Kunst als politische Partizipation – politische Partizipation als Kunst?
Abstract
Im Text untersucht Christoph Scheurle das Verhältnis von Politik und Kunst und geht anhand konkreter künstlerischer Aktionen der Frage nach, in welcher Form sich die Kunst aktiv in politische Prozesse einzumischen vermag, ohne Gefahr zu laufen einer einseitigen oder gar propagandistischen Verzweckung zu unterliegen. Im Sinne eines partizipativen Verständnisses schlägt er vor, Kunst - sofern sie sich als politisch engagiert zeigt - vor allem als Versuch zu verstehen, sich über den sozialen Raum als gemeinsamen Handlungsraum bewusst zu werden, in dem die unterschiedliche Gestaltungsoptionen jeweils neu zu verhandeln sind.
Dass Kunst und Politik prinzipiell etwas miteinander zu tun haben, wird oftmals angezweifelt. Kunst wird auch heute noch nach einer Idee der Aufklärung mit Zweckfreiheit verbunden. Aus Perspektive der Rezeption hat Immanuel Kant unter dem Begriff des „interesselosen Wohlgefallens“ jegliche pragmatischen Erwägungen ausgeschlossen. Ästhetische Betrachtung zeichne sich dadurch aus, dass ganz unerheblich sei, ob man die Sachen an sich sinnvoll finde oder nicht. Im Gegenteil: „Man muss nicht im Mindesten für die Sache eingenommen, sondern in diesem Betracht ganz gleichgültig sein.“ (Kant 1997: 117, §2) Interesse bestehe nicht an der Frage, ob man den Gegenstand an sich moralisch gutheiße, sondern lediglich an der Frage, ob „die bloße Vorstellung des Gegenstandes [...] mit Wohlgefallen begleitet sei“ (ebd.). Dieser Idee folgend denkt sich Friedrich Schiller in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ die Sphären der Kunst als einen dritten Ort, der frei von Zwecken, Moral und Naturgesetzen sei (vgl. Schiller 1879: bes. 14. Brief) (siehe auch http://gutenberg.spiegel.de/buch/ueber-die-asthetische-erziehung-des-menschen-in-einer-reihe-von-briefen-3355/3). Diese Vorstellung von Kunst als einem autonomen Bereich wendet sich dezidiert gegen eine politische Indienstnahme der Kunst und soll deren Verzweckung verhindern. Der Kunst wird damit ein Platz in der Gesellschaft eingeräumt, in der sie außerhalb der Norm nach ihren eigenen Regeln arbeiten kann. Diese ihr zugestandene Autonomie wird allerdings dann zum Problem, wenn die Zweckfreiheit als Relevanzlosigkeit ausgedeutet und die Kunst damit prinzipiell für politische Fragen als irrelevant abgetan wird. Dann werden die Kunst oder die KünstlerInnen selbst, auch wenn sie sich zum politischen Geschehen direkt und unmittelbar verhalten, als Marginalien abgetan, Kunst wird bedeutungslos. Argumentiert wird, dass ihr Handeln nicht nur zweckfrei, sondern auch konsequenzlos sei. Wer Narrenfreiheit besitzt, kann der Gesellschaft zwar einen Spiegel vorhalten, darf sich aber keine nachhaltigen Wirkungen davon versprechen. Das Problem der Kunst sei, so hat Theodor W. Adorno festgehalten, dass sie sich mit Themen und Dingen befasse, die sie mit ihren eigenen Mitteln nicht zu lösen vermag (vgl. Adorno 1959:97f.). Unter diesem Verständnis muss sich Kunst scheinbar darauf beschränken, politische Realitäten aus gemessener Distanz zu kritisieren.
In der Realität mag sich die Kunst mit dieser ihr zugewiesenen Position freilich nicht begnügen und mischt sich in die politischen Debatten oftmals ein. Auch die Politik schätzt die Kunst nicht immer nur als harmlos ein und unternimmt manches Mal den Versuch, die Kunst und deren ProduzentInnen für sich zu vereinnahmen oder mundtot zu machen. Dies zeigen Aktionen wie etwa die Punk Prayer der russischen Aktionskünstlerinnen von Pussy Riot und der prompte Versuch des russischen Staats, die Gruppe qua Gesetz auszuschalten. Auch in der Kunstwissenschaft selbst ist in unterschiedlichsten Disziplinen wieder verstärkt ein Diskurs zu beobachten, in dem die Relevanz von Kunst im Mittelpunkt steht. Unter dem Stichwort „Entgrenzung der Künste“ (vgl. beispielsweise Eiermann 2009; Mattenklott 2004; Meyer et al. 2016; Meister/von Hantelmann 2010) wird „ein postautonomes Verständnis von Kunst, in deren Folge“ die „Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst destabilisiert“ werde, propagiert (Meyer et al. 2016:13). In dieser Folge legen manche gar nahe, die Entwicklung einer autonomen Kunst allenfalls als Randnotiz der europäischen Geschichte zu betrachten. Unter dem Begriff „Theater als Intervention“ stellen etwa Matthias Warstat und andere fest, dass trotz kolonialer Einflüsse „in vielen afrikanischen Ländern Theaterkulturen, die […] ästhetische[n] Programme und Kunstideologeme des europäischen Idealismus nicht (oder nur teilweise) übernommen“ wurden (Warstat et al. 2015:12). Hier herrsche ein Theaterverständnis vor, welche das Theater nicht außerhalb, sondern direkt und unmittelbar innerhalb der Gesellschaft verorte. Im weitesten Sinne handele es sich dabei um Projekte mit klarer Zielgruppe: „Dorfgemeinschaften, Stadtteilgruppen, Patienten, Klientinnen, Häftlinge, Betriebsbelegschaften, Angehörige genau eingegrenzter sozialer Milieus, jedenfalls Gruppen, die explizit benannte soziale Merkmale teilen.“ (Ebd.:7) Parallel dazu machen die AutorInnen die Beobachtung, dass eine Reflexion über die materiellen und institutionellen Voraussetzungen von Kunst eingesetzt habe. Dies zeige sich maßgeblich in Projekten, die eine Auseinandersetzung mit „ihrer eigenen Infrastruktur, den Produktionsbedingungen und Finanzierungsformen zum Thema machen“ (ebd.:12). In dieser Entwicklung zeige sich, so der Theatermacher Jan Deck, ein neues Verständnis des Verhältnisses von Politik und Kunst, in dem es nicht mehr darum gehe, politische Kunst oder politisches Theater zu machen, sondern darum, politisch Theater zu machen (vgl. Deck 2011). Die Idee vom Künstler als einem oder kritischen Intellektuellen, „der im Wissen um die Falschheit der bestehenden Verhältnisse diese mithilfe künstlerischer Mittel anprangert“ und als „Symbolfigur des Widerstands“ die Kunst zum „Forum dieser Verhandlung über aktuelle Entwicklungen“ mache, sei obsolet (ebd.:12). Einer aktuellen künstlerischen Auseinandersetzung dürfe es schlechterdings nicht darum gehen, sich auf die sittlich oder politisch ‚richtige‘ Seite zu schlagen, um Anklage zu erheben oder sich moralisch ins Recht zu setzen, sondern vielmehr darum, die Praxen und Logiken des politischen Handelns selbst ins Visier zu nehmen, zu thematisieren und bestenfalls zu durchbrechen. Beispielhaft am Theater führt Deck aus, was unter dieser Prämisse unter politischer Kunst verstanden werden kann:
„Politisch Theater zu machen heißt […] nicht, dass man keine politische Haltung einnehmen will, sondern sich […] einer moralischen Positionierung bewusst zu verweigern, um die Funktionsweise von Politik zu thematisieren. Moralische politische Kritik greift dagegen immer zu kurz, sie operiert an der Oberfläche und bleibt in der Systematik eines landläufigen Politikbegriffs gefangen.“ (Ebd.:28)
Politisch Kunst zu betreiben, bedeutet dann nicht nur das Feld der Politik in den Blick zu nehmen, sondern schließt eine kritische Betrachtung der Politiken der eigenen künstlerischen Praxen mit ein. Gerade unter dem Schlagwort der „Partizipation“ erweist sich eine solche Wendung als produktiv. Denn wenn unter Partizipation das Feld der Teilhabe-, Teilnahmechancen und -möglichkeiten in den Blick genommen werden soll, dann sind die KunstproduzentInnen aufgefordert, die Kunstprozesse selbst sowie die unterschiedlichen an den Prozessen beteiligten AkteurInnen und deren jeweiligen Positionen zu reflektieren und neu zu verhandeln. Im selben Zuge sind dann auch vermeintlich feststehende Begrifflichkeiten wie Kunst, Politik, Publikum oder KünstlerInnen sowie deren relationale Beziehungen, wenn nicht Makulatur, so doch zumindest im Fluss. Markant für die Idee des politischen Kunst-Betreibens scheint zu sein, dass vermeintlich feststehende Routinen und Logiken – sowohl des Politischen als auch der Kunst – durchbrochen werden. Allerdings: Auch wenn eine solche Wendung zu einem kritischen Bewusstsein und eventuell auch zu erweiterten und veränderten Praxen künstlerischen Handelns führen mag, so muss dennoch fraglich bleiben, ob eine solche Veränderung der Perspektiven gleichbedeutend ist mit einem grundsätzlichen Systemwechsel, der die Autonomie der Kunst auflöst. Denn
„auch wenn die Künstler daran arbeiten, die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen dem Ästhetischen und dem Sozialen, Politischen, Ethischen zu überschreiten, zu verwischen, ja zu annullieren, vermögen die von ihnen initiierten Aufführungen wohl, auf die Autonomie von Kunst zu reflektieren, nicht aber sie aufzuheben. Denn diese wird durch die Institution Kunst garantiert.“ (Fischer-Lichte 2004:352)
Kunst wäre damit auch weiterhin unter dem Vorzeichen der Kunst zu betrachten. Die Politik muss sich auch weiterhin weniger an ihren ästhetischen, als an ihren faktischen Ergebnissen messen lassen (vgl. Scheurle 2009:216). Andererseits: In einer paradoxen Wendung solcher kategorischen Unterscheidungen lässt sich argumentieren, dass „die Kunst eine politische Wirkung genau auf Grund der Abgekoppeltheit der ästhetischen Sphäre entfaltet“ (Rancière/Höller 2007:464). Die Form ihrer Wirksamkeit, so etwa Jacques Rancière, bestehe ja genau „im Verwischen von Grenzen, in der Neuaufteilung der Beziehungen zwischen Räumen und Zeiten, zwischen dem Realen und dem Fiktiven etc.“ (ebd.), also in dem Ausloten und stetem Neu-Verhandeln der Beziehungen von Kunst und Leben bzw. Kunst und Politik. Damit wird der Kunst zumindest zuerkannt, dass sie, bedingt durch ihre Abgegrenztheit vom politischen Alltag, in der Lage ist, Routinen zu durchbrechen und politische Fragen spielerisch und alternativ zum „business as usual“ zu bewegen. Diese Bewegung ist jedoch nicht einseitig auf den Bereich der Politik ausgerichtet, sondern hinterfragt auch die Kunstinstitutionen. Diese Form der Selbst-Provokation ist in der Performance Art spätestens schon seit den 1970er Jahren etablierte Praxis. Wenn der Kurator Tom Marioni 1970 unter dem Pseudonym Alan Fish im Oakland Museum of Modern Art zu einem Kunstevent unter dem Titel: „The Act of Drinking Beer with Friends is the Highest form of Art“ einlädt (vgl. Blunk 2012) oder Joseph Beuys im Rahmen der Documenta 5 (siehe www.documenta.de/en/retrospective/documenta_5) einen „Boxkampf für direkte Demokratie“ veranstaltet, ist die Institution Museum genauso wie seine Besucherinnen und Besucher herausgefordert, sich mit diesen Aktionen und ihrer jeweiligen Rolle unter der Prämisse eines veränderten Kunstbegriffs auseinanderzusetzen. Die Kunst nimmt sich hier zum einen das Recht, Bereiche und Situationen, die vorher klar als Nicht-Kunst markiert waren, für sich und ihre Belange zu reklamieren und partizipiert in der Folge an gesellschaftlichen Bereichen, von denen sie sonst ausgeschlossen bliebe. Zum anderen öffnet sie den exklusiven Kunstraum, der sonst den Kunst-Profis vorbehalten bleibt. Dies ist sozusagen der Tribut, den die Kunst für die Auflösung der Grenzen entrichten muss: Denn es bedeutet für die KünstlerInnen auch, den elitären Raum, die Deutungshoheit und die Handlungsmacht mit anderen zu teilen.
Eine der Konsequenzen eines solchen gelenkten oder eingeleiteten Blick- und Verhaltenswechsels zwischen Kunst und Sozialem führt dazu, dass Situationen unüberschaubar, unkalkulierbar und vor allem unkontrollierbar werden. Aktionen wie etwa das „Radioballet: Übungen im Nicht-Bestimmungsgemäßen verweilen“ (siehe http://ligna.blogspot.de/2009/12/radioballett.html) des Hamburger Performance Kollektivs Ligna spekulieren und arbeiten genau mit dem Moment des Unkontrollierbaren. So finden sich in Leipzig am 20. Juni 2003 annähernd 500 Menschen ein, die über den ganzen Bahnhof verteilt und, angeleitet durch eine Stimme, die per Radio empfangen werden kann, eingeladen werden, die gleichen Bewegungen auszuführen (vgl. Ligna 2011:43). In dieser Aktion geht es Ligna darum, die „aus dem öffentlichen Raum verdrängten Gesten wieder zurückkehren“ zu lassen (Ligna o.J). Die Aufmerksamkeit gilt minimalen Differenzen: „Von der Geste, die Hand zu reichen, zur Geste, die Hand aufzuhalten, ist nur eine kleine Drehung des Unterarms nötig.“ (Ligna 2011:47) Jedoch: der „kleine Unterschied in der Haltung der Hand ist in kontrollierten Räumen wie den Bahnhöfen von großer Bedeutung, entscheidet er doch darüber, ob man in ihnen verweilen darf oder vor die Tür verwiesen wird“ (Ligna o.J.). Die TeilnehmerInnen der Performance werden dabei als gleichzeitige, aber zerstreut agierende Masse sichtbar. Damit wird die Hausordnung des Bahnhofs unterlaufen, die nicht genehmigte Versammlungen und Protestkundgebungen verbietet, und die Logik der im Bahnhof üblichen und regulären Ordnungs- und Handlungspraktiken – Anreisen, Konsumieren, Abreisen – gestört. Die Tatsache, dass die Performance gewissermaßen entkernt ist und ohne Zentrum auskommt und jede und jeder für sich handelt, lässt nicht nur die Logik der Hausordnung gleichsam als politische Ordnung ins Leere laufen, gleichzeitig belässt sie den einzelnen Performerinnen und Performern auch die Autonomie des Handelns: „Eine Verführung zur Teilnahme findet nicht statt; die Radiostimme weist stets darauf hin, dass niemand etwas mitmachen soll, was er nicht will.“ (Ebd.) Das „Radioballet“ bietet auf solche Weise die Möglichkeit, den Raum neu zu besetzen und zu bespielen. Eine solche Strategie, die ihrer Form nach an „Smart Mobs“ („Ein Smart Mob ist eine Gruppe von Menschen, die Mobiltechnik nutzen, um sich spontan zusammenzutun, egal wo sie sind - mit dem Ziel, gemeinsam etwas zu erreichen: einen Superstar im TV zu wählen, eine Demonstration zu organisieren, Freunde zum Ausgehen zu finden oder auch 25 Leute zusammenzutrommeln, um einen niedrigeren Preis bei einem Geschäft auszuhandeln.“ Rheingold 2003) oder an die „Direkte Aktion“ (zu dem Begriff siehe Graeber 2013; Walter 2008) erinnnert, lassen sich auch in weniger spielerischer Form und in weitaus prekäreren Situationen als dem Leipziger Hauptbahnhof ausmachen. So wird etwa der Protest des „Standing Man“ (Duran Adam) (siehe http://nomoi.hypotheses.org/751) des türkischen Choreografen und Tänzers Erdem Gündüz zu einer der prägendsten Figuren der Protestkundgebungen im Gezi-Park von Istanbul gegen das Regime des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten der Türkei Recep Tayyip Erdoğan. Gündüz stellt sich am 18. Juni 2013 auf den Taksim-Platz der türkischen Metropole Istanbul und schaut für sechs Stunden unverwandt die türkische Fahne und das überlebensgroße Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk an. Er schweigt und reagiert weder auf die Ansprachen der Ordnungskräfte, die nicht so recht wissen, wie sie mit dem augenscheinlichen Protest von Gündüz umgehen sollen, noch auf die anderer Personen. Die Protestform jedoch wirkt. Weitere DemonstrantInnen übernehmen die Form des stummen Protests und variieren und individualisieren ihn gleichzeitig: Menschen stehen stumm und vereinzelt mit verbundenen Augen auf dem Platz, einer hält Kafkas „Der Prozess“ in der türkischen Fassung, jedoch verkehrt herum, ein weiterer steht auf vier zerbrechlichen Teegläsern. (Vgl. Scheurle 2016) Die Aktion erlaubt es jedem, seinem individuellen Protest Ausdruck zu verleihen. „Dabei wird die choreografische Urform – stehen und schauen – mannigfach variiert und spielt dabei auf subtile Art auf bestimmte Formen der Unterdrückung“, die türkische Historie oder auch die Zensurbestrebungen des Regimes an (ebd.).
Ist die Einladung an andere hier offenbar und setzt auf den handlungswilligen Akteur, den so eröffneten Raum zu besetzen, so werden in anderen Settings auf noch viel radikalerer Weise Personen –manchmal ganz unbewusst und auch nicht immer ganz freiwillig zu Akteurinnen und Akteuren. Christoph Schlingensiefs Aktion „Bitte liebt Österreich – Erste Europäische Koalitionswoche“, die im Jahr 2000 auf dem Wiener Opernplatz stattfindet, dringt nicht nur dezidiert in den politischen Raum ein und zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es schwerfällt die Grenzen zwischen Politik und Kunst zu ziehen, „Bitte liebt Österreich!“ macht alle – AnwohnerInnen, PolitikerInnen und TouristInnen – zu AkteurInnen in einem Spiel, in dem auch Nicht-Handeln als Handeln zu verstehen ist. In der Aktion beziehen 12 AsylbewerberInnen für eine Woche ein Containerdorf auf dem Wiener Opernplatz, das rund um die Uhr von Kameras bewacht wird und auf dem Fahnen und Wahlkampfslogans der rechtspopulistischen Partei FPÖ angebracht sind. Den Mittelpunkt bildet ein prominent auf dem Containerdach angebrachtes Schild mit der Aufschrift: „Ausländer raus!“.
„Unter Bezugnahme auf das RTL2-Spektakel BIG BROTHER ist die österreichische Bevölkerung dazu aufgerufen, per Telefon täglich die zwei ungeliebtesten Insassen aus dem Container herauszuwählen. Auch via Internet kann abgestimmt werden. Dort überträgt die Firma Webfreetv sechs Tage lang rund um die Uhr live die Ereignisse im Container.“ (Schlingensief o. J.)
Der Container, der mit Slogan wie „Wien darf nicht Chicago werden“ oder einem SS-Wahlspruch „Unsere Ehre heißt Treue“, dessen sich der FPÖ-Vorsitzende Ernest Windholz bedient haben soll (vgl. u.a.: Forrest 2015:83), wirkt wie ein Katalysator. Im Verlauf der Aktion kommt es hier zu Begegnungen und Auseinandersetzungen zwischen KünstlerInnen, PolitikerInnen sowie weiteren unterschiedlichen Gruppen, die sich alle mehr oder weniger exponieren und so zu Mitspielenden werden. So kommt es zu einer Neukonfiguration der Rollen von Agierenden und Rezipierenden. Die eigentlichen DarstellerInnen, die mit Gastspielverträgen ausgestatteten Asylsuchenden, werden mehr und mehr zu Beobachtenden, die dem Treiben um sie herum mehr oder weniger staunend zusehen. Ebenso zieht sich Schlingensief als Initiator mehr und mehr zurück, den Schauplatz besetzen PassantInnen, TouristInnen, ReporterInnen und DemonstrantInnen:
„Die Irritation wächst, aber auch die Aggression. Mehr und mehr Menschen kommen, ein unglaublicher Rechtfertigungsdrang macht sich breit. Eine Frau sagt: ‚Wir haben genug getan für Österreich.‘ Kleine, lose Gruppen entstehen, ein Wort ergibt das andere, in Gesprächen geht es hart auf hart. Manche Passanten kennt man schon, sie kommen täglich zum Container, manche leisten Aufklärungsarbeit, andere toben. Schlingensief muss gar nicht mehr dabei sein, es läuft auch ohne ihn.“ (Cerny 2000:132)
Der Höhepunkt scheint dann erreicht, als linke Demonstrierende den Container stürmen, um die vermeintlich eingesperrten AsylbewerberInnen zu befreien und sich diese angstvoll zurückziehen (vgl. Schödel 2000:173). Die eigentlichen ZuschauerInnen werden zu Agierenden der Inszenierung. Wenn sich zunächst noch vor allem das Verhandeln und Handeln zwischen dem Theatermacher (Christoph Schlingensief) und der Bevölkerung ereignet, so verlagern sich die Diskussionen und Aktionen zunehmend in die verschiedenen Gruppierungen der Bevölkerung selbst. Verbunden damit ist auch eine Verlagerung der Spielorte an unterschiedliche Orte. Die Präsenz des Containers mit dem Schild „Ausländer raus“ bildet nur mehr die dramaturgische Grundlage, eine Art Katalysator, der neue und andere Aufführungs- und Interaktionspraxen hervorbringt. So gesehen ist Schlingensiefs Aktion über große Strecken durch Nicht-Handeln seitens der Initiatorinnen und Initiatoren gekennzeichnet bzw. von einem Abwarten, was sich als nächstes ereignen wird. In dieser Aktion, die als direkte Reaktion auf die politische Situation in Österreich zu verstehen ist, in der zum ersten Mal eine konservative Partei mit den RechtspopulistInnen einen Regierungskoalition einging, treten die Charakteristika einer auf partizipativen Elementen aufbauenden, sich als politisch verstehenden Kunst noch einmal klar zutage: Es handelt sich um eine Inszenierung, in der lediglich die Rahmenbedingungen für einen ansonsten offenen Handlungsraum definiert werden, in dem im Weiteren die Grenzen zwischen Politik und Kunst immer undeutlicher werden, sich die Hierarchien von Kunstschaffenden als Handelnde und einem Publikum als Rezipierende auflösen und der Fortgang und die Logiken sowohl politischer als auch künstlerischer Routinen unterbrochen wird. Dennoch bleibt auch hier festzuhalten:
„Die Intervention von Theater und Performance ist […] zuallererst eine ästhetische. Es geht mehr um eine veränderte Wahrnehmung, was auf Sinne und Körper der Zuschauer zielt. Die Selbstverständlichkeit bestimmter gesellschaftlicher Funktionsweisen wird untergraben, ebenso die Polizei und Regierung im eigenen Kopf.“ (Deck 2011:28)
In dieser Perspektive bedeutet Partizipation im Verhältnis zwischen Politik und den Künsten vor allem das Verhältnis von Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden auszuloten, die dann nicht mehr nur als Rezipierende, sondern auch als Agierende aktiv werden (vgl. Scheurle 2017). Partizipation strapaziert damit zum einen die Vorstellung von dem, was Kunst ist und thematisiert zum anderen die Kommunikationsprozesse zwischen Kunstschaffenden, Kunstwerk und Kunstrezipierenden. Dementsprechend erweisen sich auch jenseits des politischen Themas Fragen der Beteiligung, Fragen nach den Machtverhältnissen und Fragen nach den Handlungsformen und -möglichkeiten als höchst politisch und rücken so in den Fokus. Die Überschreitung der Grenzen zwischen Kunst und Politik bzw. der Versuch der Entgrenzung ist dabei gleichermaßen Programm wie „nützliche Fiktion“ (Vaihinger 2007), mit deren Hilfe (temporäre) Perspektivwechsel überhaupt erst vollzogen werden können. Dabei kann der Entgrenzungsversuch gleichermaßen bedeuten, den Musentempel der Kunst zu verlassen und sich einen anderen Ort zu suchen, wie bei Schlingensief und Ligna, als auch den Bedeutungshorizont der Institution zu weiten, wie bei Marioni. Damit aber kann es nicht darum gehen, neue Grenzlinien zwischen politischer Kunst und unpolitischer Kunst zu ziehen. Politisch Kunst zu betreiben, bedeutet, sich „jenseits der Pole engagierter Kunst und „L’art pour l’art“ zu bewegen (Deck 2011:28). Im Sinne eines partizipativen Verständnisses bedeutet es vor allem, sich über den sozialen Raum als gemeinsamen Handlungsraum bewusst zu werden, in dem unterschiedliche Gestaltungsoptionen jeweils neu auszuhandeln sind.