Kulturelle Unterrichtsentwicklung durch ästhetisch-kulturelle Vermittlungsformen

Artikel-Metadaten

von Stephan Bock

Erscheinungsjahr: 2019

Peer Reviewed

Abstract

Beleuchtet werden die historischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Hintergründe der kreativen Unterrichtspraxis mittels „Learning through the arts“ (LTTA). Der Artikel ist ein Plädoyer für ein anderes Lernen durch die Künste. Die Argumentation nimmt Bezug auf lerntheoretische und neurowissenschaftliche Forschungen und die Erfahrungen in der modellhaften Erprobung dieses Konzeptes im Rahmen des Programms „Generation K“.  An sechs Referenzschulen wird innerhalb des Rahmenprogramms „Kreativpotentiale“ eine kreative Unterrichtspraxis als wesentlicher Baustein für eine kulturelle Schulentwicklung in Rheinland-Pfalz untersucht.

Darf Lernen Spaß machen? Natürlich! Schüler*innen wünschen sich nichts mehr; fragt man sie aber nach ihrem Schulalltag, sieht es da – vor allem ab der 5. Klasse – meist anders aus. Schule, Unterricht und damit Lernen dürfen nicht nur Spaß und Freude machen, sondern müssen es sogar – sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen –, will man einen wirklich nachhaltigen Lernerfolg erzielen und die natürliche Gabe zu Lernen, den Wissensdurst, die Neugier und die Entdeckerfreude von Kindern nicht schon im Keim ersticken.

Diese Erkenntnis haben Neurowissenschaftler*innen und Hirnforscher*innen – insbesondere Manfred Spitzer, Gerald Hüther, Joachim Bauer und Gerhard Roth – in den vergangenen 20 Jahren bestätigt und in zahlreichen Publikationen verbreitet. Das Gehirn lernt, wenn folgende Aspekte berücksichtigt sind: aktive Erfahrungen, emotionale Beteiligung, lebendige Geschichten, Erfolgserlebnisse, Aufmerksamkeit, Bedeutsamkeit. „Denn Lernerfahrungen werden im limbischen System verhandelt. Dort wird das Gütesiegel ‚wichtig‘ vergeben, dort wird Lernen zu einer beglückenden Erfahrung.“ (Roth 2003: 453)

Von den „Alten“ lernen

Das ist jedoch nicht neu. Auch ohne diese Forschungen wussten führende Pädagog*innen, Philosoph*innen und Denker*innen aufgrund ihrer Beobachtungen dies schon seit vor 500 Jahren. Francois Rabelais (ca. 1494–1553) schreibt, Kinder seien keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden wollen und Johann Amos Comenius (1592–1670) fordert, „[…] die Pädagogik vom Kind her zu denken. Lernen durch Tun, Anschauung vor sprachlicher Vermittlung“ (Stalla o. J.) zu fördern. Für Immanuel Kant (1724–1804) ist Pädagogik Erziehung zur Persönlichkeit und Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz: Lernen mit allen Sinnen. Der Reformpädagoge Georg Kerschensteiner (1854–1932) findet, Kinder sollten lernen, selbst tätig zu sein. Denn die Persönlichkeit der Kinder entfalte sich nicht vorrangig durch Wissen, sondern durch Tun. Fritz Gansberg (1871–1950) sagt: „Der gute Unterricht fordert vom Lehrer die höchste Entfaltung seiner Kräfte in der Darstellung der Stoffe, die er für sich schön und bedeutungsvoll hält; an seiner Schaffensfreude wird sich auch die der Schüler immer wieder entzünden. Der produktive Lehrer ist kein Tyrann, er ist gar ein Künstler“ (Gansberg zitiert in Reble 2009: 297). Die Namensliste ließe sich fortsetzen: Maria Montessori, Célestine Freinet, Jean Piaget …

Obwohl sich viele Schulen an den obigen Pädagog*innen als Namensgeber*innen bedienen, ist von diesen Ansätzen und Ideen heute wenig in unserem Schulsystem hängengeblieben, abgesehen von reformpädagogischen Schulen und mittlerweile auch etlichen Grundschulen.

Der große Bruch

Anteil an dieser Entwicklung hat das tayloristische Schulsystem, das heute noch – vor allem in den weiterführenden Schulen – den Schulalltag prägt. Frederick Winslow Taylor (1856–1915) revolutionierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Einsetzen der Industrialisierung die Arbeitswelt: Teilung der Arbeit in kleinste, monotone Einheiten, zumeist am Fließband, Aufteilung in geistige und körperliche Arbeit, Leistungsvorgaben, die nur die Besten schaffen können und monokausale Bewertungssysteme (vgl. Bartscher o. J.). Es ging nicht mehr um den allseitig gebildeten Menschen (Wilhelm von Humboldt 1767–1835), um die Entfaltung der Persönlichkeit, sondern um die Heranziehung von auf eine Aufgabe hin spezialisierte Menschen – Industriearbeiter*innen, Handwerker*innen, Bauarbeiter*innen, Soldat*innen, Wissenschaftler*innen usw. –, die nur in ihrem klar abgegrenzten Bereich Leistungen erbringen konnten und kaum die Chance hatten, aus ihrem jeweiligen „Stand“ herauszukommen und „aufzusteigen“.

Das Schulsystem hat sich daran orientiert: 1911 wurde der 45-Minuten-Takt für eine Unterrichtsstunde eingeführt, es kam zur Differenzierung in voneinander isolierte Fächer – die verschiedenen Natur- und Geisteswissenschaften und am Rande auch noch ein bisschen Sport und Bewegung, Handwerken und Kunst –, das Ziffernotensystem entstand und damit auch die regelmäßige Wissensabfrage und deren Bewertung mit dem Ziel der Selektion (vgl. Precht 2013). Daran hat sich bis heute wenig geändert, obwohl sich unsere Arbeitswelt in den vergangenen 100 Jahren komplett verändert hat.

Noch mal Roth (vgl. Schweder 2013):

„Die klassische 45-Minuten-Unterrichtsstunde verhindert einfachste pädagogische und didaktische Dinge. Beim Lernen arbeiten wir anfangs mit nur einem Teil unseres Gehirns – dem Arbeitsgedächtnis. Nur was in diesem Bereich sinnhaft und gestaltet verarbeitet wird, geht ins Langzeitgedächtnis über. Das Arbeitsgedächtnis ist nicht sehr belastbar und überdies sehr stressanfällig. Das Arbeitsgedächtnis ist beim Lernen der kognitive und emotionale Flaschenhals.“

In unseren Schulen wird nur das gefördert und abgefragt, was im Arbeitsgedächtnis bis zum nächsten Test hängenbleibt.

Lernen wofür?

In den Schulen wird nach wie vor gemessen und vermessen, und das wird dann noch national oder international verglichen, wie in den „Vergleichsstudien“ PISA, TIMMS, VERA und noch vielen anderen. Aber was sagen solche Vergleichsstudien über den „richtigen“ Weg zum „Erfolg“, wenn zum Beispiel die Helene Lange-Gesamtschule in Wiesbaden in den 1990er Jahren unter ihrer damaligen neuen Leiterin Enja Riegel ganz bewusst auf ein Drittel des Fachunterrichts verzichtete, um die so gewonnene Zeit dem Theaterspielen zu widmen? Das Ergebnis war, dass die Schule zweimal hintereinander „PISA-Sieger“ wurde, noch vor Finnland und Korea, und nicht obwohl sie Theater spielten, sondern weil sie Theater spielten. Das Geheimnis war, dass so die Kreativität der Schüler*innen gefördert wurde, die als „Problemlösungskompetenz“ dann in allen Fächern zur Anwendung kommen konnte (Riegel 2004).

Wo bleiben der Spaß und die Freude, und was ist der Sinn unseres herkömmlichen Bildungssystems? Ist das, was und auch wie in den Schulen heute gelehrt und gelernt wird, noch in der Lage, die großen Herausforderungen der Zukunft zu meistern? Selbst renommierte Unternehmensberatungsinstitute wie Roland Berger oder McKinsey warnen davor, dass die heutigen Schulabgänger*innen zwar über einen großen Wissensschatz verfügen, aber nicht in der Lage sind, die komplexen Herausforderungen und Probleme der Zukunft kreativ zu lösen.

„Ersticken Schulen die Kreativität?“

Dies fragte sich der britische Autor und Bildungsberater Sir Ken Robinson schon 2006 bei einer TED-Konferenz (Robinson 2006):

„Kinder, die dieses Jahr [2006; Anm. d. A.] in die Schule kommen, werden ungefähr 2065 in Rente gehen. Keiner hat eine Ahnung, wie die Welt in fünf Jahren aussehen wird, und trotzdem sollen wir sie dafür ausbilden. […] Meine Überzeugung ist, dass Kreativität genauso wichtig für die Bildung ist wie Lesen und Schreiben, und wir sollten sie gleichwertig behandeln. […] Kinder sind bereit, etwas zu riskieren; wenn sie es nicht wissen, probieren sie es einfach. Sie haben keine Angst, etwas falsch zu machen. Ich will damit nicht sagen, dass etwas falsch zu machen bedeutet, kreativ zu sein. Wir wissen, wer nicht bereit ist, Fehler zu machen, wird nie etwas wirklich Originelles schaffen. […] Wenn sie erst erwachsen sind, haben die meisten Kinder diese Fähigkeit verloren. Sie haben Angst, Fehler zu machen. … Wir stigmatisieren Fehler; das Ergebnis ist, dass wir den Menschen ihre kreativen Fähigkeiten ‚weg-unterrichten‘.“

Und weiter:

„Jedes Bildungssystem der Erde hat die gleiche Hierarchie von Fächern. Ganz oben Mathematik und Sprache, dann Geisteswissenschaften und ganz unten Kunst. Und in so ziemlich jedem System gibt es auch eine Hierarchie innerhalb der Künste. Kunst und Musik haben meistens einen höheren Status in Schulen als Theater und Tanz. Es gibt auf dem Planeten kein Bildungssystem, das Kinder täglich genauso im Tanzen unterrichtet wie in Mathematik. Kinder tanzen die ganze Zeit, wenn sie dürfen. Wir unterrichten Kinder, wenn sie aufwachsen, immer weiter von der Taille aufwärts; dann konzentrieren wir uns auf die Köpfe, und ein wenig zu einer Seite hin. […] Das Gehirn ist nicht in Bereiche unterteilt. Tatsächlich entsteht Kreativität – darunter verstehe ich den Prozess, originelle Ideen von Bedeutung zu haben – sehr häufig durch die Interaktion verschiedener Möglichkeiten, eine Sache zu betrachten.“

Ästhetisch-kulturelle Vermittlungsformen – insbesondere auch in den nicht musischen Fächern – versuchen dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Und auch die neuere Lerntheorie spricht mittlerweile vom „performativen“, vom „mimetischen“ oder „leiblichen“ Lernen. Dazu Gerald Hüther (2016): „Hirngerecht sind Bildungsangebote immer dann, wenn sie als eigene Erfahrung am ganzen Körper, mit allen Sinnen und unter emotionaler Beteiligung erfahren werden, wenn sie also ‚unter die Haut‘ gehen.“

Anders lernen durch die Künste

Das Hauptziel der Stiftung Mercator in ihrem Programm „Kreativpotentiale“ – das mittlerweile in zahlreichen Bundesländern umgesetzt wird – ist, „[…] Kunst und Kultur stärker in unserem Bildungssystem zu verankern und es damit im Hinblick auf eine neue Lehr- und Lernkultur zu verändern“ (Stiftung Mercator o. J.). Das heißt letztendlich, Schule und Unterricht neu zu denken. Dies entspricht der Philosophie der Stiftung, visionär und querzudenken, neue Ideen für die Herausforderungen der Zukunft zu generieren, was auch in ihren anderen Bereichen, wie „Klimawandel“ oder „Integration“ zum Ausdruck kommt.

Das Programm „Generation K“, so heißen die „Kreativpotentiale“ in Rheinland-Pfalz, hat dies dankbar aufgegriffen und die „Kreative Unterrichtspraxis“ daher in den Mittelpunkt gestellt. Nicht nur, um die oben beschriebenen Erkenntnisse der Lernforschung in die Praxis umzusetzen, sondern um eine strukturelle Veränderung an den Schulen zu bewirken, die auch über die Laufzeit solcher befristeten Programme hinaus nachhaltig wirkt. In den Länderprogrammen, die überwiegend auf additive Maßnahmen Kultureller Bildung – Projekte, Workshops, AGs, Kooperationen etc. – setzen, hat sich herausgestellt, dass mit Beendigung der Programme oft das Geld fehlte, um weiterhin Künstler*innen, Kulturschaffende und -institutionen zu finanzieren. Bei „Generation K“ ging es also darum, am „Kerngeschäft“ der Schulen, dem regulären Unterricht, anzusetzen.

„Generation K“ kooperiert dabei mit dem Programm „Learning through the Arts“ (LTTA), das vor rund 30 Jahren in Kanada entwickelt wurde und seit über zehn Jahren einen deutschen Ableger an der Universität in Würzburg unterhält (vgl.  www.ltta.de). Im Wesentlichen geht es darum, die Fachinhalte der Kernfächer Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften, Geschichte, Erdkunde und Soziales mit Methoden der Künste, wie Musik, Tanz, bildende Kunst, Theater, Medien etc., zu erschließen und erfahrbar zu machen. So gestalten der*die Tänzer*in mit dem*r Mathematiklehrer*in, die*der Schauspieler*in mit dem*r Physiklehrer*in oder der*die Musiker*in mit der*m Biologielehrer*in gemeinsam im Tandem den Unterricht.

Die ausgewählten sechs Referenzschulen im Programm „Generation K“ mussten mindestens drei Fachlehrer*innen aus unterschiedlichen Fächern benennen, die bereit waren, diese kreative Unterrichtspraxis modellhaft in ihren Klassen zu erproben. Für die Lehrer*innen eine absolute Herausforderung, denn es bedeutete, ihre Klasse, ihren Unterricht – den sie zuvor teilweise jahrelang als Einzelkämpfer*innen bestritten – für eine*n Dritte*n zu öffnen, sich „auf die Finger schauen zu lassen“ und vielleicht zu erleben, dass der*die Künstler*in bei den Schüler*innen besser ankommt. Es bedeutete aber auch – wie immer bei Teamarbeit – Mehrarbeit durch die gemeinsame Vorbereitung und Auswertung der LTTA-Unterrichtseinheit. Und trotzdem fanden sich zu Beginn genügend motivierte und mutige Lehrer*innen für dieses Experiment.

Die Referenzkünstler*innen – im Schnitt drei pro Schule – absolvierten mittlerweile 20 Fortbildungstage nach der LTTA-Methode, die Hälfte davon zusammen mit den Fachlehrer*innen. Begleitet wurden sie dabei von den LTTA-Mentor-Artists aus Deutschland und auch aus Kanada. Ziel der Referenzkünstler*innen ist die Zertifizierung als LTTA-Artist; dazu gehören neben der Teilnahme an allen Fortbildungsmodulen mindestens zehn durchgeführte Unterrichtseinheiten in unterschiedlichen Fächern und Jahrgangsstufen, deren schriftliche Ausarbeitung sowie Unterrichtsbesuche durch die LTTA-Mentor*innen mit anschließender Auswertung.

Die Wirkungen

Mittlerweile wurden an den sechs Schulen mehr als 60 LTTA-Unterrichtseinheiten in allen Fächern und Jahrgangsstufen zwischen fünf und 12 durchgeführt. Die Ergebnisse sind verblüffend, obwohl eigentlich schon längst durch die ausführliche Evaluation der LTTA-Praxis in Kanada bestätigt; aber vielleicht muss man es ja erst einmal selbst erleben.

Die Lehrer*innen beobachteten motivierte und begeisterungsfähige Schüler*innen – gerade bei solchen, von denen sie es nicht kannten oder erwarteten –, sie schrieben in den Vergleichstests bessere Noten, zum Teil bis zu 1,5 Punkte, und auch ihre Behaltensleistung verbesserte sich wesentlich, wenn man sie nach einigen Wochen noch einmal nach den Inhalten der Stunde fragte. Und was gibt es für ein besseres Feedback, wenn ein Achtklässler kommt und sagt: „Endlich habe ich das mit der Zinsrechnung kapiert.“

Insbesondere in den DAZ-Klassen (DAZ = Deutsch als Zweitsprache) entfaltete die LTTA-Methode besondere Wirkungen, da auf einmal nicht mehr nur die Sprache zählt, sondern andere affektive Wege zur Aneignung von Inhalten; im wahrsten Sinne des Wortes, Dinge zu „begreifen“.

Dabei sind es noch nicht mal so sehr die künstlerischen Methoden und Techniken, die den Erfolg von LTTA ausmachen, sondern die dem Konzept zugrunde liegende Haltung, die auch immer wieder in den Fortbildungen vermittelt wurde. Es geht um Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit, um Prozessorientierung statt Ergebnisorientierung, um Teilhabe und Partizipation, um Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung, aber auch um eine gelebte Schulkultur, die sich durch eine gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung sowie eine respektvolle, achtsame Kommunikation auszeichnet.

Der systemische Blick

Mit einerseits „Schule und Bildung“ und andererseits „Kunst und Kultur“ treffen allerdings zwei sehr unterschiedliche Systeme aufeinander, die kaum kompatibel erscheinen; viele der oben genannten selbstverständlichen Prinzipien Kultureller Bildung stehen oft im Widerspruch zur gelebten Schulpraxis. „Fehlerfreundlichkeit“, echte „Partizipation“, „Prozessorientierung“ oder „respektvolle, anerkennende und wertschätzende Schulkultur“ stehen in den Leitbildern, werden im Schulalltag aber selten gelebt. Damit haben viele Künstler*innen an den Schulen zu kämpfen. Andererseits steckt darin auch eine große Chance für eine kulturelle Schulentwicklung.

Der Blick von außen ermöglicht eine andere Sicht auf Schule und auf Schüler*innen. Sie begegnen ihnen erst einmal unvoreingenommen, haben die Schüler*innen noch nicht in „Schubladen einsortiert“ und entdecken vielleicht verborgene Fähigkeiten und Kompetenzen, die im Schulalltag nicht so gefragt sind.

Daneben entspricht ihr Tun im Unterricht ihrer künstlerischen Denk- und Arbeitsweise. Anstelle von „Belehrung“ setzen sie auf eine forschende, experimentelle und prozesshafte Herangehensweise. Sie stellen Gewohntes infrage, experimentieren mit unterschiedlichen Methoden und ermöglichen den Schüler*innen so Erfahrungsräume für neue Sichtweisen, Denk- und Erkenntnisprozesse.

Peter Fauser schreibt dazu 2015:

„Welche Grundvorstellung von Unterricht und von Lernen steuert das Verhalten der Lehrerin? Halten wir fest: Sie will von den Kindern eine bestimmte Antwort auf ihre Frage hören. Diese Antwort ist Teil dessen, was aus ihrer Sicht zum Verstehen von Mathematik gehört. Allerdings handelt es sich dabei um ‚ihre‘ Mathematik, das heißt, den Zusammenhang von Begriffen, Modellen und Operationen, der ihr individuelles Lehrer-Denken strukturiert. Dabei sind die Antworten, die sie erwartet, in ihrem Kopf vor den Fragen da, die sie stellt. Das Wechselspiel von Fragen und Antworten wird ganz und gar von ihrem eigenen Denken bestimmt. Die Antworten der Kinder werden in diese Struktur eingefügt wie fehlende Worte in einen Lückentext. Diese Kommunikationsform gleicht mehr einer Art Monolog, der durch punktuelle Beiträge und Einwürfe der Zuhörer*innen begleitet und in Fluss gehalten wird. Das ist das Grundmuster der Belehrung, und diesem Muster […] folgt der Unterricht im Wesentlichen. Das Lernen erscheint weitgehend als vorgedachte Schrittfolge im Kopf des Lehrers.

Vor allem aber ist es bei einem solchen Interaktionsmuster nicht möglich, die kognitiven Modellierungsprozesse der Schüler*innen optimal zu fördern. Dies würde nämlich eine Umkehrung der Verhältnisse erfordern: Die Lehrerin müsste die Verstehensprozesse der Schüler*innen in den Mittelpunkt des Geschehens rücken und durch ihre Beiträge unterstützen.“ (siehe: Peter Fauser „Lernen heißt erfinden“. Über Kulturelle Bildung und die Bedeutung von Kunst und Imagination für Lernen und Schule)

Umsetzung in der Praxis

Und hier setzt die kreative Unterrichtspraxis an; ein Thema, eine Aufgabenstellung, eine Frage aus einer anderen Perspektive oder aus gar mehreren Blickwinkeln zu betrachten, querzudenken, Verbindungen herzustellen, unterschiedliche Lösungsansätze auszuprobieren, und das unter Einbeziehung möglichst vieler Sinneskanäle. Das führt dazu, dass im Gehirn unterschiedliche Bereiche aktiviert werden, zwischen denen sich neuronale Netzwerke bilden oder vorhandene verstärkt werden. Je mehr solche synaptischen Verknüpfungen entstehen und sich durch Wiederholung des Lernstoffs festigen, desto besser kann das Erlernte in bereits vorhandenes Vorwissen integriert werden.

Diese unterschiedlichen Lernzugänge – der mehr kognitive und der eher affektive – möglichst bruchlos zusammenzubringen, erfordert in der Zusammenarbeit von Fachlehrer*in und Künstler*in im Vorfeld eine eindeutige Rollen- und Aufgabenklärung. Wenn Künstler*innen an eine Schule kommen, neigen sie oft und meist unbewusst dazu, die Rolle der Pädagog*innen einzunehmen, weil sie sich an ihre eigene Schulzeit erinnert fühlen. Dies ist jedoch nicht ihre Aufgabe; die fachliche und pädagogische Arbeit obliegt den Lehrer*innen, die Künstler*innen müssen sich auf ihre künstlerische Arbeit besinnen. Und trotzdem sollte man sich auf Augenhöhe begegnen und den jeweiligen Anteil der*s anderen am Unterrichtsgeschehen würdigen.

Es gilt auch zu verhindern, dass die Schüler*innen auf einmal den*die Künstler*in „voll cool“ finden, da er*sie der*die „Exot*in“ von außen und für den spannenden und spaßigen Teil des Unterrichts zuständig ist, während der*die Fachlehrer*in für sie den trockenen, anstrengenden Teil verkörpert. Die Herangehensweisen sind unterschiedlich: Im Idealfall gestalten Fachlehrer*in und Künstler*in den Unterricht von Anfang bis Ende gemeinsam; dies setzt aber eine ausführliche, zeitintensive gemeinsame Vorbereitung voraus. Oft gibt es auch einen mehrfachen Wechsel zwischen künstlerischem und fachlichem Input, wobei von einem zum anderen ein Bogen geschlagen werden muss, aus dem sich die Übergänge logisch ableiten lassen. Oder der Unterricht wird hälftig geteilt: erst die künstlerische Intervention und dann die Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in die Fachpraxis.

Im Prinzip müsste die kreative Unterrichtspraxis schon in der Lehrerausbildung ansetzen; hier werden die Weichen für die Zukunft des Lehrerberufs gelegt. Im Programm „Generation K“ besteht seit dem Herbst 2018 im Rahmen der Kunstlehrerausbildung am Fachbereich Kunst der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz eine enge Kooperation zwischen der Universität und einer am Programm teilnehmenden Realschule. Unter dem Titel „KüHn – Künstlerisches Handeln im Unterricht“ gestalten Referenzkünstler*innen Seminare, stellen ihre kreative Unterrichtspraxis mittels LTTA vor und erarbeiten mit den Student*innen Unterrichtseinheiten. Student*innen wiederum gehen mit den Referenzkünstler*innen im Rahmen eines Mentorenprogramms an die Schulen und gestalten zusammen mit Fachlehrer*in und Referenzkünstler*in zu dritt den Unterricht. Anschließend werden die Unterrichtseinheiten mit der*m für Kunstdidaktik zuständigen Professor*in im Gespräch reflektiert.

Künstler*innen als selbstverständlicher Teil der Schule

Ein weiterer wichtiger Nebeneffekt der kreativen Unterrichtspraxis ist die Tatsache, dass die Künstler*innen regelmäßig und damit häufiger in der Schule sind, als wenn sie nur befristete Workshops, AGs oder Projekte leiten, die meist auch noch am Nachmittag stattfinden. Durch die Möglichkeit der Hospitation für andere Fachlehrer*innen, das gesteigerte Interesse von Kolleg*innen an dieser Methode, die häufige Präsenz der Künstler*innen an der Schule und auch das Sprechen der Schüler*innen darüber – „Wir haben heute in Mathe was ganz Cooles gemacht“ –, wird Kulturelle Bildung an der Schule deutlich sichtbar.

Zu dieser Präsenz haben auch neue „Artist-in-Residenz“-ähnliche Formate beigetragen, bei denen die Referenzkünstler*innen an einem festen Termin in der Woche anwesend sind, um im Rahmen von „Künstler*innen-Sprechstunden“ – auch „Artist Talk“, „Offenes Atelier“ oder „The doctor is in“ genannt –, Fragen von Lehrer*innen und Schüler*innen aufzugreifen, gemeinsame Ideen zu entwickeln oder neue Impulse zu setzen.

Die häufigen gemeinsamen Fortbildungen, meist mit Übernachtungen, haben dazu geführt, dass innerhalb kurzer Zeit eine enge Zusammenarbeit und vertrauensvolle Atmosphäre zwischen den Referenzkünstler*innen gewachsen ist. Es ist ein stabiles Netzwerk entstanden, sie tauschen sich aus, unterstützen sich gegenseitig, laden sich zu Veranstaltungen oder gemeinsamen Projekten ein und organisieren informelle Treffs, wie ein gemeinsames Grillen am Rheinufer.

Mittlerweile sind sie Teil der Schulgemeinschaft geworden und werden als beratende Instanz von den Kulturbeauftragten, Kulturteams und auch den Schulleiter*innen geschätzt. Damit nehmen sie zum Teil eine ähnliche Rolle ein, wie die der „Kulturagenten für kreative Schulen“ im gleichnamigen Programm (vgl. ebd.). Das hat dazu geführt, ab 2019 beim Programm „Generation K“ solch eine Rolle als „Kulturkoordinator*in“ an den Schulen einzuführen, um die Kulturbeauftragten an der Schule zu entlasten, die für ihre Arbeit entweder keine oder höchstens eine, in Ausnahmefällen zwei Entlastungsstunden pro Woche zugestanden bekommen.

Die kreative Unterrichtspraxis ist nur ein, aber ein wesentlicher Baustein der kulturellen Schulentwicklung. Bleibt zu hoffen, dass die Bildungspolitik diese Erfahrungen und Erkenntnisse aufgreift, dass sie den Mut hat, das klassische Bildungssystem zu überwinden oder wenigstens infrage zu stellen. Und sie muss die Rahmenbedingungen schaffen: die Lehrerausbildung verändern, den Lehrplan entrümpeln, den Schulen personelle und zeitliche Ressourcen wie Finanzmittel für die wichtigen „Dritten“ – expliziert die Künstler*innen – zur Verfügung stellen.