„Ist das Kunst, oder ...?" - Ästhetisierung des Alltags in historischer Perspektive
Grundlagen ästhetischen Erlebens und alltagskultureller (Selbst-)bildungsprozesse
Abstract
Im Anschluss an die Arbeiten der Aesthetics of the Everyday, an Studien zur Geschichte der Massenkünste und an soziologische Überlegungen von Andreas Reckwitz zum „Kreativitätsdispositiv“ verfolgt der Aufsatz die Entwicklung ästhetischer Praktiken und Sensibilitäten im Leben der Bevölkerung. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Ästhetisierung des Alltags zu einem Megatrend entwickelt. Das Streben nach immer mehr und intensiverem ästhetischem Erleben zählt inzwischen zu den primären Handlungsmotiven der Lebensführung.
Dabei entfalten sich multifunktionale, nicht a priori in eine Richtung festgelegte Fähigkeiten, Begehrnisse, Sensibilitäten und Erfahrungsmöglichkeiten. Sie richten sich nicht vorrangig auf anerkannte Künste. Natur, gestaltete Umwelt, die Dinge, mit denen wir leben und uns zeigen, nehmen hier einen herausragenden Platz ein. Musik und ‚erzählender‘ Film sind jedoch aus keinem Genuss- und Gefühlshaushalt in der westlichen Welt mehr wegzudenken.
In ihrer ganzen historischen Widersprüchlichkeit gehören die wachsenden Genüsse und wuchernden Praktiken alltäglichen ästhetischen Erlebens zu den Errungenschaften der Vielen, auf denen jede Vorstellung eines besseren Lebens aufbaut. Ihre produktiven Potenziale für Kulturelle Bildung gilt es in theoriegeleiteter Suche nach ‚best practice‘ weiter zu klären. Die gewöhnlichen Weisen und Gegenstände ästhetischen Erlebens als Ausgangspunkt, als Vergleichs- und Lernmaterial für (Selbst-)Bildungsprozesse, für die Erweiterung von Praktiken und Kompetenzen zu behandeln und nicht als dunkle Materie, die dem Zugang zur ‚Kunst‘ im Wege steht – das wäre mein Vorschlag als Alltagskulturforscher.
Vor einiger Zeit hat Livia Patrizi (siehe: „1.000 Stunden Kunst pro-Kopf - Impulse für mehr Gerechtigkeit in Kunst und Kultureller Bildung“) an dieser Stelle einen konkreten Vorschlag gemacht, um das Problem der kulturellen Ungleichheit anzugehen. Im Verlauf ihrer Schulzeit sollen Kinder über mindestens 1.000 Stunden Kunst vermittelt bekommen. So notwendig das Beharren auf Problemen der Bildungsgerechtigkeit und des ungleichen Zugangs zu kulturellen Angeboten ist – ich bin doch über die Argumentation gestolpert. Sie impliziert, dass große Teile der Heranwachsenden während ihrer Schulzeit überhaupt nicht mit Kunst in Berührung kommen. Gemeint sind offenbar die klassischen, kanonisierten Gattungen und Werke.
Als empirischer Kulturforscher denke ich in diesem Zusammenhang an eine lange Reihe von Erfahrungen und Praktiken im Alltag von Kindern und Jugendlichen, die ich den populären oder Massenkünsten zuordnen würde: an digitale Games und Popmusik, Spielfilme und Serien aller Art, Tiktok-Acts und Insta-Bilder, aber auch an Sich-Stylen und Fotografieren im ständigen Vergleich mit anderen (Maase 2019: Kap. 4). Leben ist anhaltender Wissenserwerb, und das kontinuierliche Vergleichen – im Gespräch wie in der eigenen Reflexion – von Wahrnehmungen und Empfindungen ist eine wesentliche, wenn nicht die Praktik, in der sich ästhetische Ansprüche und Maßstäbe entwickeln (Maase 2022: 132-136, im Anschluss an Lehmann 2016a: 89-101; Lehmann 2016b: 13-32).
Nun bringen Debatten darüber, was warum die Bezeichnung Kunst verdient, wenig für Kulturelle Bildung. Mein Vorschlag ist, uns im Anschluss an die Arbeiten der Aesthetics of the Everyday (Saito 2019; Mandoki 2007; Light/Smith 2005) mit ästhetischem Erleben im Alltag zu befassen. Dafür soll erst einmal eine Mindestdefinition von „ästhetisch“ ausreichen. Grundlegend bezeichnet das Adjektiv einen bestimmten Modus von Interaktionen zwischen Menschen und Wahrnehmungsgegenständen. Saito (2019: 2) spricht von „a specific mode of perception“ und gibt ‚ästhetisch‘ „the root meaning of […] sensory perception gained with sensibility and imagination“ – eine Form intensiver sinnlicher Wahrnehmung, die untrennbar verknüpft ist mit der Aktivierung von Empfindungsvermögen (für Gefühle und Stimmungen) und Vorstellungskraft (Erinnerungen, Phantasien). Wir heben sinnliche Eindrücke oder Vorstellungen aus dem Fluss des Wahrnehmens und der Befindlichkeit heraus und verknüpfen sie mit Emotionen, Wissen und Bedeutungen. Gefühle, Erinnerungen, Assoziationen aktualisieren sich spontan in Reaktion auf die Aufforderungen der jeweiligen Gegenüber und wollen ‚bearbeitet‘ werden. In derartigen Interaktionen erzeugen wir bzw. bilden sich ästhetische Beziehungen zur Welt, zu uns selbst und zu den ‚Texten‘ (im weitesten Verständnis), mit denen wir ko-laborieren.
Eine solche nicht-normative Definition ist nützlich, wenn man die Ungleichverteilung von Chancen zu vielfältiger und subjektiv bereichernder Teilhabe an ästhetischem Erleben in historischer Perspektive betrachtet. Dann tritt nämlich für die letzten 150 Jahre eine alle Teile der Gesellschaft erfassende Dynamik ins Blickfeld, die seit den glorreichen drei Jahrzehnten 1950-1980 geradezu als gesellschaftlicher Megatrend zu charakterisieren ist: die Ästhetisierung des Alltagslebens (Maase 2022; Fischer 2018; Reckwitz 2016, 2012; Hieber/Moebius 2011; Oldemeyer 2008; Featherstone 1992). Von prominenten Stimmen wird sie als Bedrohung echter und wertvoller ästhetischer Erfahrung kritisiert (Welsch 1990; Bubner 1989). Doch für eine Kulturforschung aus der Perspektive der Alltagsakteur:innen ist die sich beschleunigende Erweiterung menschlicher Empfindsamkeit für ästhetische Wahrnehmungen aller Art unübersehbar. Aus dieser Perspektive bezeichnet Ästhetisierung die zunehmende Häufigkeit, Intensität und gezielte Herstellung von Konstellationen, in denen ästhetisches Erleben stattfindet.
Ästhetisierung in Deutschland – Agenten, Phasen, Dimensionen
Kulturanthropologische Ansätze fokussieren ‚Alltäglichkeit‘. Sie fragen, auf welche Weise viele Menschen ästhetische Interaktionen in Rahmen, Regeln und Routinen ihres Alltagslebens einpassen. Im Folgenden gehe ich von Andreas Reckwitz‘ (2016; 2012) Studien zur „gesellschaftlichen Ästhetisierung“ aus und versuche, sie um den Alltäglichkeitsaspekt zu erweitern. Reckwitz (2016: 233) unterscheidet verschiedene Phasen. Seit dem 18. Jahrhundert gab es eine bürgerliche „Exklusivästhetisierung“. Radikal äußerte sie sich in den Nischen von Subkulturen, etwa der Bohème oder des Ästhetizismus, moderat in der „Kultur der Bürgerlichkeit“. Mit deutlich anderer Struktur habe sich dann ab 1900 die massengesellschaftliche „Inklusivästhetisierung“ über Medien und Konsum entwickelt. Wachsende Teile der Bevölkerung konnten „Sinn und Befriedigung“ aus den Erfahrungen eines Konsums ziehen, der nicht mehr allein auf Gebrauchswerte zielte, vielmehr nun auch „den symbolisch-ästhetischen Wert der Dinge“ (ebd.: 234) umfasste. In den 1970ern begann für Reckwitz die Etappe, in der wir uns noch befinden: die hypermoderne „Aktiv- und Produktivästhetisierung“ (ebd.: 236). Ihr Zentrum bilde die „Kulturalisierung und Ästhetisierung der Arbeitsformen, der Organisationsstrukturen und des Arbeitsethos“ (ebd.: 237).
Neben Künstlerbewegungen und bürgerlichem Schönheitsverständnis nennt Reckwitz weitere Ästhetisierungsagenten. Medienrevolutionen hätten mit der Veralltäglichung audiovisueller Unterhaltungsangebote eine „Transformation der Muster sinnlicher Wahrnehmung und ihrer Gefühlsstrukturen“ bewirkt (Reckwitz 2012: 35). Als dritte Triebkraft versteht er die „Kapitalisierung“, die zur massenhaften Produktion „ästhetischer Konsumgüter“ geführt habe (ebd.: 36). Das verband sich mit einer „Explosion der Dingwelt in der Moderne“ (ebd.: 37) und habe zu einer Allgegenwart von Objekten geführt, die sich einer kaum regulierten Vielfalt von „diverse[n] Interpretationen, sinnliche[n] Aneignungen und Lustgefühle[n]“ (ebd.) anbieten. Schließlich verweist Reckwitz auf den Wandel der Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und seinen Gefühlen seit dem Kult der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert. Diese „Subjektzentrierung“ habe zur „Konzentration auf jene sinnlichen Wahrnehmungen, Lüste und Emotionen“ geführt, die Quelle ästhetischer Erfahrungen werden können (ebd.: 38).
Damit sind relevante Langzeittrends der europäischen Moderne benannt. In kulturhistorischer Perspektive wie mit Blick auf die Gegenwart scheinen einige Erweiterungen angebracht. Reckwitz‘ Herangehen wird problematisch, wo er ästhetische Praxis an Innovation knüpft: „Kreativität bevorzugt das Neue gegenüber dem Alten, des Abweichende gegenüber dem Standard, das Andere gegenüber dem Gleichen“ (ebd.: 10). Damit rückt er ein Modell gestaltender Kreativität ins Zentrum, dessen Geltungsbereich sozial deutlich beschränkt ist.
Im Bereich der hoch qualifizierten und akademischen Mittelschichten lassen sich solche Entwicklungen fraglos beobachten. Die These jedoch, dass mit der „Ausbildung eines […] wirkungsmächtigen Kreativitätsdispositivs“ (ebd.: 15; Herv. i. O.) ehemals „minoritäre[] Ideen der Kreativität“ „allgemein erstrebenswert und zugleich für alle verbindlich geworden“ (ebd.) seien, verfehlt den Alltag – Arbeit wie Freizeit – der Bevölkerungsmehrheit. Das gilt insbesondere, wenn man Kreativität definiert „mit Bezug auf ein Modell des ‚Schöpferischen‘, das sie an die moderne Figur des Künstlers […] zurückbindet“ (ebd.: 10). Diese These scheint allenfalls und in Grenzen auf die von Reckwitz als Trägergruppe der Veränderung identifizierte „post-materialistische Mittelschicht“ (ebd.: 12) anwendbar. An diesem Ideal der Kreativität gemessen, tragen ästhetische Praktiken in der Masse der Bevölkerung vorwiegend rezeptiven Charakter – was jedoch den aktiven Einsatz von Sinnen, sozialem Austausch, Vorstellungsvermögen und anderen imaginativ-interpretatorischen Potenzialen stets einschließt!
Solche ‚rezeptive‘ Aneignung dominiert die massengesellschaftliche „Inklusivästhetisierung“ von ihren Anfängen bis heute. Man kann zwar im Kontext der Religionsausübung, von herrschaftlichen Inszenierungen und Feiern sowie von ‚Freizeit-‘ und Vergnügungsangeboten der ‚Volkskultur‘ in Europa eine gewisse Beständigkeit ästhetischer Produktivität seit dem Hochmittelalter annehmen. Das schloss expressiv und materiell kreative Praktiken der popularen Schichten beim Singen, Tanzen, Erzählen, Feiern, Sich-Schmücken ein. Industriearbeit und städtische Lebensformen schoben solche ‚Selbsttätigkeit’ jedoch an den Rand; rezeptive Praktiken waren nun weitaus einfacher zugänglich und besser in die Alltage Lohnabhängiger einzupassen. Die Verbreitung über Massenmedien seit dem 19. Jahrhundert hat in Verbindung mit Lohnarbeit und Medialisierung die Balance noch stärker zum (nicht unkreativen!) Aufnehmen hin verschoben.
Allerdings erweitern sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Formen und Felder dessen, was man als ‚alltagsästhetische Kreativität‘ bezeichnen könnte. Die Entwicklung ist vor allem verbunden mit den wachsenden Möglichkeiten vieler, über den Erwerb von Industriewaren und preiswerten Dienstleistungen die Wohnung, die Kleidung, das Aussehen, die Freizeitvergnügen usw. mittels Wahl unter Alternativen zu gestalten. Zunehmend mehr Personen nutzen Soziale Medien, um einem größeren oder kleineren Publikum Fotos, Videos, Auftritte zu präsentieren und sich über Ästhetisches auszutauschen. Wünsche und Maßstäbe beim Gestalten wie beim Rezipieren richten sich zwar durchaus auf Abwechslung, aber nicht primär auf Neues, Herausforderndes entsprechend dem professionellen Verständnis von künstlerischer Innovation. Der Ästhetik von Spannung und Schönheit, des unmittelbaren Wohlfühlens und gemütlicher Vertrautheit (Schmidt-Lauber 2003) gilt die Auseinandersetzung mit qualitativ Neuem nicht als Ideal. ‚Abwechslung‘ ist etwas anderes als unbedingte Hochschätzung der Suche nach Irritierendem, meint sozusagen das bekannte oder zumindest ähnliche Neue.
Die Schlagseite von Reckwitz‘ Ästhetisierungsmodell zu den gebildeten Mittelschichten hin zeigt sich auch im weitgehenden Ausblenden der modernen Massenkünste. Insbesondere populäre Bildmedien und Literatur sowie ‚Straßenmusik‘ haben seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Spektrum von Schönheitserfahrungen für die einfache Bevölkerung erheblich erweitert (Prügel 2014; Zander-Seidel/Prügel 2014). Darüber hinaus scheint für das Verständnis von Ästhetisierung in der Moderne Jacques Rancières innovativer Blick auf die Verknüpfung von anerkannter Kunst und Alltäglichkeit im 19. Jahrhundert einschlägig (Rancière 2008: 41-45; 2006). Er sieht eine neue Tendenz der ‚bürgerlichen‘ Kunst: Als artistisch relevant und reizvoll wird Alltägliches behandelt, das bislang nicht als darstellungswürdig (damit erlebenswürdig) in die legitime Ordnung der Sinnlichkeit aufgenommen war. Damit entstehe ein „ästhetisches Regime“, das keinen Gegenstand mehr ausschließe, wenn er nur in einem besonderen Wahrnehmungsmodus (einem sozusagen ‚allästhetischen‘) perzipiert und künstlerisch repräsentiert wird. Dieser revolutionäre Übergang veränderte laut Rancière die bis dato hierarchische Aufteilung der Sinnlichkeit in eine Richtung, die dann auch ästhetische Innovationen im Populären und Steigerung sinnlicher Effekte außerhalb tradierter Kunstformen professionell diskussions-, förderungs- und anerkennungswürdig machte (Caduff/Wälchli 2007; Varnedoe/Gopnik 1990).
Dass die anerkannte Kunst gewöhnliche Alltagsphänomene integrierte, war Teil einer übergreifenden Entwicklung. Laut Rancière veränderte sich insgesamt die Erziehung der Sinne, hin zu einer neuen, ‚egalitären‘ Aufteilung der Sinnlichkeit. Nicht nur in der artistischen Repräsentation, auch im gelebten und erlebten Alltag und sogar von gebildeten Volkserzieher:innen wurde ‚Gewöhnliches‘ als Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung anerkannt (Highmore 2011: 51). Ein erstaunlicher Beleg für diese Öffnung des Blicks und für die daraus entspringenden Interventionen ist eine in den 1880ern beginnende Diskussion im Kunstwart, dem Organ des kulturreformerisch und volkspädagogisch engagierten, dabei ästhetisch eindeutig konservativ ausgerichteten Dürerbundes. Der Zirkus (der sich damals gerade mittels moderner Technologien zum Ort wirkungsgewaltiger Spektakel entwickelte) und der mit Licht- und Spiegeleffekten überwältigend gesteigerte „Serpentintanz“ der Amerikanerin Loïe Fuller nährten hier Hoffnungen auf eine neue „Volkskunst“ (Maase 2001a: 319-323).
Die Akzeptanz verbreiteter Gegenstände und Inszenierungen als Kunst oder kunstfähig sowie ihre artistische Repräsentation veränderten auch den ‚alltäglichen‘ Blick: Gewohntes konnte ästhetisch bedeutsam werden. Der britische Kulturwissenschaftler Ben Highmore (2011: 51) fasst das im Anschluss an Rancière so zusammen: „The splendour of the insignificant (which becomes significant precisely to the degree that its splendour is recognised), enacted by any number of literary and filmic texts, is also a training ground, sensitising us to the textures and tempos of the daily. Artworks, then, are part of the general economy of aesthetics in their pedagogic role of alerting us to different kinds of alertness.“
Zur epochalen Ästhetisierung gehört grundlegend die wachsende Bereitschaft und Fähigkeit, Naturphänomene und Gebrauchsgüter wie Kunst wahrzunehmen. Jeder Sonnenuntergang, jedes Bergpanorama, jeder Sessel und vermutlich auch jede Menschengestalt können Gegenstand von Vergleichen mit professionellen Bildern desselben Sujets werden, von denen unser Gedächtnis geradezu überfließt. Diese Wahrnehmungsdisposition ist freilich nicht denkbar ohne jene Ausweitung und Steigerung alltäglicher Empfindungsfähigkeiten, die erst mit höherem Lebensstandard, kürzeren Arbeitszeiten und erleichterter Lebensführung möglich wurden (ebd.: 52 f.).
Verdichtungen um 1900
Katharina Scherke hat die Veränderungsimpulse um 1900 zu zwei Komplexen verdichtet. Zum einen konstatiert sie „das verstärkte Eindringen künstlerisch gestalteter Gegenstände in den Lebensalltag“; der werde „zunehmend von Gegenständen überschwemmt, die eine ästhetische Betrachtungsweise direkt herausfordern“ (Scherke 2011:17). Damit werde die ästhetische Wahrnehmung „auf prinzipiell alle Gegenstände hin ausgeweitet“ (ebd.). Als zweite Dimension nennt Scherke (ebd.) eine generelle „Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten“. Sie begrenzt die „Produktion und Rezeption sinnlicher Erfahrungen und die Auseinandersetzung damit“ nicht auf die bisher angeführten Waren und Populärkunsttexte. Verweise auf Eisenbahn, Massenmedien und Telefon beleuchten Kommunikation und Mobilität als Quellen erweiterter sinnlicher Wahrnehmung und der Auseinandersetzung damit.
In dem Zusammenhang erscheint die massive Verstädterung als erstrangiger „Ästhe-tisierungsagent“. Sie bedeutete nicht nur allgemein eine Zunahme neuer sinnlicher Eindrücke, mit denen sich die wachsende unterbürgerliche Stadtbevölkerung auseinandersetzen musste, weil sie hohe Bedeutung für ihren Alltag hatten – vom akustischen Dekodieren und Interpretieren der Verkehrsgeräusche bis zur multisensorischen Prüfung der Produkte, die man nun zunehmend erwarb. Industrielle Warenwirtschaft, Ausweitung der Konsumgütererzeugung und vor allem wachsende Kauf- und Freizeitmöglichkeiten der städtischen Bevölkerung machten das nötig. Im Besonderen verlangten und nährten die „Explosion der Dingwelt“ (Reckwitz) sowie das zunehmend reizvolle Warendesign Ästhetisierung und Sensibilisierung auf Seiten der Alltagsakteur:innen. Der Kultursoziologe Georg Simmel wird oft zitiert mit seiner Formulierung (aus Anlass der großen Berliner Gewerbeausstellung von 1896) von der massiven „Steigerung dessen, was man Schaufenster-Qualität der Dinge nennen könnte“ (Simmel 2005: 36).
Mit der staatlichen Gewerbeförderung und insbesondere den Gewerbemuseen des 19. Jahrhunderts (Cleve 1996) hatte begonnen, was unter anderem im Deutschen Werkbund (gegründet 1907) programmatisch wurde (Schwartz 1996; Campbell 1989): die Formgestaltung von Gütern des Massenbedarfs – nicht nur für eine kleine Geschmackselite – als Mittel zum wirtschaftlichen Erfolg. Zugespitzt: Man funktionalisierte ästhetisches Vergnügen als Vehikel zum Zweck ökonomischen Gewinns. Seit den späten 1920ern wurde das zum bewussten Prinzip der Gestaltung von Gebrauchsgütern, zunächst als Strategie des Styling in der US-amerikanischen Industrie (Gaugele 2013: 80-84); das strahlte dann auch nach Europa aus. Faktisch bedeutete dies eine „gestalterische ‚Rangerhöhung‘ erschwinglicher Produkte“ (ebd.: 83) für die breite lohnabhängige Käuferinnen- und Nutzerschaft.
Neben der geradezu exponentiellen Zunahme einer sinnlich lockenden Präsentation von Waren (König 2009) und der parallel aufblühenden Werbung rückt manchmal eine andere kulturrevolutionäre Neuerung der Dekaden um 1900 in den Hintergrund: der Einzug gleich mehrerer Massenkünste in den häuslichen wie öffentlichen Alltag (Maase 2015; 2012: 32-36; 2007: 64-114; Ross 2008; Faulstich 2004). Zusätzlich zur populären Literatur, die im seriellen Format der Groschenhefte wie in preiswerten Zeitschriften expandierte, etablierte sich der Film noch vor dem Weltkrieg als nicht täglich, aber doch routiniert alltäglich gepflegtes populäres Vergnügen. Preiswerte Drucke, Schmuckpapiere und vor allem die Postkarte brachten Bilder aller Art in die Wohnungen; die Ärmsten konnten immerhin noch Reproduktionen aus Zeitschriften an die Wand pinnen. Musikautomaten in der Gastwirtschaft und die ersten Grammophone (auch zur klanglichen Begleitung im Kino) machten Appetit auf Musik zu jeder Zeit für jedefrau und jedermann; Radio und Grammophon ließen den Wunsch dann seit den 1920ern Wirklichkeit werden.
Wer nach 1900 in städtischen Kontexten aufwuchs, bezog neben Live-Vergnügungen wie dem Tanzen oder Rummel und Tingeltangel immer mehr massenmedial verbreitete Kunst-Waren in die sinnliche Möblierung des Alltagslebens ein. Einen schnappschussartigen Einblick in die routiniert betriebene Erlebnissuche gibt die Antwort eines 15-jährigen Maschinenschlossers aus Mannheim in der 1912 durchgeführten Kinostudie von Emilie Altenloh (1914: 67): „Ich besuche fast alles. Montags geht’s ins Kino, Dienstags bleibt’s zu Haus, Mittwoch geht’s ins Theater, Freitags hab ich Turnen um ½ 10 Uhr nachmittags, Sonntags gehe ich mit meinem Nachbarmädchen in den Wald spazieren.“
Eine zeitgenössische Reflexion der Veränderungen findet sich bei Heinrich Wolgast, Volksschulrektor und engagierter Vorkämpfer ästhetischer Erziehung. Pfingsten 1902 hielt er auf der Deutschen Lehrerversammlung einen Vortrag, in dem er auf die neue Entwicklung hinwies, die ihn als Volksbildner richtiggehend verstörte. „Gehen Sie in die Tanzlokale und Musikhallen, in die Theater und Museen, sehen Sie sich die Wohnung und die Kleidung selbst der Armen an, und Sie werden finden, dass sich überall ein unwiderstehlicher Drang nach Freude kundgibt. Gehen wir dieser Freude auf den Grund, so finden wir, oft zu unserem Entsetzen, die Freude an der Kunst. Aber in welcher Zerrgestalt! Der geschmacklose Flitter der Kleidung, der traurige Öldruck an der Zimmerwand, die Musik des Bierkonzerts und Tingeltangels, das Schauerdrama und der Schauerroman – das alles empfindet die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes als Kunst! Was uns Ekel bereitet, wird als Lust empfunden. Dieser Unterschied im Empfinden teilt unser Volk in zwei Nationen, die sich nie verstehen werden“ (Wolgast 1903: 4).
Mit der Prognose irrte Wolgast offensichtlich; es gibt gute Gründe, die moderne kommerzielle Populärkultur inzwischen als ‚gemeinsame Kultur‘ praktisch aller Schichten anzusehen (Maase 2010). Doch hat er früher als viele Zeitgenoss:innen hinter dem, was damals als Schund, Kitsch und „Hausgreuel“ perhorresziert wurde, das Streben nach eindrucksvollen sinnlich-symbolischen Erfahrungen in möglichst vielen Daseinsbereichen, ein massives Bedürfnis nach ästhetischem Erleben mithin, erkannt.
„Erlebnisorientierung“
Das Erlebnis-Konzept des Soziologen Gerhard Schulze ist in vielen Studien zur Ästhetisierung des Alltags präsent, auch wenn er nicht immer zitiert wird. Auf der Grundlage empirischer Studien in den 1980ern hat er eine kulturelle Veränderung hin zu den heutigen alltagsästhetischen Praktiken diagnostiziert. Schulze konstatierte eine bis dahin nicht auf den Begriff gebrachte Dimension in Einstellung und Handeln der Westdeutschen. Er nannte sie „Erlebnisorientierung“ und charakterisierte sie als „unmittelbarste Form der Suche nach dem Glück“ (Schulze 1992: 14), gerichtet auf „das Schöne“ als „Sammelbegriff für positiv bewertete Erlebnisse“ (ebd.: 39). Damit identifizierte Schulze die „Basismotivation“ (ebd.: 22) der von ihm so genannten „Ästhetisierung des Alltagslebens“ (ebd.: 33-89). Für uns sind zwei Aspekte relevant: Es handelt sich um eine Veränderung im Kern der alltäglichen Lebensführung und um ein wesentlich ästhetisches Phänomen.
Erlebnisse sind für Schulze subjektive Ereignisse; sie finden in den Akteur:innen des Alltags statt. Erlebnisorientierung meint: Inzwischen haben die Suche nach und das gezielte Schaffen von Bedingungen für positiv bewertete Eindrücke, Gefühle, Stimmungen, Assoziationen, Erinnerungen usw. einen zentralen Platz im alltäglichen Handeln. Schulzes Verdienst ist zum einen, die Entwicklung auf der Alltagsebene anschaulich zu machen. Zum anderen nimmt er die Charakterisierung als ‚schön‘ ernst und liefert Bausteine zur Beschreibung alltagsästhetischen Erlebens als Produkt der Aktivität von Personen in Interaktion mit äußeren Gegebenheiten.
Die zentrale Konfiguration dafür bilden laut Schulze „alltagsästhetische Episoden“ (ebd.: 98-102). Die können länger oder kürzer sein, also auch Mikropraktiken ästhetischer Wahrnehmung umfassen. Auf jeden Fall haben sie drei Eigenschaften gemeinsam. Die äußeren Umstände eröffnen erstens Wahlmöglichkeiten. „Bei einem reich gedeckten Frühstückstisch etwa hat es einen ästhetischen Einschlag, wenn man zum Honig greift“ (ebd.: 98). Zweitens folgt das Handeln einer „innenorientierten Sinngebung“, einer „Erlebniserwartung“ (ebd.: 99); die kann sich auch, wie etwa das Besteigen des Autos, in dem man sich wohlfühlt und zugleich zur Arbeit fährt, mit instrumentellen Motiven mischen. In der Sprache der ästhetischen Theorie: Solche Episoden sind selbstzweckhaft. Drittens sind sie gekennzeichnet durch ihre Alltäglichkeit, es geht um das „Handeln von jedermann zu jeder Zeit“ (ebd.).
Das Kriterium der Wahlmöglichkeit lässt verstehen, wie die skizzierten Veränderungen subjektiviert wurden. Zu klären ist ja, welche Mechanismen und Routinen dafür sorgten, dass sich Erwartungen und Handlungsmuster des Alltags dynamisch und dauerhaft veränderten. Sensibilitäten und die (emotionale wie reflektierte) Bewertung sinnlicher Eindrücke verschoben sich aufgrund entsprechender Eigenschaften der Alltagswelt und vor allem mit den Handlungsanforderungen der Lebensführung – weil neue Aufgaben tätig zu bewältigen waren.
Die skizzierten Veränderungen ‚um 1900‘ schlossen eine massive, herausfordernde Zunahme von Wahlmöglichkeiten im Alltag vieler ein. Auch in der Kleinstadt und auf dem Dorf des 19. Jahrhunderts kamen ab und zu Kolporteure vorbei, die populäre Lesestoffe anboten. Aber erst vor den Kiosken oder in den Buchbinder- und Schreibwarenläden der Städte stand man vor einer Auswahl, die wirklich zur Entscheidung nötigte. Selbst wo nur ein Kino in der Nähe war, forderte der laufende Programmwechsel auf, sich Gedanken über die eigenen Präferenzen zu machen. Und auch in den Läden mit Gütern für den täglichen Bedarf nahm die Anzahl der unterschiedlichen Angebote für denselben Zweck zu; welches Tischtuch, welche Schürze, welches Trinkglas sollte man – nach welchen Maßstäben – erwerben?
Pointiert hat Schulze formuliert, wie aus derartigen Ansätzen mit dem ‚Wohlstand‘ der 1950er- und 1960er-Jahre die Notwendigkeit wurde, sich ständig mit ästhetischen Wahlentscheidungen auseinanderzusetzen. Das verlangte nämlich, die eigene Situation und die eigenen Maßstäbe, eigene Erfahrungen und Erwartungen zu reflektieren. Angesichts kaum noch überschaubarer „Möglichkeitsräume“ „stehen die Menschen unter dem Druck, […] sich intensiv mit sich selbst zu beschäftigen“ (Schulze 1992: 51). „Täglich stehen wir vor der Notwendigkeit der freien Wahl. Kleidung, Essen, Unterhaltung, Information, Kontakte usw. Fast immer sind jedoch die Gebrauchswertunterschiede der Alternativen bedeutungslos. Waschmittel X wäscht so gut wie Waschmittel Y; Beförderungsprobleme lassen sich gleich gut mit verschiedenen Autos lösen; für das körperliche Empfinden ist es gleichgültig, ob man dieses oder jenes Hemd anzieht. Wir spüren die Folgen unserer Entscheidungen nicht auf der Ebene des primären Nutzens […]. Unsere objektive Lebenssituation, soweit sie in Verfügungschancen über Gegenstände und Dienstleistungen besteht, zwingt uns dazu, ständig Unterscheidungen nach ästhetischen Kriterien vorzunehmen. Erleben wird vom Nebeneffekt zur Lebensaufgabe“ (ebd.: 55; Herv. KM).
Reckwitz (2012: 195) spricht treffend von einer „ästhetischen Selbstsensibilisierung der Konsumenten“ und benennt damit einen Schlüsselbefund der an Colin Campbell (1987) anschließenden neueren Konsumtheorie. Campbell hat gefragt, wie die moderne Grenzenlosigkeit der Konsumbegehren zustande kam, und darauf eine im Kern ästhetisch argumentierende Antwort gegeben. Seit 1800 habe man im Westen gelernt, das eigentliche Vergnügen von konkreten Objekten und deren sinnlichen Reizen zu lösen. Was wir letztlich genießen, seien unsere Emotionen und Tagträume, die Phantasien des Begehrens selbst, die wir an die Welt des materiellen Konsums knüpfen. Dieser „imaginative hedonism“ (Campbell 1987: 77-95) sei unbegrenzt; kein dinglicher Überfluss könne ihn befriedigen oder erschöpfen – weil es sich im Kern um das ästhetische Spiel der Einbildungskraft und deren (Selbst-)Genuss handelt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der imaginative hedonism Teil der habituellen Grundausstattung westlicher Gesellschaften geworden. Das Streben nach immer mehr und intensiverem ästhetischem Erleben zählt seit Jahrzehnten zu den primären Handlungsmotiven unserer Lebensführung. Man nimmt Dinge und Situationen wahr als aufgeladen mit symbolischen Botschaften, die dem Dasein eine Dimension jenseits der Alltagspragmatik verleihen. Gesucht und genossen wird, was den Sinnen schmeichelt, was Auge und Ohr, Geruch und Tastsinn bezirzt. Ebenso schätzen wir jene mentale Auseinandersetzung mit der Welt, die Kunst in allen ihren Genres anbietet. Wir treffen kaum eine Entscheidung, in die nicht ästhetische Ansprüche einflössen. Und wo die Basics der ökonomischen und physischen Reproduktion gesichert sind, da orientiert sich die Lebensführung zunehmend an Vorstellungen von ‚Schönheit‘ – nicht selten und durchaus bewusst auch zu Lasten von Funktionalität und ökonomischer Rationalität. Hier macht es Sinn, statt von Bedürfnissen mit Gernot Böhme (1995: 64) von ästhetischem Begehren zu sprechen. Bedürfnisse werden irgendwann gesättigt, Begehrnisse „werden durch ihre Befriedigung nicht gestillt, sondern gesteigert.“
Eine offene Entwicklung
Zusammenfassend handelt es sich bei den Ästhetisierungsprozessen der westlichen Moderne um eine dynamische Entwicklung mit offener Zukunft. In ihrem Verlauf vergrößert sich die allgemeine Empfindsamkeit für unterschiedlichste ästhetische Wahrnehmungen – angenehme wie unangenehme – und differenziert sich qualitativ aus. In Deutschland kamen seit dem späten 19. Jahrhundert und mit einem außerordentlichen Schub im fordistischen Massenwohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr Menschen in Situationen, die materiell wie subjektiv ästhetisches Erleben ermöglichten, ja nahelegten. Ästhetisierung bezeichnet also die zunehmende Häufigkeit, Intensität und gezielte Herstellung von Konstellationen, in denen ästhetisches Erleben als Selbstzweck stattfindet. Dieses Erleben wird gesucht wegen der intensiven, befriedigenden oder gar beglückenden Gefühle, die es erzeugen kann.
In der akademischen Welt dominieren allerdings immer noch erhebliche Vorbehalte gegen populäre Praktiken, die subjektiv auf die Erfahrung eines Schönen zielen (Maase 2017). Ästhetisierung wird bis heute als Mittel zu konformistischer Subjektivierung, zu passivierender Selbsttäuschung oder als Medium des Konsumismus und damit des ‚falschen Bewusstseins‘ subalterner Massen betrachtet. Das kann in konkreten Konstellationen so gelesen werden. Auch die Erfüllung zweifelhafter Funktionen setzt jedoch positiv empfundenes ästhetisches Erleben voraus.
Die seit beinahe anderthalb Jahrhunderten vorgebrachte Kulturkritik an der epochalen Ästhetisierung war wesentlich Reaktion darauf, dass der Wandel zunehmend Personen mit einfacher Schulbildung erfasste. Menschen aller Schichten ergriffen neue Möglichkeiten zu sinnlichem Genuss und Selbstausdruck. Das taten sie nicht nach Maßgabe bildungsbürgerlicher Normen und Erwartungen, sondern in Fortführung ihrer bis dahin entwickelten Genuss-Präferenzen. In dieser Ausprägung zählt ästhetisches Erleben heute zu den elementaren Ansprüchen der Bevölkerung an die Lebensqualität, an ein gutes Leben – gleichrangig mit befriedigender Arbeit und sozialer Sicherheit. Es handelt sich um einen Epochentrend von anhaltender Dynamik. Der historische Realprozess ist unumkehrbar; Lebensverhältnisse und die in ihnen agierenden Subjektivitäten haben sich tiefgreifend gewandelt.
Systematisch wirken dabei drei Faktoren zusammen. Erstens: Mehr Gegenstände und Inszenierungen der Alltagsumwelt zeigen sinnliche und symbolisch-narrative Qualitäten (‚Kunst‘-Eigenschaften), die unter den gegebenen Lebensverhältnissen intensiv empfundene Emotionspraktiken nahelegen. Dass die Häufigkeit ästhetischer Wahrnehmung, ästhetischen Vergleichens und Wählens so massiv ansteigt, folgt zweitens gleichermaßen aus subjektiven Veränderungen. Zunehmend mehr Personen verfügen über Neigungen, Sensibilitäten, Erfahrungen, Routinen und Kompetenzen – kurz gesagt: über Praktiken, um aus und mit den wachsenden Möglichkeiten für sie befriedigendes ästhetisches Erleben zu machen. Damit es zur Ko-laboration beider Seiten kommt, bedarf es einer dritten Voraussetzung: Lebensverhältnisse und Arbeitsanforderungen sind derart, dass überhaupt Raum entstehen kann für das mentale Heraustreten aus funktionalen Abläufen und Zwängen. Wenn „der lange Arm des Jobs“ die Freizeit im Griff hat oder der Tag praktisch nur aus Arbeit und Erschöpfung besteht, dann wird es schwierig, sich auf reizvolle sinnliche Angebote einzulassen, auf Phantasietätigkeit oder gar aufmerksamkeitsfordernde Unterhaltung. Einschlafen vor dem Bildschirm etwa indiziert solche Konstellationen.
Ästhetisches Erleben ist heute jedenfalls etwas Gewöhnliches, Gängiges; es wird gesucht mittels verbreiteter, inzwischen selbstverständlicher Praktiken. Ästhetisierungen können in den unterschiedlichsten Lebensbereichen objektive wie subjektive, äußere wie innere Bedingungen für erweitertes und intensives Erleben schaffen. Ästhetisches Erleben auch und gerade in Kontexten der Alltäglichkeit bildet in seiner ganzen Vielfalt eine reiche Quelle nicht nur für Empfindungen von Glück und Vergnügen, sondern auch für sinnliche Erkenntnis, für Welt- und Selbstverstehen, für „menschliches Gedeihen“ (Hesmondhalgh 2013: 17 f.). Zu einem guten Leben für alle gehört das unabdingbar dazu.
Ästhetisierung schafft jedoch keine Insel der Seligen in einer Welt, die von schmerzhaften, gewaltigen Widersprüchen zerrissen wird. Handeln bedeutet oft nur eine Wahl zwischen Übeln; kein ästhetisches Vergnügen und keine Freude – egal, ob high oder low, kann sich dieser Realität entziehen. Die grundlegende Ambivalenz jeder Suche nach ästhetischem Erleben beruht laut Gernot Böhme (2001: 183) darauf, dass sie „mit wirklichen Bedürfnissen der Menschen […] zu tun hat: Der Mensch will nicht nur leben und überleben, sondern er will sein Leben intensivieren und sein Lebensgefühl steigern. Die Kritik der politischen Ökonomie macht aber deutlich, dass der Mensch gerade über diese Dimensionen ausbeutbar ist und in Abhängigkeitsverhältnissen gehalten werden kann.“
Fazit
In alltäglichen Ästhetisierungsprozessen entfalten sich multifunktionale, nicht a priori in eine Richtung festgelegte Fähigkeiten, Begehrnisse, Sensibilitäten und Erfahrungsmöglichkeiten. Sie richten sich keineswegs vorrangig auf anerkannte Künste. Natur, gestaltete Umwelt, die Dinge, mit denen wir leben und uns zeigen, nehmen hier einen herausragenden Platz ein – und damit die angewandten Künste, von der Produktgestaltung über Mode, Kulinarik, Eventmanagement bis zu Tanz und Gartenkunst. Musik und ‚erzählender‘ Film sind jedoch aus keinem Genuss- und Gefühlshaushalt in der westlichen Welt mehr wegzudenken. In ihrer ganzen historischen Widersprüchlichkeit gehören die wachsenden Genüsse und wuchernden Praktiken ästhetischen Erlebens zu den Errungenschaften der Vielen, auf denen jede Vorstellung eines besseren Lebens aufbaut. Ihre produktiven Potenziale für Kulturelle Bildung gilt es in theoriegeleiteter Suche nach ‚best practice‘ weiter zu klären. Die alltäglichen, gewöhnlichen Weisen und Gegenstände ästhetischen Erlebens als Ausgangspunkt, als Vergleichs- und Lernmaterial für (Selbst-)Bildungsprozesse, für die Erweiterung von Praktiken und Kompetenzen zu behandeln und nicht als dunkle Materie, die dem Zugang zur ‚Kunst‘ im Wege steht – das wäre mein Vorschlag als Alltagskulturforscher.