strukturmomente sind Ergebnisse aus unserer Kodierarbeit nach Grounded-Theory-Methodologie und aus dieser als verdichtete Schlüsselkategorien hervorgegangen. Durch theoretisches Sampling und selektives Kodieren konnten die Strukturmomente des Gegenstandes zu Schlüsselkategorien verdichtet werden. An den Kodierprozess sind wir zunächst mit den drei von Sünkel genannten Bestandteilen von Unterrichtsgegenständen (Motive, Kenntnisse und Fertigkeiten) an das Material herangetreten, haben dann aber in Auseinandersetzung mit dem Material von dieser strikten Unterteilung Abstand genommen, da sie der Struktur des von uns auszumachenden Gegenstandes nicht gerecht wurde.
Wie diese als Unterrichtsthemen problematisiert werden können, soll nachfolgend anhand eines Praxisbeispiels sowie unseres Modells gezeigt werden.
Wichtig scheint dabei für die Arbeit am Gegenstand Mediopassives Musizieren, dass parallel verschiedene Strukturmomente thematisiert werden können und sollten. Dies kann durch kleine Änderungen der Spielform und verbale Hinweise geschehen. Jede*r kann auf seinem*ihrem musikalischen Niveau teilhaben. Aus Ausprobieren wird Improvisieren und gemeinsames Gestalten. Der gemeinsame Unterrichtsgegenstand Mediopassives Musizieren ist dahingehend anschlussfähig an Georg Feusers Modell des Gemeinsamen Gegenstandes, da auch Feuser mit dem Begriff Gegenstand keinen materialen Gegenstand oder konkreten Lerninhalt bezeichnet, sondern den zentralen Prozess hinter den Dingen, der diese hervorbringt (Feuser 1989:32). Bei Feuser handelt es sich allerdings bei dem Gemeinsamen Gegenstand, seinem prominenten Beispiel des Gemüseeintopfs folgend, um den „Prozess, der von einem Zustand zum zweiten Zustand führt“ (Feuser 1989:32). An diesem Prozess können Schüler*innen auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus teilhaben. Die Tätigkeitsdisposition, die sich Schüler*innen aneignen sollen bleiben in Feusers Ausführungen ungenau. Sünkel folgend wäre der Unterrichtsgegenstand die objektivierte Tätigkeitsdisposition zum Kochen einer Gemüsesuppe, die verschiedenen Abstraktionsniveaus (Feuser) entsprechen einzelnen Strukturmomenten dieses Gegenstands (Sünkel).
Zum Verhältnis von Mediopassivität und Improvisation
Die Beziehung zwischen Mediopassivität und Improvisation soll an einigen Beispielen erneut hervorgehoben werden. Wie bereits dargestellt, sind Beidinger (2014) folgend für improvisatorisches Handeln u.a. die Merkmale “beteiligt sein”, “Bereitschaft sich auf etwas einzulassen” und eine möglichst “hohe Kommunikationsdichte” sowie der “gemeinsame Gestaltungswille”, im Sinne eines künstlerischen Musizierens von Bedeutung. Figueroa-Dreher (2016) zufolge zeichnet sich der Prozess des Improvisierens durch eine starke Betonung des gegenwärtigen Geschehens aus, was von den Musiker*innen eine starke Wahrnehmung (Situationssensibilität) der Gegenwart verlangt: „Alle Techniken und Tricks bewirken nichts, wenn sich der Improvisator gegenüber den Möglichkeiten des Moments nicht offen zeigt.” (Figueroa-Dreher 2016:34)
Für Schatt (2022) ist das Unverfügbare ein wesentlicher Teil der Improvisation, nämlich die „Eigenart des Prozesses des Emergierens” von unvorhergesehener, neuartiger Bedeutung. Gerade in der Öffnung für das Unverfügbare liegt ihm zufolge ein Akt der Befreiung von unreflektierten gesellschaftlichen Geltungsansprüchen. Diese Akte der Befreiung sind nach Schatt wiederum Aufgabe von Bildung und beruhen auf der Emergenz neuer und neuartiger (Möglichkeiten) musikbezogener Bedeutungszuweisungen (vgl. Schatt 2022:248). Die Wahrnehmung der Atmosphäre einer Situation, also ein Gespür dafür, die Umgebung mit all ihren Eigenschaften in jedem Moment wahrzunehmen, nennt er als notwendige Bedingung für Improvisation.
Das Potenzial von Mediopassivität als eine Einstellung des Dazwischens wird an dieser Stelle erkennbar. So wird auch Improvisieren mitunter als Haltung bestimmt (u.a. Gagel, 2010), die unter anderem durch Aspekte wie Annahme, Akzeptanz und Komplexität geprägt ist und bewusst eingenommen bzw. erworben und gelernt werden kann (vgl. Gagel 2010). Improvisieren braucht das Wechselspiel zwischen Sicherheit und Kontrollverlust, um auf Unvorhergesehenes aus dem Moment heraus zu reagieren und das Besondere, das qualitativ Intensive, zu ermöglichen. In einer mediopassiven Einstellung können sich musizierende Personen gleichzeitig als handelnd erfahren, ohne das Geschehen zu kontrollieren.
Wir gehen davon aus, dass eine mediopassive Disposition improvisatorisches Handeln begünstigt und ebenso ein Unterricht, der Mediopassives Musizieren als Gegenstand fokussiert. Neben der musikalischen Improvisation als eine mögliche Musikpraxis von Musikunterricht, kann auch der Musikunterricht selbst als eine Abfolge von Situationen verstanden werden, die durch Unvorhersehbares und Ungeplantes geprägt, kreatives Handeln (Joas 1996) oder auch improvisiertes Handeln (Bertram 2021) erfordert - von den Lernenden und Lehrenden. Auch hierfür scheint eine mediopassive Disposition eine günstige Voraussetzung zu sein.
Mediopassives Musizieren lehren und lernen – ein Modell
Nachdem nun der Unterrichtsgegenstand Mediopassives Musizieren konturiert wurde, stellt sich die Frage, wie dessen Strukturmomente im Unterricht problematisiert und zum Thema werden können. Dafür haben wir ein Unterrichtsmodell entwickelt, in dem wir a) künstlerisch mit Studierenden, b) durch Auseinandersetzung mit den musikpädagogischen Ansätzen der EMP und Schulmusik, c) durch Erprobung und Weiterentwicklung des Modells im inklusiven Setting (Gruppenunterricht) geforscht haben. Dabei wurden vorhandene Ansätze (Phasen oder Aktivierungsketten, wie sie sich u.a. bei Dartsch (2019) oder Beidinger (2014) finden) in der inklusiven Unterrichtspraxis ausprobiert und im Sinne unseres Unterrichtsgegenstandes Mediopassives Musizieren modifiziert und/oder angereichert. Im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie wurde das Video- und Interviewmaterial kodiert und mit dem theoretischen Rahmen in Beziehung gesetzt. Dadurch konnten folgende Schlüsselkategorien bzw. Unterrichtsphasen (siehe Tabelle) herausgearbeitet werden:
Kategorien/Phasen |
Definition |
Ankerbeispiele |
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Sensibilisieren |
In der Phase der Sensibilisierung wird die Kontemplation in ein spezifisches Phänomen, ein Klang oder ein Thema durch das Thematisieren der Sinnestätigkeiten angestrebt. Ziel ist es, durch die Phase der Sensibilisierung eine differenzierte Wahrnehmung („geschärfte Antennen”) als notwendige Voraussetzung für künstlerisches Musizieren im weiten Sinne bei den Teilnehmenden zu erreichen. Die Phase der Sensibilisierung leitet häufig Musikstunden ein und bietet eine günstige Vorbereitung weiterer Phasen, kann aber auch im Verlauf der Stunde immer wieder eingebaut werden. |
Die Kinder werden aufgefordert, die Augen zu schließen und den Weg einer sich durch den Raum bewegenden Klangquelle innerlich mitzuvollziehen. |
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Explorieren |
In den Phasen des Explorierens stehen die Aktivitätsformen des Ausprobierens, Entdeckens und Übens im Vordergrund. Eingeführte Materialien (musikalische und gegenständliche) zu erforschen und musikalische Fertigkeiten zu erwerben, sind das Ziel dieser Phase.
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Die Kinder erforschen verschiedene Klänge und Spielweisen mit dem Material Stein. Sie üben verschiedene Möglichkeiten der rhythmischen Synchronisation im gemeinsamen Spiel aus. |
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Die Kinder erforschen fließende Bewegungen. Was ist fließend? Wie kann mein Körper sich fließend im Raum bewegen? Welchen Unterschied gibt es zu nicht fließenden Bewegungen? |
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Fantasieren |
In Phasen des Fantasierens stehen gestalterische Tätigkeiten im Vordergrund des Musizierens. Dazu gehören das
Günstig für Unterricht ist es, in der Phase des Explorierens ggf. benötigtes Handwerk zu thematisieren, welches für das Fantasieren z.B. thematisch von Relevanz ist. Die Phase des Fantasierens steht häufig im Zentrum einer Musikstunde. |
Die Kinder gestalten gemeinsam ein Lied mit Stimme, Bewegung, Instrumentalspiel. Die Instrumentalbegleitung haben sie selbstständig gewählt. Sie legen auch Gestaltungsparameter wie z.B. Dynamik fest. |
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Eine grafische Partitur wird gemeinsam interpretiert. Die Kinder können differenziert ihre Gestaltungsmittel auswählen und verwenden. |
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Eine Improvisation zum Thema „Gegeneinander” wird gemeinsam gestaltet. |
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Nachvollziehen |
In dieser Phase geht es um das Nachvollziehen musikalischer Regeln und Strukturen. Dieses geschieht in Aktivitäten wie Rekonstruktion, Integration und Reproduktion. Ebenfalls gehört das Reflektieren und Verstehen von Musik zum Nachvollziehen.
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Die Kinder lernen im “Call and Response” - Verfahren ein Lied. Sie nähern sich der musikalischen Form an. |
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Die Kinder hören ein Musikstück mit Höraufgabe (wie viele Teile erkennst du? Welche Gefühle löst das Musikstück in dir aus?) und tauschen sich im Anschluss über das Gehörte aus. |
Wenn im Zentrum einer Musikstunde/Musiziereinheit das Fantasieren, beziehungsweise Improvisieren steht, hat sich in Auseinandersetzung mit Werner Beidinger (2014) und Michael Dartsch (2019) eine möglichst fruchtbare Phasenreihenfolge ergeben: Sensibilisieren, Explorieren, Nachvollziehen und Fantasieren (vgl. Abb.: 2).
Unser Modell zeigt auf der Unterrichtsebene verschiedene günstige Pfade von Unterrichtsphasen, hier mit den verschiedenen Farben dargestellt. Besonders günstig für (inklusive) Gruppenmusizierprozesse hat sich in der Praxis der „blaue Pfad” (Sensibilisieren, Explorieren, Fantasieren) erwiesen. Über die Sensibilisierungsphase haben die Kinder und Jugendlichen die Chance, sich in ein Phänomen einzufühlen, bzw. einzustimmen. In der Exploration werden anschließend die benötigten Materialien, Phänomene, Klänge etc. ausprobiert und geübt, die später für die Phase der Improvisation (Fantasieren) relevant sind. Dadurch können die Teilnehmenden ihr Repertoire entwickeln und erweitern, dass ihnen anschließend selbstwirksames Musizieren ermöglicht (siehe Beispiel 3). Die Übergänge zwischen den Phasen sind in der Unterrichtspraxis zum Großteil fließend und können auch einer hin und her Bewegung folgen. So kann z.B. aus dem Ausprobieren eines Instruments bereits ein gestalterisches Element entstehen, welches sich von einem bewusst gestaltenden Fantasieren nicht mehr ganz lösen lässt. Genauso lässt sich aber nach einer Explorationsphase wieder eine Sensibilisierung anschließen. Für die Ausgestaltung der verschiedenen Phasen braucht es natürlich auch Unterrichtsmethoden, das Beachten von Gruppenformen sowie die eigene Lehrendenprofessionalität. Anhand von Beispielen aus unseren Forschungsdaten möchten wir nun Möglichkeiten zur Problematisierung von Strukturmomenten in den einzelnen Phasen zeigen.
Illustration des Modells und der Strukturmomente anhand dreier Beispiele
Welche Strukturmomente Mediopassiven Musizierens können in den verschiedenen Unterrichtsphasen thematisiert werden? Wir möchten dies durch die Analyse dreier besonders prägnanter Unterrichtsmomente exemplarisch veranschaulichen.
I. Sensibilisieren
Beim ersten Beispiel handelt es sich um einen Ausschnitt aus einer Sensibilisierungsphase. In dieser Phase wird das Material „Stein“ eingeführt. Eine vertiefte Wahrnehmung der eigenen taktilen Sinnestätigkeit wird durch die Aufforderung, die Augen zu schließen, angestrebt. In der Unterrichtsphase werden die Strukturmomente, Bereitschaft zur Offenheit (1), Kontrollverlust und Vertrauen (2) sowie Situationssensivität (3) thematisiert. Dies geschieht u.a. (1) durch die Spielregel/den Vers „Schließ die Augen ganz fest zu und spüre dann was bekommst du“ (das klappt noch nicht bei allen Kindern), (2) durch den Rätselcharakter des Verses, (3) durch den Inszenierungsmoment, der geprägt ist durch einen rätselhaften, außeralltäglichen, künstlerischen Sprachgebrauch (Form, Artikulationsweise und Gestik der Lehrperson).
Durch die Thematisierungen entsteht eine offene Situation für die Kinder (sie wissen nicht, was sie bekommen).
II. Explorieren
Auf diesem Bild ist ein Moment der Explorationsphase aus derselben Unterrichtsstunde zu sehen. In dieser Phase wird das Material „Stein“ und seine Beschaffenheit gemeinsam ausprobiert und hinsichtlich seiner Klangqualitäten untersucht. Auf dem Bild ist ein Moment der musikalischen Exploration des Materials festgehalten. In der Phase wird zum einen der Strukturmoment Selbstwirksamkeitserwartung/Fertigkeiten (Synchronisation, verschiedene Spielweisen, motorische Koordination mit Partner*in, Klangvielfalt wahrnehmen) thematisiert. Dies geschieht durch die verbale Anleitung und Aufgabenstellungen der anleitenden Person, wie „Können wir alle gleichzeitig spielen?“ und „Spielt mal so wie…“ sowie Fragen, die ein Ausprobieren initiieren: „Welche Klänge können wir finden?“. Zudem werden auch kleine Impulse (Spielweisen) der Kinder von der anleitenden Person wahrgenommen und für alle konkretisiert und vergrößert.
Die Strukturmomente Situationssensivität und Vertrauen/Kontrollverlust werden durch Impulse und Spielideen der anleitenden Person wie “Macht mal die Augen zu!”, „Ist eure Spielweise angenehm für die andere Person, wie reagiert sie?“ und „Baut eine 4er-Handrassel!“ oder „Spiel deiner Partnerin einen Klang vor!“ thematisiert.
Durch die Thematisierungen werden psychosoziale und ästhetische Dimensionen oftmals zugleich angestrebt.
III. Nachvollziehen/Improvisieren
In dem dritten Beispiel ist eine Situation aus den Unterrichtsphasen Nachvollziehen/Fantasieren (Improvisieren) zu sehen. In dieser Phase soll die Gruppe einem eingespielten Musikstück folgen und auf die musikalische Form mit Bewegungen reagieren. Die Formteile des Musikstücks sind aufgrund der starken Kontraste gut herauszuhören: Es besteht aus mehreren sich wiederholenden Teilen, die von einem Accelerando geprägt sind. Unterbrochen werden diese wiederkehrenden Teile durch einen langen Liegeton. In dem Accelerando-Teil soll von den Tanzenden mit runden Bewegungen improvisiert (fantasiert) werden, auf dem langen Liegeton sollen sich alle im Stehkreis treffen. Es gab zuvor eine Phase des Ausprobierens von runden Bewegungsqualitäten, auf die nun zurückgegriffen werden kann.
Diese Unterrichtssituation ist also geprägt von zwei Phasen: Nachvollziehen und Fantasieren. Die Spielaufgabe verlangt ein Nachvollziehen der Form sowie ein Fantasieren mit bereits vertrautem Material. In diesen Phasen wird das Strukturmoment Selbstwirksamkeitserwartung durch verbale Anleitungen der Lehrperson wie „Folge der Musik!“ (Formteile der Musik verstehen) und „Tanze mit runden Bewegungen/kreisrund! Probiere aus und fantasiere im A-Teil!“ thematisiert.
Fazit
Auf Grundlage unserer entfalteten Überlegungen und den Forschungsergebnissen, lässt sich festhalten, dass Mediopassives Musizieren einen elementaren Unterrichtsgegenstand für Musikunterricht darstellt: Eine mediopassive Disposition ist eine günstige Voraussetzung für gelingende Musizierpraxen und insbesondere auch für das Improvisieren, da den Strukturmomenten Indikatoren für gelingende Gruppenimprovisationsprozesse innewohnen.
Der Unterrichtsgegenstand Mediopassives Musizieren zielt sowohl auf die psychosozialen, als auch die ästhetisch-künstlerischen Dimensionen von Musizierprozessen ab und sollte somit als ein gemeinsamer Gegenstand vor allem auch in inklusionsorientierten Kontexten im Fokus der Unterrichtsplanung stehen. Dabei entfaltet sich der Unterrichtsgegenstand mit seinen Strukturmomenten vornehmlich in der Fokussierung verschiedener Phasen.
Kritisch anzumerken bleibt an dieser Stelle, dass das bisherige Forschungssetting an einer Musikhochschule (durch u. a. personelle und zeitlich sowie räumlich vorhandene Strukturen und Ressourcen), kaum mit der Unterrichtsrealität in einer Schulklasse oder Gruppenunterrichten an Musikschulen vergleichbar ist. Lehrende benötigen zeitliche Ressourcen für intensiven Austausch mit den Bezugspersonen sowie für die Planung und Nachbereitung der Stunden. Auf Grundlage unserer bisherigen Forschung halten wir ein Tandem von Lehrenden mit einer Gruppengröße von maximal 10 Teilnehmenden für unbedingt erforderlich.
Alternativ müssten die Gruppen sehr viel kleiner sein oder die Bezugspersonen der Kinder und Jugendlichen an den Stunden teilnehmen. Weiter stellt sich die bildungspolitische Frage, wie die Rahmung verändert werden kann und muss, um eine inklusive musikalische Praxis in diesem Sinne zu ermöglichen. Ebenso müssen Leitende der Musikschulen und Schulen sensibilisiert werden für die besonderen Bedarfe einer derartigen Unterrichtspraxis und der benötigten zeitlichen wie finanziellen Ressourcen. Hierfür wird im Austausch mit Musikschulen im Leipziger Raum versucht, kooperativ inklusive Musikgruppen zu etablieren.
Zukünftig ist die Perspektive der Kinder und Jugendlichen stärker zu berücksichtigen. Eine mögliche Fragestellung für weitere Forschung ist dabei die Veränderung des musikalischen und sozialen Selbstbildes durch einen Unterricht, der Mediopassives Musizieren als übergeordneten Unterrichtsgegenstand fokussiert. Darüber hinaus unternehmen wir im Austausch mit den Kolleg*innen vor Ort den Versuch, Praxen Mediopassiven Musizierens in künstlerisch-pädagogischen Seminaren im Studiengang EMTP zu etablieren. Auch wäre ein Austausch mit anderen ästhetischen Praxisfeldern interessant. Hier könnten Fragen hinsichtlich der Relevanz des Konzepts Mediopassivität für die Bildende Kunst und freie Kunst von Interesse sein.