Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung
Abstract
Der Artikel ist der erste in einer Reihe von fünf Aufsätzen, in denen Miriam Haller Judith Butlers Geschlechter-Theorie von „Gender trouble“ (1990) auf die kulturelle Konstruktion des Alters und Alterns transferiert und die transdisziplinäre Tragweite eines Konzepts von ‚Ageing trouble‘ als kulturelle Performanz und Performativität von Altersidentitäten überprüft. In diesem (1.) Aufsatz wird das Konzept für die Analyse von Altersstereotypen und deren resignifizierender Neueinschreibung in literarischen Texten angewendet. Der Artikel gibt einen kursorischen Überblick über die Stereotypenbildung des Alter(n)s in der Literaturgeschichte, die sich strukturell in die Topoi des Alterslobs, der Altersklage und des Altersspotts untergliedern lässt. Darauf aufbauend wird gefragt, ob sich in der neueren Literatur Indizien für performative Neueinschreibungen von Altersstereotypen im Sinne eines differenzierteren und vielfältigeren kulturellen Alter(n)skonstrukts finden lassen. Aus der performativitätstheoretischen Analyse der Schreibweisen dieser Neueinschreibungen werden schließlich generellere Aussagen und weiterführende heuristische Hypothesen über mögliche Strategien kultureller Neueinschreibungen von stereotypen Altersbildern abgeleitet.
Die psychologische und soziologische Alter(n)sforschung konstatiert eine Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und dem Fremdbild älterer Menschen, die empirisch untermauert ist: „eine Diskrepanz zwischen dem, was man als älterer Mensch noch tun möchte und durchaus noch tun kann – und dem, was die anderen Menschen von einem erwarten“ (Lehr 2000:199f.). Deshalb müsse – so die Gerontologin Ursula Lehr – der bekannte Satz „man ist so alt, wie man sich fühlt“ abgeändert werden in die Feststellung: „Man ist so alt, wie man sich auf Grund der Haltung der Gesellschaft oder der mitmenschlichen Umwelt einem selbst gegenüber fühlt“ (Lehr 2000:199f.). Dies führe dazu, „dass man als ‚Älterer‘ vielfach seinen Lebensraum beschränkt, vielfach Dinge nicht mehr tut, die man an sich noch gut tun könnte und die einem auch Spaß machen – nur, weil das ‚dumm‘ aussehen könnte, weil andere darüber lächeln“ (Lehr 2000:199f.). Das Beispiel, das Ursula Lehr für diese Form vorauseilenden Gehorsams Älterer wählt, erscheint zunächst harmlos, verursacht aber bei näherer Betrachtung die ärgsten Befürchtungen ob der weitgreifenden Einschränkungen, denen sich ältere Menschen in ihrem Verhalten unterworfen sehen: „Manche ältere Menschen, die z.B. gern einmal ein Tänzchen wagen (was auch von medizinischem Standpunkt in vielen Fällen gutgeheißen, wenn nicht sogar angeraten wird als ‚natürliche Form der Bewegungstherapie‘) verzichten darauf, nur weil ‚man es in dem Alter nicht mehr erwartet‘“ (Lehr 2000:199f.). Das Selbstbild und das Verhalten von Älteren wird also sehr weitgehend durch gesellschaftliche Verhaltenserwartungen bestimmt, die nicht an der Realität, sondern an stereotypen Vorstellungen orientiert sind.
Traditionell bilden literarische Texte ein Untersuchungsfeld, anhand dessen sich nicht nur Stereotypenbildungen, sondern eben auch Schreibweisen der Durchbrechung von Stereotypen analysieren lassen. Eine solche Analyse wird hier im Hinblick auf die Performativität von Altersstereotypen in literarischen Texten vorgelegt.
Dabei werde ich in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Alter als kulturelle Kategorie auf die performativitätstheoretische und dekonstruktivistische Weiterentwicklung von Theorien zur Geschlechterforschung aufbauen, wie sie die Philosophin Judith Butler in ihrem Buch ‚Gender trouble‘ (Butler 1990/1991) vorgelegt hat, und deren theoretische An- und Einsätze für eine kulturwissenschaftliche Untersuchung der Kategorie des Alters nutzen. Die hier unternommene Übertragung der Theorie von ‚Gender trouble‘ auf eine noch weiter zu entwickelnde Theorie des ‚Ageing trouble‘ liegt nahe, weil in beiden Ansätzen scheinbar ‚natürliche‘ Gegebenheiten (Geschlecht und Alter) als kulturelle Konstruktionen und Normierungen kenntlich gemacht und infrage gestellt werden.
In den Gender Studies werden drei kategoriale Dimensionen der signifikanten Leiblichkeit in Bezug auf das Geschlecht unterschieden: das anatomische Geschlecht (sex), die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) und die Performanz der Geschlechtsidentität (gender performance). Überträgt man diese drei Kategorien auf das Phänomen Alter, das ebenso wie Geschlecht als Dimension signifikanter, d.h. bedeutungstragender Leiblichkeit angesehen werden kann, so ergibt sich die Unterscheidung des biologischen Alters vom kalendarischen Alter sowie die Unterscheidung der Altersidentität von der Performanz der Altersidentität.
Die Unterscheidung zwischen kalendarischem und sozialem Alter (oder zwischen kalendarischem und funktionalem Alter) ist in der Alter(n)sforschung seit langem geläufig. Wichtig erscheint jedoch im Hinblick auf die Fragestellung ein entscheidender Zusatz zur Differenzierung der unterschiedlichen Alterskategorien: die Kategorie der Performanz der Altersidentität. Alter wird nicht nur kalendarisch bestimmt, individuell gefühlt und gesellschaftlich normiert, sondern – wie die eingangs angeführten Ausführungen von Ursula Lehr nahelegen – in besonderer Weise performativ inszeniert. Wenn Verhaltensweisen Älterer nicht mehr als natürlich gegeben an- und wahrgenommen werden und bestehende Normierungen in zunehmendem Maße als kulturelle Konstrukte verstanden werden, dann bietet der Begriff der Performanz auch für die Alter(n)sforschung neue Beschreibungs- und Verständnismöglichkeiten. Wenngleich sich die Gender-Theoretikerin Judith Butler selbst nicht auf das Alter, sondern auf die Kategorie des Geschlechts bezieht, stelle ich in Übersetzung ihrer Performativitätstheorie auf die Kategorie des Alters die These auf: Auch die Akte, Gesten und Inszenierungen des Alters „erweisen sich insofern als performativ, als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen oder andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen sind“ (Butler 1990/1991:200).
Um diese These zu untermauern, werde ich zunächst die spezifische Relevanz literaturwissenschaftlicher Analysen für eine kulturwissenschaftliche Diskussion über das Alter(n) erläutern.
Danach gebe ich einen kursorischen Überblick über die Stereotypenbildung des Alter(n)s in der Literaturgeschichte, die sich strukturell in die Topoi des Alterslobs, der Altersklage und des Altersspotts untergliedern lässt, innerhalb derer die kulturellen Normierungen von ‚altersgemäßen‘ Verhaltensweisen ausagiert werden.
Darauf aufbauend wird gefragt, ob sich in der neueren Literatur Indizien für performative Neueinschreibungen von Altersstereotypen im Sinne eines differenzierteren und vielfältigeren kulturellen Alter(n)skonstrukts finden lassen.
Aus der performativitätstheoretischen Analyse der Schreibweisen dieser Neueinschreibungen werden schließlich generellere Aussagen und weiterführende heuristische Hypothesen über mögliche Strategien kultureller Neueinschreibungen von stereotypen Altersbildern abgeleitet.
Kultur als Text – Text als Kultur?
Die kulturwissenschaftliche Neuorientierung von Literaturwissenschaft eröffnete dieser – versucht man die noch anhaltende Diskussion zusammenzufassen – im Wesentlichen zwei neue Perspektiven:
Einerseits ermöglicht die Adaption von kulturanthropologischen Ansätzen ein Verständnis von Kultur als Text, das nahelegt, performative Praktiken (z.B. Rituale) wie Texte zu lesen. Die kulturanthropologisch und ethnologisch begründeten Erweiterungen des Ritualbegriffs (vgl. Geertz 1983) haben eine literaturwissenschaftliche Debatte angestoßen, die sich als „anthropologische Wende“ (Bachmann-Medick 1996) in der Literaturwissenschaft niedergeschlagen hat. Die Auffassung von der Textualität der Kultur führt zu einem erweiterten Text-Begriff, der wiederum die Frage aufwirft, „inwieweit die thematisch fast unbegrenzte Expansion überhaupt noch auf literaturtheoretisch reflektierte Register Bezug nimmt und die Rede vom ‚kulturellen Text‘ nicht zu einer universellen Metapher verkommt“ (Neumann/Weigel 2000:10).
Andererseits werden im Zuge eines zunächst von der Theaterwissenschaft proklamierten ‚performative turn‘ gestische, korporale, rituelle und szenische Ausdrucksformen ins Zentrum gerückt. Diese Schwerpunktverlagerung wird als zwangsläufiges Resultat einer historischen Entwicklung hin zu einem dynamischeren Umgang mit den neuen Medien und neuen Präsentationsformen gesehen, die eher auf die Erzeugung und Wahrnehmung von Präsenz setzen als auf Vermittlungsformen der Repräsentation und Abstraktion, wie sie den Medien Text und Schrift in diesem Kontext zugeschrieben werden (vgl. Conquergood 1991; Carlson 1996; Fischer-Lichte 1998). Da im Rahmen dieses Ansatzes der Begriff der Performanz (in Abgrenzung zum ‚linguistic turn’) als neuer kultureller Leitbegriff etabliert werden soll, ist es zu einer neuen Art der Oppositionsbildung zwischen Text und Performanz gekommen.
Diesen Hierarchisierungsversuchen möchte ich keinen Vorschub leisten. Im Gegenteil soll hier ausdrücklich die Relation von literarischem Text und kultureller Performanz im Hinblick auf ihr jeweiliges Austauschverhältnis untersucht werden, indem das Augenmerk ebenso auf performative Effekte von Präsenz im Text gerichtet wird, wie auf textanaloge Wiederholungsstrukturen in kulturell normierten performativen Verhaltensformen.
Literarische Texte können unter diesem Blickwinkel einerseits als „dem Ritual ähnliches Geschehen“ verstanden werden, weil sie „orientierend, sinngebend, Ordnung stiftend und beglaubigend in unserem Leben“ funktionieren (Braungart 1996:17). Andererseits eignet literarischen Texten nicht nur die Möglichkeit der Affirmation sozialer Ordnungsmuster, sondern in gleicher Weise die der De(kon)struktion von Ordnungs-, Orientierungs- und Sinnstiftungsmodellen. So grenzen Sigrid Weigel und Gerhard Neumann die Literatur gerade unter diesem Aspekt vom Ritual ab: „Während die Prozesse lebensweltlicher Sinnstiftung (im Feld der Zivilisation) und die Figurationen des kulturellen Gedächtnisses durch Vereindeutigung und stringente Funktionalisierung bestimmt sind, durch dasjenige also, was Niklas Luhmann ´Reduzierung von Komplexität´ genannt hat, kommt der Literatur im Kontext der Semantisierung der Kultur eine genau entgegengesetzte Rolle zu: Sie wird zum Organon von Differenzierung, Übersetzung und Verschiebung, von Fortschreibung, Transgression von Grenzen und Bruch mit der symbolischen Ordnung und den codierten Bedeutungen“ (Neumann/Weigel 2000;15).
Literarische Texte werden in diesem Sinne im Folgenden als Spielfeld verstanden, auf dem kulturelle Performanzen als Konstruktionsmodelle des Wirklichen entlarvt, spielerisch in Szene gesetzt sowie auf die Probe gestellt werden können.
Konkret auf das Alter(n) bezogen soll gezeigt werden, dass literarische Texte nicht nur das Verständnis für Alter(n) als kulturell bestimmtes und veränderbares Konstrukt schärfen, sondern die kulturellen Einschreibungen des Alters – ‚altersgemäße‘ Verhaltensweisen, Normen, Werte, Utopien, Rollen und gesellschaftliche Funktionen – entweder affirmativ bestärken oder subversiv unterlaufen. So mag es nicht mehr allzu abwegig erscheinen, dass Adorno ein absurdes Theaterstück, nämlich Samuel Becketts ‚Endspiel‘, als „wahre Gerontologie“ (Adorno 1958/1989:311) bezeichnet hat.
Stereotype des Alter(n)s in der Literaturgeschichte: Altersklage, Alterslob, Altersspott
Will man das Alter(n) als literarischen Stoff untersuchen, steht man vor einer nahezu unüberschaubaren Aufgabe – so unterschiedliche und vielfältige Darstellungsweisen finden sich in der Literatur. Dass das Alter(n) in der Literatur ein derart favorisierter Gegenstand ist, leuchtet nicht nur aufgrund seiner Bedeutung als Grundproblem des Menschen ein, sondern auch unter dem Blickwinkel der Ästhetik und Texttheorie.
Am Beispiel von Oscar Wildes Roman ‚Das Bildnis des Dorian Gray‘ lässt sich dieser Zusammenhang deutlich erkennen: Das Porträt des jungen, schönen Dorian Gray macht ihm seine Endlichkeit so eindringlich bewusst, dass er seine Seele als Preis dafür gibt, wenn an seiner Stelle das Bild altern möge und nicht er selbst: „Wie traurig es ist! Ich werde alt werden, häßlich, widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über diesen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte! Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe, und das Bild altern könnte! Dafür – dafür – gäbe ich alles. Ja, nichts in der Welt wäre mir dafür zu viel. Ich gäbe meine Seele als Preis dahin“ (Wilde 1890/1986:36). Text und Bild bannen den lebendigen Moment im toten Zeichen, so dass sie in der Tradition des ‚memento mori‘ zum beständigen Mahnmal der eigenen Vergänglichkeit, des eigenen Alterns stilisiert werden können.
Betrachtet man das Alter(n) als die Schreibweisen von Texten beeinflussendes Motiv der Literatur, lässt sich eine Reihe von Grundmustern unterscheiden, die wiederum eine Gemeinsamkeit haben: Sie sind bestimmt von einer binären Struktur. Das Motiv des Alter(n)s schwankt in der Literatur auf einer Skala zwischen Verklärung und Verfall. Der Differenzskala des Motivs ‚Alter(n)’ korrespondieren drei literarische Topoi oder Stereotype mit ihren spezifischen Schreibweisen, die sich bereits in der Antike finden: Alterslob, Altersklage und Altersspott. Die Begriffe ‚Topos‘ und ‚Stereotyp‘ werden heute oft deckungsgleich verwendet. Im Folgenden bevorzuge ich den Begriff des Stereotyps, da er m. E. umgangssprachlich gängiger ist. Obwohl diese drei Stereotype sogar als literarische Gattungen eingestuft worden sind (vgl. Opolka 1996), erscheint mir der Begriff des Stereotyps hilfreicher als der Gattungsbegriff, betont er doch die ideologische Wirkung eines Konstrukts, gerade wenn es nicht als solches erkannt wird, sondern als ‚Wahrheit‘ oder als etwas ‚Naturgegebenes‘ angesehen wird (vgl. Hawthorn 1994:299f).
Exemplarisch für das Stereotyp des Alterslobs steht der antike, dialogisch aufgebaute Text ‚Cato der Ältere über das Greisenalter’ (Cicero 1998), der dem römischen Redner, Politiker und Philosophen Marcus Tullius Cicero zugerechnet wird und der wiederum auf Passagen über das Alter aus Platons ‚Politeia‘ (Platon 1982) fußt. Kompensatorisch wird hier das scheinbare Elend des Alters widerlegt und im Gegenzug die spezifischen Vorzüge, insbesondere die Weisheit des Alters gegenüber den Torheiten der Jugend betont. Das antike Alterslob betont den Reichtum der Erfahrung und die daraus zu gewährleistende gesellschaftliche Autorität der Alten. Der Sinnlichkeit zu entsagen und tugendhaft zu leben, garantiere die Freiheit der Seele. Die Fähigkeit zum erinnernden Überblick wird gelobt und in den Dienst der Bewahrung altbewährter Traditionen gestellt.
Die antiken Topoi des Alterslobs finden sich bei Jacob Grimm (Grimm 1863/2010) ebenso wieder, wie erstaunlicher Weise auch bei Arthur Schopenhauer, wenn er das Leben mit einem Text vergleicht, „die ersten vierzig Jahre unseres Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu, der uns den wahren Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und allen Feinheiten desselben, erst recht verstehn lehrt“ (Schopenhauer 1851/1968:583).
Die Topoi des Alterslobs halten sich bis heute, werden jedoch in ihrer Ausrichtung strategisch auf unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen, insbesondere des alten Mannes, bezogen: zur Rechtfertigung seiner Funktion als Staatsmann, als Familienoberhaupt, als großmütiger Großvater, als platonischer Liebhaber oder als altersweiser Gelehrter und Künstler.
Die Altersklage variiert bis heute Stereotype, die sich bereits in Texten des altgriechischen Lyrikers Anakreon finden:
„Ergraut sind meine Schläfen,
mein Haupthaar schimmert weiß.
Die schöne Jugendzeit verging,
alt sind und morsch die Zähne.
Nicht lang mehr reicht die Spanne, die
vom süßen Leben mir verblieb.
Oft muß ich deshalb weinen,
gepackt von Grauen vor dem Tartaros;
denn schrecklich ist der dunkle Schlund des Hades
und schwer der Weg, der dort hinunterführt:
Wer abwärts ihn beschritten,
kehrt nie zum Licht zurück."
(Anakreon, in: Ebener 1980:159)
Detailliert wird in der Altersklage der körperliche und geistige Verfall beschrieben. Der Verlust der Lebensfreude wird beklagt, ebenso wie die Unfähigkeit, Präsenz zu leben. Alles erscheint nur noch als Wiederholung des Ewiggleichen, als Refrain vergehender Zeit – vom faustischen Streben, zumindest ein einziges Mal noch zum Augenblick zu sagen, „Verweile doch! du bist so schön!“ (Goethe 1808/1989:57) bis zu Hamms Erkenntnis in Becketts ‚Endspiel‘ „Augenblicke gleich null, immer gleich null“ (Beckett 1956/1974:117).
Auch die Altersklage findet sich in allen literarischen Epochen, ob in den Minneliedern Walthers von der Vogelweide, im Vanitas-Motiv des Barock oder im 15. Jahrhundert in Francois Villons ‚Die Jammerballade einer schönen Frau aus dem Goldenen Hahn’, in freier Übersetzung von Paul Zech, in der Marie – „ein Prachtweib einst“ – klagt:
„Da kraucht man wie ein Wurm daher
als wög’ der Buckel viele Zentner schwer.
Da hockt man ohne Sinn und glotzt ins Feuerloch
und denkt an all das Böse auf der Welt
und daß uns aus dem schweren Joch
und diesem Hungerleben ohne Geld
der Tod erlösen möchte, morgen schon,
das wäre ein verdienter, ein gerechter Lohn."
(Villon/Zech 1962:19f.)
Es ist das Bild des ausgelieferten, schwachen Tieres, das in der Altersklage zum Referenzpunkt des Menschenbildes wird.
Als Beispiele für die Altersklage in der neueren Literatur sei an die Gedichte von Gottfried Benn aus dem dreiteiligen Zyklus ‚Der Arzt’ (Benn 1917/1980:12) erinnert oder an Max Frischs Roman ‚Der Mensch erscheint im Holozän‘ (Frisch 1979), in dem der körperliche und geistige Verfall des Protagonisten in Metaphern des Falles und Fallens allgegenwärtig ist. Theoretisch gewendet, entfaltet die Altersklage ihre existentialistische Bandbreite von ‚Revolte und Resignation‘ bei Jean Améry: „Was da immer dem Alternden empfohlen wird, wie er sich mit dem Niedergang abfinden, ja diesem allenfalls sogar Werte abgewinnen könnte – Adel der Resignation, Abendweisheit, späte Befriedigung –, es stand vor mir als niederträchtige Düperie, gegen die zu protestieren ich mir mit jeder Zeile aufgeben mußte“ (Améry 1968/2001:10).
Samuel Beckett treibt die Altersklage schließlich auf den Gipfel des Absurden: Ausgeschlossen und vernachlässigt landen die Alten im ‚Endspiel‘ in der Mülltonne (Beckett 1956/1974).
Auch die groteske Schreibweise des Alterspotts findet sich in allen Epochen. Erinnert sei hier an Aristophanes‘ antike Komödie ‚Die Wespen’, einer Verspottung von Lastern, Anmaßungen und vor allem sinnlichen Ausschweifungen im Alter:
„War nicht der Alte toll und teufelswild,
Von allen Gästen der Besoffenste!
Da war Hippyllos, Lykon, Antiphon,
Theophrast, Lysistratos und Phrynichos!
Er aber trieb's am tollsten doch von allen.
Kaum hat er sich mit Leckereien vollgestopft,
Da springt er, tanzt und farzt und lacht dazu
Ganz wie ein Esel, den der Hafer sticht;
Schreit: ‚Junge!‘ prügelt mich jung - ungestüm;
Das sieht Lysistratos und foppt ihn drüber:
‚Du tust ja, Alterchen, wie frische Hefe
Und wie das Saumtier, das die Streu sich sucht!‘"
(Aristophanes 422 v. Chr./1963:239)
Der oder die ‚kindische Alte‘ ist die groteske Figur des Altersspotts, die als Oxymoron in sich die heterogenen Momente des Kindes und des Alters verknüpft.
Lüsternheit, Geschwätzigkeit, Geiz, Gier, Trunk- und Streitsucht sind die Topoi, die sich als Altersspott durch die Literaturgeschichte ziehen. Sie finden sich in zahlreichen Texten, die die Konstellation der oder des verliebten Alten nutzen. Hier sei nur auf einige Beispiele verwiesen: Molières von der Commedia dell‘arte beeinflusste Stücke wie ‚Der Geizige‘ (Molière 1668/1998) oder ‚Die Schule der Frauen‘ (Molière 1662/1962), Novellen von Cervantes‘ wie ‚Der eifersüchtige Estremadurer‘ (Cervantes 1613/1940) bis hin zu Goethes ‚Der Mann von funfzig Jahren‘ (Goethe 1829/1998).
Simone de Beauvoir bringt die sich durch die literarischen Epochen ziehende Stereotypie des Alter(n)s auf den Punkt:
„Vom alten Ägypten bis zur Renaissance wurde das Thema des Alters also fast immer stereotyp behandelt; dieselben Vergleiche, dieselben Adjektive. Es ist der Winter des Lebens. Das Weiß der Haare, des Bartes erinnert an Schnee, an Eis: im Weiß liegt eine Kälte, zu der das Rot – Feuer, Glut – und das Grün, Farbe der Pflanzen, des Frühlings, der Jugend, in scharfem Gegensatz stehen. Diese Klischees halten sich zum Teil deshalb, weil der alte Mensch ein unabänderliches biologisches Schicksal erleidet. Doch da er nicht wirkende Kraft der Geschichte ist, interessiert der Greis nicht, man macht sich nicht die Mühe, sein wahres Wesen zu studieren. Mehr noch, in der Gesellschaft besteht eine Übereinkunft, ihn mit Schweigen zu übergehen. Ob die Literatur ihn rühmt oder verächtlich macht, in jedem Fall begräbt sie ihn unter Schablonen. Sie verbirgt ihn, anstatt ihn zu enthüllen. Er wird, im Vergleich mit der Jugend und dem reifen Alter, als eine Art Gegenbild gesehen: er ist nicht mehr der Mensch selbst; sondern seine Grenze, er steht am Rande des menschlichen Schicksals; man erkennt es nicht wieder, man erkennt sich nicht in ihm“
(Beauvoir 1970/1982:138f.).
Erst die neuere Literatur setzt sich konkret mit den subjektiven Erfahrungen des Altseins oder Altwerdens auseinander. Vorher bleibt das Alter meist abstrakt und übernimmt eine allegorische oder symbolische Funktion innerhalb einer Polarstruktur der Texte, die auf der Differenz von alt und jung beruht. Trotz der Vielzahl literarischer Beispiele gerät so das Alter als unweigerliche Annäherung an den Tod unter den Saum des Schleiers, mit dem ein beredtes Schweigen den Tod verhüllt.
Während Hannelore Schlaffer in ihrem erst kürzlich erschienenen Essay ‚Das Alter. Ein Traum von Jugend‘ (Schlaffer 2003) versucht, eine Entwicklungslinie der literarischen Altersdarstellungen vom antiken Alterslob über die moderne Altersklage und die zeitgenössische Leugnung des Alters auszumachen, belegen die hier vorgestellten repräsentativ ausgewählten Beispiele die durchgängige Stereotypenbildung in bezug auf die Textpraxis über das Alter(n), auch wenn sich literaturgeschichtlich unterschiedliche Gewichtungen nachweisen lassen.
Fassen wir die literarischen Strategien zusammen, mit denen die Differenz ‚alt-jung’ in den unterschiedlichen Topoi und Schreibweisen des Alterslobs und der Altersklage ausgespielt wird: Im Alterslob wird das Alter positiv von der Jugend abgegrenzt und der Versuch einer Aufwertung unternommen. In der Altersklage wird das Alter, vor allem im Hinblick auf die Einschränkungen des Körpers, negativ von einem idealisierten Bild der Jugend abgegrenzt.
Dass sich diese Stereotypenbildungen bis in gerontologische Untersuchungen (die Defizitmodelle des Alterns tradieren Topoi der Altersklage; Theorien des erfolgreichen Alterns, Wachstumstheorien und die Gerotranszendenztheorie variieren Topoi des Alterslobs) durchsetzen und ihnen zugrunde liegen, zeigt die bis in den wissenschaftlichen Text hinein wirkende Macht einer über Jahrhunderte etablierten und tradierten narrativen Struktur.
In Texten, die sich aus der Tradition des Alterspotts herschreiben und die bisher noch keinen wissenschaftlichen Niederschlag gefunden haben, finden sich hingegen Positionen, die die Hierarchisierung innerhalb des Oppositionspaares bzw. die Aufstellung der Oppositionen überhaupt hinterfragen und so die als Gegensätze imaginierten begrifflichen Pole alt/jung ins Gleiten bringen. Die kulturellen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen, die Performativität des Alters, werden in dieser Schreibweise in besonderer Weise ausgestellt, indem ihre Inszenierungsqualität betont wird. Innerhalb der Schreibweise des Alterspotts findet eine Gratwanderung statt zwischen dem Normbruch des Altersspotts – der wohl auch schon zu Aristophanes‘ Zeiten, das Ideal des weisen, den sinnlichen Freuden entsagenden Alters (das das Alterslob affirmiert) kritisch hinterfragt – und der parodistisch-kritischen Auseinandersetzung mit kulturell normierten Dispositionen des Alters. Im Hinblick auf die Fragestellung ist dieser Topos und die Entwicklung seiner Schreibweisen besonders interessant, weil er den Glauben an ein mimetisches Verhältnis von kalendarischem Alter und Altersidentität bzw. Altersperformativität rigoros in Frage stellt.
Performative Neueinschreibungen des Alter(n)s in (post-)modernen literarischen Texten
Den Aspekt des gesellschaftlichen Normbruchs mittels der resignifizierenden Verwendung von Stereotypen des Alterspotts hebt Bertolt Brecht in seiner Kurzgeschichte ‚Die unwürdige Greisin’ (Brecht 1949/1995) eindeutig positiv gewendet hervor. Die Jüngeren erscheinen in seiner Darstellung wesentlich konventioneller als die über siebzigjährige ‚unwürdige Greisin’, die nach einem aufopferungsvollen Leben für die Familie nur noch nach ihren eigenen Interessen lebt: Sie trinkt gern Rotwein, geht ins Kino, liebt gelegentliche gesellige Abende und Ausflüge zur Rennbahn – anstatt ihre Familie finanziell zu unterstützen. Der erwachsene Sohn spricht von „unwürdiger Aufführung“ und der Gastwirt kommentiert despektierlich: „Frau B. amüsiert sich ja jetzt“ (Brecht 1949/1995:430). Schon der Titel spiegelt die Projektion einer Gesellschaft um 1920, die eine solche performative ‚Aufführung‘ des Alters als unwürdig charakterisiert. Alles andere als ‚unwürdig‘ beharrt die Frau als Greisin – nach Jahren der Fremdbestimmung durch familiäre und soziale Verpflichtungen – darauf, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben. Dabei beansprucht sie allerdings Verhaltensweisen, die gesellschaftlich nur Jüngeren zuerkannt werden. Zum Hoffnungsträger zukünftiger Zeiten wird der Erzähler, der Enkel, der als einziges Familienmitglied mit dem Verhalten der Großmutter sympathisiert. Die revolutionäre Relevanz, die Brecht diesem Sujet zumisst, verdeutlicht seine Notiz zu den ‚Kalendergeschichten‘: „Die Schule der Freiheit und Welteroberung – Die unwürdige Greisin – (echter Freiheitskampf)“ (Brecht 1949/1995:575f.).
Italo Svevos Roman ‚Senilitá‘ (Svevo 1898/1998) lässt durch seinen Titel einen bereits bejahrten Protagonisten erwarten. Emilio Brentani ist jedoch fünfunddreißig Jahre alt. Wenden wir aber die oben genannten Kategorien des Alters auf diese literarische Figur an, so erscheint seine Altersidentität und die Performanz seiner Altersidentität uns mindestens doppelt so alt. Er empfindet sein Leben als farblos und eintönig, weicht „allen Gefahren aus, aber auch allen Genüssen – dem Glück“ (Svevo 1898/1998:37). Die Sehnsucht nach Ruhe und Sicherheit dominiert noch den kleinsten Keim aufkommender Leidenschaft: „Ich liebe dich sehr“, sagt er zu seiner Angebeteten, „und ich möchte, daß wir in deinem Interesse sehr vorsichtig sind“ (Svevo 1898/1998:37). Dieser Roman arbeitet zwar auch mit dem Stereotyp (alter Mann / junges Mädchen, Verbot der Lüsternheit) und den grotesken Schreibweisen des Altersspotts, treibt sie aber um einen entscheidenden Schritt weiter, indem er sie auf einen kalendarisch jungen Protagonisten bezieht. Dass die Performanz einer Lebenshaltung nicht an das kalendarische Alter geknüpft ist, zeigt uns dieser Roman damit in aller Deutlichkeit.
In Thomas Manns Erzählungen ‚Die Betrogene‘ (Mann 1953/2001) und ‚Tod in Venedig‘ (Mann 1911/1960) sind es Symptome des körperlichen Verfalls, die fälschlich als solche der Verjüngung gedeutet werden. Hier ‚gewinnt‘ zuletzt jeweils das biologische Alter die Oberhand. Obwohl der Konventionsbruch formuliert wird, siegt die gesellschaftliche Konvention.
Der Coiffeur, der der zentralen Figur Aschenbach in ‚Der Tod in Venedig‘, die Haare färben soll, bestätigt den Wunsch, den Körper dem gefühlten jüngeren Alter anzugleichen: „Schließlich sind wir so alt, wie unser Geist, unser Herz sich fühlen, und graues Haar bedeutet unter Umständen eine wirklichere Unwahrheit, als die verschmähte Korrektur bedeuten würde“ (Mann 1911/1960:61). Zu Beginn seiner Reise hatte Aschenbach noch mit Schaudern auf einen „aufgestutzten“ Greis reagiert (Mann 1911/1960:18). Jetzt wendet er den Ekel gegen seinen sichtbar alternden Leib und sucht nach Legitimationen für seine kosmetischen Verjüngungskuren, die den bigotten Zeitgeist an den Pranger stellen: „Würde sich die Sittenstrenge gewisser Leute gegenüber der kosmetischen Kunst logischerweise auch auf ihre Zähne erstrecken, so würden sie nicht wenig Anstoß erregen“ (Mann 1911/1960:18).
Den beiden alternden Figuren Aschenbach in ‚Der Tod in Venedig‘ und Rosalie von Tümmler in ‚Die Betrogene‘ korrespondieren die beiden Knaben Tadzio und Ken Keaton, deren jugendliche Schönheit jeweils von körperlichen Einschränkungen beeinträchtigt wird. Ken Keaton hat nur eine Niere und Tadzio schlechte Zähne. Außerdem erscheint er ‚bleichsüchtig‘. Die Alterszeichen an den Körpern der beiden Jugendlichen machen als Andeutungen und Vorzeichen von körperlichen Gebrechen die enge Korrespondenz zwischen den Lebensaltern deutlich. Jugendliche Verhaltensweisen von Älteren werden jedoch als ‚gegen die Natur leben‘ mit dem Tod bestraft, denn genau das, was die Alternden mit zurück gewonnener Jugend assoziiert hatten – die Blutung und das die Nerven aufpeitschende Fieber – wird missinterpretiert: Rosalie von Tümmler stirbt an Gebärmutterkrebs, dessen Blutungen sie fälschlich als wiedereinsetzende Menstruation gedeutet hat, und Aschenbach erliegt der Cholera.
Der traditionelle Topos des Altersspotts – der oder die verliebte Alte mit sexuellen Bedürfnissen – wird erst in der neuesten Literatur aus dem Altersspott in einen Topos des Alterslobs verwandelt. In Gabriel García Márquez‘ ‚Die Liebe in den Zeiten der Cholera‘ (García Márquez 1985/1990) ist es ein altes Paar, das die Segnungen fortgeschrittener sexueller Erfahrungen teilen darf – allerdings muss es sich, um gesellschaftlichen Störungen vorzubeugen, auf ein (Narren?-) Schiff zurückziehen und die Cholera-Flagge hissen. In Noëlle Châtelets ‚Die Klatschmohnfrau‘ (Châtelet 1997/2001) ist eine solche Flucht des frischverliebten alten Paares nicht mehr nötig. Selbst die eigenen Kinder, die in den literarischen Darstellungen der Altersliebe den Part der strengen gesellschaftlichen Konvention übernehmen müssen, goutieren schließlich die Verbindung.
Dieser Wandel in der Akzeptanz von Performanzen des Alters wird in der neuesten Literatur, so meine These, noch um eine literarische Strategie der Entdifferenzierung des Oppositionspaares alt/jung im Hinblick auf den Körper und die Performanz des Alters erweitert.
Philip Roth‘ ‚Der menschliche Makel‘ (Roth 2000/2002) führt den Topos des alten Mannes mit der jungen Frau aus dem Altersspott ins Tragische und thematisiert an ihm das Alter als kulturelles Konstrukt in Parallele zu Konstruktionen ethnischer Zugehörigkeit. Beiden potentiell diskriminierenden Zuschreibungen entzieht sich der Protagonist: Der einundsiebzigjährige Coleman Silk entwirft sich in beiden Dimensionen selbst. Aus einer schwarzen Familie stammend, aber mit „lilienweißer Haut“ (Roth 2000/2002) geboren, lebt er ein Leben als Weißer. Seine Liebesbeziehung zur vierunddreißigjährigen Faunia wird zur persönlichen Revolte gegen die gesellschaftlichen Normierungen von Alter stilisiert. Er beginnt eine Fehde gegen die verlogene Sexualmoral der amerikanischen Gesellschaft, verkörpert in einer aufstrebenden jungen Professorin, die versucht, seine sexuelle Beziehung zu jüngeren Faunia als Akt sexueller Ausnutzung zu stigmatisieren.
Der umgekehrte Fall der Liebe einer älteren Frau zu einem jungen Mann taucht bis heute nur selten in der Literatur auf. Nach Bettine von Arnims mutigem Verstoß gegen die Konventionen (vgl. Schlaffer 2003:103f.) dauerte es eine geraume Zeit bis Thomas Manns ‚Betrogene‘ sich endlich glücklich ohne auf dem Fuße erfolgendes Todesopfer einen ‚russischen Geliebten‘ nehmen durfte, wie in Maria Nurowskas gleichnamigen Roman (Nuroska 1996/2001) – ein Intertext zu Thomas Manns ‚Die Betrogene‘ – nehmen durfte. Der Protagonistin in Monika Marons ‚Endmoränen‘ liefert ihr russischer Geliebter die pragmatischen Beweggründe, die jüngere russische Männer zu diesem Normbruch führen: „Denn diesmal [...] kommen sie nicht als Krieger, sondern als Glückssucher, die [...] Frauen betrachten werden wie bisher [...] nur Frauen die Männer betrachtet haben, was bedeutet, daß die Vorstellungen von Schönheit nicht mehr allein durch sexuelles Begehren geprägt werden, sondern auch von allen anderen Begehrlichkeiten. Die lieblichsten Schönheiten [...] werden diesen bedürftigen Barbaren ganz reizlos erscheinen, weil sie nichts von dem verheißen, was ihnen am wichtigsten ist, Wohlstand und Aufstieg. Dann wird die große Zeit der reifen, intelligenten, gutverdienenden Frauen anbrechen“ (Maron 2002:236).
Ein Text wie Gabriele Wohmanns Kurzgeschichte ‚Little Artist‘ (Wohmann 1997/1999) führt vor, dass die körperlichen bzw. biologischen Einschreibungen des Alters nicht mehr entziffert werden können. Im Hängekleidchen hüpft die Protagonistin der Kurzgeschichte durch ein Schrebergartenkolonie, empfängt graziös-verlegen eine Rose von einem der Schrebergärtner und erst zum Ende erfährt die ihrer eigenen Vorurteile dergestalt überführte Leserin, dass diese Artistin der Altersperformativität sechzig Jahre alt ist.
Ein anderes Beispiel aus der neueren Literatur für dieses Spiel mit der Performanz von Altersidentität findet sich in Jenny Erpenbecks ‚Geschichte vom alten Kind‘ (Erpenbeck 1999/2001). Gegenstand der Beschreibung ist hier das Verhalten eines problematischen Kindes in einem Kinderheim, das sich mit aller Kraft den Normen des Kinderheims anzupassen versucht, aber immer wieder scheitert. Die Interpretationsansätze der Rezipienten/innen laufen jedoch ins Leere, denn das kalendarische Alter des ‚Kindes‘ wird – wie in Gabriele Wohmanns Kurzgeschichte – erst auf der letzten Seite entlarvt: Das alte Kind ist eine Frau von vierzig Jahren.
Diese Beispiele (post-)moderner Textpraxis entlarven in selbstreflexiv-spielerischer Wendung der Topoi des Altersspotts die traditionellen Stereotypenbildungen der Literatur.
Ageing trouble. Strategien der Resignifikation kultureller Einschreibungen des Alters
Es sind Schreibweisen des Grotesken, mit denen der Altersspott arbeitet. Mit ihrer Hilfe wird der binäre Rahmen der Heterogenität von ‚alt‘ und ‚jung‘ dynamisiert und ins Gleiten gebracht, indem die Norm im Grotesken zwar zitiert, aber gleichzeitig subversiv unterlaufen wird.
Literaturwissenschaftlich betrachtet, wird in der Rezeption des Grotesken ein Prozess in Gang gesetzt, den Wolfgang Kayser als einen Vorgang der Verunsicherung und Störung beschreibt, indem die „Kategorien unserer Weltorientierung“ versagen (Kayser 1961:199).
Was verunsichert, ermöglicht jedoch auch neue Perspektiven. So deutet Michail M. Bachtin in diesem Sinn das subversive Moment des Grotesken positiv: Das Groteske eröffne „die Möglichkeit einer ganz anderen Welt, einer anderen Weltordnung, eines anderen Lebens“ (Bachtin 1969/1990:26). Dem Grotesken als „Medium des kulturellen Wandels“ (Fuß 2001) eignet ein subversives Potential, mit dem ritualisierte und stereotype kulturelle Normen verschoben werden können.
Dieser Resignifikationsprozess lässt sich nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Sicht beschreiben, sondern auch aus anthropologischer Perspektive nachvollziehen: In einem „betwixt and between“ (Turner 1977:40) von konventionell geregelter Ordnung und parodistischer Durchbrechung der Ordnung entsteht ein liminales Feld, in dem kultursemiotische Einschreibungen fort- und umgeschrieben werden können.
Die Philosophin Judith Butler beschreibt die Möglichkeiten subversiver Neueinschreibung in abweichenden Re-Iterationen kultureller Einschreibungen in Bezug auf die Performativität von Geschlechterrollen (Butler 1990/1991). Unter Performativität versteht sie das zitierende Wiederholen vorgängiger Normen. Performativität kann ihrem Verständnis nach nicht willentlich gesteuert werden, wohl aber die Performanz, also die ‚Performance‘ selbst, verstanden als abgegrenzter Akt innerhalb eines gesetzten Rahmens. Homosexuelle oder transsexuelle Performativität könne heterosexuelle subversiv unterlaufen, indem sie – beispielsweise in der Performance eines ‚drag balls‘ – in einem Akt der Hyperaffirmation die heterosexuelle Norm zwar zitiert, aber überhöht (Butler 1993/1997). Über abweichende Re-Iteration, also dem Zitat der Norm und deren gleichzeitiger Überhöhung, werde der Imitationscharakter der Norm selbst offengelegt: „Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher – wie auch ihre Kontingenz“ (Butler 1993/1997:202). Die Norm könne so subversiv verschoben werden.
Übertragen auf die Performativität des Alters, die Normierung von Altersrollen und die möglichen Strategien ihrer Neueinschreibung, bietet das oben beschriebene resignifizierende Aufgreifen der Stereotypen des Alterspotts (nicht nur!) in der Literatur die Möglichkeit, kulturelle Einschreibungen des Alters zu wiederholen und gleichzeitig zu verschieben, indem ihr inszenatorischer Charakter zur Schau gestellt wird.
Aufgezeigt wird so, dass sich das heutige, auch lebensweltlich gängige Rollenrepertoire und seine Protagonist/innen – der ‚Berufsjugendliche‘, die ‚Spätblondine‘ und der ‚Dauer-Teeny‘ – sich in ihrem kalendarisch höheren Alter nicht wie eine Kopie zum ‚Original‘ der Jugend verhalten, sondern eher wie eine Kopie zur Kopie: eine Kopie des Stereotyps. Auch ‚Jugendlichkeit‘ ist eine kulturell codierte Kategorie. Wer gemeinsam mit der Verfasserin angesichts des eingangs zitierten ‚gewagten Tänzchens‘ von Frau Lehr die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hat, mag sich beim Besuch der nächsten ‚My-Generation-‘ oder ‚Ü-30-Party‘ daran erinnern.
Die Infragestellung der Aussagekraft des kalendarischen Alters öffnet nicht nur den Blickwinkel für Strategien einer resignifizierenden Performativität des höheren Alters, sondern hinterfragt generell die Produktion des binären Rahmens, der ‚alt‘ und ‚jung‘ gegenüberstellt.