„Lernziel Lebenskunst“ in der Kulturellen Bildung
Unterschiedlichste Vorstellungen von Glück, Freiheit, Lebensbewältigung, Lebensstil, gutem Leben werden mit dem vieldeutigen Begriff der Lebenskunst verbunden. Allesamt sind sie von Bedeutung für eine bildungstheoretische Auseinandersetzung mit der „Leitformel“ (Fuchs 1999b:29) Lebenskunst und die folgende Erörterung dieses subjektorientierten Allgemeinbildungs-Konzepts einer Lebens-Kunst-Bildung.
„Lernziel Lebenskunst“ lautet der Titel dieses Beitrages, weil so der gleichnamige BKJ-Modellversuch (BKJ 1999; BKJ 2001) übertitelt war, mit dem der Dachverband der Kulturellen Bildung seit den späten 1990er Jahren das Konzept der Lebenskunst mit den Leitbildern von „Kultur öffnet Welten“, „Leben lernen“ und „Kultur macht Schule“ prominent machte (Bockhorst 2008; Zacharias 2001) und im folgenden für die Theorie und Praxis einer gesellschaftspolitischen, subjektorientierten Kulturellen Bildung programmatisch weiterentwickelte (Fuchs 2008a; Fuchs 2012).
Die dementsprechend in den BKJ-Fachstrukturen vertretenen Konzepte zeichnen sich dadurch aus, dass diese Kulturelle Bildung in ihrer Fokussierung auf Bildung als „Kultur leben lernen“ (BKJ 2002) den Menschen in den Mittelpunkt stellt und ihn in ihrer Spezifik als „Bildung in und durch Künste“ dazu anregt, seine Selbst- und Weltwahrnehmung, seine Urteilskraft und Handlungsfähigkeit, seine Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit zu stärken und einen für sich selbst sinnhaften Lebensentwurf zu gestalten. Eine Kulturelle Bildung der Lebenskunst versucht – im Spannungsfeld von Alltag und Künsten, Individualität und Gesellschaftlichkeit, Ästhetik und Ethik – dahin zu wirken, dass sich der Mensch als gebildetes und reflexiv handelndes Subjekt nicht nur für sein eigenes Glück interessiert, sondern auch für das Wohlergehen und Glück des Anderen (Bockhorst 2001).
Zur Genese einer ästhetischen Lebenskunst-Perspektive in der BKJ
Für die BKJ wurde das „Prinzip“ Lebenskunst (Zacharias 2001:218) in den 90er Jahren des letzten Jh.s zu einem breit reflektierten Paradigma einer neuen Kulturpädagogik und Kulturellen Bildung als Vermittlung von Kunst und Gesellschaft. Ulrich Baer, ehemaliger Studienleiter der Akademie Remscheid (ARS), eröffnete 1997 den kulturpädagogischen Diskurs zur Lebenskunst, dokumentiert in der Arbeitshilfe „Lernziel: Lebenskunst“ (Baer u.a. 1997). Seine Konzeptimpulse, ebenso wie das Interesse der BKJ-Fachorganisationen an der Frage eines gelingenden Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen, fußen zu dieser Zeit allerdings nicht auf philosophischen Theorien. Sie begründeten sich vielmehr durch die Reflexion gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und Ergebnisse der Jugendforschung sowie durch die überwiegende Verortung der Strukturen der Kulturellen Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe bzw. Jugendarbeit. Sich angesichts der Risiken der Moderne und der Bedingungen der Individualisierung und Pluralisierung – überzeugend dargelegt in den von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Kinder- und Jugendberichten (BMJFFG 1990; BMFSFJ 2002) – mitverantwortlich zu sehen für eine „Kultur des Aufwachsens“ motivierte die BKJ und ihre Mitgliedsorganisationen, sich mit der Lebenskunst auseinanderzusetzen.
Systematisch ging man daran, ein kulturpädagogisches Lebenskunstkonzept als Vermittlung von Kunst und Gesellschaft weiterzuentwickeln und es mit den zentralen jugend- und kulturpolitischen Vorstellungen einer „emanzipatorischen Jugendarbeit“ und „Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik“ zu verzahnen. In mehreren BKJ-Modellprojekten zum „Lebenskunst lernen“ hinterfragten die Träger der Kulturellen Bildung die Qualität ihrer bisherigen Theoriebildung und kulturpädagogischen Praxis und erprobten, wie die Erfahrung der Künste zu Partizipation, Selbstbestimmung, Bildungserfolg und gesellschaftlicher Integration befähigen könne. Sicherlich gibt es hierfür keine „Glücksrezepte“, so der langjährige Vorsitzende der BKJ und Direktor der Akademie Remscheid, Max Fuchs. Die kulturpädagogische Verantwortung und Leistung der Akteure Kultureller Bildung besteht aber darin, die erlebte Freude des Einzelnen bei der Bewältigung seines Lebens, bei der Überwindung des eigenen Ohnmachtempfindens, bei dem Verstehen gesellschaftlicher Zusammenhänge zu unterstützen und dem Individuum in der Balance zwischen dem Ausschöpfen von (Einfluss-)Möglichkeiten und Grenzen ein glückliches Leben zu eröffnen. Fuchs war es auch, der – mit Bezug vor allem auf Alexander von Humboldt, Helmut Plessner, Ernst Cassirer, Friedrich Schiller, Martha Nussbaum, Michel Foucault und Pierre Bourdieu – für die wissenschaftliche Fundierung der „Leitformel“ Lebenskunst sorgte und den inzwischen vorherrschenden ganzheitlichen, gesellschaftspolitischen Konzeptansatz einer modernen Kulturellen Bildung entscheidend beeinflusst hat (Fuchs 1999b; BKJ 2001; Fuchs 2008a; Fuchs 2012).
Zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Lernziel Lebenskunst war die Rezeption der philosophischen Überlegungen von Wilhelm Schmid und Martin Seel bedeutsam (BKJ 1999, 2001). Erst Jahre später wurde verstärkt auf Foucault und seine wichtigen Analysen des Zusammenhangs von Macht und Subjektivität und den Möglichkeiten eines gelingenden Lebens zwischen Anpassung und Widerstand Bezug genommen (Fuchs 2008a; Fuchs 2012).
„Philosophie der Lebenskunst“ in der Kulturellen Bildung
Als „Philosophie der Lebenskunst“ (Schmid 1998) ist allgemein das Nachdenken über die Grundlagen und möglichen Formen der Gestaltung des Lebens und des Selbst zu verstehen. Das Leben erscheint dabei als das Material, die Arbeit des Selbst an sich und der Gestaltung des Lebens als die Kunst bzw. als das „Kunstwerk“. Bei dem „Versuch zur Neubegründung einer Philosophie der Lebenskunst“ (Schmid 1999:15) geht es dezidiert nicht um eine „populäre Lebenskunst“ spontaner Lebenshilfen und unmittelbarer Genussbefriedigung, sondern es geht um eine „reflektierte philosophische Lebenskunst“. Zu ihr gehört – wie es die Geschichte der Philosophie bis zurück in die Antike lehrt – die Konzentration auf die Frage der reflektierten, gekonnten Lebensführung, verbunden mit der theoretischen Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens und die Erkenntnis der Wahrheit des Seins (Schmid 1999:16). Zu diesem Lebenskunstdiskurs gehört unverzichtbar die theoretische Reflexion struktureller Bedingungen und individueller Möglichkeiten eines gekonnten Lebensvollzugs – ebenso wie der praktische Versuch zu dessen Realisierung und dessen Unterstützung durch Angebote der Kulturellen Bildung (vgl. auch Dieter Sturma, Luise Behringer, Wolfgang Zacharias, Rainer Treptow in BKJ 2001; BKJ 2002; BKJ 2004).
Sowohl Schmid als auch Seel und Foucault übernehmen aus den Konzepten antiker philosophischer Lebenskunst den wichtigen Begriff der Selbstsorge bzw. der Sorge des Selbst um sich. Eine Sorge, die angesichts der Ambivalenzen der Moderne „zunächst ängstlicher Natur sein kann, unter philosophischer Anleitung jedoch zu einer klugen, vorausschauenden Sorge wird, die das Selbst nicht nur auf sich, sondern ebenso auf andere und die Gesellschaft bezieht“ (Schmid 1999:16). Das Beharren auf der philosophischen – gegenüber der populären – Lebenskunst begründet Schmid damit, dass diese nahe legt, nicht nur an sich selbst und das eigene Leben zu denken. „Lebenskunst bedeutet auch, in die Verhältnisse, in die Strukturen der ‚Welt um uns herum‘ einzugreifen, wenn es nötig erscheint“ (Schmid 1999:54).
Prüfstein der philosophischen Lebenskunst ist die „Ästhetik der Existenz“, zu verstehen als ein schönes Leben und die Realisierung einer erfüllten, bejahenswerten Existenz. „Sollte das Leben so, wie es gelebt wird, nicht bejahenswert sein, dann wäre es zu ändern, denn es gibt nur diese eine Sünde wieder den heiligen Geist: Ein Leben zu führen, das nicht bejaht werden kann. Das schöne Leben ist auch politisch zum Argument zu wenden, um an gesellschaftlichen Verhältnissen zu arbeiten, die bejahenswerter sein könnten als die gegenwärtigen, und die im Gegenzug wiederum eine bejahenswerte Existenz ermöglichen würden“ (Schmid 1999:28).
„Kritik der Lebenskunst“ in der Kulturellen Bildung
Aber wie kann es mit dieser Art der „unablässigen Reflektiertheit“ (Kersting/Langbehn 2007:58) gelingen, die Frage nach der ethisch-ästhetischen Güte einer „Ästhetik der Existenz“ zu beantworten, so die kritischen Überlegungen im Feld der Träger Kultureller Bildung. Lässt sich mit der Schmidschen Philosophie ein Bildungskonzept der Lebenskunst generieren, wo doch die Vielfalt gesellschaftlicher Machtverhältnisse die Frage aufdrängt, ob es „überhaupt noch vertretbar ist, von einem starken Subjekt auszugehen, das die Welt der Dinge, des Sozialen und letztlich sich selbst so beherrscht, dass es ein autonomes Steuerungszentrum seines Lebens sein kann?“ (Fuchs 2011c:80).
In ihrer „Kritik der Lebenskunst“ (2007) lehnen Wolfgang Kersting und Claus Langbehn Schmids philosophische Grundlegung der Lebenskunst als zu „vages Konzept der Postmoderne“ (Kersting 2007:58) ab; vor allem, weil darin unangemessen sorglos am Gedanken der Autonomie und der freien Wahl des Individuums zur Gestaltung seiner Existenz festgehalten wird, wo doch mit dem Eintritt in die Moderne eine selbstbestimmte Verfügung des Individuums über seine Existenz in wachsendem Maß in Zweifel zu ziehen ist.
„Ohne das robuste Ich der Aufklärungstradition wird aus dem anspruchsvollen Autonomieunternehmen der Lebenskunst eine Chimäre“ (Kersting 2007:78). Kersting/Langbehn bemängeln, dass sich bei Foucault, aber vor allem bei Schmid nicht erschließt, „in welcher lebensethischen Gestaltungsweise Lebenskunst ihren unverwechselbaren Ausdruck finden (kann). [...] Gerade weil das Schicksal der Freiheit des Subjekts in der modernen Disziplinierungsgesellschaft auf dem Spiel steht, benötigt man Kriterien, mit denen man die ästhetische Selbstsorge identifizieren kann“ (Kersting/Langbehn 2007:35).
Produktiv für die Weiterarbeit an diesen kritischen Punkten erwiesen sich für die Träger der Kulturellen Bildung die Studien zur Ethik und Ästhetik von Seel (1995; 1996) und seine Qualitätsvorstellungen eines „guten, glücklichen und gelungenen Lebens“ (Seel 1995). Fuchs (1997:22ff.) und Zacharias (2001:218ff.) positionierten sich für die BKJ dazu, auf Seels Indikatoren gelingender Lebenskunst Bezug zu nehmen und damit einer möglichen inhaltlichen Beliebigkeit der Leitformel Lebenskunst zu begegnen. Zu diesen zählen:
>> Gelingende Arbeit: Der Mensch sichert sich – und anderen – die Existenz.
>> Gelingende Interaktion: Der Mensch lebt in sozialer und politischer Gemeinschaft.
>> Gelingendes Spiel: Der Mensch hat die Möglichkeit zur freien Entfaltung von Fantasie und Kunst mit Erlebnis- und Bildungsqualität.
>> Gelingende Betrachtung (Kontemplation): Der Mensch hat die Chance zu Erkenntnis und Verstehen über sich und die Welt (vgl. Seel 1995:138ff.).
Lebenskunst lernen und die Rolle der Künste
Seel war es auch, der die für die Kulturelle Bildung anschlussfähige Bedeutung der anthropologischen Perspektive einer Philosophie der Lebenskunst besonders betonte, welche sich an dem grundlegenden Bedürfnis der Menschen orientiert, ihrem Leben eine Form zu geben, es durch Handlungen und eben auch durch Kunst und ästhetische Praxis zu ordnen und sinnvoll und selbstbestimmt zu führen (vgl. Seel 2007).
Lebenskunst lernen, sich bilden mit Künsten, diese Chancen bestehen in der Kulturellen Bildung, weil mit den Künsten die Begrenzung auf die kognitive Seite der Bildung überschritten und ebenso die emotionale Seite der Persönlichkeitsbildung und die Erweiterung eigener Gestaltungsfähigkeiten angesprochen sind. „Durch die sinnliche Erfahrung der Veränderung von Dingen, Bewegungs- und Ausdrucksformen sowie durch das Verstehen von Unterschieden werden subjektive Wahrnehmungs-, Deutungs- und Wissensbestände differenziert. Ästhetische Urteilsfähigkeit, kritischer Vergleich und Erweiterung eigener Gestaltungsfähigkeiten tragen so zur Grundlegung menschlicher Bildung bei. Sie wird verstanden als Vermögen, das Selbst im Horizont kultureller Praxis urteils- und handlungsfähig werden zu lassen. Es kann dadurch am gesellschaftlichen Leben teilhaben und eben jene kulturellen Rahmungen beeinflussen, in denen es sich befindet“ (Treptow 2008a:264).
Eine Didaktik der Lebenskunst ist eigentlich nur denkbar in Form einer Didaktik der Kunst, so vertritt es Wolfgang Zacharias. Er bezieht sich mit dieser Aussage weniger auf die Metapher des „Lebens als Kunstwerk“ (Foucault) als auf Seel und dessen Ausführungen über eine künstlerische und ästhetische Praxis als „eine – aber eben auch nur eine – Form“ gelingender Lebenspraxis, die dem Subjekt einen „Zustand positiver Freiheit“ eröffnet und geeignet ist, ihm „den Spielraum des ungehinderten Lebens offen zu halten“ (Seel 1996:23). Entscheidend für ein „Leben lernen im Prinzip Lebenskunst“ (Zacharias 2001:218ff.) ist es, an eben dieser Besonderheit ästhetischer Erfahrung und Begegnung mit den Künsten festzuhalten. Bildung – im Medium der Künste – hat diese besonderen Möglichkeitsräume, in denen „das Hinausdenken und -fühlen über die Grenzen des geltenden Realitätsprinzips“ (Keupp 2001:32) gelingen kann.
Bildungstheoretisch, so Zacharias, ist zudem zu berücksichtigen, dass es in kulturpädagogischen Konzepten der Lebenskunst, wo die „Lebenswelt als Lehrplan“ gilt, eine klassische „Lernziel-Kontrolle“ und einen „kanonisierten“ Bildungsinhalt lehr- und lernbarer Wissensbestände der Lebenskunst nicht geben kann (Zacharias 2001:220). Eine Kulturpädagogik der Lebenskunst kann nur Fragestellungen nach einem schönen Leben, nach Bildern des eigenen Selbst und des Anderen aufwerfen. Mittels der Künste kann sie Wahrnehmungshorizonte erweitern und durch eine ergebnisoffene, experimentelle, partizipative, gestaltende Beschäftigung mit Musik, Medien, Theater, Tanz und Spiel Antworten für das Projekt eines guten, glücklichen und gelingenden Lebens provozieren.
Die persönlichkeitsbildende Bedeutung einer ästhetischen Lebenskunstbildung konnte in mehreren Praxisforschungsprojekten und Wirkungsstudien nachgewiesen werden (vgl. Hill/ Biburger/Wenzlik 2008a; Schorn 2009; Mack 2011). In „Ich lerne zu leben“ umschreibt Werner Lindner das Bildungspotential der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit (Lindner 2003). Seinen Studien zufolge sind es vor allem die Kernaspekte von „Spaß“ und „Interesse“, die in einer Lebens-Kunst-Bildung als Qualitätsdimensionen und „Motoren des Lernens“ wirksam werden (Lindner 2003:20). „Hervorzuheben ist, dass die kulturelle Kinder- und Jugendarbeit eine der wenigen gesellschaftlichen Instanzen ist, die es erlauben, die essentielle Freiheit der Bildung gegen alle Funktionalisierungen wirklich ernst zu nehmen, und die deshalb für umfassende Bildungsaufgaben in besonderem Maße geeignet ist“ (Lindner 2003:83).
Lebenskunst als Bildungsziel einer modernen Bildung
Kulturelle Bildung nach der Leitformel Lebenskunst verbindet also ambitioniert die Dimensionen „Humanisierung der Natur“(Annemarie Gethmann-Siefert), „Kultivierung des Alltags“ (Eckart Liebau) und „Emanzipation des Subjekts“ (Fuchs) zu einem Konzept gelingender Bildung (Fuchs 2008a:91ff.). Eine Lebens-Kunst-Bildung – als sinnliche Wahrnehmung, Gestaltung und Erkenntnis in der Verbindung von Alltag und Künsten – ist ein zukunftsfähiges Bildungsziel für sowohl soziale, politische als auch Kulturelle Bildung im 21. Jh. Sie scheint konzeptionell tragfähig für eine auf Handlungsfähigkeit, Inklusion und Lebensqualität ausgerichtete Bildung in Schule, Jugendarbeit, Kunst und Kultur. Als Leitformel unterstreicht Lebenskunst den Allgemeinbildungsanspruch in der Kulturellen Bildung und die bildungstheoretische und politische Herausforderung, nicht nur den Wissenserwerb zu fördern, sondern auch die notwendigen kommunikativen, interkulturellen, kreativen und flexiblen Grundkompetenzen, die es angesichts der Komplexität und Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Realität für eine gelungene Lebensführung braucht.
Fazit
Folgende Punkte fassen zusammen, warum es die BKJ für angeraten hält, die „Leitformel Lebenskunst“ der Kulturellen Bildung in Theorie und Praxis zugrunde zu legen:
1) Eine an der Lebenskunst ausgerichtete kulturpädagogische Praxis führt auf alle Fälle zu einem streng auf das Subjekt ausgerichteten Konzept, welches jede Art der Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Mitwirkenden verbietet. In dieser Art kultureller Bildungsarbeit steht der Mensch im Mittelpunkt, die Künste „nutzend“ für die bewusste und gezielte Entwicklung seiner subjektiven Selbst- und Weltverhältnisse. Die Chancen dieses „Gebrauchs“ der Künste, um sich aus Unmündigkeit zu befreien und als handlungsfähiges Subjekt selbst zu schaffen, machen die Kulturelle Bildung interessant für viele Bereiche des Lernens und begründen ihre zunehmende gesellschaftliche Relevanz.
„Der Kompetenznachweis Kultur“, Kultur und Schule Projekte wie „TUSCH – Theater und Schule“ oder das 2011 gestartete Programm „Kulturagenten für kreative Schulen“ sind hierfür positive Beispiele (siehe Brigitte Schorn/Vera Timmerberg „Kompetenznachweis Kultur“).
2) Die Leitformel Lebenskunst fundiert die Ausgestaltung kultureller Bildungsarbeit als soziokulturelles, gesellschaftspolitisches Konzept des Lernens mit und durch Künste, denn Lebenskunst lernen gelingt nicht ohne Berücksichtigung sozialer Kontexte. „Kunst allein reicht nicht mehr!“ (Eichler 2010a:14). Eine Kulturpädagogik der Lebenskunst, als qualifiziertes Konzept der Ermöglichung von „Menschsein“, politisiert die Theorie und Praxis Kultureller Bildung. Die Auseinandersetzung um eine gelingende Lebens-Kunst-Bildung führt unweigerlich zu Fragen nach sozialer Benachteiligung und nach Teilhabechancen, nach „Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit“ (Bundesjugendkuratorium 2009a). Das Subjekt der Lebenskunst kann nur unter Berücksichtigung der „von Foucault immer wieder betonten Dialektik von Unterdrückung und Ermöglichung“ unterstützt werden (Fuchs 2008a:90). Eine Lebenskunst-Bildung fordert immer wieder aufs Neue dazu heraus, sozialphilosophische und demokratietheoretische Fragen danach, inwieweit das gute individuelle und das richtige soziale Leben zusammenpassen, verstärkt im Kontext der Kulturellen Bildung zu berücksichtigen. Es ist daher kein Zufall, dass der Dachverband der Kulturellen Bildung im Anschluss an das Modellprojekt „Lernziel Lebenskunst“ große Kongresse zu den Themen „Kulturarbeit und Armut“, „Kultur und Bildung für TeilhabeNichtse“ und „KUNSTstück FREIHEIT“ ausrichtete und Vorreiter wurde für kulturelle Schulentwicklung „Auf dem Weg zur Kulturschule“ (Braun/Fuchs/Kelb 2010), um so Erreichbarkeit und Zugänglichkeit zu Kunst und Kultur zu verbessern und eine teilhabegerechte Bildungskultur an allen Orten des Lebens weiterzuentwickeln.
3) Durch Kooperation zum Bildungserfolg – dies ist die zentrale strategische Schlussfolgerung, die die Träger der Kulturellen Bildung aus den BKJModellversuchen zur Lebenskunst gezogen haben. Kooperationen der Kulturellen Bildung mit Kitas und Schulen, Vernetzungen im Sozialraum und Verankerung eines reichhaltigen kulturellen Bildungsangebots in lokalen Bildungslandschaften sind Voraussetzung für viele, um an Kunst und Kultur teilhaben und durch eine andere Lernkultur Lebenskunst lernen zu können. Der Lebenskunst-Anspruch in der Kulturellen Bildung geht zwar vom Individuum aus, er ist aber keine individuelle Angelegenheit. Vielmehr liegt es in der Verantwortung der für Kunst, Kultur und Bildung engagierten Organisationen, für entsprechende Teilhabe Verhältnisse zu sorgen. Die Hoffnung ist groß, dass sich das Bildungsziel „Lebenskunst für alle“ nicht nur im freiwilligen Feld der außerschulischen Bildung durchsetzt, sondern auch im Schulleben ein größeres Gewicht bekommt. Ein Schulprofil „Lebenskunst lernen“ könnte die „Lernanstalt Schule“ zu einem Ort der Anerkennung und des Vertrauens, zu einem kompetenzorientierten Bildungsort der Lebensfreude und erfolgreichen Befähigung für ein „gutes Leben in aufrechtem Gang“ verändern (Braun/Fuchs/Kelb 2010).
4) Die Arbeit nach dem Konzept der Lebenskunst erhöht die Professionalität der Akteure Kultureller Bildung. Eine Pädagogik der Anerkennung und des Dialogs, des Lebensweltbezugs, der Stärkenorientierung und des Respekts sind in einem „Curriculum der Lebenskunst“ unverzichtbar. Als entsprechendes „Handwerkszeug“, um Fachkräfte hierfür zu qualifizieren und Wirkungen einer kulturpädagogischen Lebenskunstpraxis dokumentieren zu können, wurde der „Kompetenznachweis Kultur – Stärken sichtbar machen“ (Timmerberg/Schorn 2009) für die kulturelle Jugendbildung erarbeitet.
5) Einen entscheidenden Mehrwert haben die Teilnehmenden, wenn das Leitbild der Lebenskunst die Ergebnisqualität von Kultureller Bildung auszeichnet. Sie gewinnen – neben dezidiert ästhetisch-künstlerischer Gestaltungs- und Kommunikationskompetenz – an Fähigkeit, die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse bewerten und sich darin als handelndes Subjekt emanzipiert verhalten zu können (Timmerberg/Schorn 2009; Braun 2011a). Die Teilhabe an solcher Art ambitionierter Bildungspraxis in und durch Künste eröffnet ihnen einen überlebenswichtigen Freiraum, in welchem Ideen für die Vision eines guten Lebens erprobt, ausgewählt, ausgedrückt, neu gedacht, verändert und öffentlich in die Gesellschaft eingebracht werden können. Lebenskunst-Projekte sind gut geeignet, Menschen in ihren „Capabilities“ (Schrödter 2011) und ihren „Widerstandsressourcen“ (Keupp 2011) zu stärken – trotz der Krise der Moderne und in hohem Maße erlebter ambivalent-widersprüchlicher sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Entwicklungen. „Will unsere Gesellschaft überleben mit Menschen, die nicht an ihr erkranken, braucht sie starke Subjekte, die sie nach Prinzipien der Humanität gestalten. Kulturelle Bildungsarbeit (nach der Leitformel Lebenskunst) kann hierbei einen guten Beitrag leisten und ihre wichtigste Legitimation finden“ (Fuchs 2012:125).