Kunstunterricht in Schule und Kindergarten
Schulische Kunstpädagogik
Die Kunstpädagogik (siehe Georg Peez „Kunstpädagogik“) ist älter als die allgemeinbildende Schule; dennoch hat sie ihre spezifische Entfaltung erst in diesem Kontext erfahren. Als ein fester Bestandteil klassischer Bildungskonzeptionen haben sich die fachlich bedeutsamen Diskurse im Kontext des staatlichen Schulwesens entwickelt. So war ein wichtiger Beweggrund der Kunsterzieherbewegung die Auseinandersetzung mit der populären, aber technokratischen Zeichenmethode des Hamburger Schulrates Adolf Stuhlmann. Dem stellte man eine kindbezogene Auseinandersetzung mit künstlerischen und kunsthandwerklichen Bildungsinhalten gegenüber und beeinflusste dadurch nicht nur die schulischen Reformbewegungen, sondern prägte das Bewusstsein für Inhalte, Zielsetzungen, Potentiale und Grenzen schulischer Kunstvermittlung. Auch die in den 1970er Jahren sich formierende außerschulische Kunstpädagogik (vgl. Mayrhofer/Zacharias 1977) entstand in Abgrenzung zur schulischen Praxis.
Die schulische Kunstpädagogik ist aber keine homogene Angelegenheit, sondern zahlreichen Einflüssen ausgesetzt. Gemeint sind landesbezogene Akzentuierungen wie curriculare Vorgaben, Aus- und Fortbildungssysteme und vor allem die unterschiedlichen Schulformen und Schulstufen.
Im Folgenden werden zunächst zentrale Strukturelemente einer schulischen Kunstpädagogik vorgeführt. Dann folgt eine akzentuierte Beschreibung der schulstufenbezogenen Akzente.
Aisthesis vs. Ästhetik
Kunstpädagogik hat zwei Bezugsfelder bzw. Bezugsdisziplinen: Sie bezieht sich zum einen auf eine allgemeine Bildung des Menschen im Sinne einer basalen ästhetischen Erfahrungsbildung (Aisthesis). Sie ist aber zum anderen auch der schulische Ort der Begegnung mit der bildenden Kunst, visueller Alltagskultur in unterschiedlichen Medien (Ästhetik).
Ästhetische Erfahrungsbildung: Hier wird auf ein allgemeines Bildungsprinzip hingewiesen, das besagt, dass sich der Mensch von Anfang an selbsttätig bildet – und zwar primär ästhetisch. Ausgehend von der Sinnestätigkeit, die zu ästhetischen Mustern verdichtet wird, entwickeln sich ästhetische Erfahrungen, wobei Neues und Erstaunliches mit der bereits zugrunde liegenden Erfahrungsgeschichte abgeglichen und in sie integriert wird. Dies ist ein komplexer Prozess, der auf die Vernetzung unterschiedlicher Sinnesdaten angewiesen ist und mittels Kognition ein Bewusstsein von Selbst und Welt ausbildet.
Nach Wolfgang Klafki lassen sich die folgenden fünf Ziele der ästhetischen Bildung aus der Perspektive der klassischen Bildungstheorien unterscheiden (vgl. Klafki 1996:33): (1) Bildung der „Empfindsamkeit“, (2) Entwicklung der Einbildungskraft oder Fantasie, (3) Entwicklung der ästhetischen Urteilskraft, (4) Entwicklung von Genussfähigkeit und (5) Befähigung zum Spiel und zur Geselligkeit.
Begegnung mit Kunst: Die kunstpädagogische Praxis des Umgangs mit (bildender) Kunst gliedert sich in zwei Bereiche: die ästhetisch-künstlerische Produktion und die Rezeption von Kunstwerken bzw. visuellen Zeichensystemen (in unterschiedlichen Medien).
Diese Bereiche sind miteinander verwoben, wobei sich die unterrichtlichen Zielsetzungen unterscheiden. Es geht dabei um die bereits auf dem ersten Dresdener Kunsterziehertag (1901) gestellte Frage, ob es um „Erziehung zur Kunst“ oder „Erziehung durch Kunst“ gehe.
In der kunstpädagogischen Praxis stellt sich diese zentrale Frage anders: Haben SchülerInnen die Möglichkeit, sich vom behandelten Gegenstand ergreifen zu lassen, um das Erlebte intermedial zum Ausdruck zu bringen?
Kunstdidaktische Positionen
Diese zentralen Paradigmen der schulischen Kunstpädagogik werden im kunstdidaktischen Diskurs divergent abgebildet. Ohne hier auf die komplexe Fachgeschichte eingehen zu können, sollen schlaglichtartig zwei gegenwärtige Positionen gegenübergestellt werden (vgl. Peez 2008):
(1) Bildorientierte Kunstpädagogik: Diese Strömung versucht, die Impulse der visuellen Kommunikation mit Gunter Ottos Konzept der ästhetischen Erziehung zu verbinden bzw. zu erweitern (vgl. Bering/Niehoff 2007). Zentraler Gegenstand der anvisierten Praxis ist der aufgeklärte und kritische Gebrauch von Bildern, wobei Bilder einer medialen Umwelt gleichrangig mit ausgewiesenen Kunstwerken behandelt werden. Dieser Unterricht versteht sich als Beitrag zur visuellen Alphabetisierung.
(2) Künstlerische Bildung: Zeitgleich und inhaltlich in Opposition hierzu etablierte sich eine Bewegung einer „künstlerischen Kunstpädagogik“ (vgl. Buschkühle 2003). Künstlerische Bildung sieht sich in kritischer Opposition zur „ästhetischen Rationalität“ und zu einer schulpädagogisch zugerichteten Welt, die lehrplankonformes Wissen zu operationalisieren weiß, um es als Lerninhalt abzuprüfen (siehe Vanessa-Isabelle Reinwand „Künstlerische Bildung – Ästhetische Bildung – Kulturelle Bildung“). Zu erwähnen sind in diesem Kontext biografiezentrierte Modelle, die unterschiedliche Formen des künstlerischen forschenden Lernens erproben und explizit an künstlerische Strategien anknüpfen (vgl. Kämpf-Jansen 2004; Brenne 2004; Heil 2007; Sabisch 2007; Busse 2007).
Schulstufenbezogene Kunstpädagogik
Pädagogik der frühen Kindheit / Kindertagesstätten und Betreuungseinrichtungen:
In der Pädagogik der frühen Kindheit hat die Kunstpädagogik eine integrierende Funktion – allerdings nicht als explizites Fach, sondern in Form einer interdisziplinär ausgerichteten ästhetischen Bildung. Damit ist weniger eine explizite Kunstvermittlung gemeint, sondern eine fokussiert sinnlich-emotionale Auseinandersetzung mit lebensweltlichen Phänomenen (vgl. Beck-Neckermann u.a. 2008). Kunstwerke werden in diesen Zusammenhängen selten thematisiert. Stattdessen spielen alle Dimensionen ästhetischen Handelns eine zentrale Rolle und werden in fächerverbindenden Projekten entwickelt (vgl. Schäfer 2001). Der experimentelle, handlungsorientierte Umgang mit Material steht dabei im Vordergrund (Kneten, Zeichnen, Malen, Bauen). Von besonderer Bedeutung ist das „wilde“ Basteln/Bricollage, bei dem Kinder spontane Materialexperimente situativ und narrativ ausdeuten (vgl. KolhoffKahl 2007).
Dennoch ist in vielen frühpädagogischen Konzepten der Bereich Kunstpädagogik/ Ästhetische Bildung ein blinder Fleck. In vielen Kindertagesstätten wird meist nach Anleitung und unter Mithilfe von Eltern und ErzieherInnen nach Bauplan „gebastelt“. Die künstlerisch ausgerichtete Waldorfpädagogik bietet dagegen vielfältige Betätigungsfelder – dennoch bauen diese Angebote auf der Steinerschen Lehre auf, und eine pädagogisch tragfähige Begründung wird ausgespart. Eine explizite Ausnahme stellt hier die Reggio-Pädagogik dar, in der eine umfangreiche gestalterische Praxis mit Formen der ästhetischen Forschung verknüpft wird (vgl. Ullrich/Brockschnieder 2001).
Grundschule:
Die Grundschule greift frühkindliche Bildungsprozesse auf und entwickelt sie weiter. Bildnerisches Verhalten, szenisches Spiel und Musik werden zunächst nicht fachbezogen thematisiert, sondern sind Medium einer kindbezogenen Auseinandersetzung mit Welt. Neben dieser fächerübergreifenden Praxis gibt es einen in der Stundentafel verankerten Kunstunterricht, in dem zumeist eine fertigkeits- oder produktorientierte Praxis dominiert. Gestaltungsanlässe sind zumeist Brauchtumsfeste oder Beiträge zur Schul- und Klassenkultur. Dabei wird oftmals auf einschlägige Publikationen aus dem sogenannten „Kreativbereich“ zurückgegriffen. Daneben gibt es aber auch einen seriösen Fachunterricht, der Elementarerfahrungen in unterschiedlichen Gestaltungsbereichen ermöglicht, diese projektorientiert ausbaut und eine dezidierte Kunstbetrachtung anbahnt. Dazu gehört auch eine Auseinandersetzung mit der Alltagskultur und mit medialen Phänomenen.
In der Auseinandersetzung mit Kunst gibt es zwei methodische Herangehensweisen. Zum einen wird der mimetische Nachvollzug von Strukturelementen künstlerischer Arbeitsweisen und deren Einbindung in kindbezogene Themenstellungen propagiert. Gegenstand sind hier zumeist kanonisierte KünstlerInnen der Moderne, die eine bestimmte Nähe zur Ästhetik der Kinder aufweisen (sammeln, collagieren...) (vgl. Kirchner 1999). Dem steht ein Verfahren gegenüber, in dem Kinder assoziativ und unter Rückgriff auf die eigene Erfahrungsgeschichte den Wirkungen von Kunstwerken nachspüren und sie gestalterisch verdichten (vgl. Uhlig 2005).
Neben diesen Formen von Kunstrezeption gibt es auch eine Didaktik, die künstlerische Verfahren in der unmittelbaren Beschäftigung mit lebensweltlichen Phänomenen erprobt (vgl. Urlaß 2005; Brenne 2007).
Sekundarstufe I:
Auch im Übergang zwischen Primar- und Sekundarschule werden bereits erworbene Kompetenzen aufgegriffen. Dennoch kommt es in der adoleszenten Phase zu bedeutsamen Verschiebungen. Der krisenhafte Übergang zwischen später Kindheit und Jugendalter ist eine Phase der Identitätssuche in Hinblick auf das kommende Erwachsenenalter. In diesem Zusammenhang ist die Vermittlung eines Bewusstseins für die prinzipielle Gestaltbarkeit sozialer Systeme ein unverzichtbarer Förderaspekt kunstpädagogischen Lernens in der Sekundarstufe (vgl. Amirsedghi 2007).
Trotz dieser phasenspezifischen Merkmale fällt es schwer, ein einheitliches Profil zu entwickeln. Zu unterschiedlich sind die Lernvoraussetzungen und die schulformspezifischen Unterschiede. Wenn man auf der einen Seite die technischhandwerkliche Seite des Faches forciert, wird auf der anderen Seite der allgemeinbildende Auftrag stark gemacht, d.h. Lernziele werden auf den weiteren Bildungsgang ausgerichtet (Abitur, Studium, Lehre …). Trotz dieser Einlassungen lassen sich folgende schulstufenbezogene Merkmale identifizieren: Thematisch geht es vordringlich um relevante Themen des Jugendalters (die Familie, die Peers, Alltagskultur, Berufsleben, mediale Formationen) (vgl. KUNST+UNTERRICHT/SB 2005). Diese Themenfelder werden experimentell befragt und gestalterisch umgesetzt. Auch Kunst wird herangezogen; allerdings nicht als selbstzweckhafter Gegenstand, sondern als Impuls einer lebensweltlichen Befragung und subjektiven Sinnsuche. Dieses Potential gilt es auszuschöpfen. Insbesondere die Erweiterung alltagskultureller Stilistiken durch Kunst befremdet geläufige Zusammenhänge und öffnet die Tür zu einer erweiterten Weltsicht.
Im Hinblick auf die praktische Arbeit spielen gestalterisch-technische Verfahren eine wichtige Rolle. Dabei geht es nicht allein um eine experimentelle Erprobung von Material, sondern auch um die Entwicklung von spezifischen Fertigkeiten und alltagstauglichen Kompetenzen. Auch die Bezüge zum vormaligen Werkunterricht sind wichtig. Dennoch ist eine Einbindung dieser Praxis in produktive und identitätsstiftende Projekte vonnöten (vgl. Sowa 2005:19). Eine Vermittlung rein technischer Inhalte oder die formale Einweisung in künstlerische Verfahren greift zu kurz und ignoriert die existentiellen Bedürfnisse jugendlicher Menschen.
Sekundarstufe II:
Vorab: In keiner anderen Schulstufe werden die Möglichkeiten kunstpädagogischer Praxis derart durch administrative Vorgaben eingeschränkt wie in der auf die allgemeine Hochschulreife vorbereitenden Oberstufe. Lernziele werden prüfungsorientiert festgelegt, wobei die Inhalte durch bundesweite Vorgaben eingeschränkt werden (vgl. Grünewald 2009a). Schülerorientiertes Arbeiten wird hier insofern erschwert, als dass sich durch den engen Rahmen freie Vermittlungsformen und individuelle Zugänge nur bedingt realisieren lassen.
Folgende Aspekte bestimmen den Unterricht in der Sekundarstufe II: Die spontane Kunstbegegnung wird durch die Anwendung kunstgeschichtlicher Auslegungsverfahren erweitert und systematisiert. Dabei geht es um epochales Wissen, das in Hinblick auf vielfältige Zeugnisse einer visuellen Kultur entwickelt wird. So finden Architektur, Design, Film, Internet und die ganze Breite der Alltagskultur ebenso Beachtung wie geistesgeschichtliche Bezugsfelder. Die in diesem Zusammenhang durchgeführte Gestaltungspraxis soll der Vertiefung der kunstgeschichtlich erarbeiteten Inhalte dienen. Es handelt sich aber zumeist um mimetische Vollzüge der behandelten Epoche.
Nichtsdestoweniger bietet auch die kunstpädagogische Praxis der Oberstufe Chancen, sich substanziell zu erproben (vgl. Kirschenmann/Grünberg 1997:49). Das gilt für die Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst und ihren adäquaten Strategien. Auch historische Kunst kann bedeutsam werden, wenn man ihr Befremdungspotential aufrechterhält und eine produktive Bewältigung evoziert. Damit ist aber nicht die penible Rekonstruktion historischer Kunst gemeint, sondern die Transformation und Aktualisierung einer spezifischen Formensprache in die juvenile Lebenswelt. Dies beinhaltet auch den Zugriff auf unterschiedlichste mediale Formen (vgl. Brög u.a. 1988).
Sonderschule:
Sonderschulen haben ein jeweils unterschiedliches Profil. Gemeinsam ist der besondere Förderbedarf der AdressatInnen, wodurch sich spezifische Lehr-, Lern- und Förderschwerpunkte ergeben. Nach Barbara Wichelhaus sollten Entwicklungsverzögerungen, intellektuelle, physische und psychische Beeinträchtigungen Beachtung finden (vgl. Wichelhaus 2004:5). In welcher Weise kunstpädagogisches Arbeiten auf diese Merkmale eingehen und welche Ziele angestrebt werden sollten, ist in der Fachliteratur durchaus umstritten (vgl. Hubert 2004; Ripper 2011). Grundsätzlich geht man aber davon aus, dass im Bereich des bildnerischen Gestaltens ein besonderes Förderpotential steckt. Hier kann man jenseits von Sprache individuelle Sichtweisen und Haltungen klären und kommunizieren. Hinzu kommen Elementarerfahrungen mit unterschiedlichen Materialen und in unterschiedlichen Medien. Diese sinnstiftenden Maßnahmen unterstützen Selbstbildungsprozesse und vermitteln das Gefühl von Wirksamkeit. Ein weiterer didaktischer Aspekt ist die Teilhabe am kulturellen Feld (vgl. Theunissen 2004).
Bezogen auf die administrativen Vorgaben haben Sonderschulen einen hohen Gestaltungsspielraum. Die ausgewählten kunstpädagogischen Inhalte konzentrieren sich nicht auf die Vermittlung kanonisierten Wissens, sondern fokussieren auf den Bereich der ästhetischen Erfahrungsbildung in seiner ganzen Breite. Diversität artikuliert sich hier nicht als Problem, sondern als Chance!
Fazit
Das heutige Schulsystem ist im Hinblick auf Chancengleichheit in hohem Maße reformbedürftig (vgl. Fereidooni 2010). Das berührt auch die schulische Kunstpädagogik. Eine partizipatorisch ausgerichtete Schulkultur muss den „Ausgeschlossenen“ Zugang zur etablierten Kunst und Kultur ermöglichen. Nicht im Sinne einer „Anpassungsleistung kulturfremder Abweichler“, sondern als akzeptierender und kooperativer Ausgleich zwischen divergenten Positionen und kulturellen Manifestationen. Hier bietet die Auseinandersetzung mit Kunst Chancen; das prinzipiell Fremde evoziert eine prinzipielle Ethik der Offenheit (vgl. Welsch 1994:4). Des Weiteren lassen sich durch ästhetisch-künstlerische Praxis individuelle Kompetenzen jenseits schulischer Bezugsnormen nachhaltig fördern. Gerade für SchülerInnen mit geringen literalen Kenntnissen sind derartige Qualifikationsmöglichkeiten wichtig und wirken sich positiv auf weitere Lernerfolge aus.
Die heutige Bildungslandschaft braucht die Kunstpädagogik mehr denn je. „Durch Menschen bewegen sich Ideen fort, während sie in Kunstwerken erstarren und schließlich zurückbleiben“ (Beuys 1988:2).