Kulturelle Bildung: Was war? Was ist? Kommt was?
Reflexionen und zentrale Diskurse über Kulturelle Bildung im Spiegel von kubi-online. Eine Studie
Abstract
Diese Studie gibt auf 45 Seiten einen Überblick zur Kulturellen Bildung, wie sie auf der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online (kubi-online) in vielen Fachartikeln reflektiert wird. Sie versucht, Entwicklungslinien für Themen und Diskurse – wie Teilhabe, Digitalität sowie Diversität und Nachhaltigkeit – über die letzten zehn Jahre nachzuzeichnen bzw. zentrale Aussagen zu bündeln. Die Auswahl erfolgt insbesondere aufgrund einer gesellschaftspolitischen Orientierung Kultureller Bildung unter dem Stichwort der Transformation. In einem weiteren Schritt wird dargestellt, in welcher Form und mit welchen Grenzen sich die Wissensplattform als Akteurin in den Diskurs einbringt und zum Wissenstransfer Kultureller Bildung beiträgt. Abschließend werden Themen aufgegriffen, die mit dem Material auf der Wissensplattform oder in neuen Beiträgen untersucht werden könnten.
Vom Handbuch zur Wissensplattform
Seit zehn Jahren, seit 2013, besteht mit der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online (kubi-online) ein digitaler Wissensspeicher für Kulturelle Bildung, der Fachdebatten in diesem Feld nicht nur abbildet, sondern diese miteinander vernetzt, neue Diskurse erschließt und das kostenfrei zugängliche Wissen stetig erweitert. kubi-online ist die digitale Fortschreibung des Handbuchs Kulturelle Bildung (Bockhorst/Reinwand-Weiss/Zacharias 2012), herausgegeben von Hildegard Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss und Wolfgang Zacharias. „Das Handbuch versammelte erstmals systematisch 179 Beiträge, die die Theorie und Praxis der Kulturellen Bildung umfassend darstellten“ (Über uns) und die alle auf der Wissensplattform zur Verfügung stehen.
Für die kurzen und systematischen Überblicksartikel wurden damals explizit Expert*innen angesprochen und „beauftragt“. Um diese Autor*innen zu identifizieren, wurden die Herausgeber*innen durch einen Beirat unterstützt, der in mehreren Klausuren die Konzeption und Struktur des Handbuchs entwickelte. Ziel des Handbuchs war eine erste systematische „Vermessung des Feldes“. Mit der digitalen Wissensplattform kubi-online hat sich dieser wichtige Grundstock auf mittlerweile über 750 Fachartikel von 600 Autor*innen (Stand: März 2023) ausgedehnt. Versammelt sind Texte zu kulturpädagogischen Themen, künstlerischen Praxen, theoretischen Grundlagen und Forschung. Mit monatlich durchschnittlich 30.000 Zugriffen auf kubi-online ist die Resonanz sehr groß und löst damit den Anspruch ein, mittels Open Access Wissen zur Kulturellen Bildung kostenfrei zugänglich zu machen.
Das Handbuch Kulturelle Bildung und die Wissensplattform kubi-online sind Zeichen für dynamische Entwicklungen im Feld Kultureller Bildung, die um die Jahrtausendwende einsetzten. Sowohl der politische Raum und die Öffentlichkeit, die Praxis inklusive ihrer Träger- und Verbandsstrukturen als auch das akademische Feld mit seiner Theorie, Forschung und Lehre wurden von diesen Entwicklungen erfasst bzw. stießen diese an. Sie drückten sich u.a. darin aus, dass sich das Praxisfeld Kultureller Bildung strukturell erweiterte und ausdifferenzierte, gezielte Förderprogramme und -strategien von Bund, Ländern und Kommunen eingeführt wurden, sich ein eigenständigen Forschungsfeld etablierte, die Anzahl von Studiengängen zur Professionalisierung Kultureller Bildung zunahm, zahlreiche Handreichungen und Fachpublikationen erschienen oder neue Akteur*innen auftraten (z.B. Rat für Kulturelle Bildung, Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung). Diese oftmals als „Boom“ oder „Hype“ Kultureller Bildung (vgl. Reinwand-Weiss 2013, Becker 2014) bezeichneten Entwicklungen müssen als Hintergrundfolie für die Fachbeiträge auf der Wissensplattform berücksichtigt und für deren Bewertung herangezogen werden; sie sind Kontext und Resonanzraum für die einschneidenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse, mit denen sie untrennbar verbunden sind.
Studie: Methodische Annäherung, Grenzen und Perspektive
Ich wurde von der Redaktion und dem Rechtsträger der Wissensplattform gebeten, Fachartikel auf kubi-online v.a. dahingehend zu sondieren, welche zentralen Diskurse sich in der Kulturellen Bildung auf kubi-online spiegeln, um die dadurch gewonnenen Erkenntnisse zu bündeln und zu teilen. Die Studie versucht also, einen Überblick zu geben, worüber und wie auf der Wissensplattform kubi-online in den letzten zehn Jahren geschrieben – d.h. nachgedacht – wurde. Sie stellt sich auf dieser Grundlage auch das Ziel, Lücken aufzuzeigen und Impulse für ein weiteres Nachdenken zu geben.
Die hier vorliegende Studie kann keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben und muss begrenzt werden: Dies ist zwingend notwendig, weil die Gesamtzahl (aktuell über 750) und der Umfang der Beiträge, die auf kubi-online versammelt sind, schlichtweg zu groß sind und die Perspektiven, die sie präsentieren, zu vielfältig. Etwa 200 Fachbeiträge wurden zur Auswertung herangezogen.
Um wesentliche Themen und Diskurse zu identifizieren, die sich auf kubi-online häufen und für die sich ggf. eine nähere Betrachtung lohnt, wurden zunächst die Schlagwörter auf kubi-online mit dem Register im Handbuch Kulturelle Bildung verglichen. In beiden Fällen wurde die Verschlagwortung von den Autor*innen bzw. der Redaktion vorgenommen. Auf dieser Grundlage konnten in einem ersten Schritt Themenhäufungen und begriffliche Verschiebungen erkannt und eine subjektive Auswahl von Schwerpunkten für diese Studie getroffen werden. Eine anschließende Filtersuche dieser Begriffe auf der Wissensplattform führte dazu, für diese Themen zentrale Beiträge zu identifizieren. Neben der Überschrift und der Verschlagwortung spielte das Abstract nochmals eine entscheidende Rolle, um einzuschätzen, ob die Beiträge das jeweilige Thema tatsächlich fokussierten. Ein Beispiel: Ungefiltert benennen allein 468 Beiträge den Begriff „Teilhabe“, diese Anzahl musste deutlich reduziert werden. Zusätzlich wurde für die Identifikation von zentralen Themen und Beiträgen die Clusterung genutzt, welche die Redaktion von kubi-online in den Formaten „Dossier“ und „Schwerpunkt“ bereits ihrerseits vorgenommen hat.
Damit folgt diese Studie der vermutlich üblichen Nutzungsweise der Wissensplattform: Nutzer*innen werfen einen Blick auf die Startseite mit ihren gehighlighteten Themen und Beiträgen, recherchieren eigenständig über die Filterfunktion und wählen Beiträge zum Lesen aus, suchen gezielt nach konkreten Autor*innen oder Beiträgen, klicken sich durch die in den Beiträgen gegebenen Verlinkungen weiter. Die hier vorliegende Studie spiegelt damit eine kaleidoskopartige Suchbewegung wider, die subjektive Erkenntnis schafft: Je nach Betrachter*in, Betrachtungswinkel und aktiver Bewegung entstehen wie in einem Kaleidoskop durch die vielfältigen Steine (hier Texte) unzählige Kombinationsmöglichkeiten, die durch die Selektivität der optischen Wahrnehmung und durch die Spiegelungen ein immer wieder neues – und immer individuelles – Bild hervorbringen. Lücken sind dadurch unvermeidbar, die Darstellung bleibt exemplarisch und wirft Spotlights auf jene Steinchen und ihre Kombinationen, die besonders auffällig erscheinen. Es handelt sich daher weder um eine wissenschaftliche inhaltsanalytische noch diskursanalytische Betrachtung, sondern um eine Annäherung. Vertiefende und systematische Inhalts- oder Diskursanalysen würden sich, auch das zeigt die Studie auf, aber tatsächlich lohnen.
Im Fokus der Studie stehen – siehe Ergebnisse 1 – gesellschaftspolitische Themen, weil diese einerseits dem alltäglichen „Diskurs“begriff sehr nahekommen und weil diese andererseits, das wird durch in der Verschlagwortung sichtbar, auf kubi-online sehr präsent sind. Allein unter den zehn häufigsten Verschlagwortungen (Stand März 2023) finden sich fünf gesellschaftspolitische Themen: Partizipation (65), Teilhabe (61), Inklusion (35), Diversität (34) und Digitalisierung (27). Die weiteren fünf zentralen Schlagwörter betrachten die Spezifik des Gegenstandes und Bildungskonzepts, nämlich Ästhetische Bildung (41) und Kulturelle Bildung (38), strukturelle Schwerpunkte wie Schule (46) und Kooperation (26) sowie ein spartenspezifisches Spotlight – die Theaterpädagogik (31). Dieser Fokus auf kubi-online wiederum hängt nicht nur mit dem Selbstverständnis kultureller Bildungsakteur*innen zusammen, sondern spiegelt auch die gesellschaftliche Transformation in den letzten Jahren und die Adressierung Kultureller Bildung im politischen Raum u.a. durch Förderprogramme und Forschungsrichtlinien.
Eine Herausforderung stellt dabei dar, dass die meisten Fachbeiträge unterschiedliche Diskurse – theoretische, thematische, strukturelle, politische, methodische – miteinander verschränken. Die nicht-themenbezogenen „Nebenerkenntnisse“, die am Ende der Studie angerissen werden (siehe Erkenntnisse 3), generieren sich aus dieser Diskursvielfalt in den Beiträgen und bleiben unvollständig. Gerade bei diesen Nebenerkenntnissen sind Unschärfen und falsche Gewichtungen in der Darstellung überaus wahrscheinlich. Durch die Fokussierung und Auswahl sind, auch darauf sei hingewiesen, wichtige Diskurse in der Studie nicht präsent, z.B. der kulturelle Bildungsort Schule, die historische Einbettung ästhetisch-kultureller Bildung oder die Reflexion über adäquate Forschungsmethoden. In der Auswertung ausgespart werden zudem – mangels Expertise bei der Autorin – explizit die spartenbezogenen oder praxismethodischen Betrachtungen.
Anders als geplant hat sich beim Lesen und Auswerten der Fachbeiträge herausgestellt, dass es weder realisierbar noch sinnvoll ist, die Erscheinungsdaten mit den Themen in eine enge Verbindung zu setzen, um Dynamiken und Verschiebungen der Diskurse zeitlich zu bewerten. Der Zeitraum von zehn Jahren ist insgesamt zu kurz und die Anzahl von Beiträgen zu den jeweiligen Themen in den Jahren jeweils zu gering, um hierzu Aussagen zu verallgemeinern. Zudem erscheinen Beiträgen häufig zeitverzögert. Daher werden bei den ausgewerteten Themen i.d.R. die zuerst erschienen Beiträge dahingehend geprüft, welche Begriffe und Bezüge in ihnen erkennbar sind und inwieweit sich diese in den späteren Beiträgen fortsetzen oder verändern.
Ich leiste die hier vorliegende Bündelung aus der Perspektive einer langjährigen Mitarbeiterin des Bundesdachverbands für Kulturelle Bildung, der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., und nunmehr als Koordinatorin der Geschäftsstelle des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung, die am IU Research Center Kulturelle Bildung angesiedelt ist. In diesen Rollen war und bin ich weder Wissenschaftler*in noch Praktiker*in, sondern zwischen diesen oft stark voneinander abgegrenzten Feldern verortet. Meine Arbeit war und ist insbesondere davon bestimmt, Fachdebatten und Akteur*innen zu beobachten und zu vernetzen sowie aktive konzeptionelle und politische Arbeit zu leisten. In dem Zuge bin ich vom gesellschaftspolitischen Leitbild und Verständnis Kultureller Bildung geprägt und speise meine Erfahrung aus jugend-, kultur- und bildungspolitischen Kontexten. Ich bin auch mit kubi-online verbunden: als Autorin, als Mitglied im Beirat, als Mitgestalterin von Dossiers und Schwerpunkten, als Nutzerin für eigene Recherchen. Mir erscheint diese Positionierung wichtig, um die von mir vorgenommenen Bewertungen einzuordnen.
Ergebnisse 1: Zentrale Diskurse im Spiegel der Plattform
Auf kubi-online wird, sofern Verschlagwortungen und Filterfunktionen genutzt werden und Dossierthemen gefolgt wird (Kulturelle Bildung und gesellschaftlicher Zusammenhalt 2019; Künste, Natur & Nachhaltigkeit 2020; Ästhetik – Digitalität – Macht 2018; Zukunft Kultureller Bildung in Zeiten der Transformation 2023), eine starke Ausrichtung auf gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Themen offenkundig. Weil sich in diesen Schwerpunktsetzungen unmittelbar gesellschaftliche Diskurse spiegeln und weil dies einem gesellschaftspolitischen Leitbild Kultureller Bildung entspricht, sind diese Debatten zentraler Gegenstand der folgenden inhaltlichen Auswertung.
Vom Wandel zur Transformation
Eingangs soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich übergreifend eine erste begriffliche – und grundsätzliche – Verschiebung zeigt: jene vom „gesellschaftlichen Wandel“ hin zur „Transformation“. Die ersten Texte auf kubi-online, die sich mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und ihrer Bedeutung für Kulturelle Bildung auseinandersetzen, nutzen fast ausschließlich den Begriff des „Wandels“ (Göschel 2013/2012, Keuchel 2016/2015). Unter diesem Begriff verweist Albrecht Göschel bereits auf die Komplexität, Diskontinuität, Bruchhaftigkeit und Ergebnisoffenheit der damit verbundenen gesellschaftlichen Prozesse, die später in Texten zur Transformation ebenso als Merkmale betont werden. Er stellt in seinem Beitrag insbesondere kulturelle Dimensionen des Wandels heraus – wie sie z.B. Lebensformen und Persönlichkeitsbilder, Normen und Orientierungen prägen und wie sich mit ihnen Generationen profilieren. Michael Dartsch erwähnt zehn Jahre später wiederum, dass es sich beim Thema Transformation um politische, ökologische, ökonomische und soziale Veränderungsprozesse handelt, die auch den Aspekt der Kultur bedenken müssen – und zwar in einem weiten Kulturbegriff, der Visionen, Narrative, Lebensstile, aber auch Denken, Kommunikation und Kunst umfasst (Dartsch 2022).
Die von Albrecht Göschel 2013/2012 benannten Megatrends sind: demografischer Wandel, Globalisierung, Anstieg von Bildung, Anstieg von Urbanisierung, Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft, Connectivity bzw. Informationsgesellschaft. Diese Themen spiegeln sich gut zehn Jahre später unter anderen Nuancierungen, Zuspitzungen bzw. Vorzeichen wider und sind zum Teil auch Inhalt dieser Auswertung (siehe Ergebnisse 1): als Generationengerechtigkeit, als Postkolonialität und Bildung für nachhaltige Entwicklung, als Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe, als Ländliche Räume (siehe Dossier) oder Digitalität. Und sie werden nunmehr häufiger unter dem Begriff der Transformation gefasst, auch wenn in den Texten Begriffe wie Wandel bzw. Veränderung bestehen bleiben. Zum Teil wird Transformation definiert: Michael Dartsch (Dartsch 2022) und Ute Pinkert (Pinkert 2022) beziehen sich dabei gleichermaßen auf das Forschungszentrum für Nachhaltigkeit, nach dem Transformation weitreichende Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft bezeichnet und zugleich berücksichtigt, dass diese Teilsysteme und Veränderungen miteinander verbunden sind und zum Teil auch in Konkurrenz zueinander stehen. Warum der Begriff „Transformation“ den des „Wandels“ abgelöst hat, wird im Konkreten in den Texten nicht erläutert. Es steht zu vermuten, dass es sich nicht um eine rein semantische Verschiebung handelt, sondern dadurch soll ggf. verdeutlicht und anerkannt werden, dass die Veränderungsprozesse tiefgreifender, komplexer, nachhaltiger und beschleunigter scheinen. Dies geschieht unabhängig davon, ob sie es tatsächlich sind, da die menschliche Geschichte stets durch Transformationsprozesse begleitet wurde.
Der Transformationsbegriff kann – passender als der des Wandels – zudem offenbar gut auf unterschiedliche Systeme bezogen werden, wie es die kubi-online Tagung 2022 und die daraus entstandenen Beiträge nahelegen. Cornelie Dietrich nutzt ihn bspw., um das Bildungssystem – im Engeren die Organisation Schule – mit ihren Reformnotwendigkeiten zu beschreiben und mit gesellschaftlichen Veränderungsanforderungen zu konfrontieren (Dietrich 2023). Bei ihr sind es fast deckungsgleich zu den unter Ergebnisse 1 behandelten Schwerpunkten (Post)Digitalität, Inklusion, Bildung für nachhaltige Entwicklung und Demokratie(bildung). Ute Pinkert macht es ganz ähnlich für den Theaterbetrieb (Pinkert 2022). Auch Vanessa Reinwand-Weiss vertieft in ihrer „Zustandsbeschreibung“ Kultureller Bildung und gesellschaftlicher Transformation (Zukunft Kultureller Bildung in Zeiten der Transformation 2023) weniger die gesellschaftlich-thematischen Diskurse der Transformation, sondern erläutert ihre Auswirkungen auf die (kulturellen) Bildungsstrukturen – v.a. in der formalen und non-formalen Bildung. Sie reißt an, wie diese Systeme von Transformation beeinflusst werden, wie sie reagieren und wie sie Transformation (mit)gestalten. Ihre Schlussfolgerung ist u.a., dass sich mit den Transformationsbewegungen in der Gesellschaft und in den Systemen auch Selbst- und Weltverhältnisse verändern. Diese Dimension klingt bereits bei Göschel an und wird auch durch Dietrich hervorgehoben: Kultur und Subjekt befinden sich in epocheprägenden Veränderungsprozessen und führen zum Ergebnis, dass sich das Menschen- und Bildungsverständnis als Wechselverhältnis von Ich und Welt wandelt und in dieser Polarität dekonstruiert wird. Transformation unter Bildungsperspektive betrachtet bedeutet, dass es kein von Welt getrenntes Selbst gibt, sondern dass diese immer wechselseitig aufeinander bezogen und miteinander verwoben sind. Diese Perspektive stärkt nochmals eine selbst- und sozialreferentielle Betrachtung von Bildung. Es wird also versucht, Transformationsprozesse und Kulturelle Bildung so zu reflektieren, dass Subjektfragen, soziale Gemeinschaft und Künste (für ein gutes Leben) verbunden werden (Dartsch 2022). Münden könnte dies darin, das Konzept der „transformatorische Bildung“ (z.B. nach Koller) zu nutzen.
Kultureller Bildung werden Potenziale zuerkannt, um Transformation zu bewältigen. Dazu zählen in den Texten die Entwicklung von Wahrnehmungsfähigkeit und Gestaltungsmöglichkeit – und zwar als Gestaltung von Material, ebenso von Sinn- und Ausdrucksmöglichkeiten. Während viele der folgenden Transformationsthemen bildungstheoretisch und kulturwissenschaftlich reflektiert werden, greift insbesondere das Dossier (Zukunft Kultureller Bildung in Zeiten der Transformation 2023) unter diesem Titel, in denen sich auch die Beiträge von Dietrich, Pinkert oder Reinwand-Weiss verorten, die strukturelle Transformationsfrage auf. Dies trifft auch auf Keuchel (Keuchel 2016/2015) zu.
Teilhabe als Dauerbrenner
„Mit den Prinzipien einer ‚Kultur für alle‘ sollte seit den 1970-er Jahren verhindert werden, dass relevante Teile der Bevölkerung von dem Kontakt mit dem kulturellen Leben und dem Erbe ausgeschlossen bleiben.“ (Hoffmann/Kramer 2013/2012) – so bringen Hilmar Hoffmann und Dieter Kramer, die das Thema kulturpolitisch und historisch einbetten, den Anspruch auf (kulturelle) Teilhabe in einem der ersten Beiträge auf kubi-online auf den Punkt. Dass sich Kulturelle Bildung diesem Teilhabe-Grundsatz verschrieben hat, zeigt sowohl die Anzahl (der Begriff kommt in 469 Texten vor!) als auch die Inhalte der Texte auf kubi-online. Mit dem Begriff wird der Blick nicht nur auf die kulturellen, sondern ebenso auf die sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen Kultureller Bildung gelenkt (Heinrich 2017). Von Anbeginn wird diesbezüglich auf den enormen Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit hingewiesen (z.B. Fuchs 2013/2012, Liebau 2015, Heinrich 2017).
Der Begriff Teilhabe erfreut sich aber nicht nur aus (gesellschafts)politischen Überzeugungen heraus so großer Beliebtheit in der Kulturellen Bildung, sondern auch aufgrund seiner Unschärfe. Wird gemeinhin zwischen politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Teilhabe unterschieden (Fuchs 2015, Reinwand-Weiss 2017), so bleibt doch unklar und vieldeutig, was überhaupt mit kultureller Teilhabe gemeint ist (Stoffers 2020). Dieser Aussage von Nina Stoffers kann nach Sichtung der Beiträge nur zugestimmt werden. Es gibt Beiträge mit (unterschiedlichen) definitorischen Schwerpunkten, wie auch Beiträge ganz ohne oder nur mit vagen Definitionen, ebenso wie Beiträge, in denen die Grenzen zwischen Kultureller Bildung und Teilhabe verschwimmen (Maedler/Witt 2014). Elisabeth Braun lässt bereits in einem der ersten Beiträge (eine Definition anklingen: „Teilhabe im Zusammenhang mit Kultureller Bildung ist als zusammenfassender Begriff zu verstehen, der die aktive Produktion künstlerischer Werke genauso meint, wie die Teilnahme an Veranstaltungen und Bildungsmaßnahmen oder die hedonistische Rezeption. Sie hat ihre Mittel auch für die kommunikativ kritische und politische Auseinandersetzung bereitzustellen“ (Braun 2013/2012). Diese Facetten von (kultureller) Teilhabe – und noch weitere – tauchen mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den Beiträgen auf. Eine Besonderheit stellen dabei jene Texte dar, die sich mit Audience Development beschäftigen (z.B. Mandel 2014) und das Thema Teilhabe stark in einen Kontext stellen (Hoch)Kultureinrichtungen zu besuchen. Kulturelle Bildung würde hier die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Menschen nicht nur an Lebensqualität gewinnen, sondern auch Kultureinrichtungen und -angebote nutzen, d.h. teilhaben können.
Kulturelle Teilhabe werde häufig in ihrer Bedeutung gegenüber anderen Teilhabedimensionen unterschätzt. Das ist wichtig zu betonen, weil es die gesellschaftliche Verantwortung Kultureller Bildung nochmals besonders hervorhebt. Kulturelle Teilhabe sei aber seit Pierre Bourdieu, auf dessen Theorien sich viele Texte beziehen (z.B. Fuchs 2013/2012, Maedler/Witt 2014, Fuchs 2015, Keuchel 2016/2015, Wischmann 2018), in ihrer Relevanz kaum zu überschätzen. Schon hierin liegt ein großes Spannungsfeld, auf das die Autor*innen eingehen, weil Künsten und Kultureller Bildung einerseits eine verbindende teilhabeorientierte Bedeutung zugesprochen, andererseits aber immer wieder auch ihre Funktionen und Mechanismen der Distinktion und Exklusion kritisch angemahnt werden (z.B. Maedler/Witt 2014, Auma 2018, Menrath 2019/2018, Josties/Gerards 2020/2019, Bücken 2021/2020):
„Das Feld der Kunst und Kultur ist von hegemonialen Einschreibungen, Zugangsbarrieren und entsprechenden Diskriminierungsrisiken bzw. Ausschlussrealitäten betroffen.“ (Auma 2018)
Auch wenn Teilhabe alle Menschen – auf kubi-online auch explizit alle Altersgruppen – einschließt, findet eine Problematisierung in der Kulturellen Bildung vorwiegend für marginalisierte Gruppen statt. Rainer Treptow nutzt dafür in einem ersten Überblicksartikel den Begriff der „benachteiligten Kinder und Jugendlichen“. Als benachteiligende Bedingungen werden explizit die nachhaltige Einschränkung der Ressourcen „durch Armut, durch Rassismus, durch gewaltsame Beeinträchtigung oder durch Stigmatisierung“ (Treptow 2013/2012a) genannt. Er stellt demnach einen Zusammenhang von Teilhabe mit den sozialen und (inter)kulturellen Kontexten des Aufwachsens, also mit Herkunftsmilieu, wirtschaftlicher Lage und Bildungshorizont der Eltern her. Dieser Zusammenhang wird in vielen Studien belegt und Programmatiken benannt. Diesen großen Einfluss der „Lebenslage“ unterscheidet Treptow in einem zweiten Beitrag vom Anregungs- und Anerkennungsreichtum der (kulturellen) Infrastruktur, die ebenso wie die persönlichen Kontexte Teilhabe fördern oder eben erschweren könne (Treptow 2013/2012b). Es sind demnach einerseits die gesellschaftlichen Bedingungen, andererseits die institutionellen Gefüge, die unter Teilhabezielen zu beachten sind und auch in den anschließenden Texten reflektiert werden. Begrifflichkeiten der „Benachteiligung“ kommen auch in späteren Beiträgen (z.B. Stoffers 2020, Nagel 2020) vor, werden aber zusehends durch „Marginalisierung“ oder „Diskriminierung“ abgelöst.
Dabei weisen die Autor*innen im Diskurs auf ein wesentliches Anerkennungsparadox hin, was das Nachdenken über Kulturelle Bildung, aber auch die Praxis erschwert: Wie können marginalisierende Lebenslagen anerkannt werden, ohne Stigmatisierungen zu reproduzieren? Denn es ist i.d.R. noch immer die Mehrheitsgesellschaft, die unter dem Thema Teilhabe als Problem definierte Gruppen markiert und stigmatisiert (Mörsch 2018/2016, Wischmann 2018) – und das auch in der Kulturellen Bildung. Demnach wohnt der Definitionsmacht von politischen Programmen und von Trägern, wer mit welchem Angebot „adressiert“ und damit als unterprivilegiert definiert wird, bereits ein paternalistischer Ansatz inne (Josties/Gerards 2020/2019). Auch wenn der Begriff „Zielgruppe“, dem nicht zuletzt die Praxis in den letzten Jahren zunehmend kritisch gegenübersteht, auf kubi-online kaum mehr genutzt wird: Es finden auf der Wissensplattform ebenso wie in diesem Beitrag Ein- und Abgrenzungen von Gruppen als Adressat*innen statt, um bestimmte Entwicklungen und Herausforderungen zu beschreiben. Das Anerkennungsparadox wird auf kubi-online also transparent, kann als Dilemma aber auf der Wissensplattform (noch) nicht gelöst werden.
Anerkennung ist in diesem Zusammenhang zu einem zentralen Begriff geworden: Anerkennung sei notwendig, damit Teilnehmer*innen und Mitgestalter*innen Lebenssouveränität gewinnen können (Kolland 2014/2013). Anerkennung wird aber auch unter dem Fokus der „Anerkennungsgerechtigkeit“ verhandelt – als Gerechtigkeit unter Ungleichen (vgl. Heinrich 2017) oder als Gleichheitsgrundsatz, der auf die Anerkennung anderer Identitätsentwürfe (Mecheril 2015/2013) oder ästhetischer Praktiken (Wischmann 2018) abhebt. Dies weist Parallelen zum Menschenrechtsansatz Kultureller Bildung auf, wie ihn z.B. Max Fuchs (Fuchs 2013/2012) ausführt. Dabei wird in den Texten vielfach nicht ausgeführt, was eigentlich als Gerechtigkeit verhandelt wird und wie sie erreicht werden kann. Mark Schrödter versucht es über die Unterscheidung von Gerechtigkeitsurteilen: Klassischer Utilitarismus, Grundgüteransatz, Kompetenzansatz, Capability-Approach (Schrödter 2013/2012). Den letzteren Ansatz der „Verwirklichungschancen“ verbindet er 2022 mit der Bedeutung von „intrinsisch wertvollen Gütern“, die für die Kulturelle Bildung ein guter Ansatz seien, um Gerechtigkeit zu unterstützen (Schrödter 2022).
Dem formulierten Anspruch Kultureller Bildung, dass sie Teilhabe fördert, wird von den Autor*innen vielfach verhalten bis kritisch begegnet, auch wenn ihr das Potenzial zugeschrieben wird, einerseits sach- und ausdrucksbezogene Gestaltung und andererseits soziale Verständigung (Kommunikation und Interaktion) zu ermöglichen. Kulturelle Bildung folge zwar der Vision, dass mittels und in der kulturellen Praxis die Spaltung zwischen Teilhabe und Nicht-Teilhabe überbrückt werden könne. Zugleich wird debattiert, inwiefern die Erfahrung von Teilhabe auf die kulturpädagogische Arbeit begrenzt bleibt oder Kulturelle Bildung auch darüber hinaus Unterstützung geben kann, um Lebenslagen zu verändern. Letzteres wird bezweifelt: Auch ein Höchstmaß an kultureller Teilhabe sei nicht dazu in der Lage, gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuheben (Krebber-Steinberger 2016). Spätestens im Zuge dieser kritischen Sichtweise halten die Cultural Studies Einzug auf kubi-online (z.B. Kolland 2014/2013, Keuchel 2016/2015, Aktas et al. 2018, Menrath 2019/2018). Mit ihnen kommen Ansätze, welche die Heilserwartungen und Harmonie Kultureller Bildung aufgeben und Kultur vielmehr als Raum für Konflikt und Prozess, d.h. als Aushandlungsraum und Erprobungsfeld, verstehen.
Insgesamt ist der Teilhabebegriff als eigenständiger Diskurs für ein weiteres Nachdenken über Kulturelle Bildung nur bedingt tragfähig – weil er erst in engem Zusammenhang mit den folgenden Begriffen der Partizipation, der Diversität oder Digitalität entfaltet, konkretisiert und problematisiert werden kann.
Partizipation – von der Kulturnutzung bis zur Demokratieförderung
Partizipation ist – noch vor „Teilhabe“ – in der Verschlagwortung durch die Autor*innen auf kubi-online mit 65 Nennungen der häufigste Begriff und wird durch die Suchfunktion auf kubi-online in insgesamt 335 Artikeln gefiltert. Ähnlich wie bei Teilhabe sind diese Zahlen zunächst Indikatoren für Folgendes:
- Dem Thema wird aus Überzeugung große Bedeutung beigemessen.
- Der Begriff ist so positiv konnotiert, dass er hohe Strahlkraft hat.
- Es gibt eine legitimatorische Funktion. Die Autor*innen sprechen in diesem Zusammenhang zum Teil von einer „Partizipationskonjunktur“, die Symptom einer Krise sei.
- Der Begriff hat so viele Bedeutungen und Interpretationen, dass vieles darunter gefasst und damit vieles auch verwässert wird.
Das Thema Partizipation hat in zehn Jahren kubi-online kontinuierlich Texte hervorgebracht, einige von ihnen sind im Umfeld des Kongresses „Illusion Partizipation - Zukunft Partizipation“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung im Jahr 2015 entstanden. Durch die vielfältigen Aspekte, was unter Partizipation gefasst wird, lassen sich keine grundsätzlichen Verschiebungen erkennen. Kontinuität besteht in der Vielfalt unterschiedlicher Partizipationsverständnisse.
Auf die vielen Dimensionen von Partizipation und auf Ersatzbegrifflichkeiten für Partizipation macht Jörg Zirfas frühzeitig auf kubi-online aufmerksam. Die semantischen Unschärfen ermöglichen es seinen Ausführungen nach, vieles unter Partizipation zu fassen, was den „eigentlichen“ Zielen nicht immer entspricht (Zirfas 2015). Partizipation wird in anderen Texten als konstitutives Merkmal in demokratischen Gesellschaften beschrieben (Becker 2015, Geiger 2016), ebenso wird vom Partizipationsrecht als Freiheitsrecht, Menschenrecht bzw. Kinderrecht gesprochen (Dengel/Krüger 2019, Köhler 2022), das Menschen zusteht, um an allen sie betreffenden Entscheidungen mitzuwirken, indem z.B. Mitsprache- und z.T. auch Mitgestaltungsrechte gesetzlich festgeschrieben sind (Fuchs 2015). Begründungen und Ziele von Partizipation ergeben sich jenseits dieser grundsätzlichen Ausgangsbedingungen aber genauso aus veränderten Rezeptions- und Erwartungshaltungen von jenen, die kulturelle Angebote besuchen. Diese Begründungslinien für Partizipation verweisen darauf, dass sich das Verhältnis von Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden verändert hat, dass sich Rezipient*innen zusehends hin zu Agierenden entwickeln, dass lern- und motivationspsychologische Perspektiven an Bedeutung gewinnen oder dass gesellschaftliche Wandlungsprozesse aufgegriffen werden, z.B. weil es notwendig ist, in Museen durch Aktivierung auch Gegenerzählungen zu ermöglichen (Piontek 2017/2016). Partizipation wird zugleich als Zustand und Vorgang beschrieben, als Ergebnis und Prozess, als Voraussetzung und Ziel. Ein Containerbegriff.
Nicht alle Texte auf kubi-online definieren Partizipation explizit, gleichwohl geht aus vielen Fachbeiträgen ein spezifisches Grundverständnis hervor. Eine mehrfach ähnlich formulierte Definition fasst Partizipation als Mitbestimmung in und an der Gemeinschaft in den Spielräumen der Kultur oder als „Vermittlungsprinzip zwischen den Individuen und den allgemeinen, sozialen oder politischen Institutionen“ (Zirfas 2015) bzw. als Vermittlungsverhältnis und -handeln zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft (Schwanenflügel/Walter 2013/2012). Diese Vermittlung kann sich auf unterschiedliche Praxen beziehen: auf soziale, kulturelle, ökonomische, technische oder auch pädagogische bis hin zu politischen. Damit sind unterschiedliche Dimensionen von Partizipation berührt, wie sie in ein Verhältnis zu kultureller Bildungsarbeit gesetzt werden können, aber in den Texten selten erwähnt werden. Neben diesen unterschiedlichen Dimensionen gibt es auch unterschiedliche „Grade“ von Partizipation, ein Aspekt, der in den Fachtexten weniger bedeutsam ist. Für manche beginnt sie erst dort, wo es etwas zu entscheiden gibt (Becker 2015) und gemeinsam ausgehandelt wird. Für andere umfasst Partizipation die Schritte sich positionieren, sich einbringen und andere aktivieren zu können (Helbig 2016). Auch hier bleibt eine Übersetzung in die Kulturelle Bildung meist vage.
Der begriffliche Bedeutungshorizont von Partizipation auf kubi-online ist wie bereits erwähnt weit gefasst, weswegen sich die Texte zum Thema Partizipation in ihrer Ausrichtung nur schwer aufeinander beziehen lassen. Geclustert werden kann Folgendes:
- Partizipation wird mit Teilhabe gleichgesetzt bzw. unmittelbar auf diese bezogen. In diesem engen Verständnis geht Partizipation mit der Nutzung kultureller Güter und der Teilnahme an kulturellen Angeboten einher – angelehnt an den englischen Begriff der cultural participation (Kulturpartizipation). Nach Max Fuchs ist diese Form der Teilnahme der eigentlichen Teilhabe aber erst vorgeschaltet (Fuchs 2015). Hervorzuheben ist, dass Texte, die sich mit kultureller Teilnahme und Teilhabe auseinandersetzen, sehr grundsätzlichen Charakter haben und keinen Praxistransfer anbieten; Texte, die sich explizit und differenziert mit Kulturnutzung beschäftigen, verwenden den Begriff „Partizipation“ dagegen selten.
- In einem weiteren Verständnis wird Partizipation als Teilhabe an Öffentlichkeit gefasst, d.h. sie ermöglicht den Zugang zu gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen (Geiger 2016). Hier wird eine große Nähe zum bereits dargelegten Teilhabe-Diskurs erkennbar. Zugleich wird die damit verbundene Teilhabebegrifflichkeit erweitert, weil sie als „Beteiligung an Entscheidungen“ präzisiert und damit von „reiner“ Teilnahme abgegrenzt wird. Partizipation bedeutet demnach, sich „als gleichberechtigtes Subjekt an öffentlichen Diskursen und Entscheidungen zu beteiligen und dabei eigene Interessen wirksam einzubringen. Partizipation kann als ein für alle Lebensbereiche relevantes Gestaltungsprinzip verstanden werden. Dies schließt genuin politische Partizipation … ebenso ein wie lebensweltliche Partizipation“ (Lindner 2015).
- Insbesondere jene Autor*innen, die Partizipation als politische Vermittlung von Interessen verstehen, erkennen in Partizipation ein zentrales Prinzip des Politischen. Damit begründen sich – der Kulturellen Bildung naheliegende – Prinzipien der Mit- und Selbstbestimmung, der Mündigkeit und Freiheit, der Repräsentation und Öffentlichkeit, der Konsensorientierung und Aushandlung.
- Einige Texte rekurrieren nicht nur auf einen politischen Partizipationsbegriff, sondern gehen einen Schritt weiter und stellen eine direkte Verbindung von Partizipation mit Politischer Bildung her. Partizipation wird dabei nicht nur als politisches Prinzip hervorgehoben. Vielmehr geht es explizit darum, in Bildungsprozessen gesellschaftliche Bedingungen von Demokratie zu erlernen und dabei Partizipations- und Ermächtigungserfahrungen, wie sie z.B. in der Kulturellen Bildung möglich sind, in ein politisches Handeln zu überführen. Kulturelle Bildung sei dabei „weit mehr als Demokratieerziehung oder die Vermittlung von Kenntnissen über politische Strukturen und Prozesse. Sie verortet sich im Kontext von Mitbestimmung, Mitgestaltung, Partizipation und politischem Handeln.“ (Witt 2018/2017). Dazu bietet sie Möglichkeiten, sich als Subjekt zu entwerfen, Themen aufzugreifen, Positionierungen zu schaffen – diese Formen der Selbst- und Weltaneignung sind Voraussetzungen, politisch zu urteilen und zu handeln.
Eine solche Zusammenführung von politischen Bildungsprozessen mit Kultureller Bildung eröffnet für Kulturelle Bildung (und auch für Politische Bildung) Spannungsfelder, die von den Autor*innen ausgeführt werden.
- Erstens: Politische Partizipation ist der Demokratie normativ verpflichtet (Dengel/Krüger 2019), womit vorsichtig Fragen danach aufgeworfen werden, inwieweit diese normative Setzung dem Bildungsansatz Kultureller Bildung entspricht. In diesem Zusammenhang werden didaktische wie methodische Distanzen zwischen Kultureller und Politischer Bildung betont, auch wenn Polaritäten zwischen „Sachlichkeit“ (Politische Bildung) und „Emotionalität“ (Kulturelle Bildung“) nicht (mehr) tragfähig scheinen.
- Für ein zweites Spannungsfeld verweisen Autor*innen darauf, dass die Forderung nach Partizipation Ausdruck davon sei, dass das politische System an Legitimation verliert. Hierbei bestehe die Gefahr, dass politische Probleme pädagogisiert und ihre Lösung als Auftrag an Kulturelle oder Politische Bildung adressiert werden, anstatt sie politisch zu lösen (Fuchs 2015).
- In einer dritten Problematisierung wird betont, dass Kulturelle Bildung in eine „marktkonforme“ Demokratie eingebettet ist. Politisch Kunst zu betreiben, bedeutet entsprechend, dass die Politiken der eigenen partizipativen und künstlerischen Praktiken kritisch betrachtet werden müssen (Scheurle 2017).
- Eine vierte kritische Linie ist mit dem Kompetenzdiskurs verbunden: Sie fragt, inwiefern Kulturelle Bildung dadurch instrumentalisiert wird, dass sie einer – letztlich konstruierten – politischen Persönlichkeit emotionale und soziale Fähigkeiten, wie Empathie und Kompromissfähigkeit, vermitteln soll. Diese Anpassungsleistung und Indienstnahme widersprechen den Bildungszielen der Emanzipation oder der Widerständigkeit, wie sie Kultureller Bildung zugeschrieben werden (Fuchs 2015 und Fuchs 2017).
- Partizipation wird in einigen Fachbeiträgen als (kultur)pädagogisches bzw. als Vermittlungsprinzip verstanden und damit auf den Bildungsprozess im Engeren fokussiert. Damit wird Partizipation bildungstheoretisch bzw. pädagogisch betrachtet bzw. als Prinzip der Jugendbildung hervorgehoben: „Es geht um pädagogische und nicht um politische oder ethische Problematisierungen und kritische Perspektiven zum Zusammenhang von Partizipation und Kultureller Bildung.“ (Zirfas 2015).
In Texten, die hier zugeordnet werden können, bleiben Bezüge zum Bildungsauftrag der Moderne oder der Kulturellen Bildung, wie sie Jörg Zirfas (ebd.) herstellt, die Ausnahme. Stärker dagegen wird in diesen Fachbeiträgen die subjektive Seite fokussiert, indem dieses Partizipationsverständnis auf Subjekte sowie auf die Einflussnahme von Subjekten zielt (Geiger 2016). Als Bildungsprinzip ist Partizipation quasi „in die DNA“ von Kultureller Bildung als Selbstbildung und Persönlichkeitsentwicklung eingeschrieben (Lindner 2015). Damit verschwimmen Begriffe und Grenzen zusehends. Indem Partizipation auch die Befähigung meint, selbstbestimmt, mitbestimmend und solidarisch handeln zu können, befindet sich der Begriff in unmittelbarer Nähe zum Begriff der Bildung (Zirfas 2015). - Partizipation als künstlerisches Prinzip wird – unter diesem Begriff – in den hier ausgewerteten Beiträgen nur in Ausnahmen beschrieben (Jas 2019/2018), was überraschen mag. Erwähnt wird dieser Partizipationsansatz insbesondere in Beiträgen zu den Darstellenden Künsten, die es mit ihren sozialen und kollektivistischen Ansätzen erlauben, eine Nähe zu partizipativen Grundbegriffen herzustellen.
- Zusätzlich zur bisher erörterten gesellschaftlichen und politischen Dimension bzw. zur kulturpädagogisch-künstlerischen Arbeit von Partizipation kann durch die Beiträge zuletzt ein Blick auf Partizipation als Selbstverständnis in den Einrichtungen und Trägerstrukturen der Kulturellen Bildung gelenkt werden. In den Fokus rücken damit die Träger als lernende und sich verändernde Organisationen (Piontek 2017/2016). Auch diese Dimension findet sich selten. Historisch wird in den Beiträgen der Anschluss zur Neuen Kulturpolitik und zur soziokulturellen Bewegung (1970-er Jahre) gesucht, die Partizipation als pädagogische Form des sozialen oder politischen Lernens (Zirfas 2015) eben auch auf die Einrichtungen beziehen. Inwieweit Partizipation geradezu notwendig ist, um echte und dauerhafte Veränderungen in den Fachstrukturen Kultureller Bildung zu ermöglichen, die wiederum zu mehr Teilhabe, Diskriminierungsfreiheit, Demokratie etc. beitragen, wird in den Texten wenig verhandelt. Es besteht in dieser Partizipationsperspektive sogar die Gefahr, dass Partizipation als Instrument für andere Ziele genutzt wird, die nicht das einzelne Subjekt als Akteur*in (Piontek 2017/2016) fokussieren, sondern Partizipation für die Interessen von Einrichtungen nutzen.
Der Fachbeitrag, der bezüglich der Begrifflichkeiten rund um Partizipation wohl am breitesten aufgestellt ist und der zugleich die damit verbundene Suchbewegung anschaulich macht, ist vom Forschungscluster „Interaktion und Partizipation“ des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung (Hallmann et al. 2021). Die Autor*innen greifen bspw. die demokratische Dimension auf, die dazu führt, durch Partizipation soziale Ungleichheiten und politisch-soziale Spaltungen zu verringern. Sie definieren in ihrem Text aber noch weitere Perspektiven, z.B. Partizipation als Kultur für und v.a. von und mit allen, was den Teilhabediskurs spiegelt. Bezogen auf die Praxis Kultureller Bildung geht es den Autor*innen insbesondere um ein demokratisches Verständnis der Arbeit als kollektivem Prozess. Hier klingt die Frage nach den Rollenverständnissen und Zuschreibungen an: „Wann sprechen wir von Besucher*innen, wann von Teilnehmer*innen, von Nutzer*innen, Stakeholdern, Akteur*innen?“ (Hallmann et al. 2021) Die im Beitrag formulierte Kritik an Institutionen, Strukturen, Denkweisen, kulturellen und sozialen Praktiken in der Kulturellen Bildung verdeutlicht: Transformative Prozesse für und mit Partizipation sind (noch) die Ausnahme.
Diskutiert wird in Texten zum Thema Partizipation notwendigerweise der enge Zusammenhang zu Macht und Privilegien (Zirfas 2015): In unterschiedlichem Ausmaß werden in Fachbeiträgen einerseits asymmetrische Macht- und Hierarchieverhältnisse erwähnt (Zirfas 2015, Geiger 2016, Piontek 2017/2016). Auf adultistische Strukturen aber und darauf, wie diese in der Kulturellen Bildung für und durch mehr Partizipation überwunden werden können und müssen, wird auf kubi-online nur am Rande eingegangen. Am stärksten gelingt dies in Beiträgen zur Juryarbeit im Kinder- und Jugendtheaterbereich (z.B. Köhler 2022) – mit dem kritischen Ergebnis, dass es in diesem Format trotz aller Bemühungen nur bedingt gelungen sei. Partizipation hat anderseits einen weiteren machtkritischen Aspekt: Sie ist eng mit Voraussetzungen verknüpft, die nicht nur in den strukturellen Gegebenheiten liegen, sondern eben auch auf der Ebene der Person (Geiger 2016). Partizipation bevorteilt, das weisen Autor*innen nach, artikulationsstarke Milieus. Sie verstärkt daher die soziale Selektivität durch und in der Kulturellen Bildung (Lindner 2015). Die Schlussfolgerungen hierzu könnten in verschiedene Richtungen diskutiert werden: Löst Partizipation das Teilhabe-Dilemma in der Kulturellen Bildung oder wirkt sie, ganz im Gegenteil, als Verstärker? Unter welchen Bedingungen gelingt das Erstere, unter welchen das Zweitere? Lässt sich die Lücke zwischen privilegierten Partizipierenden und marginalisierten Nicht-Partizipierenden überhaupt (kultur)pädagogisch schließen oder lässt sie sich nur wirtschafts-, bildungs- und sozialpolitisch lösen (Dengel/Krüger 2019)?
In den Texten werden weitere Problematiken benannt: Weil Partizipation positiv konnotiert ist, wird bspw. verkannt, dass es auch kritische Formen gibt (Fuchs 2015), dass Partizipation auch als Unterwerfungsgeste gedeutet werden kann (Seitz 2015/2012) oder dass ein Recht auf Nicht-Partizipation bestehe. Vieles würde als Partizipation etikettiert, ohne entsprechende Ansprüche und Prinzipen zu erfüllen (Robel/Meyer 2020). Letztere Tendenz wird dadurch forciert, dass die ausgeführte Vielschichtigkeit des Begriffes dafür genutzt werden kann, ihn eigenständig zu definieren bzw. zu interpretieren. So changieren die Fachbeiträge zwischen einer affirmativen Haltung zur Partizipation, unterschiedlichen Begriffsauslegungen und kritischem Bewusstsein. Hilfreich wäre daher, sich nicht nur klar und umfassend zur pädagogischen, strukturellen und gesellschaftlich-politischen Partizipation zu bekennen, sondern den Begriff und seine Dimensionen in der Kulturellen Bildung genauer zu differenzieren und zu klären, das betrifft sowohl das Nachdenken über Partizipation als auch die partizipative Praxis.
Fachbeiträge, die spartenbezogene Einblicke in die Kultureller Bildung geben, führen zum Eindruck, dass Partizipation insbesondere in der Theaterpädagogik und der Museumsarbeit, aber auch in der baukulturellen Bildung (Robel/Meyer 2020) für fachliches und pädagogisches Handeln und für entsprechende Reflexionen bedeutsam ist. Es fällt auf, dass die Möglichkeiten und Ausdrucksformen von Partizipation in den Sparten sehr unterschiedlich sind und zudem oftmals wenig auf die oben genannten Verständnisse und Aspekte bezogen werden. Als besonders vielfältig erweist sich der Diskurs im Theaterbereich: Dort werden neue Akteur*innenkonstellationen des „Zuschauens“ gefunden – Rezipient*innen werden zu Teilnehmenden, Ko-Autor*innen oder Ko-Produzent*innen –, arbeiten Profis und Nicht-Profis zusammen (Seitz 2015/2012) oder werden Hierarchien, z.B. der (höhere) Status von Expert*innen-Rollen, mittels kollektiver Arbeit in der Theaterpädagogik aufgehoben. Wolfgang Sting führt dazu produktionsästhetische und performative Strategien aus, die im sozialen Prozess des Theaterschaffens liegen und durch die Partizipation stark gefördert werden kann (bzw. die wiederum Partizipation fördern) (Sting 2017).
In der Museumsarbeit erweist sich, vor dem Hintergrund ganz anderer funktionaler und konzeptioneller Ausgangsbedingungen, der Grat zwischen Partizipation und Audience Development als äußert schmal:
„Kunst wirkt für Kulturelle Bildung daher erst dann fruchtbar, wenn sie den verschiedenen Kunstpublika (sic!) einen Aneignungsprozess ermöglicht, sei es über Partizipation oder Vermittlungsprogramme, die die Kunstwerke den Rezipient*innen näherbringen.“ (Sawer 2020)
Partizipation wird in die Bildungs- und Vermittlungsabteilungen von Museen delegiert (Abel-Danlowski 2022) und kann damit wohl kaum zur grundsätzlichen Weiterentwicklung von Museumsarbeit beitragen. In Beiträgen zur Museumsarbeit wird auch ein sehr niedrigschwelliges Verständnis offenkundig, das Partizipation vor allem dazu nutzt, um Verstehen, Erleben und Genießen von Kunstwerken zu ermöglichen („Verstehende Teilhabe“ (ebd.)). Partizipation ist aber (siehe oben) weit mehr als subjektives Agieren und Reagieren als Rezipient*in. Anja Piontek bildet hier eine Ausnahme, indem sie Wege aufzeigt, Museen als partizipative Orte zu beschreiben (Piontek 2017/2016, 2018). Für die Musik weist Steffen Geiger darauf hin, dass der Begriff Partizipation selten verwendet wird, obwohl sich partizipative Methoden in unterschiedlichen musikpädagogischen Ansätzen spiegeln. Das trifft insbesondere dann zu, wenn mittels Didaktik die schöpferische musikalische Gestaltung von Teilnehmer*innen angeregt werden soll. Breite Partizipation, die Kinder und Jugendliche über Inhalte oder Settings der musikalischen Arbeit mitbestimmen lässt und die sich bspw. in Kinder- und Jugendchören oder -orchestern findet, wird dagegen unter dieser Überschrift nicht diskutiert (Geiger 2016).
Unter dem Thema Partizipation ist auf kubi-online auch eine Diskurslücke im Medienbereich und in Verbindung mit Digitalität zu konstatieren. Diese Lücke bezieht sich nicht auf Partizipation als Teilhabe und Nutzung von (digitalen) Medien, darauf gehen einige Texte ein. Vielmehr fehlt es an Fachbeiträgen, welche die Frage diskutieren, wie sich Partizipation in der Kulturellen Bildung und in der kulturellen Medienbildung verändert und verändern muss, weil Digitalität Prozesse der Enthierarchisierung, Entschulung und Entpädagogisierung beschleunigt, direkte Beteiligungsmöglichkeiten ermöglicht (Helbig 2016) oder die Trennung von Produzierenden und Konsumierenden auflöst. Eine weitere Leerstelle auf kubi-online betrifft die partizipative Impulskraft von Jugendkulturen.
Das Themenfeld Partizipation lenkt die Aufmerksamkeit, wenn auch weniger offensiv als die Themenfelder Teilhabe oder Diversität, darauf, wie gesellschaftliche Transformationen mit Kultureller Bildung verbunden sind, und ebenso darauf, wie sich in der Kulturellen Bildung adäquate – d.h. partizipative – Bildungssettings bzw. Lernsituationen arrangieren und implementieren lassen. Letzteres wird in den Texten nur selten ausgeführt. So endet der Diskurs zu den vielen Facetten von Partizipation auf kubi-online häufig dann, wenn konkrete Übersetzungen und praxisbezogene Beschreibungen zu leisten wären.
Diversität
Eng mit dem Thema „Teilhabe“ ist das Thema Diversität verbunden. In Beiträgen, die sich diesem Diskursfeld zuordnen lassen, werden seit einigen Jahren unterschiedliche Dimensionen von Diversität benannt (z.B. Heinrich 2017, Reinwand-Weiss 2017). Dazu zählen v.a. Geschlecht/Gender, sexuelle Orientierung, Alter, Milieu/soziale Herkunft/Klasse/Schicht, Religion/Weltanschauung, Handicap, ethnische Herkunft/Migrationshintergrund, Lebenswelt/Lebensstil. In den folgenden Jahren verschiebt sich der Diskurs, indem eine „Übersetzung“ dieser Facetten in Diskriminierungsformen bzw. -achsen stattfindet (z.B. Micossé-Aikins/Sharifi 2019, Pinkert 2022) – als Sexismus, Adultismus, Klassismus, Ableismus oder Rassismus. Letztere Autor*innen weisen darauf hin, dass Diskriminierung als Begriff oft vermieden oder durch andere Begriffe überdeckt wird, was Maren Ziese bspw. ausführt (Ziese 2017). Eine zweite zentrale Kritiklinie hinsichtlich der Begrifflichkeiten führt aus, dass Diversität und Stigmatisierungen untrennbar miteinander verwoben sind: Diskriminierungen und Stigmatisierungen fänden explizit unter dem Label der Diversität durch Begriffe statt, z.B. durch „kulturfern“ oder „bildungsfern“. In diesen Begriffen zeigen sich immer wieder hochkulturelle bzw. bildungsbürgerliche Machtgefüge, ohne dass sichtbar wird, wer machtvoll, d.h. mit Definitionsmacht ausgestattet, Bildung und Kultur definiert (Mörsch 2018/2016). Dies widerspricht sogar dem Anliegen und der normativen Ausrichtung von Diversität.
Diskurse und Praxis für eine diverse Kulturelle Bildung sollten diese unterschiedlichen Diskriminierungsfacetten berücksichtigen (Keuchel 2016/2015). Dennoch kommen die Kategorien deutlich ungleich gewichtet auf kubi-online vor, wie Bettina Heinrich bereits 2017 ausführt, indem sie die Filterfunktion der Wissensplattform und die damit gewonnenen Zahlen nutzt (Heinrich 2017). Dem deutlichen Übergewicht auf postkolonialen bzw. postmigrantischen Diversitätsreflexionen, der starken Sichtbarkeit von Be_Hinderung und Inklusion und den wenigen Beiträgen zum Thema Gender – diese drei Dimensionen werden im Folgenden näher ausgewertet – steht die fast vollständige Abwesenheit anderer Diversitätsfacetten auf kubi-online gegenüber. Es kommt zur einer (nicht-intendierten) Einseitigkeit, die zu einem Verstärkereffekt führt: Die kultur-ethnische Dimension bzw. die Diskriminierungsform des Rassismus erlangt auf kubi-online eine sehr zentrale Bedeutung, obwohl sich Individuen und Gruppen bezüglich ihrer Identität ungern auf ein Merkmal reduzieren lassen und damit versuchen, sich von Stereotypisierungen abzuwenden: Bernd Wagner weist bereits 2013/2012 darauf hin, dass Menschen stets unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen angehören (Wagner 2013/2012). Paul Mecheril proklamiert wenig später die Hybridität und Patchwork von Identität (Mecheril 2015/2013).
Auf die Heterophonie bzw. Vielschichtig von Existenzen, Lebensweisen und Haltungen und vor allem auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen Armut, kultureller Teilhabe und gesellschaftlicher Exklusion bezieht sich auch Dorothea Kolland. Sie führt aus, dass die meisten Probleme aus sozialen, nicht aus ethnischen Differenzen resultieren, weswegen auch die zentrale Aufgabe sei, Armut zu beseitigen (Kolland 2014/2013). Ähnliches schreibt Stefanie Kiwi Menrath: Die soziale Herkunft, und nicht der ethnisch-kulturelle Hintergrund, hätte den größten Ausschluss-Effekt auch in der Kulturellen Bildung (Menrath 2019/2018). Hier wird ein zentrales Problem offenkundig: Vielfach wird in Texten darauf hingewiesen, dass sich mangelnde Teilhabeerfahrungen und -zugänge zuvorderst sozial und ökonomisch begründen, diese aber in der Öffentlichkeit und Politik kulturalisiert werden würden. Solcherlei Kulturalisierungen sozialer Probleme bringen in der Kulturellen Bildung noch größere Stigmatisierungen und Ausschlüsse hervor (Stoffers 2020). Nicht zuletzt diese Kulturalisierung führt zu Verstärkereffekten, z.B. dazu, dass Rassismus und Klassismus in der Kulturellen Bildung eng verstrickt sind (Micossé-Aikins/Sharifi 2019). Kawthar El-Qasem führt für diesen kritischen Zusammenhang aus, dass Klassismus gerade durch Milieukategorien, die ökonomisch hergeleitet werden würden, reproduziert wird (El-Qasem 2021). Diese so genannte Intersektionalität, d.h. die Verstrickung unterschiedlicher Diskriminierungsformen bzw. Identitätskategorien, wird zwar immer wieder auch in anderen Beiträgen erwähnt. Mehr noch, es werden Plädoyers dafür gehalten, grundsätzliche intersektionale Betrachtungsweisen zu nutzen (z.B. Simon 2016, Josties/Gerards 2020/2019, Gerards 2021/2019, Stoffers 2020, Kiefer 2020, Heinrich 2023). Aber: Es bleibt bei der Erwähnung, wirklich ausgeführt wird Intersektionalität in der Kulturellen Bildung auf kubi-online nicht. Bettina Heinrich konstatiert 2017 sogar, dass Intersektionalität in der Kulturellen Bildung keinen Resonanzraum hätte (Heinrich 2017). Am ehesten noch gibt es in wenigen Beiträgen Verbindungslinien zwischen Rassismus bzw. Migrationsperspektiven und Gender.
Im Ergebnis ist bezüglich Diversität zusätzlich zu beachten, dass die mehrfach problematisierte besondere Relevanz von sozialen und ökonomischen Hintergründen auf kubi-online stärker reflektiert werden müsste. Das im Erscheinen befindliche Dossier zum Thema „Klassismus in der Kulturellen Bildung“ wird versuchen, diese wesentliche Lücke zu füllen. Ebenso bedenklich ist – es handelt sich bei kubi-online u.a. um eine kulturpädagogische Diskursplattform –, dass die zentrale Diskriminierungs- und Machtkategorie im pädagogischen Handeln, nämliche jene des Adultismus, gar nicht auftaucht bzw. „versteckt“ maximal unter dem bereits in diesem Beitrag reflektiertem Thema der Partizipation verhandelt wird.
Diversitätsdimension: Kulturelle Diversität – (Inter-, Multi-, Poly-)Transkultur – (Post)Migration und (Post)Kolonialismus – Rassismus
Schon in der Zwischenüberschrift wird deutlich, dass in diesem Absatz ein Diskursfeld Kultureller Bildung umrissen wird, welches sich begrifflich verändert hat und facettenreiche Phänomene umfasst, die eng miteinander verbunden sind bzw. werden. Dieses begriffliche Feld ist für die Kulturelle Bildung nicht nur interessant, weil es viele politische Implikationen umfasst und eng mit dem Thema Teilhabe verbunden ist, sondern u.a. deshalb besonders relevant, weil es unmittelbar an „Kultur“ – einem der zentralen Grundbegriffe Kultureller Bildung – anknüpft. Bedeutsam wird dies deshalb, weil zusehends ein weiter Kulturbegriff genutzt wird, der zwar den produktiven Weg von „Kultur“ zu „Kulturen“ beschreitet (Kolland 2014/2013), der zugleich dann hochproblematisch ist, wenn er auf ein ethnisches Verständnis setzt, um das „Andere“ und das „Fremde“ zu konstruieren (Josties/Gerards 2020/2019). Zudem sei die Gefahr groß, dass Kultur, insofern sie als statisch verstanden wird, mit Rasse gleichgesetzt wird (Mecheril 2015/2013).
Auf die jeweiligen mit den Begriffen verbundenen Konzepte kann und soll hier nicht näher eingegangen werden, vielmehr werden Schwerpunkte und Verschiebungen nachgezeichnet. Sie beschreiben auch begriffliche Suchbewegungen, wie sie bspw. in einzelnen Texten abgebildet werden (z.B. Eger/Schulte 2020/2017):
- Die ersten, aber auch spätere Fachbeiträge nutzen einen historischen Rückblick, um auf die Geschichte der Einwanderung in Nachkriegs(west)deutschland einzugehen und auf längst nicht mehr genutzte Begrifflichkeiten wie „Ausländerpädagogik“ zu verweisen (z.B. Keuchel/Wagner 2013/2012, Kolland 2014/2013, Menrath 2019/2018). Diesen Diskursen ist der Migrationsbegriff eingeschrieben, aufgrund der im Diskurs frühzeitig verbreiteten UN-Konvention zur „Kulturellen Vielfalt“ wird bereits der Begriff „Diversity“ genutzt (Wagner 2013/2012). Und: Es wird in diesem Zusammenhang schon auf die Ethnisierung von Lebenslagen und gesellschaftlichen Konflikten hingewiesen.
- Der Begriff der postmigrantischen Kultur taucht von Beginn an auf kubi-online auf (Bäßler 2013/2012). Postmigration wird später in Anlehnung an Naika Foroutan als Gesellschaftsmodell beschrieben (Eger/Schulte 2020/2017), in dem im Zuge nicht abgeschlossener und stets dynamischer Migration über Teilhabe, Identitätsbildungs- und politische Transformationsprozesse verhandelt werden muss.
- Eine weitere Verdichtung findet sich in Texten, die das Thema mit Kulturalitätsbegriffen zu fassen suchen und diese in ihrer zeitlichen (Ab)Folge erläutern: von der Inter- über die Multi- und Poly- bis hin zur Transkulturalität (nach Welsch, vgl. Keuchel 2016/2015, Kolland 2015, Josties/Gerards 2020/2019). Dies mündet im Begriff der Superdiversität (Kolland 2014/2013, 2015). Weil gerade im Begriff des Inter- und Multikulturellen ein kulturalisierendes Moment liegt, das kritisiert wird, finden diese Begriffe sehr früh keine Verwendung mehr.
- Zwischenzeitlich wurde auf kubi-online der Begriff der Transkulturalität häufig verwendet, weil er das Fluide und Interaktive von Kulturen betont und weil er verdeutlicht, dass sich alle Mitglieder einer Gemeinschaft und Gesellschaft – unabhängig von ihrer kulturellen Prägung – bewegen müssten und auf dem Weg seien (Kolland 2014/2013). Dennoch finden sich kritische Perspektiven darauf (Stoffers 2020), weil auch in diesem Begriff ein kulturalisierender Aspekt erkannt wird. Er wird allerdings als ertragreich bewertet, weil er seinen Blick auf Gemeinsamkeiten und auf eine Sowohl-als-auch-Perspektive richtet, weil alle Akteur*innen, und nicht nur einzelne Gruppen, in den Blick genommen werden, weil der gemeinsame Prozess der Transkulturalität Neues entstehen lässt und weil Zuschreibungen, Ausgrenzungen, Konflikte benannt werden können (Stoffers 2020).
- Ergänzt und teilweise abgelöst wird Transkulturalität durch eine postkoloniale Begrifflichkeit und Perspektive (z.B. Mecheril 2015/2013, Aktas et al. 2018, Dengel/Krüger 2019, Bücken 2021/2020, Heinicke 2022). Sie fokussiert stärker die Machtkonstellationen mit ihren Prozessen der Abwertung und „Othering“ –Prozesse als Konstruktion des „Anderen“. In diesen Zusammenhang lässt sich auch die Benennung von Rassismus und Diskriminierung einordnen (z.B. Micossé-Aikins/Sharifi 2019). Othering zeigt sich demnach z.B. darin, dass Lebens-, Erfahrungs- und Handlungsräume rassistisch markierter Menschen vorschnell entlang kulturalisierender Deutungen eingeschätzt und wahrgenommen werden (Auma 2018), was zu Diskriminierung führt. Diese Gefahr vor Stereotypisierung wird bereits bei Keuchel/Wagner 2013/2012 erwähnt – inklusive der damit häufig verbundenen Defizitzuschreibungen durch machtvolle Akteur*innen jenen Gruppen gegenüber, die marginalisiert werden.
- Autor*innen reiben sich am Integrationsbegriff, der auf der Wissensplattform dennoch nicht negiert wird. Sie kritisieren, dass Kulturelle Bildung politisch als Mittel der Integration adressiert worden, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu unterstützen. Integration drückt in diesem Kontext meist die einseitige Erwartungshaltung gegenüber marginalisierten Gruppen aus, sich zu assimilieren, um bestehende Ordnungsstrukturen aufrecht zu erhalten. Insgesamt wird diesem Integrationsbegriff eine deutliche Absage erteilt, der Integration mit Anpassung Einzelner, die als „Andere“ oder „Fremde“ markiert werden, an das Bestehende gleichsetzt (z.B. Sliwka 2013/2012, Braun 2019/2011, Menrath 2019/2018). Als Alternative wird eine fast inklusive Perspektive für den Integrationsbegriff vorgeschlagen: Das gesellschaftliche Leben aller muss von Vornherein für alle Menschen ermöglicht werden (Rupprecht/Weckwerth 2015). Ebenfalls Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss löst dieses Dilemma, indem sie den rehabilitierten Begriff „Integration“ von Naika Foroutan nutzt, der die Integrationsfähigkeit der Gesamtgesellschaft in den Blick nimmt (Reinwand-Weiss 2017).
- Kritisch wird teilweise sogar der „Diversitätsbegriff“ eingeschätzt, weil auch er Merkmale der Differenz konstituiert – auf linguistischer, sozialer, kultureller und psychoanalytischer Ebene.
- Ambivalent ist die Verhältnisbestimmung dieser Begriffe zum Thema Community und Gemeinschaft, die in einigen Texten wichtige Aspekte darstellen – sie reichen von Migrantenorganisationen als Orte für das Tradieren kultureller Identität und Gemeinschaft (Bäßler 2013/2012), über Gemeinschaft als „Beheimatung und Streitbarkeit“ (Kolland 2014/2013), Community-Orientierung als Potenzial und zugleich als Gefahr für Reethnisierung (Kolland 2015) bis hin zu einem neuen Begriff von Gemeinschaft als Collage verschiedenster künstlerischer und kultureller Praktiken (Heinicke 2022).
Eine besondere Dynamik erhält dieser Diskurs auf kubi-online nach dem Jahr 2015 im Umfeld der Fluchtbewegungen nach Deutschland (z.B. Fuchs 2016, Reinwand-Weiss 2017, Mörsch 2018/2016, Bücken 2021/2020). Diese Texte verweisen auf Möglichkeiten, insbesondere aber auf Grenzen einer kulturellen Bildungspraxis an dieser Schnittstelle. Auch aus der Analyse von Kultur-macht-stark Anträgen, die kulturelle Bildungsprojekte mit Geflüchteten realisieren wollen, gehen die zentralen Linien dieser Diskursbeiträge hervor (Bücken 2021/2020, Gerards/Frieters-Reermann 2022):
- dass Kulturelle Bildung Prozesse der Paternalisierung mit einem Duktus der Infantilisierung und Viktimisierung verstärkt, indem Geflüchtete als hilfs- und förderbedürftige bzw. unmündige Subjekte markiert werden;
- dass Kulturelle Bildung Prozesse des Othering mit Kategorien Rasse, „Kultur“ und „Geschlecht“ verbindet, indem zudem ein statisches, geschlossenes, eurozentristisches Kulturverständnis vertreten wird und
- dass Kulturelle Bildung Prozesse der Integration im Sinne einer Funktionalisierung vertritt (z.B. Erlernen deutscher Sprache und Zivilisierung bzw. Demokratieerziehung).
Einig sind sich Autor*innen darin, dass sie den Leitkultur-Begriff und dementsprechende Diskurse ablehnen (z.B. Fuchs 2016). Dies mündet in der Forderung, dass sich Kulturelle Bildung von hierarchisch-dominanten Machtstrukturen bzw. von westlichen Paradigmen (z.B. Keuchel 2016/2015) abkehren müsse. Dominanzkulturelle Machtverhältnisse, Wissensbezüge und Normalitätsvorstellungen sind Kultureller Bildung eingeschrieben und müssten überwunden werden (El-Qasem 2021). Oder anders: Kulturelle Bildung sei eine Lernhandlung und Bildung in einer hierarchisch-strukturierten, dominanzkulturellen Gesellschaft (Auma 2018): Sogar als universal betrachtete kulturelle Werte seien im Endeffekt gewaltvoll durchgesetzt, würden andere Wertsysteme unterdrücken und normative Optionsvielfalt ausschließen (ebd.). Jenseits dessen, dass unterschiedliche kulturelle Werte und Identitäten in ihrem (Eigen)Wert anerkannt werden müssten, werden als Gegenmodelle und Alternative ausgeführt: Das Migrationsnarrativ sei zu dekonstruieren oder die Selbstermächtigung und -bestimmung von Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, zu stärken.
Insgesamt betreffen diese Annäherungen und Zustandsbeschreibungen den gesamtgesellschaftlichen Diskurs, in welchem Kulturelle Bildung „nur“ einen Bildungsbereich darstellt. Denn diversitätssensible Bildung und diskriminierungssensibles Handeln betreffen nicht nur alle Menschen (Dengel/Krüger 2019), sondern auch alle Bildungsbereiche und gesellschaftlichen Subsysteme. Spezifische Reflexionen auf Kulturelle Bildung und ihre Praxis sind auf kubi-online in der deutlichen Unterzahl. Eine konkrete Annäherung gelingt dadurch, dass Verständnis, Potenzial und Auftrag Kultureller Bildung bezüglich kultureller Diversität diskutiert werden. Maisha-Maureen Auma fragt 2018 bspw. nach einer passenden Definition für Kulturelle Bildung und folgt – sich zu anderen Definitionen abgrenzend – der Bundeszentrale für politische Bildung. Demnach bedeute Kulturelle Bildung die Bildung zur kulturellen Teilhabe. Ihre Aufgabe sei es, entsprechend dafür zu sorgen, dass die systematische Konstruktion von Differenz und Dominanz unterbrochen wird, um mehr Teilhabe zu ermöglichen, vor allem indem Chancengleichheit, das Recht auf Teilhabe von ungleich Positionierten und Schutz vor Diskriminierung gesichert werden (Auma 2018). Bildungspotenziale werden Kultureller Bildung in anderen Texten v.a. dadurch zugeschrieben, weil nicht die marginalisierte Gruppe, sondern das Subjekt im Mittelpunkt des Bildungsprozesses stehe (Reinwand-Weiss 2017). In diesem Ansatz tut sich dennoch ein Spannungsfeld auf: Inwiefern kann Kulturelle Bildung zwischen individueller Identität und gemeinsamen kulturellen Symbolsystemen, zwischen Zugehörigkeitsprozessen und Abgrenzungsprozessen vermitteln? Solche Findungs- und Identitätsprozesse einer Gemeinschaft könnten explizit Funktion künstlerisch-kulturell-ästhetischer Ausdrucksformen sein (Keuchel 2016/2015).
Paul Mecheril traut der ästhetischen Erfahrung als „anderer Erfahrung“ entscheidende Bildungspotenziale bezüglich kultureller Diversität zu: Sie vermittelt „Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse nicht nur kognitiv, sondern vor allem auch sinnlich-leiblich“ (Mecheril 2015/2013). Das Potenzial zeigt aber auch schnell seine Kehrseite auf: „Geradezu beschworen wurden und werden die Potentiale, die als ‚Versprechungen des Ästhetischen‘ einen Toposcharakter besitzen“ (Stoffers 2020) – empirisch belegt bzw. erforscht sind sie bezüglich Diversität jedoch nicht. Es wird zur Vorsicht gemahnt. Daher plädieren weitere Beiträge auf kubi-online dafür, das ästhetische Potenzial der Kulturellen Bildung darin zu sehen, dass sie einen Raum zur Aushandlung von Vielfalt ermöglicht, in welchem die Verschiedenheit ihr gemeinschaftsstiftendes Potenzial entfalten kann (Heinicke 2022). Das könne zudem dazu führen, sich von kolonialen Zeichensystemen abzugrenzen und zugleich symbolische Ordnungen (wie koloniale Prägungen) und ihre Entstehung zu verstehen, zu verändern, zu verwerfen. Dabei lassen sich Ästhetisches und Politisches nicht trennen (Aktaş et al. 2018), weil künstlerisch-ästhetische Praxen immer historisch eingebettet und politisch beauftragt sind. Das eigentliche Potenzial des Künstlerischen sei zwar, dass das Miteinander in Beziehung treten und stehen kann, so Julius Heinicke (Heinicke 2022), das aber erst dann diversitätssensibel sein könne, wenn tatsächlich Pluralität gemeint und ermöglicht wird. Er weist in diesem Zusammenhang auf eine Herausforderung Kultureller Bildung hin, die zwischen kreativem Freiraum (begründet in Autonomie und Freiheit der Künste) und gesellschaftlicher Verantwortung (begründet in politischer Beauftragung und gesellschaftlichem Selbstverständnis) oszillieren würde: Machtkonstellationen würden gerade im Freiraumnarrativ oft nicht mitgedacht. Diversität kann Diskriminierung überdecken. Es wird auf ein (weiteres) Problem aufmerksam gemacht: Insofern das ästhetische Paradigma als „universalisiert konzipierte Erfahrung“ (Pinkert 2022) verstanden werde, widerspricht dies dem Paradigma der Differenz, die für die Sichtbarmachung von ungleichen Machtverhältnissen so wichtig sei.
Zusätzlich zu dem eben erläuterten Blickpunkt auf das Ästhetische wird die persönlichkeitsprägende und subjektivierende Dimension Kultureller Bildung hervorgehoben – aber nicht (mehr) auf der individualpsychologischen Ebene. Das Thema Identität und Diversität sollte nämlich in größeren Kontexten gesehen werden (Kolland 2015): Kulturelle Identität entstehe durch symbolische Mitgliedschaft, habituelle Wirksamkeit und biografisierende Verbundenheit (Mecheril 2015/2013), brauche neben (Zugehörigkeits)Ordnungen auch (Zugehörigkeits)Erfahrungen. Die Aufgabe des Subjekts in transkulturellen Gesellschaften sei es dabei, Identität auszuhandeln und Kultur subjektiv zu konstruieren. Wie Kulturen hätten auch individuelle Identitäten etwas Fluides und damit Offenes (Wagner 2013/2012). Ob und wie Kulturelle Bildung dies unterstützen kann, bleibt in diesen Texten weitestgehend offen.
In einer wesentlichen Anzahl von Fachbeiträgen kommt die Verantwortung der Einrichtungen und Träger Kultureller Bildung, d.h. den Strukturen, in denen Kulturelle Bildung ermöglicht wird, in den Blickpunkt (z.B. Wagner 2013/2012, Reinwand-Weiss 2017, Ziese 2017, Menrath 2019/2018, Micossé-Aikins/Sharifi 2019): Ein wichtiges Reflexionsmoment ist hier, dass es notwendig sei, Machtkonstellationen und -strukturen in den Organisationen zu ändern. Veränderungsprozesse sind nicht nur auf individueller, sondern ebenso auf institutionell-struktureller und letztlich auch auf medial-ideologischer Ebene zu verorten (Simon 2016). In der Kulturellen Bildung haben sich dabei die drei P-Dimensionen, d.h. die Transformation von Personal, Programm und Publikum mit ihren jeweils wechselseitigen Bezügen, durchgesetzt. Das zieht für die Systeme nach sich, neben ihrem Kultur- und Bildungsverständnis auch professionsbezogene Fragestellungen in den Blick zu nehmen, z.B. Ausbildungszugänge und -wege zu ändern sowie sich der Problematik zu stellen, dass die überwiegende Mehrzahl von Fachkräften und Ehrenamtlichen in der Kulturellen Bildung keine Expert*innen für diversitäts- und diskriminierungssensible Arbeit sind.
Diskriminierung durch Organisationen beruht auch auf ihren rechtlichen und rahmengebenden Kontexten. Zu diesem Themenschwerpunkt gibt es in den Fachbeiträgen eine Besonderheit, die „Kulturelle Diversität“ von anderen Reflexionen zu Teilhabe- und Diskriminierungsfragen unterscheidet: Mehrfach wird nicht nur auf die Förderpraxis Kultureller Bildung hingewiesen, sondern diese wird explizit kritisiert, weil sie nach Ansicht der Autor*innen die im bestehenden Kulturbetrieb eingeschriebenen Diskriminierungsproblematiken reproduziert (Menrath 2019/2018). Nana Eger und Constanzen Schulte verweisen auf Top-Down-Prozesse von Förderstrukturen und auf damit verbundene „Zielgruppen“-Definitionen (Eger/Schulte 2020/2017). Carmen Mörsch stellt die perpetuierenden bzw. verstärkenden Auswirkungen gut gemeinter förderpolitischer Vorhaben heraus, die das Asyl- und Integrationsregime aufrechterhalten (Mörsch 2018/2016 ebenso Gerards/Frieters-Reermann 2022). Träger würden zudem durch Programme und Förderbedingungen in Projekte gedrängt, die sich der „Integration“ verschrieben haben, ohne dass die Träger und Fachkräfte ausreichend über Antidiskriminierung oder Dekolonialisierung wissen bzw. danach handeln können (Mörsch 2018/2016). Kritik wird auch daran geübt, dass die Verwendung der Mittel noch immer in der Hand jener liegt, die mit Privilegien ausgestattet sind (Ziese 2017) und dass entsprechende Strategien und Programme v.a. einen Image-Fokus hätten, der einer institutioneller Diskriminierung nicht entgegentreten würde (Aktaş et al. 2018), ganz im Gegenteil. Diese gouvernementale Perspektive wird auch von Susanne Bücken betont, die ausführt, dass Kulturelle Bildung nicht nur betroffener Teil davon ist, sondern selbst eine Akteurin, die damit Zuschreibungen und Diskriminierungen verstärkt (Bücken 2021/2020). Entsprechend werden auch Schlussfolgerungen für eine veränderte Förderpraxis gezogen (Gerards/Frieters-Reermann 2022).
Es ist sehr herausfordernd, aus diesen Diskursen zu kultureller Diversität konkrete Spezifika für Kulturelle Bildung herausarbeiten – was nicht zuletzt mit dem Thema selbst zusammenhängt. Denn notwendigerweise wird häufig die gesamtgesellschaftliche Dimension und Problematik erläutert, in die letztlich kulturelle und bildungsbezogene Praxen eingeschrieben sind und Kulturelle Bildung eingebettet ist. Ein weiterer Grund sind die normativen Setzungen und kritischen Haltungen, die vielen Fachbeiträgen eigen sind und aus denen sehr grundsätzliche Forderungen hervorgehen. Ebenso die aufgezeigten begrifflichen und konzeptionellen Verschränkungen von Kultur(en) und Bildung sowie die vielschichtigen Bezugssysteme, in denen sich die Diskurse bewegen, erschweren konkrete Ableitungen. Aufzeigen können daher insbesondere einzelne Fachbeiträge aus der Praxisforschung zu spezifischen Fragen, vor welchen Herausforderungen Kulturelle Bildung konkret steht (z.B. Simon 2016, Auma 2018, Josties/Gerards 2020/2019, Stoffers 2020, Bücken 2021/2020, Gerards/Frieters-Reermann 2022).
Diversitätsdimension: Gender
Die einzige Diversitätskategorie, die aktuell (März 2023) auf kubi-online neben den soeben beschriebenen migrations- und postkolonialen Inhalten und jenseits von Menschen mit Be_Hinderung in mehreren Beiträgen näher beleuchtet wird, ist „Gender“. Dieser Diskurs war nicht von Anbeginn auf der Wissensplattform vertreten, auch wenn es spätestens seit den Anfängen der Neuen Kulturpolitik feministische Schwerpunkte gab bzw. Kulturarbeit mit Mädchen in den 1990-er Jahren durch Verbände wie die BKJ im Fachdiskurs reflektiert wurde. Dabei handelt es sich hier um eine „Kategorie“, welche alle Menschen mindestens implizit im Alltag, aber oft auch explizit „betrifft“ und gesellschaftliche Realitäten stark bestimmt. Trotz dieser Bedeutung ist die Anzahl der Beiträge nicht ausreichend, um Diskursveränderungen und -schwerpunkte nachzeichnen bzw. verallgemeinern zu können. Deshalb können nur einzelne Aspekte bzw. Fachbeiträge hervorgehoben werden:
- Bettina Heinrich reflektiert diese Kategorie eher binär (Jungen/Mädchen). Bspw. macht sie auf, dass die meisten Jugendkulturen Jungenkulturen sind, und fordert in dem Zusammenarbeit wieder gezielte Mädchenarbeit in der Kulturellen Bildung ein (Heinrich 2017).
- Die gleiche Autorin differenziert wenige Jahre später stärker aus, inwiefern Kultur und Medien als Lebenswelten von Mädchen zu fassen sind. Sie verweist auf die historische Entwicklung von feministischer Theoriebildung hin zu Gender Media Studies und nutzt Konzepte des Doing/Undoing/Performing Gender. Ihr Ergebnis ist, dass es Gendered Spaces gibt. Gendered Spaces treffen sowohl auf Jugendkulturen zu, die weiterhin heteronormativ und maskulin bestimmt sind, aber gelten ebenso bei Kultur- und Freizeitinteressen, die geschlechtsstereotyp verbleiben. Während Mädchen kulturaffiner als Jungen sind, verbleibt der professionalisierte Kultur- und Kunstbetrieb männerdominiert. In Medienwelten sind nicht nur weibliche Personen unterrepräsentiert, sondern es dominieren dort tradierte Geschlechterordnungen, auch wenn sich in Nischen alternative Gender-Modelle finden lassen. Die Schlussfolgerung bleibt bestehen: Eine gezielte Mädchen- (und Jungen-)arbeit in der Kulturellen Bildung und Medienbildung macht Sinn (Heinrich 2023).
- Auch Marion Gerards betont, dass Gender und sexuelle Begehrensformen als Basiskategorie weiterhin hoch bedeutsam für Hierarchisierungen und Machtverhältnisse sind. War die Jugendmusikbewegung historisch vor allem männlich besetzt, kam in den 1960-er/70-er Jahre eine feministische Perspektive und unter dem Slogan „Kultur für alle“ auch eine Forderung nach umfassender Partizipation von Frauen hinzu. In den letzten Jahren ist zudem eine Verschiebung hin zur Gender-Perspektive zu verzeichnen. Gender-Perspektive bedeutet, dass das Geschlecht als soziale Konstruktion und nicht als biologische Konstitution verstanden wird. Geschlecht hängt dann mit bestimmten Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen und mit performativen Effekten auf die Entwicklung individueller Geschlechtsidentitäten zusammen. Insbesondere an der musikalischen Sozialisation macht sie fest, dass sich männliche Machtstrukturen und Geschlechterstereotypen erhalten haben. Sie weitet den Blick vorsichtig auf intersektionale Zusammenhänge, indem sie in ihren Beschreibungen und Schlussfolgerungen nicht nur nach Altersgruppen differenziert, sondern auch Inklusion (Menschen mit Be_Hinderung) und Migration aufgreift (Gerards 2021/2019).
- Celiana Kiefer erläutert anhand des Begleitprogramms zur Inszenierung STÖREN am Maxim Gorki Theater Berlin die theaterpädagogische Arbeit zu Sexismen im öffentlichen Raum. Auch hier ist die feministische Blickweise zentral (feministische Theaterpädagogik), auch wenn intersektionale und queere Gesichtspunkte anklingen (Kiefer 2020).
- Die heteronormative Perspektive verlässt Imke Nagel (Nagel 2020), indem in der von ihr vorgestellten Studie queere Themen, d.h. Kulturelle Bildung und Kulturarbeit in der LSBTIQ*-Community einen Raum finden.
Als Linien zeichnen sich ab, dass weibliche Personen als marginalisierte Gruppe markiert werden und dass entweder konkrete empirische Daten zu kulturellen Praktiken oder Praxiserfahrungen mit kulturellen Projekten zur Beschreibung von Gender in der Kulturellen Bildung herangezogen werden. Dieser Diskurs ist aktuell noch sehr verkürzt und exemplarisch.
Diversitätsdimension: Inklusion – Menschen mit Be_Hinderung
Bereits im Handbuch Kulturelle Bildung und somit seit dem Start von kubi-online stehen zwei Überblicksartikel zum Thema Inklusion zur Verfügung, die auf Menschen mit Be_Hinderung fokussieren – von Irmgard Merkt (Merkt 2013/2012) und Elisabeth Braun (Braun 2013/2012). Sie ordnen die Entwicklung einer eigenständigen inklusiven Kulturellen Bildung historisch ein: In einem Rückblick verweist Merkt auf die lange Zeit, in der Kulturarbeit eher eine therapeutische Dimension zugewiesen wurde (Merkt 2013/2012). Auch Braun weist darauf hin, dass die künstlerische-kulturelle Arbeit lange Zeit nicht als solche definiert wurde, sondern als „Kompensationsmöglichkeiten der Beeinträchtigungen und als psychotherapeutische oder sozialkommunikative Angebote interpretiert“ (Braun 2013/2012) wurde. Diese Haltungen gebe es noch immer. Dennoch habe eine Verschiebung von „Defizit“ auf „Kompetenz“ stattgefunden, eine Entwicklung, die auch Juliane Gerland (Gerland 2019) hervorhebt.
Beide eingangs erwähnten Grundlagenbeiträge teilen mit späteren Artikeln die enge Verbindung von Inklusion mit Menschen mit Be_Hinderung. Zwar wird in Texten immer wieder erwähnt, dass sich Inklusion als Konzept nicht nur auf das Thema Behinderung anwenden lässt, sondern insgesamt auf die Bedürfnisse einer heterogenen Gesellschaft – um dann doch die weiteren Ausführungen allein auf diese Gruppe zu fokussieren (z.B. Rupprecht/Weckwerth 2015, Brokamp 2016, Krebber-Steinberger 2016, Lätzer 2020). Viele von ihnen beleuchten die Konzepte einer inklusionsorientierten Pädagogik aus einer gesellschafts- und hierarchiekritischen Perspektive. Bezugssystem ist i.d.R. explizit die UN-Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderungen (z.B. Merkt 2013/2012, Sliwka 2013/2012, Sauter et al. 2016/2015, Rupprecht/Weckwerth 2015, Krebber-Steinberger 2016, Gerland 2019, Quinten/Cigelski 2021) – nicht als Sonderrechte, sondern als allgemeine Menschenrechte. Dieses politische Bezugssystem, das zu spezifischen Förderstrategien für Menschen mit Be_Hinderung geführt hat, könnte der Grund sein, warum sich der Begriff und das Konzept Inklusion trotz ihres grundsätzlichen und übertragbaren Charakters nicht für andere Diskriminierungsmerkmale durchgesetzt hat, auch nicht in der Kulturellen Bildung. Eine implizit andere Begründung zieht Susanne Keuchel heran: Diversität ist ein eher beschreibender und damit kultursoziologischer Begriff, Inklusion ein handlungsorientierter und normativer, d.h. eher pädagogischer Ansatz (Keuchel 2016). Das könnte Einfluss darauf haben, in welchen Kontexten sie als geeignet bewertet und genutzt werden.
Die Fachbeiträge, die sich mit Inklusion beschäftigen, formulieren weniger Erwartungen an Kulturelle Bildung (sowie an die Künste) – insgesamt tragen sie zu einer diversitäts- und diskriminierungssensiblen, hier zu einer inklusiven, Gesellschaft bei – als dies in anderen Texten zum Thema Teilhabe oder zu weiteren Diversitätsdimensionen getan wird. Die zentrale Forderung ist vielmehr, zunächst kulturelle Bildungsstrukturen und den Kulturbetrieb inklusiver für Menschen mit Be_Hinderung zu gestalten.
Obwohl der Begriff Inklusion viele Facetten (vgl. auch Keuchel 2016) hat, fokussieren sich die Diskurse auf kubi-online darauf, dass Menschen mit Be_Hinderung potenziell gleichberechtigte Zugänge zu künstlerischen Bildungsprozessen erhalten bzw. an kulturellen, künstlerischen Projekten teilhaben können (Krebber-Steinberger 2016). Mit dieser Aussage wird auch versucht, kulturelle Teilhabe zu definieren. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen – auf Grundlage der Indices für Inklusion (Brokamp 2016, Gerland 2019) – in Gesellschaft und in Institutionen inklusive Kulturen geschaffen, inklusive Strukturen etabliert und inklusive Praktiken entwickelt werden. Weil Beeinträchtigungen, Bedürfnisse und Ausgangsbedingungen aber sehr individuell seien, könne es „die“ Inklusion nicht geben (Lätzer 2020), handlungsleitend sei vielmehr Inklusionsorientierung. Auf Inklusion als Prozess legt auch Barbara Brokamp (Brokamp 2016) den Fokus.
Auf kubi-online problematisiert wird, dass auch die Kategorie Be_Hinderung eine Zwei-Gruppen-Theorie manifestiert (Krebber-Steinberger 2016), d.h. ein inklusiver Gedanke dadurch erschwert wird, dass zwischen Menschen mit und ohne Be_Hinderung unterschieden und damit getrennt wird. Die Suche nach passenden Begrifflichkeiten und Situationsbeschreibungen, wie sie bereits für andere Diskriminierungskategorien beschrieben wurde, setzt sich also bezüglich Be_Hinderung fort. Es gibt Definitionsansätze als „Menschen mit Beeinträchtigungen“ (z.B. Quinten/Cigelski 2021), andere Texte betonen die soziale Konstruktion von Be_Hinderung (z.B. Rupprecht/Weckwerth 2015), um Be_Hinderung von einer körperlichen Diagnose zu unterscheiden. Dass es notwendig sei, die Lebenssituation ganzheitlich-situativ zu beschreiben, wird bereits durch Elisabeth Braun (Braun 2013/2012) hervorgehoben.
Mit einer anderen Konnotation werben weitere Beiträge auf kubi-online dafür, Be_Hinderung positiv zu interpretieren, nämlich als Bereicherung für alle und nicht als dominantes Persönlichkeitsmerkmal Einzelner (z.B. Gerland 2019). In diese Richtung weist auch das Plädoyer von Peter Tiedeken, Inklusion nicht auf wertegeleiteten Idealismus zu reduzieren, sondern die lebensbestimmenden Bedingungen mit zu berücksichtigen (Tiedeken 2018). All dies bedeutet u.a., die Beeinträchtigungen der Menschen nicht zentral zu setzen. Vielmehr gilt es, die Perspektive auf die behindernden Bedingungen zu verschieben, bspw. auf die Zugangs-, Altersstufen-, Sparten-, Methoden- und Professionalisierungsproblematik in der Kulturellen Bildung – dieser Rahmen stellt letztlich hohe Hürden für Inklusion auf (ebd.). Juliane Gerland weist darauf hin, dass die Disability-Studies hilfreich sind, um konstruierte Be_Hinderung kritisch zu reflektieren. Diese haben einen eher kulturwissenschaftlichen, sachbezogenen und phänomenologischen Blick auf künstlerisch-kulturelle Prozesse. Sie unterscheiden sich damit von der stärker erziehungswissenschaftlichen, sozialpolitischen und damit normativen Inklusions- und Teilhabediskussion, wie sie sich in Gesellschaft und Kultureller Bildung häufig finden (Gerland 2019).
Inklusion ist historisch das Thema, das den Empowerment-Begriff „eingeführt“ hat (Krebber-Steinberger 2016), den die Disability-Studies mitbrachten und der in der Zwischenzeit genutzt wird, um Selbstermächtigungsstrategien in vielfältigen Diskriminierungskontexten zu beschreiben. Empowerment steht in einem engen Zusammenhang mit Sozialer Arbeit, die sich als Menschenrechtsprofession versteht und marginalisierte Gruppen in den Blick nimmt. Empowerment werde aber ausgerechnet für Menschen mit Be_Hinderung oft verhindert, weil der Gedanke der Fürsorge dominiere.
In diesem inhaltlichen Strang lassen sich auf kubi-online weitere Spezifika erkennen: Ein Schwerpunkt ist bspw., Menschen mit Be_Hinderung sehr stark als künstlerisch aktiv und kompetent, als (professionelle) Künstler*innen zu zeigen (z.B. Merkt 2013/2012, Sauter et al. 2016/2015, Tiedeken 2018, Poppe/Stoffers 2022/2022). Dieser Aspekt kultureller Praxis tritt in Texten zu anderen „Zielgruppen“ nicht so deutlich oder gar nicht hervor. Aufgegriffen wird z.B., dass die Kunst- und Kulturproduktionen von Menschen mit Be_Hinderungen zunehmend anerkannt und beachtet werden und dass Kulturelle Bildung dazu professionelle Wege eröffnen soll und kann (Gerland 2019). Auch die Notwendigkeit, adäquate Arbeitsplätze für Künstler*innen mit Assistenzbedarf zu schaffen (Poppe/Stoffers 2022/2022) oder sie in den kommerziellen Kulturbetrieb zu integrieren (Tiedeken 2018), spielen eine Rolle. Diese Texte beziehen sich wenig auf Kulturelle Bildung. In ihrem Zusammenhang tauchen aber Spannungsfelder im Zuge von Inklusion auf – zwischen geschützten und öffentlichen Räumen, zwischen Künsten und Sozialer Arbeit bzw. Pädagogik –, von Inklusion als Merkmal, das Identität stiftet, Verkauf fördert und zugleich beides hemmen kann.
In Kontrast zu dieser künstlerischen Perspektive stehen andere Fachbeiträge, die den Blick auf Inklusion in der Schule lenken (z.B. Sliwka 2013/2012, Rehm 2018, Braun 2019/2011) und sich mit dem stark selektierenden Schulsystem auseinandersetzen. Inklusive Potenziale Kultureller Bildung stehen hier Mechanismen entgegen, die junge Menschen sortieren und exkludieren bzw. sich am Durchschnitt und an Homogenität orientieren (Brokamp 2016, Rehm 2018). Diese Beobachtungen verbleiben aber nicht bei der Schule: Es werden Parallelen zu Hochschulen und Hochkultureinrichtungen gezogen, denn auch ihnen gelingt es nicht, Zugänge zu schaffen, die den individuellen Bedürfnissen von Menschen mit Be_Hinderung entsprechen.
Für kulturelle Bildungspraxis gibt es unter dem Thema Inklusion Handlungsempfehlungen, und zwar
- für professionelle Akteur*innen (z.B. Merkt 2013/2012, Quinten/Cigelski 2021, Sauter et al. 2016/2015, Quinten/Marquard 2023),
- für Institutionen (z.B. Rupprecht/Weckwerth 2015, Brokamp 2016, Krebber-Steinberger 2016, Gerland 2019, Poppe/Stoffers 2022/2022), die von baulich-technischen über inhaltliche bis hin zu psychologischen Fragen reichen,
- für Kontextbedingungen (z.B. Tiedeken 2018, Quinten/Cigelski 2021),
- für partizipative Forschung (Gerland 2019) von und mit Menschen mit Be_Hinderung.
Insbesondere in diesem Themenfeld wird hervorgehoben, wie eng Lernprozesse der Institution und der Individuen miteinander verbunden sind und sein müssten (Braun 2019/2011). Eine weitere Kritik bezieht sich auf die Leistungsanforderungen und die normative Perfektibilität, die in „Bildung“ und „Kultur“ (Krebber-Steinberger 2016) – und damit auch in der Kulturellen Bildung – weit verbreitet sind und inklusive Arbeit erschweren.
Erwähnt werden muss, dass es – wenn auch sehr wenige – Fachbeiträge gibt, die den Inklusionsbegriff über Menschen mit Be_Hinderung hinaus nutzen: Das trifft bspw. auf die Studie von Imke Nagel aus dem Praxisfeld zu, die nicht nur „gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen in allen Lebensbereichen“ (Nagel 2020) einfordert, sondern unter dem Begriff Inklusion unterschiedliche Diskriminierungsformen aufgreift. Ebenfalls beschreibt Raika Lätzer verschiedene Facetten von Inklusion, welche konsequenterweise die in diesem Beitrag zentral sichtbaren Perspektiven zusammenfassen:
- der ethnisch-kulturelle Hintergrund mit dem Hemmnis Dominanzkultur,
- der körperlichen Beeinträchtigungen mit der Schwierigkeit defizitorientierter Haltungen und
- das Thema Gender mit der Herausforderung sehr stereotyper Darstellungen (Lätzer 2020).
Digitalität als neues Zeitalter
Einer der ersten Beiträge zum Thema Digitalität ist „Digitale Medienkulturen“ von Petra Missomelius (Missomelius 2013/2012). Diesen ordnen die Herausgeber*innen des Handbuchs Kulturelle Bildung dem Kapitel „Mensch und Kultur“ zu und definieren damit Mediatisierungs- und Digitalitätsprozesse als kulturelle Prozesse. Missomelius‘ Überblicksartikel weist zudem ein ähnliches Themenspektrum auf, wie es anschließend in weiteren Beiträgen auf kubi-online genauer beleuchtet wird: Sie erwähnt die umfassenden Auswirkungen digitaler Medienkulturen auf das private und berufliche Leben, auf private und öffentliche Räume, auf kulturelles Bewusstsein oder auf neue sinnliche Wahrnehmungskonstellationen. Torsten Meyer umschreibt dies 2015 mit dem „sehr grundsätzlichen Wandel der Betriebsbedingungen für Gesellschaft“ (Meyer 2015). Ebenso verweist Missomelius auf die Bedeutung der hinter den Oberflächen des Medialen/Digitalen verschwindenden Funktionsweisen, die heute vielfach mit Algorithmizität gefasst werden, mit der Aussage, diese Funktionsweisen würden kaum noch erkannt und hinterfragt. In einem weiteren Grundlagenartikel des gleichen Handbuch-Kapitels von Benjamin Jörissen sind viele spätere Diskursstränge angelegt (Jörissen 2013/2012). Besonders relevant scheint seine grundlagentheoretische Verknüpfung von Anthropologie und Medialität sowie die medientheoretische Argumentation – angelehnt an Oswald Schwemmer – nach den kulturellen Formen stets medial situiert sind. Am Phänomen der Artikulation – ein Motiv, das in einem weiteren Beitrag von ihm 2017 unter dem Stichwort Digitalität wieder aufgegriffen wird – zeigt er den dreiseitigen Zusammenhang von kultureller Formation/Performanz, Medialität und körperlich-leiblichen Formen der Subjektivation auf, was eine zentrale Bildungsfrage ist (Jörissen 2017).
Ein dritter Beitrag aus 2013/2012, Kai-Uwe Huggers „Bildung im gegenwärtigen Mediatisierungsprozess“, beschreibt „Mediatisierung als Metaprozess sozialen Wandels, innerhalb dessen ‚immer komplexere mediale Kommunikationsformen (entwickeln), und Kommunikation [...] immer häufiger, länger, in immer mehr Lebensbereichen und bezogen auf immer mehr Themen in Bezug auf Medien‘ (Krotz 2007:38) stattfinden“ (Huggers 2013/2012). Interessanterweise ist dieser nicht in den theoretischen Grundlagenkapiteln des Handbuchs Kulturelle Bildung verortet, sondern wird den Praxisfeldern unter „Medien“ zugeordnet. Für den medienpädagogischen Fachdiskurs einer kulturellen Medienbildung, der zu diesem Zeitpunkt aus dieser Position heraus noch kein die gesamte Kulturelle Bildung umfassender Fachdiskurs zu sein scheint, leitet er zwei Tendenzen zum Verhältnis von Subjekt und Bildung ab:
„Während Medienkompetenz [Hervorhebung d.V.] ein vor allem kompetenz- und kommunikationstheoretisch begründetes Modell mit unterschiedlichen Wissens- und Fähigkeitsdimensionen darstellt, betont Medienbildung [Hervorhebung d.V.] in bildungstheoretischem Verständnis den Aspekt des Prozesses der Freisetzung des Subjekts zu sich selbst und der Medien-Reflexion.“ (Huggers 2013/2012)
Sein Schluss ist, beide Aspekte integrativ zu betrachten.
Grund für diese insgesamt sehr weitsichtigen Blicke auf die digitale Transformation von Mensch, Welt und Bildung könnte sein, dass sich bereits vor zehn Jahren wesentliche Themen der Digitalität abzeichneten und dass die (bildungs-, medien- und kultur-)theoretischen Diskurse und Betrachtungen am Schnittfeld Kulturelle Bildung und Medienbildung für diese Entwicklungen besonders anschlussfähig bleiben.
Es entsteht eine kleine Lücke von etwa fünf Jahren, bevor sich viele weitere Beiträge auf kubi-online mit Digitalität auseinandersetzen. Ihnen liegt zu diesem Zeitpunkt gemeinschaftlich die Überzeugung zugrunde, dass Digitalität alle kulturellen (und gesellschaftlichen wie auch Lebens-)Bereiche durchzieht und durchsetzt (z.B. Jörissen 2017, Hofhues 2021, Leeker 2022). Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Beiträge ist, dass, weil sich das Digitale nicht mehr vom Nicht-Digitalen trennen lässt, von „Postdigitalität“ und längst von der Verwobenheit mit sozialen, kulturellen, politischen und geografischen Umwelten gesprochen wird (z.B. Klein 2019, Hofhues 2021, Meißner 2021, Autenrieth/Nickel 2022, Leeker 2022, Traulsen/Büchner 2022). Während Digitalisierung, die als Diskurs kaum aufgegriffen, ja fast „übersprungen“ wird, v.a. das technische und technologische Phänomen beschreibt, werden mit dem bevorzugten Begriff der Digitalität die grundsätzlichen Verschiebungen von Wahrnehmungsbedingungen und -ordnungen (Jörissen 2020 nach Hofhues 2021, Autenrieth/Nickel 2022) bis hin zu neuen Wissensordnungen hervorgehoben. Durch sie verändern sich Denk- und Handlungsweisen, die sich sogar zunehmend von den Technologien entkoppeln können. Außerdem sei der Digitalitätsbegriff, so Felix Büchner und Sören Yannik Traulsen, eine diskursive und damit produktive Gegenposition zur oft negativ konnotierten und ökonomisch geprägten Debatte um Technologisierung (Büchner/Traulsen 2022): Digitalität ist ein Mindset (Deeg 2023). Bezugspunkt ist vielfach Felix Stalder mit seiner Beschreibung einer „Kultur der Digitalität“ (z.B. Hallmann et al. 2021, Autenrieth/Nickel 2022, Korte/Unterberg 2022, Deeg 2023), die durch die Eigenschaften Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität gekennzeichnet ist. Diese Eigenschaften werden in den vorliegenden Texten zum Teil bildungstheoretisch reflektiert.
Digitalität ist eine Transformation in der Gegenwart. Das ist deshalb wichtig zu betonen, weil es auf die Notwendigkeit von Bildungsprozessen im Jetzt hindeutet und zugleich auf eine Verhältnisbestimmung von diesen Bildungsprozessen der Zukunft verweist. Einen Ausblick auf das entsprechende Zukunftspotenzial gibt Sandra Hofhues, die einen Zusammenhang mit den künstlerisch-ästhetischen Möglichkeiten des Digitalen und der Digitalität herstellt. Sie betont, dass es sich dabei weder um utopische noch dystopische Konzepte aus der fernen Zukunft, sondern um die gesellschaftliche und kulturelle Gegenwart handelt (Hofhues 2021). Aus der digitalen Gegenwart heraus zeigt Robert Hausmann Wege auf, wie sich Zukunft mit künstlerischen Ausdrucksmitteln explorieren lässt – ebenso wie Hofhues mit dem Verweis, dass weder das Utopische, noch das Dystopische wahrscheinlich sei, sondern dass Zukunft aus jenen Entscheidungen erwächst, die menschliche und mittlerweile auch nicht-menschlichen Akteur*innen gegenwärtig treffen (Hausmann 2022). Diese neue Bedeutung nicht-menschlicher Akteur*innen wird mehrfach reflektiert – bspw. bei Kristin Klein, die unter Subjektkonstellationen und -konstitutionen hervorhebt, dass durch die digitalen Transformationen Dichotomien zwischen Natur-Kultur/Mensch-Technologien überwunden werden würden (Klein 2019). Torsten Meyer fasst dies 2015 unter dem Begriff der Post Nature (Meyer 2015).
Auf kubi-online hat sich die Bewegung weg von der technischen hin zu einer kulturellen Perspektive und hin zur Frage, wie sich Subjektivierungsprozesse im postdigitalen Zeitalter vollziehen bzw. wie diese gesellschaftliche Transformation mit Bildungsprozessen untersetzt und begleitet werden können, bereits früh vollzogen. Damit geht einher, ein Bildungsverständnis unter dem Einfluss von Digitalität zu entwerfen, das den damit einhergehenden Prozessen entspricht und unweigerlich verbreitete kulturelle Bildungsverständnisse infrage stellt (vgl. auch Meyer 2015): Benjamin Jörissen bspw. beschäftigt sich intensiv mit Subjektivation und Subjektivierung in der postdigitalen Kultur und grenzt diese von historisch gewachsenen subjektivistischen Freiheitsverständnissen in Bildung und Pädagogik ab, die von einem relationalen Verständnis abgelöst werden (Jörissen 2017). Denn: Aus digitalen Praktiken gingen neue Selbst-Welt-Verhältnisse (also Beziehungen) hervor, die performative (Code/Software), symbolische (Daten/digitale Objekte), konnektive (Netzwerke) und materielle (Interfaces/Hardware) Aspekte von Digitalität verbinden müssen. Der Bruch ist (noch) nicht grundsätzlich: Wenn er das Verhältnis von Bildung und Kultur „nicht nur als Kultivierung im Modus der pädagogischen Vermittlung und/oder subjektiven ‚Aneignung von Kultur‘“ (Jörissen 2019) versteht, sondern als eine Praxis der Reflexion auf (hier dann digitalen) Kultur - „nämlich als implizit machtförmiges Formenrepertoire der Gestaltung von Selbst- und Weltverhältnissen“ (ebd.), die in einer Positionierung und Artikulierung münden, dann finden sich solche Überlegungen auch in älteren Theorien Kultureller Bildung.
Wie Bildung im Zeitalter der Digitalität verstanden werden müsse, ist – das deutete sich soeben schon an – eine zentrale Fragestellung in diesem Diskursfeld. Martina Leeker schlägt aus ihren medienwissenschaftlichen Zugängen heraus anstelle „von Kritik und vermeintlich emanzipatorischen humanistischen Bildungszielen […] medienwissenschaftlich informierte ‚Kulturen der operativen Vermittlung‘ als ‚posthumane Bildung‘ in digitalen Kulturen“ (Leeker 2022) vor. Sie bestehen aus einem diskursanalytischen Zugang zu Bildung, aus „Daten-Bildung“ und aus einem Training für ein „engagiert-zauderndes Mitspielen in techno-humanen Performances“ (ebd.). Die Nähe zur Medienbildung wird hier ebenso offensichtlich wie eine weitere Herausforderung für Bildungsprozesse: Digitalität löst den Anthropozentrismus auf. Damit lässt sich Bildung nicht mehr nur menschlich denken. Zugleich, auch das wird in diesem Zusammenhang hervorgehoben, sei Mediennutzung, hier Bildung ganz ähnlich, trotz Digitalität weder entmaterialisiert noch entkörperlicht (Jörissen nach Hofhues 2021). In welcher Weise sich Bildung in den komplexen „Postdigital Conditions“ (Meyer 2015), die sich als veränderte soziale, politische, technologische und wirtschaftliche Normalität (ebd.) kognitiv gar nicht mehr erfassen lassen, entfaltet, ist fraglich und zugleich eine Chance Kultureller Bildung, die zunächst nicht-kognitive Zugänge sucht. Postdigitale Bildung sei zudem von kultureller Medienbildung zu unterscheiden, weil sie zusätzlich zur Medien- und Informationskompetenz die kreativen Potenziale und Grenzen der Digitalität ins Zentrum rücke (Deeg 2023).
Andere Positionen kommen bezüglich „Bildung“ zum Schluss, dass es auch im Zeitalter der Digitalität immer darum geht, „persönlichkeitsbildende Prozesse zu initiieren, gemeinschaftsbildende Dynamiken zu gestalten und im Hinblick auf den Umgang mit digitalen Medientechnologien Impulse zu geben“ (Büchner/Traulsen 2022), um demokratische Werte zu erproben und ihnen kreativ, kritisch, fragend und produktiv zu begegnen (ebd.). Hier klingen Konzepte einer Kritischen Kulturpädagogik (vgl. Fuchs 2017) oder einer noch immer notwendigen emanzipatorischen Bildung an. Mit diesem Anspruch sind auch konkrete pädagogische Selbstverständnisse verbunden: Weil Strukturen von Medien zunehmend undurchsichtig sind, „ergibt sich die permanente Notwendigkeit zur Selbstpositionierung, zu kritischer Reflexion und letztlich zur pädagogischen Bearbeitung anderer Phänomene“ (Hofhues 2021). Auch Büchner/Traulsen gehen darauf ein, dass in digitalen Transformationsprozessen Fragen nach Verantwortung gegenüber digitalen Infrastrukturen, Inhalten und Kommunikationsformen ebenso wichtig für postdigitale Bildung seien wie das Verstehen und Mitgestalten von Technologien und Netzwerken in ihrem Einfluss auf die (Neu)Formung des Menschseins (Büchner/Traulsen 2022). Stefan Meißner nutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der Maker-Literacy, um den doppelten Anspruch auf Bildung auch in der (Post)Digitalität einzulösen: einerseits jenen, der nach ganz konkreten Fertigkeiten fragt, andererseits jenen, der die Reflexion darauf betont (Meißner 2021). Auch sein Verständnis weist Parallelen zu einem emanzipatorischen Bildungsbegriff in der (Post)Digitalität auf, indem er die Gestaltungsmöglichkeiten die „eigensinnige Ermächtigung gegenüber Digitaler Kultur“ (ebd.) fokussiert.
Eine weitere Dimension in den Fachbeiträgen kommt in Form ethischer Reflexionen hinzu. Diese begründet sich vor allem in der großen Bedeutung von Algorithmen und KI. Martina Leeker erachtet ethische Fragen bspw. für das Zusammenwirken von Mensch und Technik im Rahmen techno-humaner Ko-Operationen als notwendig, aber ebenso für die umfängliche und dauerhafte „Konnektivität menschlicher Agierender an digitale Kulturen“ (Leeker 2022) bis hin zum neuen Zusammenspiel von Nutzer*innen, Programmierer*innen und Algorithmen. Benjamin Jörissen betont bereits 2017, dass mit Algorithmen neue epistemische Akteur*innen entstanden sind, die neue Denkweisen einführen und mit denen wir unsere Kultur recodieren (Jörissen 2017). Er zieht unter den Bildungsaspekten den Schluss, dass daher künstlerische Reflexion nicht nur eine Reflexion digitaler Aisthesis (Wahrnehmung) und Episteme sein solle, sondern auch dazu führen müsse, digitale Prozesse gestalten und umgestalten zu können. Sandra Hofhues schlägt vor, dass Themen wie Algorithmenethik in der Kulturellen Bildung zu bearbeiten wären (Hofhues 2021). Sie bezieht sich dazu auf das von Benjamin Jörissen beschriebene Potenzial, das in der bildenden Auseinandersetzung bzw. der Kulturellen Bildung liegt, nämlich Sinne, Emotionen, Wissen, Werte und ästhetisches Urteil zusammenführen zu können. Auch Reflexionen zur Körperlichkeit des Menschen und zu seiner Sozialität gehören dazu. Sie fordern, wie Kristin Klein, Digitalität als Knotenpunkt „quantitativer wie qualitativer Veränderungen materiell-kultureller Bedingungen, gesellschaftlicher Strukturen sowie individueller Wahrnehmungs- und Handlungsweisen“ (Klein 2019), zu verstehen und dies im Rahmen von Bildung zu berücksichtigen.
Kritisch zu betrachten seien die marktwirtschaftlichen Mechanismen und Pragmatiken der Digitalität, die z.B. durch Algorithmen verstärkt werden (Hofhues 2021). Diese Mechanismen führen dazu, dass Diskurse über das Digitale immer auch Diskurse über politische und ökonomische Fragestellungen seien (Allert 2020 nach Hofhues 2021). In dieses politisch konnotierte Themenspektrum fällt auch unmittelbar die Frage, ob eine Kultur der Digitalität immer auch eine Kultur der Partizipation sei (Autenrieth/Nickel 2022). Daniel Autenrieth und Stefanie Nickel modellieren eine politisch-kulturelle Medienbildung im Schnittfeld von Medienbildung, Kultureller Bildung und Demokratiebildung. Sie begründen diesen Ansatz darin, dass die aktuelle Macht großer Konzerne eben nicht zur Dezentralisierung und Demokratisierung des Netzes beitragen würde, sondern Machtkonzentration und Kontrolle bedeute (ebd.). Umfassende Medienbildung – die damit unter diesem (älteren) Begriff als eigenständige Disziplin wieder gestärkt wird – habe demnach die Aufgabe, gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation im öffentlichen Raum und in politisch-demokratischen Prozessen zu stärken (ebd.). Torsten Meyer führt aus, dass Kulturelle Bildung nicht nur Wissen über Codes vermitteln solle, sondern darin unterstützen kann, „Kontrolle über die globale Lebenswirklichkeit … zu erlangen … in Formen von partizipativer und kollektiver Kreativität“ (Meyer 2015).
Diese Texte sind sehr grundsätzlich, gerade auch in ihren Reflexionen und Schlussfolgerungen für zeitgemäße Bildungsbegriffe und -ansätze im Zeitalter der Digitalität. Sie sind meist theoretisch, Übersetzungen in ein verändertes kultur- und medienpädagogisches Handeln bzw. eine Praxis Kultureller Bildung können sie nicht bzw. selten leisten. Manche der Autor*innen beziehen sich indes ausdrücklich auf ästhetische Dimensionen oder auf ein neues Verständnis von künstlerischer Partizipation und Produktion (Meyer 2015). Daher wäre es ein möglicher nächster Schritt, die Zusammenhänge zur kulturellen Bildungspraxis weiter auszuarbeiten. Überhaupt wird in diesen Beiträgen Kulturelle Bildung im Engeren selten explizit erwähnt bzw. wird das Begriffsverständnis Kulturelle Bildung kaum erläutert. Durch den umfassenden Transformationsprozess, der sich an der Schnittstelle von Bildung, Kultur, Medien und Digitalität vollzieht, rückt Kulturelle Bildung offenbar (noch) eher in den Hintergrund. Betont wird viel eher, Digitalität als kulturellen Prozess und als Bildungsanforderung, auch als Medienbildungsprozess zu fassen. Jule Korte und Lisa Unterberg debattieren in ihrem Beitrag „(re)united!?“ u.a., inwiefern Kulturelle Bildung und Medienbildung im Zeitalter der Digitalität voneinander getrennt werden und inwieweit dies sinnvoll ist – auch angesichts dessen, dass sich viele Träger Kultureller Bildung zu (neuen) Medien distanzieren und sich umgekehrt auch die Medienbildung gegenüber der Kulturellen Bildung als eigenständig hervortun möchte (Korte/Unterberg 2022). Ihr Plädoyer lautet, diese Binarität von Kultur und Technologie/Medien aufzubrechen und dabei „Technologie als Teil der Kultur anzuerkennen und Kultur als unhintergehbar mit medialen Strukturen verbunden zu verstehen“ (ebd.). Weil mediale und kulturelle Phänomene untrennbar miteinander verbunden sind, ist es notwendig, pädagogische Handlungsfelder als netzartig darzustellen. Eine weitere spannende Vertiefung – im Übrigen eine, die schon stärker angegangen wird – wäre die grundsätzliche Frage danach, inwieweit Konzeptionen von Bildung und Subjektivierung, wie sie für Kulturelle Bildung über Jahrzehnte entwickelt wurden, überhaupt auf die sich verändernden Bedingungen und Ausdrucksformen des Subjektes im (post)digitalen Zeitalter anwendbar und sinnvoll sind. Damit wäre ein sehr zentraler Kern des Selbstverständnisses Kultureller Bildung berührt.
Es finden sich im Diskurs auf kubi-online auch praxisbezogene Texte: Sabine Jank stellt konkrete Digitalisierungsfragen, indem sie für den digitalen Wandel in Kultureinrichtungen reflektiert, wie sich digitale Aktivitäten und Fähigkeiten in die gesamte Organisation einbeziehen lassen. Sie plädiert dafür, dies von der Nutzer*innen-Seite – und weniger von der organisationsbezogenen Seite – zu betrachten und dabei eine Verschiebung des Expert*innen-Status in Richtung Nutzer*innen anzuerkennen. Ihr Verweis auf neue Kompetenzen, die Organisationen, Vermittler*innen, kulturelle Bildner*innen etc. benötigen, läuft Gefahr, Digitalität wieder stark auf „technische“ Perspektiven zu reduzieren (Jank 2020). Mechthild Eickhoffs erweitert dies in ihren Beiträgen aus zwei Praxisfeldern heraus: dem UZWEI im Dortmunder U (Modelleinrichtung für die Kulturelle Bildung im Digitalen Zeitalter) und beim Fonds Soziokultur mit dort geförderten Projekten (Eickhoff 2019 und 2023). 2019 betont sie, dass es bei Kultureller Bildung im Rahmen von Digitalität nicht vornehmlich auf den Einsatz von Hardware, sondern auf ein verändertes Denken bezüglich Projektverläufen, zeitlichen Taktungen und Aufgabenverständnissen ankommt, was zunächst die organisationale Seite betont. Sie fordert nicht nur andere Handlungsethiken und ein anderes Rollenverständnis – inkl. Kontroll- und Machtverlust – von den Fachkräften, sondern auch, dass Subjektbezug in der Kulturellen Bildung nun immer mit den (digitalen) Kontexten zu verknüpfen sei (Eickhoff 2019). Damit gibt sie einen Ausblick auf die konzeptionelle Seite. In der von ihr beschrieben Praxis spielen neue künstlerisch-ästhetische Ausdrucksformen durch digitale Techniken und Tools eine Rolle, aber auch die oben angerissenen Bildungsdiskurse: Praktiken des Hackings oder der Maker-Kultur werden nicht nur zu kreativen Räumen, sondern zeigen Alternativmodelle für gesellschaftlich-technische Fragen auf. „Kulturskripte neu schreiben“ ist ihr Credo (Eickhoff 2023). Felix Büchner und Sören Jannik Traulsen beschreiben in ihrem Beitrag ein postdigitales Schultheater – und zwar in vier verschiedenen Grundhaltungen der Anleitenden, die zu unterschiedlichen Positionierungen und Praktiken des Postdigitalen führen und als spannende Reflexionsfläche für die eigene Positionierung dienen können (Büchner/Traulsen 2022).
Eine entscheidende Leerstelle im Diskurs ist das Thema der Teilhabe und der Zugänge, insgesamt bleiben die Nutzer*innen bzw. Akteur*innen in den Beiträgen sehr unkonkret, allgemein und abstrakt – die Fachbeiträge verallgemeinern stark. Eine Ausnahme bildet Susanne Keuchel, die deutlich nach der kulturellen (digitalen) Teilhabe oder nach der staatlichen Verantwortung dafür fragt (Keuchel 2020). Hallmann et al. verweisen 2021 in ihrem Text zu Partizipation und Interaktion in der Kulturellen Bildung auf Digitalität und die enge Verwobenheit zu anderen (Teilhabe)Schwierigkeiten: strukturelle Ungleichheiten, Barrierearmut, Diskriminierungskritik und Postkolonialismus, die auch bezüglich Digitalität gelten (Hallmann et al. 2021).
Bildung für nachhaltige Entwicklung als Aufforderung
Eines der Bildungskonzepte, die in den letzten Jahren starke Aufmerksamkeit erfahren hat, ist die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Stehen die ersten Texte auf kubi-online, die kurz nach 2010 entstanden sind, noch in unmittelbaren Zusammenhang und unter dem Eindruck der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, verorten sich die neueren Texte – etwa zehn Jahre später veröffentlicht – im Umfeld der 17 Sustainable Development Goals (SDG). Diese politischen Bezugskontexte zeigen auf, dass Bildung für nachhaltige Entwicklung ein zutiefst im politischen Raum verankertes und gefördertes Thema ist. Gleichwohl heben die kubi-online Autor*innen die Bedeutung von Nachhaltigkeit als globaler Herausforderung und Leitbild des 21. Jahrhunderts hervor – auch als paradigmatisch für die Kulturelle Bildung. Diese historische Dimension wird betont, weil „erstmals“ in der Geschichte durch Nachhaltigkeit globale Prozesse von Denk- und Verhaltensänderungen beschrieben werden (Pinkert 2020/2011).
Häufiger als auf die mit BNE verbundenen Bildungskonzepte verweisen die Autor*innen auf die rahmengebende Entwicklung von Bezugspapieren bis hin zur UN Agenda 21 bzw. 2030 (Fischer 2013/2012, Leipprand 2013/2012, Goehler 2020, Wagner 2020). Interessant ist, dass zugleich historische Linien, die es mit der Umweltbildung, der Friedensbildung oder unterschiedlichen entwicklungsbezogenen Bildungskonzepten durchaus gibt, in den hier gelesenen Texten vollständig ausgespart werden. Ebenso bildungswissenschaftliche Betrachtungen sind selten. Eine historisch-konzeptionelle Einbettung von BNE findet auf kubi-online nicht statt; einzig das Globale Lernen wird als Bezugskonzept etwas stärker ausgeführt. Das verstärkt den Eindruck, dass es sich bei BNE stark um eine politische und Top-down-Strategie handelt.
Wichtig ist es für die meisten Autor*innen, zunächst BNE zu definieren, was meist von den Zielen her geschieht. Hier zeigt sich ebenfalls: Methodische oder konzeptionelle Spezifika der BNE oder sogar Gemeinsamkeiten mit Kultureller Bildung sind nicht im Fokus. BNE soll Menschen dazu befähigen, an der nachhaltigen Gestaltung ihres eigenen sowie des gesellschaftlichen Lebens aktiv mitzuwirken und das Leben zukünftiger Generationen zu ermöglichen. Die Erhaltung der Zukunftsfähigkeit bzw. tragfähiger Zukünfte (Fischer 2013/2012, Klepacki 2020) ist ein zentraler Topos und zugleich ein wichtiger motivationaler Aspekt, denn es geht um eine positive Zukunftsvision, die ein – nicht näher definiertes – gelingendes Leben aller ermöglichen soll. Die Zukunft werden aber nur Menschen gestalten können, die davon überzeugt sind, dass sie dazu in der Lage sind (Ebel 2020). Entsprechend werden in der BNE Teilnehmer*innen als selbstermächtigte Zukunftsgestalter*innen definiert (Steinborn 2020). Es wird darauf verwiesen, dass zukunftsfähiges Denken und Handeln (ästhetische) Wahrnehmung und Reflexion voraussetzen (Ebel 2020) – auch durch einen emotionalen und sinnlichen Zugriff auf Wirklichkeit, um Urteile bilden zu können. Hier kommt Kulturelle Bildung ins Spiel.
Alle Autor*innen, die explizit BNE zum Thema machen, verweisen auf die Verbindung der drei zentralen Dimensionen, die sich in den SDGs und der BNE spiegeln:
- die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit;
- die ökologische Verträglichkeit;
- die soziale Gerechtigkeit (z.B. Fischer 2013/2012, Reinwand-Weiss 2020).
Sie positionieren dazu die kulturelle Dimension, indem sie diese entweder in den Aufzählungen hinzufügen (z.B. Pinkert 2020/2011), als vierte Säule ergänzen (Stoltenberg 2020/2010: Nachhaltigkeitsviereck), als Querschnittsaufgabe verstehen, als kritisch-reflexive Instanz einzusetzen oder Nachhaltigkeit grundsätzlich als kulturellen Prozess definieren (Leipprand 2013/2012). Letztere Position wird bspw. darin begründet, dass Bildung sich kritisch mit kulturellen Beständen, Werten und Normen sowie kulturellen Prozessen auseinandersetzt und sich ein zunehmendes (trans)kulturelles Verständnis von Welt etabliert hat (Wagner 2020). Dies müsse auch BNE zur Grundlage machen. Interessant und zugleich diese Debatte der Verhältnisbestimmung von BNE und Kultur erschwerend ist, dass der Kulturbegriff in diesen Texten nur selten erläutert bzw. präzisiert wird. Ausnahmen bilden hier Leopold Klepacki, Vanessa Reinwand-Weiss und Ute Pinkert mit ihren systematischen Annäherungen an unterschiedliche Kulturbegriffe (ethnologisch, anthropologisch, normativ, soziologisch, kunstbezogen) (Klepacki 2020, Reinwand-Weiss 2020, Pinkert 2020/2011). Daraus ergeben sich vielschichtige, nicht immer aber konkret für die Praxis übersetzbare Anknüpfungspunkte. Ute Pinkert erwähnt z.B. den Kulturbegriff sowohl im weiten Sinne von Kultur als Grundlage menschlichen Zusammenlebens als auch im engen Sinne als Künste und humanistische Bildung (Pinkert 2020/2011). Ute Stoltenberg wiederum unterscheidet als für BNE relevante kulturelle Dimensionen: Kultur als materieller Ausdruck der Gestaltungskraft von Menschen, Kultur als System von Werten, Orientierungsmustern, Bedeutungen sowie Kultur als Prozess (Stoltenberg 2020/2010). Damit eine Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit gelingt, stellt sich laut Autor*innen die Frage, inwieweit sich kulturelle Praxis wandeln muss (Klepacki 2020). Eine solcher Wandel könnte bspw. bedeuten, dass das Leitbild der Nachhaltigkeit in die kulturellen Symbolsysteme und auch in die alltagskulturellen Handlungen Eingang findet (Pinkert 2020/2011). Umgekehrt wird die Frage aufgeworfen, inwieweit kulturelle Praxis diese nachhaltige Transformation überhaupt erst ermöglicht. Während Kunst und Kultur hier eine neue Rolle zugeschrieben wird (Goehler 2020), besteht zugleich die Gefahr, dass Kunst, Kultur und Kulturelle Bildung mit Erwartungen überfrachtet bzw. instrumentalisiert werden, um BNE normativ zu fördern. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Die kulturelle Dimension einer Bildung für nachhaltige Entwicklung ist weitestgehend unbearbeitet, es zeigt sich ein noch offener – vielleicht auch unabschließbarer – Prozess der Positionierung von Kultur im Bereich der BNE bzw. SDG.
Ein Grund für diesen Eindruck ist, dass auf kubi-online die Begriffe unscharf genutzt werden bzw. die Konzeptionen sehr heterogen sind. Das liegt an den unzähligen Begriffsverständnissen und zugehörigen Kombinationsmöglichkeiten von Bildung, Kultur und Nachhaltigkeit. Auch das Konzeptverständnis Kultureller Bildung „zwischen“ Kultur(en), Künsten und Bildung verwässert oft klare Beziehungen zur BNE. Daraus ergeben sich „neue“ Begriffskombinationen, z.B. „Ästhetische Nachhaltigkeit“ (Goehler 2020), die darauf zielt, Zusammenhänge auf dem Fundament der Sinne herzustellen oder „Bildung für eine nachhaltige kulturelle Praxis“ (Klepacki 2020), die auf die Entwicklung einer transformationsorientierten Haltung hinsichtlich kultureller Wirklichkeit ausgerichtet ist. Schon hier wird deutlich, dass teilweise Unterschiedliches gemeint ist und ebenso, dass Ähnliches mit anderen Begriffen umschrieben wird.
Dies ist ein spannender und diskursiver Raum, der aber insbesondere dann zu Herausforderungen führt, wenn konkret nach einer Verbindung von BNE und Kultureller Bildung gesucht wird. Die Texte lassen i.d.R. definitorisch offen, was sie mit Kultureller Bildung meinen. Markiert werden indessen auf sehr allgemeiner Ebene Gemeinsamkeiten und Widersprüche. In vielen Grundsätzen – z.B. im Anspruch, in der Intention, in den didaktischen Prinzipien, in den Lernzielen – sind laut Bianca Fischer Kulturelle Bildung und BNE kohärent, was aber nicht näher erläutert oder gar in anderen Texten bewiesen wird (Fischer 2013/2012). Eine gemeinsame Grundlage ist in beiden Bildungskonzepten dadurch gegeben, dass sie von der potenziellen Transformation des Individuums in den jeweiligen Bildungsprozessen ausgehen, was beide Konzepte in die Nähe transformatorischer Bildung rückt (Reinwand-Weiss 2020). Nachhaltige Entwicklung wird als individueller und gesellschaftlicher Lern-, Such- und Gestaltungsprozess beschrieben (Stoltenberg 2020/2010), der eine Transformation individueller und gesellschaftlicher Praxis notwendig macht, um dafür auch wirklich Realisierungsbedingungen zu schaffen. Das kann ebenso auf Kulturelle Bildung zutreffen. Gemeinsamkeiten werden zudem dort identifiziert, wo beide Bildungskonzepte Kompetenzen wie Reflexions-, Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit fördern (z.B. Leipprand 2013/2012, Liebig 2022). Eine weitere wichtige gemeinsame Schlüsselkompetenz ist Gestaltungskompetenz (z.B. Wagner 2020), wobei nicht genauer erläutert wird, ob es eigentlich ein gemeinsames Verständnis dieser Kompetenz in der Kulturellen Bildung und der BNE gibt.
Um beide Bildungsbereiche zu kontrastieren, wird nicht mehr auf den Widerspruch zwischen „Wissensvermittlung“ (BNE) auf der einen und „emotional-sinnlicher Vermittlung“ (Kulturelle Bildung) auf der anderen Seite zurückgegriffen, wie es lange Zeit für die Verhältnisbestimmung von Kultureller zur Politischen Bildung verbreitet war. Vielmehr wird die Normativität von BNE, der Prozess- und Teilnehmenden-Orientierung in der Kulturellen Bildung (Steinborn 2020) sowie der Zweckfreiheit von ästhetischer Rezeption und Produktion (Wagner 2020) entgegengesetzt. Kulturelle Bildung solle sogar ein Korrektiv zur normativen Ausrichtung (und zur Oberflächlichkeit) der BNE sein. Dass dieser Widerspruch nur bedingt tragfähig ist, weil Kulturelle Bildung auch normativ sei, wird mehrfach betont (z.B. Wagner 2020, Reinwand-Weiss 2020). Ebenso bedeute die Eigengesetzlichkeit der Künste keinesfalls, dass auf ihre gesellschaftliche Wirksamkeit verzichtet werden müsse. Bei aller normativen Orientierung von BNE wird auch festgehalten: Bildung lässt sich nicht von außen steuern und auch ein Leitbild „Nachhaltigkeit“ lässt sich nicht verordnen.
Möglichkeiten, wie sich Kulturelle Bildung und BNE zueinander verhalten können, zeigt Vanessa Reinwand-Weiss auf: KuBi für BNE und/oder BNE für KuBi, KuBi als BNE und/oder BNE als KuBi, KuBi mit BNE und/oder BNE mit KuBi (Reinwand-Weiss 2020). Verschiedene Autor*innen suchen bzw. benennen Potenziale von Kultur und Kultureller Bildung für eine BNE. Zu diesen Potenzialen zählt kritisch wahrnehmen, reflektieren und gestalten zu können (Stoltenberg 2020/2010) oder der potenzielle Perspektivwechsel (Ebel 2020, Klepacki 2020, Reinwand-Weiss 2020). Kulturelle Bildung macht es dadurch möglich, alternative Denkweisen anzugehen, wie sie für die Zukunftsfähigkeit (siehe oben) aber auch die Weiterentwicklung der BNE wichtig seien. Ein weiterer wichtiger Impuls der Kulturellen Bildung für die BNE liegt darin, dass sie persönliche Selbstwirksamkeitserfahrung mit Wissensvermittlung und Handlungsoptionen verbindet (Braun-Wanke/Ebel 2020, Reinwand-Weiss 2020). Diese Handlungsorientierung zeige sich auch im Alltags- und Lebensweltbezug (z.B. Steinborn 2020) und werde dadurch unterstützt, dass Kulturelle Bildung ein Lernen mit allen Sinnen und eine leibliche Wahrnehmung – „BNE erleben“ – ermöglicht. Die Bedeutung der Lebenswelt wird auch in praxisbezogenen Beiträgen zum Thema hervorgehoben (Bergdolt 2020) und durch Praktiker*innen als elementar angeführt, um für globale Themen zu motivieren und das Verstehen globaler Zusammenhänge zu unterstützen (Braun-Wanke/Ebel 2020). Für einzelne Autor*innen ist dies nur dann möglich, wenn Kulturelle Bildung in Abgrenzung zur ästhetischen Bildung in ihrer gesellschaftlichen Funktion wahrgenommen wird: In der Kultureller Bildung setzen sich Individuen mit ihrer kulturellen Umwelt auseinander und emanzipieren sich. BNE bzw. SDGs spielen auch immer wieder als Thema eine Rolle in der kulturellen Bildungspraxis (Reinwand-Weiss 2020, Steinborn 2020, Wagner 2020). Kulturelle Bildung könne quasi als Gastgeberin von BNE fungieren. Weniger Potenziale werden in der umgekehrten Richtung benannt: Was hat Kulturelle Bildung von der BNE? Ute Pinkert sieht in der BNE weniger ein neues Paradigma, sondern vielmehr einen Impuls für die kritische Hinterfragung von Werten, Zielsetzungen und Inhalten/Methoden in der Kulturellen Bildung – bis hin zum der Kulturellen Bildung „eingeschriebenen“ Menschenbild (Pinkert 2020/2011). Das Verhältnis von Kultureller Bildung und BNE wird also als Möglichkeitsraum beschrieben, ohne konkrete konzeptionelle, didaktische oder methodische Fragen zu klären.
Bezogen auf die SDGs wird Kulturelle Bildung in den Fachbeiträgen dem SDG 4 zugeordnet (Qualitativ hochwertige Bildung). Insofern in den Beiträgen weitere SDGs oder Nachhaltigkeitsthemen verhandelt werden, fällt die starke Präsenz von ökologischen Themen auf. Dabei geht es sowohl darum, ökologische Themen in den Künsten zu vermitteln, als auch darum, Kunst und Natur materiell-sinnlich miteinander zu verbinden, z.B. in Landartprojekten. Das überrascht zunächst nicht, weil es schon seit längerer Zeit eine Konjunktur der Natur in den Künsten und der Kultur gibt (Sawer 2020) und sich darum bemüht wird,
- Natur als kulturelle Interpretationen, Konstruktionen und Prozesse des Menschen zu verstehen (Gebhard 2020);
- den Oppositionsbegriff „Natur“ zu Kunst/Kultur aufzulösen und den Dualismus durch ein integratives Verständnis zu ersetzen (Sawer 2020);
- einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Mensch und Natur herbeizuführen (Pinkert 2020/2011) bzw. Narrative zum Verhältnis von Mensch und Natur/Umwelt zu transformieren (Wagner 2020).
Auf dieses Spannungsfeld kann hier nicht weiter eingegangen werden. Bezogen auf die Fachbeiträge geht es auch nicht darum, die Bedeutung dieser naturbezogenen Dimension infrage zu stellen. Was aber auffällt: Die ökonomische und/oder soziale Dimension der BNE wird in den Diskursen zur Kulturellen Bildung nicht konkret und rückt deutlich in den Hintergrund, was einem gesellschaftspolitischen Verständnis Kultureller Bildung geradezu widerspricht. Die Auswertung von kulturellen Bildungsprojekten durch Karola Braun-Wanke und Anke Ebel zeigt ebenso, dass Ökologie in Praxisprojekten stark gewichtet wird, ökonomische und soziale Themen dagegen deutlich weniger (Braun-Wanke/Ebel 2020). Auch die durch Braun-Wanke/Ebel aufgezeigte große Bandbreite kultureller Sparten in BNE-Projekten fehlt auf kubi-online (noch). Dass ökologische Fragestellungen nicht losgelöst von gesellschaftlichen Kooperationen sind, zeigen einzelne Praxisprojekte (Bergdolt 2020, Ebel 2020). Kollaborationen, insbesondere interdisziplinäres Arbeiten zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Perspektiven und Wissensformen, werden eingefordert (Braun-Wanke/Ebel 2020, Steinborn 2020) bis dahingehend, dass die Trennung von künstlerischen, alltäglichen und wissenschaftlichen Praktiken aufgehoben werden könnte (Pinkert 2020/2011).
Gibt es also Beiträge mit einem grundsätzlichen konzeptionellen Charakter und (weniger) Fachtexte auf der konkreten praktischen Ebene, braucht es auf kubi-online noch Reflexionen, die BNE und Transformation auf der institutionellen Ebene verhandeln. Die Trägerstrukturen und Fachkräfte sowie ihre Kontexte stehen noch im Hintergrund. Das verwundert vor allem deshalb, weil die politische-systemische Einbettung und Legitimation des BNE-Themas so offenkundig ist (Pinkert 2020/2011). Notwendige strukturelle Rahmenbedingungen werden in den Texten maximal angerissen, aber nicht ausgeführt (Braun-Wanke/Ebel 2020). Einzig Volkmar Liebig (Liebig 2022) bezieht sich auf Organisationen als Akteur*innen des Wandels.
Vielleicht liegt es an der noch relativ begrenzten Geschichte der BNE, dass in den Beiträgen noch viele Fragen offen bleiben:
- Geht ein kultureller Transformationsprozess zu mehr BNE auch ohne Kulturelle Bildung? Oder anders gefragt: Inwieweit wäre es falsch und fatal, die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit allein der Kulturellen Bildung zu überlassen?
- Wenn Gemeinsamkeiten zwischen Kultureller Bildung und BNE betont und Kontraste sehr vorsichtig betrachtet werden: Warum gibt es dann dennoch so offenkundige Unterschiede in den Bildungskonzepten, die über den (inhaltlichen) Gegenstand hinausgehen?
- Wo werden auf kubi-online Forschung und die Vielfalt der Sparten zu diesem Thema sichtbar?
Ergebnisse 2: Die Positionierung von kubi-online als Akteurin im Diskurs
Die Fachbeiträge über Kulturelle Bildung auf kubi-online können nicht unabhängig davon betrachtet werden, durch wen und wie die Themen auf der Wissensplattform platziert werden. Nachdem also zentrale Debatten aufgezeigt (Ergebnisse 1) und bevor weitere Eindrücke kurz kommentiert (Ergebnisse 3) werden können, gilt es festzuhalten: kubi-online ist nicht „nur“ eine „Wissensplattform“ oder „Online-Bibliothek“, kubi-online ist auch eine Akteurin in der Fachdebatte.
kubi-online ist eine Wissens- und Transferakteurin
Das Nachdenken über Kulturelle Bildung – als Praxisreflexion, als Forschung, als theoretische Fundierung – hat erstens schon vor kubi-online stattgefunden. Wie eingangs erwähnt, ist es dem Handbuch Kulturelle Bildung gelungen, das bis 2012 vorhandene Wissen zu Kultureller Bildung systematisch zu erschließen. Es konnte dieses komplexe Feld aber nur in Form eines Überblickes und nicht in der Tiefe darstellen. kubi-online ermöglicht es durch sein Format und seine technische Ausstattung nun, sowohl stärker die Breite Kultureller Bildung bis hin zu den Rändern oder aktuelle Entwicklungen abzubilden als auch konkrete „Tiefenbohrungen“ bis hin zu Spezialthemen zu präsentieren.
Das Reflektieren über Kulturelle Bildung findet zweitens stets auch jenseits der Wissensplattform statt. Es gibt eine sehr lebendige Landschaft an Tagungen, Publikationen, Symposien, Lehrveranstaltungen, Seminararbeiten, Forschungsvorhaben etc. zu Themen und Methoden Kultureller Bildung. Organisierte Akteur*innen für dieses Nachdenken und Diskutieren über Kulturelle Bildung sind bspw. Verbände und Praxisträger, Bund/Länder/Kommunen oder Universitäten und Hochschulen mit ihren jeweiligen Fachexpert*innen. Es ist der Redaktion von kubi-online wie auch den Trägern der Wissensplattform sowie dem Beirat zu verdanken, dass durch das Netzwerken mit Partner*innen, die Teilnahme an Tagungen, zahlreiche Gespräche mit Verantwortlichen (z.B. in den Forschungsrichtlinien für Kulturelle Bildung) oder das Studieren von Publikationen immer wieder versucht wird, möglichst viele dieser Debatten nicht nur zu verfolgen, sondern sie auch auf der Wissensplattform mit Beiträgen zu platzieren.
Dabei ist zusätzlich darauf hinzuweisen, dass das Nachdenken über Kulturelle Bildung vielfach in anderen Formaten stattfindet als in Form von Fachtexten, wie sie auf kubi-online zu finden sind. Das Nachdenken, insbesondere das Schaffen theoretischer Grundlagen oder das Beforschen Kultureller Bildung, läuft drittens oft zeitlich „asynchron“ zur Praxis und setzt eigene Schwerpunkte – auch kubi-online kann diese Diskurse nur zeitlich verzögert, ausschnitthaft und nicht repräsentativ abbilden, obwohl sich die Redaktion mit dem Online-Format bemüht, schnell und umfassend zu sein.
Wie kubi-online zur Akteurin wird
kubi-online prägt als eine Akteurin das Nachdenken über Kulturelle Bildung mit, indem die Redaktion – wie eben beschrieben – die Debatten im Feld verfolgt und Lücken identifiziert – teilweise im Zusammenspiel mit dem Beirat. Sie füllt diese proaktiv, indem sie Dossierthemen festlegt oder potenzielle Autor*innen anspricht. Ein Beispiel hierzu ist das Dossier zur Kulturellen Teilhabe in der DDR, das entstanden ist, nachdem deutlich wurde, dass der Diskurs zur kulturellen Teilhabe und zu Bildungsverständnissen einseitig aus einer westdeutschen Perspektive hergeleitet wurde und geprägt war. Es bedurfte dringend einer Ergänzung. Andere Beispiele sind die Dossiers zur Frühkindlichen Kulturellen Bildung (Kinder & Künste – Kulturelle Bildung von Anfang an!) bzw. zur Baukulturellen Bildung, die als Themen bis dato eher als Nischen in der Kulturellen Bildung bzw. nicht auf kubi-online vertreten waren. Dabei kommt es der Wissensplattform zugute, kurzfristig reagieren und/oder Lücken füllen zu können – unabhängig von Redaktionsfristen, zudem eigenständig veröffentlicht werden – dies ist in Printpublikationen oft anders. Hierfür ist der Schwerpunkt „Corona“ (Kultur und Bildung in der Krise) ein weiteres Beispiel.
Keinesfalls aber kann die Funktion von kubi-online darauf reduziert werden, dass die Wissensplattform vorhandene Diskurse abbildet oder identifizierte Lücken füllt. Denn durch die Zusammenarbeit von kubi-online mit ihren Trägern und Partner*innen ist das Format in der Lage, Debatten auch aktiv anzuregen und zu veröffentlichen. Zentrale Instrumente hierzu sind insbesondere jene Dossiers, die
- aus den jährlichen kubi-online Tagungen hervorgehen, die im Wechsel von der Akademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel und von der Akademie für Kulturelle Bildung des Bundes und des Landes NRW in Remscheid ausgerichtet werden, und aktuelle Grundsatzfragen in der Kulturellen Bildung thematisieren (Beispiel: Kulturelle Bildung in Zeiten der Transformation).
- Diskurse und Beiträge der Tagungen des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung aufgreifen, die jährlich an einem anderen Hochschulstandort stattfinden und spezifische Forschungsthemen und -methoden genauer beleuchten (Beispiel: Was tun? Handlungspraxis und -verantwortung in der Kulturellen Bildung).
- in Zusammenarbeit mit Partner*innen als (Praxis)Akteur*innen im Feld entstehen, die mit ihrer jeweiligen Fachexpertise den Diskurs auf kubi-online gestalten und neue Themen ausdifferenzieren, die auch dem Beirat „relevant“ erscheinen (Beispiel: Theater – Auf(s) Spiel setzen).
Das Wechselspiel aus „Aufgreifen“ und „Anregen“ von Diskursen ist demnach der Wissensplattform als Modus eingeschrieben und sollte erhalten bleiben. Zu fragen ist, inwiefern wichtige Entwicklungen nicht auf der Wissensplattform repräsentiert werden, obwohl Redaktion, Trägern und Partner*innen sehr aufmerksam, sensibel und engagiert sind: Welche Themen und Diskursakteur*innen fehlen? Und warum?
Natürlich sind die Ressourcen von kubi-online, darüber sollte die große Anzahl an jährlich neuen Beiträgen nicht hinwegtäuschen, begrenzt. Die finanziellen Ressourcen limitieren die Möglichkeiten der Wissensplattform, als Akteurin zu wirken. Personell ist die Geschäftsstelle mit zwei ¼-Stellen ausgestattet, sodass die Redaktion auf ressourcenschonende Handlungsstrategien angewiesen ist: Sie greift beispielweise auf Ressourcen ihrer Partner*innen zurück, sie hält die Präsenz bei Tagungen gering, sie nutzt die Möglichkeit der Zweitverwertung. Das ist ein nachvollziehbares und pragmatisches Vorgehen, das durch einen weiteren Anspruch herausgefordert wird – nämlich die Qualität der Beiträge zu sichern, indem z.B. Autor*innen beraten werden, ein wissenschaftliches Lektorat gewährleistet ist und vor allem ein Peer-Review-Verfahren durchgeführt wird.
Wer schreibt
„Die Wissensplattform kubi-online richtet sich an eine Fachöffentlichkeit von Theoretiker*innen und Praktiker*innen der Kulturellen Bildung, Wissenschaftler*innen und Student*innen“, dies ist in der Selbstdarstellung zu lesen (Über uns). Nicht explizit wird in dieser Aussage, ob es sich bei diesen Zielgruppen um eine Adressierung als Autor*innen oder als Nutzer*innen handelt. Den Aussagen der Träger und der Redaktion von kubi-online und den Diskussionen im Beirat folgend sowie auf die veröffentlichten Beiträge blickend: Es lässt sich festhalten, dass alle – Theoretiker*innen, Vermittler*innen, Forschende, Praktiker*innen, Studierende – in beiden Rollen gemeint sind.
In welcher Verteilung – d.h. in welchem Umfang jeweils – diese Gruppen tatsächlich als Nutzer*innen erreicht werden, lässt sich mangels Statistiken nicht genau benennen und beurteilen. Der mit Abstand häufigste Weg, wie Nutzer*innen auf kubi-online gelangen, sind Suchmaschinen, allen voran Google, gefolgt von Bing bzw. Ecosia (vgl. Statistik in den Unterlagen zur Beiratssitzung 2022). Auch direkte Aufrufe spielen statistisch eine relevante Rolle. Es lässt sich anhand der vielen Zitationen von kubi-online Beiträgen in Fachartikeln und anhand von Literaturlisten aus Hochschulseminaren vermuten, dass die Online-Bibliothek für Akademiker*innen und Studierende eine viel genutzte Quelle ist. Auch Fachkräfte, welche durch die BKJ-Website erreicht werden, finden einen Weg zu kubi-online. Keine Einschätzungen lassen sich zu Praktiker*innen vor Ort treffen, weil über ihre Nutzung der Plattform nichts bekannt ist.
Durch das Scannen bzw. Lesen der Beiträge inklusive der zugehörigen Autor*innen-Biografien wird auch ohne systematische Auswertung der Autor*innen schnell sichtbar:
- Es überwiegen sehr deutlich akademische Positionen, d.h. Texte, die theoretische Grundlagen erörtern, Ergebnisse aus Forschungsvorhaben vorstellen oder Fachtexte von Wissenschaftler*innen sind.
- Auch Studierende und Promovierende wirken als Autor*innen am Wissensspeicher mit, indem sie ihre Qualifizierungsarbeiten veröffentlichen (Qualifizierungsarbeiten).
- Es lassen sich einige Beiträge verbandspolitischer Expert*innen finden, die versuchen, fachwissenschaftliche Perspektiven mit Praxisentwicklungen zu verbinden.
- Reflektierte Praxis, d.h. Beiträge von Praktiker*innen, die konkret kulturpädagogisch oder künstlerisch arbeiten, ist deutlich in der Minderheit.
Diese Gewichtungen haben sich in den letzten zehn Jahren – im Vergleich zu den ersten 179 Beiträge mit ihren Autor*innen – verändert. Die Trennung von theoretischen Grundlagen und der Darstellung von Praxisfeldern führte im Rahmen der „Feldvermessung“ im Handbuch Kulturelle Bildung dazu, dass akademische Positionen und Expert*innen aus der Praxis relativ ausgewogen repräsentiert waren. Praxis wurde vornehmlich durch Autor*innen repräsentiert, die als Verbandsvertreter*innen ihre jeweiligen Handlungsfelder beschrieben. Dazu kamen einzelne Beiträge von Vertreter*innen der Länder oder Kommunen (z.B. Schäfer 2013/2012, Rossmeissl 2013/2012). Verbandliche, föderale oder kommunale Autor*innen finden sich seitdem weitaus seltener. Innerhalb des akademischen Feldes wiederum ist auffällig, dass es im Vergleich zu den ersten theorieorientierten Grundlagentexten zunehmend mehr Forschende sind, die auf kubi-onlineveröffentlichen: Steckte das Forschungsfeld 2012/2013 noch in den Kinderschuhen (Reinwand-Weiss 2013/2012), wuchs die Entwicklung von Forschung in der Kulturellen Bildung seitdem dynamisch.
Um diese Verschiebungen zu bewerten, muss einerseits gefragt werden, worin sie sich begründen lassen. Eine Hypothese ist, dass kubi-online für Akteur*innen im akademischen Raum besonders anschlussfähig und attraktiv ist. kubi-online drückt das Bestreben von Wissenschaftler*innen und Lehrenden aus, Kulturelle Bildung durch entsprechende Theoriebildung und Forschung als (eigenständige) wissenschaftliche Disziplin zu behaupten. Zudem kommt das Format „Fachartikel“ der Routine von Akademiker*innen entgegen. Veröffentlichungen auf kubi-online unterstützen außerdem Sichtbarkeit und Reputation – sowohl für etablierte Wissenschaftler*innen als auch für den Nachwuchs. Im Umkehrschluss, und das wäre ein zweiter Begründungsansatz, ist diese Anschlussfähigkeit und Attraktivität für Praktiker*innen weniger gegeben – sowohl für jene, die kulturpädagogisch aktiv sind, als auch für jene, die in Netzwerken und Verbänden als Multiplikator*innen wirken. Sie bevorzugen, so interpretiere ich ihre weitestgehende Abwesenheit als Autor*innen auf kubi-online, andere Plattformen, Kanäle und Formate und nicht die des verschriftlichen Fachbeitrags (siehe unten), um Erfahrungen zu reflektieren, teilen und das Feld der Kulturellen Bildung weiterzuentwickeln. kubi-online ist offenbar nicht „ihr“ Raum für Diskurs und Transfer.
Andererseits ist für eine Bewertung dieser Entwicklung die Frage zu beantworten, inwieweit daraus für die Wissensplattform kubi-online ein Problem entstanden ist oder entstehen könnte – und inwiefern es Möglichkeiten gibt, dieser grundsätzlichen Verschiebung entgegenzuwirken. Problematisch ist die Entwicklung aktuell vor allem deshalb, weil kubi-online sich nach eigener Beschreibung als Akteurin versteht, der Wissenstransfer zwischen unterschiedlichen Feldern und Akteur*innen unterstützt:
„Das Ziel ist, Erkenntnisse aus Forschung, Theorie und Praxis der Kulturellen Bildung zusammenzuführen und dieses Wissen bildungspolitisch, kulturpädagogisch und wissenschaftlich nutzbar zu machen.“ (Autorin werden)
Und diese Qualität wird als Besonderheit hervorgehoben. In dieser Aussage schwingen drei zentrale Adressat*innen mit: Mit
- „bildungspolitisch“ könnten Politik und Verwaltung gemeint sein;
- „kulturpädagogisch“ lässt sich mit vielfältigen Akteur*innen aus der Praxis übersetzen;
- als „wissenschaftlich“ können Akademiker*innen als Theoretiker*innen, Forschende, Lehrende, Studierende bezeichnet werden.
Daraus ergeben sich mindestens drei bilaterale Transferbeziehungen, die kubi-online berücksichtigen müsste. Da für den Adressat*innenkreis „Politik und Verwaltung“ Wissen darüber fehlt, inwiefern sie die Plattform nutzen, und weil es nur wenige ältere Beiträge dieser Akteur*innen gibt, beschränke ich mich v.a. auf die Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis: Während für den Transfer von Wissenschaft in Richtung Praxis das Lesen und Erarbeiten eines umfänglichen Textreservoirs möglich ist, funktioniert dies in der anderen Richtung, von Praxis zu Wissenschaft, mangels Lektüremöglichkeiten auf kubi-online nur im Einzelfall.
Der soeben angedeutete Transferbegriff, den die Wissensplattform mit ihren Formaten bedienen kann, ist zudem ein sehr enger. Ob ein Verständnis von Wissenstransfer, das über die Verbreitung von schriftlich fixiertem Fachwissen hinausgeht, durch eine Online-Bibliothek wie kubi-online überhaupt sinnvoll und leistbar ist, wäre ein entscheidender Punkt für die weitere Diskussion. Dabei könnte es sich als impulsgebend erweisen, die Erkenntnisse aus der Tagung „Experiment Wissen. Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung“ und das für Ende 2023 geplante Dossier zum gleichen Thema einzubeziehen. Eine Schlussfolgerung für kubi-online und seine Partner*innen könnte sein, stärker in transferorientierte Formate und in die Anerkennung von Praxisexpertise zu investieren, wie es bereits jetzt durch die jährlichen kubi-online Jahrestagungen versucht wird. Ein anderes Ergebnis könnte sein, die Zielstellungen und Ansprüche der Wissensplattform bezüglich des Wissenstransfers zu reduzieren, kubi-online als fachwissenschaftliche und akademische Plattform zu profilieren. Dies könnte zu einer Entlastung führen.
Wie geschrieben wird
Eng mit den soeben erläuterten Überlegungen zu den kubi-online Adressat*innen – als Autor*innen und Nutzer*innen – hängt zusammen: Das zentrale Format „Fachartikel“ prägt die Art und Weise entscheidend, wie auf der Online-Plattform über Kulturelle Bildung reflektiert wird. Zunächst ein Blick zurück: Die ersten Beiträge waren Überblicksartikel, für die Autor*innen explizit als Expert*innen angesprochen und gewonnen wurden, und die Artikel zu theoretischen Grundlagen oder zur Vorstellung von Praxisfeldern Kultureller Bildung verfassten. Diese Artikel waren knapp und hatten den Anspruch, prägnant und zugleich möglichst umfassend in das jeweilige Thema einzuführen. Es gibt auch in den zehn anschließenden Jahren einzelne Artikel, die diesem Charakter eines Überblickartikels entsprechen. Die meisten Beiträge, die nach dem Start der Wissensplattform kubi-online veröffentlicht wurden, weisen aber keinen einführenden Charakter in (Teil)Bereiche auf und diskutieren immer seltener grundsätzliche Fragen Kultureller Bildung – das scheint aufgrund der vorhandenen Basis an Überblicksartikeln auch nicht mehr zwingend notwendig zu sein. Sie wurden vielmehr um ganz unterschiedliche Texte erweitert, insbesondere um solche, die Forschungsergebnisse darstellen. Sie behandeln zusehends spezifische Themen, oft auch in einzelnen Sparten oder für einzelne Einrichtungstypen bzw. Altersgruppen Kultureller Bildung, und ergänzen die Überblicksartikel um vielfältige Tiefenbohrungen. In dieser Vielfalt bleibt der Grundgedanke bestehen, dass kubi-online mit seinen Beiträgen theoretische Fundierungen schafft, historische Bezüge und Entwicklungen nachzeichnet und auch Praxisreflexionen versammelt. Wie bereits erwähnt, ist vor allem die Veröffentlichung von Beiträgen einer sich differenzierenden Forschungslandschaft in den letzten Jahren in steigender Zahl zu beobachten. Allein unter dem Filter „Forschung“ finden sich aktuell 114 Beiträge.
Der Charakter der Beiträge, das wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt erläutert, ist in der deutlichen Mehrheit fachwissenschaftlich. Unter „Autor*in werden“ wird als Anforderung formuliert: „Voraussetzung für die Veröffentlichung Ihrer Beiträge ist eine profunde Reflexion von Theorie-, Praxis- und Forschungsfragen der Kulturellen Bildung “. Mit der „profunden Reflexion“ setzt die Redaktion einen Qualitätsmaßstab, der offen ist. Er definiert zunächst nicht genauer, unter Verwendung welcher Methoden dieser reflektiert werden sollte. Im Stylesheet gibt es dazu nähere Erläuterungen. Artikel sollen sich demnach „thematisch möglichst eng auf Kulturelle Bildung in Theorie, Praxis und Forschung beziehen, einer klaren Fragestellung sowie Argumentation folgen sowie sich einer fachlichen, verständlichen Sprache bedienen“ (ebd.). Als Kriterien für Qualität (z.B. für das Peer-Review-Verfahren) werden benannt:
- Originalität und Relevanz der Fragestellung und des Themas in Hinblick auf die Fachdiskurse in der Kulturellen Bildung;
- Bezüge und Referenzen auf fachwissenschaftliche Theorien und Diskurse in der Praxis;
- Kohärenz der Argumentation und logischer Aufbau des Beitrages;
- sprachlich-formales Niveau und belastbare Quellenangaben.
Auch in diesen Aussagen wird der Versuch deutlich, Praxis auf der Wissensplattform mitzudenken und mitzunehmen, indem „Bezüge und Referenzen“ oder die Art der „belastbaren Quellen“ nicht näher eingegrenzt werden. Zugleich greifen weitere Kriterien – z.B. „kohärente Argumentieren“ oder das „sprachliche Niveau“ – wissenschaftliche Standards auf. Verstärkt wird diese akademische Orientierung mit der anschließenden – sogar explizit ausschließenden – Formulierung:
„Es werden – außer in dem Menüpunkt „Themen/Streitfälle der Vermessung Kultureller Bildung“ – keine Beiträge aufgenommen, die eine subjektive Meinung widerspiegeln und von einem fachlich-wissenschaftlichen Stil abweichen.“ (Autor*in werden)
Der eingeforderte „fachlich-wissenschaftliche Stil“ wiederum kann von Praktiker*innen und Verbandsvertreter*innen explizit als Hürde wahrgenommen werden. Sie finden mit ihrem Wissen und ihrer Art, ihr Wissen zu reflektieren und darzustellen, nicht unmittelbar Resonanz. Insofern sind die Aussagen zum Stil der Beiträge einerseits offen und laden vielfältige Perspektiven ein – von Theorie über Forschung bis zur reflektierten Praxis. Andererseits klingen in ihnen eine Erwartungshaltung und Norm an, Texte fachwissenschaftlich zu fundieren. Ebenfalls sind die mittlerweile möglichen Videobeiträge, die neue Zugänge zur Wissensplattform schaffen sollen, bisher ausschließlich durch Wissenschaftler*innen besetzt.
Es ist also jenseits der oben bereits genannten Gründe (Unattraktivität der Plattform bzw. des Formats für Praxis-Autor*innen) zu diskutieren, inwiefern unbewusst Hürden für Praktiker*innen gelegt werden bzw. warum bei ihnen der Eindruck entsteht, sie seien nicht als Autor*innen eingeladen.
kubi-online, das geht aus den genannten Selbstdarstellungen implizit hervor, soll keine Praxisplattform sein. Für Arbeitshilfen, Handreichungen, Praxisreportagen etc. gibt es zahlreiche weitere Websites von Netzwerken und Verbänden, die es ermöglichen Träger bis vor Ort zu erreichen und damit Praxisentwicklungen aufzugreifen, anzuregen und zu unterstützen. Diese Distanzierung zu praxisorientierten Formaten ist gleichwohl entscheidend, um sich zu profilieren und von übergreifenden Portalen Kultureller Bildung abzugrenzen. Anderseits wurde mit und für kubi-online bisher noch keine befriedigende Antwort gefunden, wie das Wissen der Praxis adäquat dargestellt und transferiert werden kann.
Wie Kulturelle Bildung sichtbar wird
„Voraussetzung für die Veröffentlichung Ihrer Beiträge ist … die Fokussierung auf den Bereich der Bildung in und durch Künste und ästhetische Praxis“ (Autor*in werden). Im Aufruf für Autor*innen wird mit dieser Aussage deutlich, welcher Begriff Kultureller Bildung auf der Wissensplattform einen Diskursraum bekommt und wie offen dieser ist. Natürlich gibt es auf kubi-online ausgewiesene Überblicksartikel, die den Begriff Kulturelle Bildung definieren (z.B. Reinwand-Weiss 2013/2012). Diese Beiträge schaffen aber keinen verbindlichen Rahmen für die weiteren Autor*innen, die entsprechend eigene Begriffsverständnisse einbringen können, insofern sie sich an der Schnittstelle von Kultur/Künsten/Ästhetik und Bildung bewegen. Sie können Kulturelle Bildung verhandeln als kultur-, spiel- und medienpädagogisches Handlungsfeld oder künstlerische bzw. jugendkulturelle Praxis, als theoretisches Konzept oder konzeptionelle Rahmung, als Selbst-Bildungsprozess oder kulturelle Teilhabe, als Akteur*innenfeld oder politisch definierten Handlungsrahmen etc. Und sie tun dies in noch mehr Facetten.
Diese Offenheit ist auf der einen Seite wertvoll, weil kubi-online damit sowohl das Spektrum des Wissens über Kulturelle Bildung als auch den Blick auf dieses Wissen erweitert. Dieser Ansatz ist zudem passend, weil sich dieses Feld stets wandelt und erweitert, sich viele Akteur*innen Kultureller Bildung über Schnittstellen annähern oder ihrem Selbstverständnis nach zuordnen oder auch immer wieder Impulse von den Rändern des Feldes ausgehen. Außerdem trägt der relativ unbestimmte Begriff dazu bei, die Landschaft Kultureller Bildung in einem weiteren Winkel und mit einer schärferen Linse genauer „vermessen“ zu können – also sowohl horizontal in die Breite mit unterschiedlichen Bezugsdisziplinen und Themen als auch vertikal in die Tiefe mit spezifischen Fragestellungen und Praktiken/Methoden.
Hingegen hat diese Offenheit den Effekt, dass in den meisten Fachbeiträgen eine genauere Erläuterung des eigenen kulturellen Bildungsbegriffs fehlt. Das heißt, wer aus welcher Perspektive welchen Ausschnitt des Feldes „beleuchtet“ und vor allem mit welchem Grundverständnis Kultureller Bildung er*sie das tut, wird oft nicht explizit. Das betrifft sowohl den Bildungsbegriff bzw. die Schnittstellen zum Thema Bildung, als auch den jeweils genutzten Kultur-, Ästhetik- bzw. Kunstbegriff und nicht zuletzt den Containerbegriff Kulturelle Bildung. All‘ dies kann sehr weit, sehr eng, sehr unterschiedlich gefasst werden und wird es auf der Wissensplattform auch. Dadurch ist es häufig schwer zu entschlüsseln, in welcher Position auf der Landkarte sich Autor*in bzw. Thema befinden. In vielen Fällen obliegt dies der jeweiligen Leser*innen-Interpretation. Dies kann neugierige Entdeckungen bei Leser*innen befördern. Unter Transferaspekten wiederum und mit Blick auf den Diskurs um die Situiertheit von Wissen (z.B. Donna Haraway) würde eine eigene Positionierung der Autor*innen am Beginn der Texte dabei helfen, den Kontext des jeweiligen Wissens einzuordnen und zu erkennen, für wen die Erkenntnisse besonders anschlussfähig sein könnten.
Inwiefern Kulturelle Bildung kritisch reflektiert wird
Natürlich finden sich auf kubi-online – ich möchte behaupten ausschließlich – Texte von Wissenschaftler*innen, Forschenden, Expert*innen, Praktiker*innen, die von Kultureller Bildung überzeugt sind. Sie beschreiben die umfänglichen Potenziale, die der Kulturellen Bildung zugeschrieben werden und z.T. auch forschend belegt werden können. Daneben kommt kaum ein Text ohne kritische Aussagen gegenüber Kultureller Bildung aus. Ganz unterschiedliche Ebenen werden – natürlich in unterschiedlichem Ausmaß – kritisiert, vor allem:
- die Anspruchshaltungen, die Politik und Öffentlichkeit gegenüber Kultureller Bildung formulieren, und die Heilsversprechen, die Träger Kultureller Bildung selbst artikulieren;
- die konkrete Praxis Kultureller Bildung, die diese Erwartungen nicht einlöst bzw. nicht einlösen kann;
- die in ästhetischen-künstlerischen Prozessen und Ausdrucksformen „eingeschriebenen“ machtvollen Kultur- und Bildungsformen;
- die fehlende Innovation und Entwicklung, Qualität und Reflexion in der Praxis Kultureller Bildung;
- die Adressierung von Gruppen bzw. Subjekten in der Kulturellen Bildung, bspw. im Gegensatz zu Empowerment und Partizipation;
- die Strukturen als Träger, Einrichtungen und Angebote mit ihren Prägungen und Machtgefügen;
- die Rollen und Haltungen von in diesen Akteur*innen-Strukturen handelnden Fachkräften und Ehrenamtlichen;
- die politisch-strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen Kulturelle Bildung in diesen Strukturen ermöglicht und zugleich begrenzt wird;
- implizit auch die gesamtgesellschaftliche Rahmung, z.B. mit ihrem neoliberalen Mainstream oder diskriminierenden Strukturen.
Diesen Kritikpunkten könnte eine deutlichen Mangelperspektive unterstellt werden – verstärkt dadurch, dass vielfach auch der Mangel an Forschung beklagt wird. Sie lassen sich aber auch positiv deuten, werden sie doch vom Entwicklungswunsch und der Frage getragen, wie Kulturelle Bildung ihren Potenzialen und ihrer Verantwortung besser gerecht werden kann. Hier kommt aber zugleich zum Tragen, dass es wenig Erkenntnisprobleme gibt: Auf kubi-online ist viel über Kulturelle Bildung und ihre Herausforderungen versammelt, es werden teilweise auch Lösungswege aufgezeigt. Was aber bleibt, ist das Umsetzungsproblem. Das zu betonen ist insbesondere wichtig, weil die Frage oft unbeantwortet bleibt, wo denn die entscheidenden Hebel liegen. Stärker zu diskutieren ist/wäre auch, wer auf kubi-online eigentlich kritisiert, in welche Richtung er*sie kritisiert, wie viel Selbstkritik damit verbunden ist und was diese Kritik nach sich zieht – denn meistens geht es in der Kritik nicht um ein verändertes (Nach)Denken, sondern insbesondere um ein verändertes Handeln. „Was tun?“ heißt konsequenterweise eine Tagung und ein Dossier des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung – Handlungsverantwortung kann durch Fachbeiträge angeregt, aber nicht umgesetzt werden. Es wurde bereits erläutert, welchen Einfluss das Format der Wissensplattform darauf hat, wer schreibt und wie geschrieben wird. Mit Blick auf die vielfältigen Kritik-Ebenen muss berücksichtigt werden: Diejenigen, die als Fachstrukturen und Praktiker*innen am häufigsten kritisiert werden, sind ihrerseits mit eigenen (kritischen) Perspektiven am seltensten auf der Wissensplattform vertreten. Das bringt Wissenschaftler*innen – ihrer Funktion entsprechend, aus der Distanz heraus Diskurse durch Theoriebildung und Forschung zu bereichern – auf kubi-online in die Rolle der zentralen (und z.T. appellativ) Ratgebenden.
Ergebnisse 3: Eindrücke zum Nachverfolgen
Abschließend möchte ich noch wenige Eindrücke teilen und zur Diskussion stellen, die sich – im Kontrast zum Kapitel „Ergebnisse 1“ – nicht auf eine Analyse mehrerer Texte beziehen, sondern sich aus dem kursorischen Erkunden ergeben. Ich stelle damit Annahmen, die Kultureller Bildung entgegengebracht werden, auf den Prüfstein und versuche aufzuzeigen, inwiefern kubi-online diese Annahmen bestätigt. Ich lade herzlich dazu ein, diese Thesen genauer zu prüfen, sie zu widerlegen oder mit neuen Beiträgen aufgeworfene Fragen nachzuverfolgen.
Behauptung: Kulturelle Bildung ist ein Querschnittsbereich zwischen Kultur/Künsten, Bildung/Pädagogik und Jugend/Soziales.
Die meisten Autor*innen verorten sich klar in einem dieser Felder und damit verbundenen Diskursen und Konzepten. Dabei überwiegen auf kubi-online Perspektiven aus den kulturell-künstlerischen und bildungsbezogenen-pädagogischen Bereichen. Dem gegenüber sind Überlegungen aus dem Jugendbereich – mit Ausnahme der Sozialen Arbeit – weniger häufig vertreten. Während das Handbuch Kulturelle Bildung versuchte, die drei Felder als politische, strukturelle und Praxiskontexte ausgewogen zu präsentieren, hat hier eine Verschiebung stattgefunden, die in Zusammenhang mit verstärkter Förderpraxis für Kulturelle Bildung im Kultur- und Bildungsbereich stehen könnte. Zudem fehlen im kulturell-künstlerischen Spektrum (aktuelle) Beiträge, die das soziokulturelle Feld reflektieren.
Behauptung: Kulturelle Bildung wird allzu oft auf die kulturpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verengt.
Insofern die Beiträge konkret Altersgruppen darstellen, beziehen sie sich am häufigsten auf junge Menschen. Vor diesem Hintergrund scheint es zunächst so, als könne der Annahme zugestimmt werden. Für die Altersgruppen wird die Bedeutung Kultureller Bildung und ihrer Praxis dennoch sehr verschieden beleuchtet. Für jüngere Kinder und die Frühkindliche Kulturelle Bildung, wie sie vor allem durch ein Dossier (Kinder & Künste – Kulturelle Bildung von Anfang an!) platziert sind, werden sehr genaue Begründungen aus der Lebensphase heraus herangezogen und die kulturelle Praxis auf das frühkindliche Aufwachsen – die Subjektwerdung – bezogen. Ähnliches kann für Kulturelle Bildung im Alter, die in einem Themenschwerpunkt (Alter(n)) hervorgehoben wird, konstatiert werden: Bedürfnisse älterer Menschen, die Entwicklung anderer Altersbilder, kulturelle Altersbildung etc. werden vor dem spezifischen Hintergrund dieser Lebensphase beleuchtet und ältere Menschen als Subjekte Kultureller Bildung wahrgenommen. Etwas anders verhält es sich bei Jugendlichen und Erwachsenen. Obwohl die weit überwiegende Zahl der Beiträge Jugendliche (bzw. Jugendliche als Schüler*innen) als Adressat*innen, Teilnehmer*innen, Akteur*innen von Kultureller Bildung und Jugendkulturarbeit sichtbar macht, gehen die allerwenigsten Beiträge explizit auf die Lebensphase Jugend ein oder reflektieren die mit dem Schüler*innen-Dasein verbundene Rahmungen für ästhetische Praxen. Die kulturelle Bildungsarbeit mit Jugendlichen wird demnach zwar häufig als Beispiel herangezogen, junge Menschen als Subjekte mit spezifischen kulturellen Bildungsbedürfnissen treten aber in den Hintergrund. Noch auffälliger wird dies bei – ohnehin wenigen – Beiträgen, die Erwachsene ins Zentrum rücken, dass die Vielfalt und die subjektive Bedeutung von Kultureller Bildung in dieser (langen) Lebensphase kaum reflektiert oder ausdifferenziert wird. Kulturelle Erwachsenenbildung, wie sie auf kubi-online repräsentiert ist, wird im Schwerpunkt mit Institutionen verbunden – insbesondere mit Einrichtungen der Erwachsenenbildung und mit Hochkultureinrichtungen. Dort sind Erwachsene dann eher Nutzer*innen und Besucher*innen, eigene Gestaltungsinteressen oder Subjektivierungen kommen in weniger Beiträgen vor.
Behauptung: Kulturelle Bildung hat sich stark auf Kompetenzorientierung und Evidenzbasierung eingelassen.
Eine bildungstheoretische Auseinandersetzung mit Kultureller Bildung findet auf kubi-online sehr intensiv statt, auch wenn einzelne Autor*innen sich eher kritisch mit dem Begriff „Bildung“ auseinandersetzen und andere Begrifflichkeiten und Facetten ins Zentrum rücken, z.B. ästhetische Erfahrung, Wahrnehmungsschulung, künstlerische Praxis, Persönlichkeitsentwicklung. „Kompetenz“, insbesondere unter einem neoliberalen Impetus, wird als Diskurs insgesamt aber kaum aufgegriffen. Das bedeutet nicht, dass Kulturelle Bildung im politischen Raum nicht in Richtung Kompetenz adressiert werden würde bzw. Praxisfelder nicht auch diese Kompetenzorientierung verfolgen würden. Die Autor*innen auf kubi-online forcieren bzw. unterstützen diese Entwicklung aber nicht, sondern kommentieren sie kritisch. Ähnliches gilt für die Evidenzorientierung, die als Anforderung aus dem politischen Raum an die Träger Kultureller Bildung herangetragen wird und die sich diese Träger, vielfach unbewusst, angeeignet haben. Einige Texte kritisieren explizit die neoliberalen Entwicklungen, die auf Kulturelle Bildung einwirken.
Behauptung: Kulturelle Bildung hat einen Eigenwert.
Mehrfach wird verdeutlicht (siehe Ergebnisse 1), dass Kulturelle Bildung weder eigenen oder externen Heilserwartungen noch einer politischen Beauftragung folgen sollte, sondern sich auf die Potenziale ästhetischer Bildung (z.B. Wahrnehmung, Gestaltung, Ausdruck) fokussieren solle. Implizit wird darin ein Eigenwert Kultureller Bildung konturiert, der sich gegen Adressierungen und Indienstnahmen wehrt. Um dies zu begründen und zu erläutern, werden unterschiedliche Topoi herangezogen. Ein Topos ist bspw. die Kunstautonomie, die absolut und uneingeschränkt gelte und Künste vor Instrumentalisierungen schützen müsse. Unter diesem Topos – und das könnte sich als problematisch erweisen – wird einerseits nicht zwischen (professioneller) Kunst und kulturpädagogischen Arbeit bzw. kultureller Bildungsarbeit unterschieden. Andererseits wird die Kunstautonomie meist nicht differenziert betrachtet. Ein anderer Topos bezieht sich auf einen emanzipatorischen Bildungsbegriff, der mindestens Selbstwirksamkeit und Selbststeuerung, in der Regel aber Widerständigkeit bis hin zur Nonkonformität ins Zentrum rückt. Mindestens dann, wenn dieser Topos individualistisch ausgedeutet wird, kann er als nicht konstruktiv gewertet werden. Dieser Aushandlungsprozess zum Eigenwert Kultureller Bildung ist deshalb eine spannungsreiche Gratwanderung, weil in ihm ein gesellschaftspolitisches mit einem künstlerischen und einem subjektorientierten Leitbild Kultureller Bildung kollidieren. Unweigerlich kommen spätestens durch die Lebensrealität der Akteur*innen gesellschaftliche Themen in die Strukturen und Praxis Kultureller Bildung. Sie müssen dort (gemeinsam) aufgegriffen, reflektiert und verhandelt werden. Die meisten Beiträge versuchen, einen realistischen Blick darauf zu werfen, wie ein Wechselspiel zwischen Subjekt und Welt, zwischen Kunst und Pädagogik und wie der Beitrag Kultureller Bildung unter den Vorzeichen der globalen Transformation aussehen kann.
Behauptung: Kulturelle Bildung ist auch normative und (gesellschafts)politische Bildung.
Diese Annahme ließ sich bereits anhand von Beiträgen zu den Themen Partizipation sowie Teilhabe – und dort vor allem im Schwerpunkt der Diversität – diskutieren (Ergebnisse 1). Einige Autor*innen erläutern unabhängig vom Begriff des Politischen die Normativität Kultureller Bildung: Jörg Zirfas unterscheidet für ästhetische Bildung ein verstehendes und partizipierendes Modell (letztlich anpassendes) und ein distanzierendes, erschütterndes und veränderndes Modell (letztlich ein widerständiges und brechendes) und setzt diese implizit in Verbindung zur aktuellen Transformation: Ästhetische Bildung sei „heute einer Normativität des Möglichen verpflichtet und damit auch der Möglichkeit, andere Möglichkeiten des Normativen auszuloten“ (Zirfas 2023/2022). Susanne Keuchel erläutert anhand der historischen Entwicklungen von Bildungsverständnissen und der modernen Gesellschaft Spannungsfelder, in denen sich Kulturelle Bildung zu Normativität verortet (Keuchel 2023/2022). Andere Texte nehmen implizit normative Setzungen vor oder sprechen von politischen Dimensionen Kultureller Bildung sowie von Kooperationsmöglichkeiten zwischen Kultureller und Politischer Bildung. Einzelne Beiträge (Dengel/Krüger 2019, Witt 2018/2017) kommen zum Ergebnis einer politischen Kulturellen Bildung. Abgelehnt wird es, Normativität, Kulturelle Bildung und Politische Bildung engzuführen bzw. zu hierarchisieren. Es gibt Stimmen, die ein spannungsreiches Verhältnis (Zenke 2021/2020) betonen bis dahin, dass das Verhältnis grundsätzlich als kritisch zu thematisieren sei. Unter dieser Überschrift näher diskutiert werden könnte,
- inwiefern und über welche Wege sich Kulturelle Bildung politisch versteht;
- wie sich das politische und gesellschaftliche Umfeld, in dem sich Praxis und Strukturen Kultureller Bildung bewegen, auf eine Weiterentwicklung einer politisch gedachten Kulturellen Bildung auswirken;
- welche normativen Setzungen dadurch vorgenommen bzw. verstärkt werden.
Was auf der Wissensplattform stärker repräsentiert werden müsste, ist eine junge Generation, die sich in neuen politischen, oft digitalen Beteiligungsformaten informiert und bewegt, als Generation Woke für sich in Anspruch nimmt, Werte, Haltungen und Strukturen grundsätzlich verändern zu wollen und auch zusehends aktivistisch (Fridays for Future, Letzte Generation) ist. Diese Generation nutzt mediale, symbolische und ästhetische Formen, um sich zu artikulieren. Selbst jene jungen Menschen, die sich nicht aktiv diesen Bewegungen zuordnen, sind von diesen Denk- und Handlungsweisen beeinflusst. Politisierung in der Kulturellen Bildung ist oft keine Frage der Fachkräfte und Trägerstrukturen, sondern eine, die Teilnehmer*innen und Mitgestalter*innen mitbringen.
Zum Abschluss
Die Wissensplattform kubi-online ist durch ihren breiten Diskursansatz sehr harmonisch. Positionen, die in einem grundsätzlichen Widerspruch zueinanderstehen, werden nicht sichtbar. Ggf. werden konträre Positionen davon überdeckt, weil die unterschiedlichen Artikel nebeneinanderstehen. Die vermutlich treffendere Begründung aber ist, dass die Wissensplattform einen Facettenreichtum bietet, der die hohe Integrationsfähigkeit des Containerbegriffs Kultureller Bildung und seiner Diskurse nutzt. Über die zehn Jahre ihres Bestehens hinweg sind Diskurse daher erweitert und differenziert worden, stellen aber – so mein Eindruck – zentrale Säulen Kultureller Bildung nicht infrage. Es zeichnen sich indes Veränderungen ab, die nicht nur historische Linien weiterentwickeln, sondern die weitere Impulse einläuten könnten:
- Das Verständnis der Künste und ästhetischen Praktiken ist spätestens mit den Themen Diversität und Digitalität einem massiven gesellschaftlichen Wandlungsprozess unterworfen. Längst hat sich ein enger und auf Künste oder Hochkultur begrenzter Begriff als obsolet erwiesen, was sich auch im Diskurs und in der Praxis Kultureller Bildung spiegelt. Je weiter aber der „Kultur“-Begriff genutzt und auch zusehends kritisch reflektiert wird, um so mehr stellt sich die Frage, was der zentrale Gegenstand Kultureller Bildung ist, wie sich also ihre Spezifik fachlich-methodisch beschreiben und entwickeln, in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung erklären und auch strukturell-politisch fassen lässt.
- Das Bildungsverständnis Kultureller Bildung fußt auf bestimmten anthropologischen und kulturellen Annahmen dessen, was Subjekte und Identität auszeichnet und wie Prozesse der Subjektivierung verlaufen. Bildung als subjektive Seite von Kultur ist untrennbar mit Subjektivierung und Subjektivität verbunden. Spätestens mit der digitalen Transformation hin zu Künstlicher Intelligenz oder mit Theorien zum Posthumanismus werden diese Grundannahmen neu verhandelt, Debatten, wie sie auf kubi-onlinegerade erst sichtbar werden. Wie lässt sich die Idee vom kritischen Subjekt, das der Aufrechterhaltung des aufklärerischen Modus (Leeker 2022) und auch vielen Leitideen Kultureller Bildung entspricht, halten bzw. den Transformationen entsprechend weiterentwickeln?
- Der Begriff „Kulturelle Bildung“ und seine Konzepte geraten von zwei Seiten unter Druck – sowohl in Hinsicht auf „Kultur“ als auch bezüglich „Bildung“. Dieser Druck wird im Zuge der Transformation oft positiv gerahmt und inhaltlich-fachlich verhandelt, ist aber letztlich Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Krisen und Transformationen, zu denen sich Kulturelle Bildung positionieren muss. Längst ist auch Kulturelle Bildung vom Verteilungskampf um Aufmerksamkeit, Deutungshoheit und Ressourcen betroffen – nach innen wie nach außen. Daher sind die Akteur*innen – die Praxisbezogenen, die Forschenden, die Lehrenden, die Politischen – gefordert, den Begriff „Kulturelle Bildung“ weiterhin nicht nur auf seine Eigenständigkeit, Anschlussfähigkeit und Tragfähigkeit in den Bereichen von Jugend, Bildung/lebensbegleitendes Lernen und Kultur sowie zu allen verknüpften gesellschaftlichen Bereichen hin zu prüfen, sondern ihn offensiv in Debatten einzubringen, weiterzuentwickeln und zu stärken. Und dies sollte mindestens in dreierlei Hinsicht geschehen: als fachliches Konzept, als strukturelle Weiterentwicklung und ebenso als politische Strategie. Gerade ein Begriff, der in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Funktionen erfüllt, braucht Plattformen für den gemeinsamen Diskurs.
- Die Anforderungen und Ansprüche wachsen. Im Feld der Kulturellen Bildung gibt es dazu bereits historisch viele Programmatiken, z.B. „Kultur für alle“. Durch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen nehmen, dieser Eindruck entsteht, Programmatiken eher zu – was im Kapitel Ergebnisse 1 nachzulesen ist. Gesellschaftliche Transformationsdiskurse sind in der Kulturellen Bildung längst angekommen, aber: „Wenn die Programmatik prominenter wird als die Praxis, besteht dann nicht die Gefahr der Überfrachtung der Praxis?“ (Sting 2017). Inwieweit und wann aus Programmatiken (neue) Paradigmen werden, wo normativ-ideologische Überformungen oder politische Instrumentalisierungen stattfinden könnten und wie es um Kulturelle Bildung als Ort für Aushandlung, als kritisches Korrektiv, als Plattform für unterschiedliche Werthaltungen zukünftig tatsächlich bestellt ist, das wären zentrale Fragestellungen.
- Auf kubi-online finden sich reichhaltige theoretisch-konzeptionelle Grundlagen, gesellschaftliche Diskurse und Praxisbeschreibungen zu Kultureller Bildung. Perspektiven auf die Träger- und Förderstrukturen Kultureller Bildung dagegen fehlen vielfach. Diese Akteur*innenstrukturen sind aber nicht nur in die fachlichen und gesellschaftlichen Kontexte eingebettet, sondern sind Gestaltungsakteur*innen bzw. Schaltstellen. Sie „übersetzen“ z.B. Theorie unter den politischen Bedingungen in Praxis. Durch diesen engen Zusammenhang sollten dringend gouvernementale Perspektiven auf der Wissensplattform gestärkt werden – sowohl als Reflexion der Praxis zu ihren Rahmenbedingungen, als auch als Forschung zum öffentlichen System Kultureller Bildung oder zu zivilgesellschaftlichen Trägerstrukturen, zu Förderstrategien oder zu struktureller Transformation und Innovation.
- Und hier schließt sich der Kreis: Die Differenzierung und Diversifizierung Kultureller Bildung in unterschiedliche Handlungs-, Professions-, Forschungs- und Politikfelder hat einerseits dazu beigetragen, dass Kulturelle Bildung starke und breite Relevanz entfalten konnte. Zugleich sind die Fragen, wie sie auf kubi-online kaleidoskopartig betrachtet werden können, oft sehr spezifisch und kleinteilig. Die Autor*innen versuchen i.d.R., diese Einzelaspekte in größere Zusammenhänge einzubetten. Welche Eindrücke dennoch bspw. entstehen: Obwohl gesellschaftliche Fragen verhandelt werden, fehlt i.d.R. eine gesellschaftspolitische und insbesondere eine gesellschaftskritische Perspektive, die über das Einzelthema hinausweist. Obwohl einzelne Sparten ihre spezifische Wirksamkeit aufzeigen können, mangelt es i.d.R. an einer Kontextualisierung in übergreifende Diskurse. Wichtige inhaltlich-methodische oder auch akademische Debatten laufen so Gefahr, einem Rückzug in die Fachlichkeit und der Selbstreferenzialität Vorschub zu leisten. Kulturelle Bildung nicht nur als gesellschaftspolitisches Feld, sondern als politischen Akteurin wiederzuentdecken, wäre eine wichtige Aufgabe.