Kulturelle Bildung trifft partizipative Forschung – Ziele und Herausforderungen in der Startphase multidisziplinärer Kollaboration

Artikel-Metadaten

von Bianca Baßler, Fenna tom Dieck

Erscheinungsjahr: 2025

Peer Reviewed

Abstract

Auf Basis von qualitativen Daten aus einem EU-finanzierten Projekt zu machtkritischer Kultureller Bildung in Schulen diskutieren wir die Annahme, dass es für eine gelingende multidisziplinäre Kollaboration und die Ermöglichung von Perspektivenwechseln in einem partizipativen Projekt kontinuierliche Beziehungsarbeit zwischen den Kollaborationspartner*innen in Form einer machtkritischen Reflexion braucht. Dazu analysieren wir anhand von zwei exemplarischen Materialauszügen soziale Räume, in denen wir als Team aus Filmvermittlerinnen und universitär Forschenden Perspektivenwechsel und Verantwortungsübernahmen aushandeln, und arbeiten im Anschluss relevante Aspekte für die Schaffung solcher kontinuierlichen Räume der Reflexion heraus.

Projektkontext

„Sich selbst in seiner Arbeit darzustellen, sich dabei immer wieder selbst zu befragen, von anderen befragt zu werden oder durch Antworten (mit darin enthaltenden Nachfragen) scheinbar Selbstverständliches aufzubrechen, ist nicht einfach. Und nicht bequem. Es steht immer etwas auf dem Spiel. Etwas, das mit uns selbst zu tun hat. Lässt man sich darauf ein, macht man sich angreifbar, riskiert etwas und bricht Routinen auf. Im besten Fall wird man sensibel und kritisch für das Thema und entwickelt sich weiter.” (Hallmann et al. 2021:3)

Diese von Kerstin Hallmann et al. beschriebenen Prozesse haben wir in unserem partizipativ angelegten Forschungsprojekt sehr lebendig erfahren. Als multidisziplinäres Team aus Medienbildner*innen und universitär forschenden Erziehungswissenschaftlerinnen betraten wir gemeinsam Schule als Forschungs- und Aktionsfeld von medienbildnerischen Angeboten. In der gemeinsamen Vorbereitung von Angeboten und der Teilnahme im Feld fanden viele Aushandlungsprozesse statt, die wir als aufregend und herausfordernd, aber auch als sehr aufschlussreich erlebten. Deshalb möchten wir in diesem Beitrag den Projektstart fokussieren.

Er wurde von zwei universitären Forscherinnen, Fenna tom Dieck und Bianca Baßler, unter Einbezug der Kulturschaffenden, Kimlotte Stöber und Carmen Beckenbach, verfasst. Dadurch sind Reflexionsräume entstanden, deren Ergebnisse in diesen Text einflossen und die zu Veränderungen über den Text hinausgeführt haben. Die Kulturschaffenden berichten rückblickend, dass ihnen zu Projektbeginn nicht bewusst gewesen sei, dass auch die Beziehungen im multiprofessionellen Team in den Blick der Forschung geraten würden. Dieser Aspekt hat die Arbeit an diesem Text maßgeblich beeinflusst und Reflexionen angeregt, die noch nicht abgeschlossen sind: Es wurden unterschiedliche Perspektiven auf das Projekt sichtbar, die wir in seine weitere Gestaltung einbeziehen.

Wir betrachten den Projektauftakt nicht nur als eine kritische Phase, in der es gilt, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen (Langer / Richter 2022:136), sondern zugleich als relevanten Fokus analytischer Betrachtungen (Ott 2012:168). Beziehungsgefüge und Machtverhältnisse zeigen sich hier in besonderer Weise, da durch den Eintritt neuer Akteur*innen die Routinen und Selbstverständnisse zwischen allen Beteiligten in Bewegung gebracht werden (Langer / Richter 2022:137). Nicht nur der Projektstart, sondern der gesamte Prozess bedarf (nicht nur) im Kontext partizipativer Forschung einer kontinuierlichen reflexiven Begleitung, da Partizipation nicht einmalig ausgehandelt und erreicht werden kann – das andauernde Changieren von Rollen und Aufgaben und das permanente Einlassen auf Neues wirkt sich auf das Verhältnis untereinander und zu Forschungsteilnehmenden aus und macht eine kontinuierliche (Reflexions-)Arbeit an Partizipation notwendig (Büker et al. 2021:404).

Bevor wir in die nähere Betrachtung der Kollaboration im Rahmen unseres Projektstarts einsteigen, skizzieren wir dessen Anlage: Das EU-geförderte Horizon-Projekt Exploring and educating cultural literacy through art (EXPECT_Art, 2024-2026) verfolgt das Ziel, Critical Cultural Literacy zu fördern. Critical Cultural Literacy verstehen wir als machtkritische Kulturelle Bildung. Im Projekt wird das Konzept mit den Perspektiven von Cultural Studies, Multiliteracy Studies, Critical Literacy Studies und Kritischer Pädagogik als eine Erweiterung des Konzepts Cultural Literacy verstanden. In sechs EU-Ländern erarbeiten Kulturschaffende und Forschende gemeinsam mit Schüler*innen zwischen sechs und 17 Jahren über einen Zeitraum von zwölf Monaten Projekte Kultureller Bildung. Das Team in Deutschland besteht aus drei Erziehungswissenschaftlerinnen und drei Filmvermittler*innen der Kinemathek Karlsruhe, einem Programmkino mit medienpädagogischen Angeboten. Ein Ungleichverhältnis in der finanziellen Ressourcenausstattung zwischen den beiden Institutionen wirkt sich auf die Umsetzung kollaborativer Forschung aus, Carmen beschreibt dies in einem Gespräch im Team mit der Aussage „bisschen mitmachen geht, mehr wäre angebracht”.

In den Projektdokumenten werden vor allem die Beziehungen zwischen Forschenden und Forschungsteilnehmenden thematisiert, womit zunächst vor allem Schüler*innen gemeint sind. Uns erscheinen in diesem Zusammenhang jedoch auch die Beziehungen zwischen Kulturschaffenden, die wir im Folgenden als Forschungspartner*innen bezeichnen, und Forschenden im Rahmen der multidisziplinären Kollaboration relevant. Zur Veranschaulichung haben wir versucht, diese komplexen Verhältnisse graphisch darzustellen:

Abb. 1: Kollaboration, Rollen und Beziehungen der Forschungspartner*innen; Illustrationen: Chaos Comic Club Karlsruhe

Wir werden im Folgenden Herausforderungen der Zusammenarbeit in einem partizipativen Projekt anhand von Datenmaterial aus der gemeinsamen Arbeit reflexiv und analytisch in den Blick nehmen und anschließend darlegen, welche Konsequenzen wir daraus für unsere Kollaboration entwickelt haben. Entlang dessen diskutieren wir die Thesen, dass für gelingende multidisziplinäre Kooperationen in einem partizipativen Projekt kontinuierliche Beziehungsarbeit zwischen den Kollaborationspartner*innen im Rahmen machtkritischer Reflexion eine wichtige Grundlage bildet und Perspektivwechsel zwischen den verschiedenen Beteiligten als zentralen methodischen Schritt in der Kollaboration ermöglicht, für den wir die explizite Eröffnung von Räumen der Reflexion vorschlagen.

Empirische Einblicke in die Kollaboration zum Projektstart

„Es ist von Gewicht, mit welchem Anliegen wir andere Anliegen denken.“ (Haraway 2018)

Die Phase des Projektstarts betrachten wir, wie oben erwähnt, als herausfordernd und analytisch relevant und machen deshalb den Aufbau der Kollaboration zu unserem Forschungsgegenstand. Das Datenmaterial, vor allem Feldnotizen und Transkripte von Audioaufnahmen, analysieren wir in Anlehnung an eine machtkritische Ausrichtung der Grounded Theory (Clarke et al. 2015). Wir fokussieren für die folgende Analyse die Themen Verantwortung und Perspektivität und nehmen eine positionierungsanalytische, kontextreflexive sowie historische Analyseperspektive ein (Baßler 2024:131).

Perspektiven auf ‚Rausgehen‘ – Nachgespräch zum Projektauftakt

Der folgende Transkriptauszug stammt aus dem Nachgespräch zum Projektauftakt mit einer der beteiligten sechsten Klassen. Beim Gespräch anwesend sind die Filmvermittler*innen Marc und Carmen und die universitär Forschenden Fenna und Bianca. Bianca hat bereits den Schultag mit der Klasse verbracht und sie ins Kino begleitet, im Kino hat sie gemeinsam mit Fenna Kennenlernrunden und Schreibgespräche zu den Themen Lieblingsfilme und Wissen zur Filmproduktion mit den Schüler*innen moderiert. Carmen ist an diesem Termin verantwortlich für die Umsetzung des Filmvermittlungsangebots, Marc in der Rolle des Gastgebers im Kino. Gemeinsam haben sie einen Rundgang durchs Kino angeboten. Anschließend wurde der von Carmen ausgewählte Film „Die Eiche“ gezeigt, zu dem sie ein Filmgespräch zu den Themen Schnitt, Perspektivität, Stimmungsaufbau, Filmgenres etc. angeleitet hat. Nachdem die Schüler*innen verabschiedet wurden, initiiert Bianca ein Nachgespräch innerhalb des Projektteams, das im Foyer des Kinos stattfindet. Die Gruppe entscheidet, das Gespräch aufzuzeichnen.

Zunächst geht es im Gespräch vor allem um Eindrücke und Erfahrungen während des Treffens. Nach circa zehn Minuten fragt Bianca die Beteiligten noch einmal konkret nach ihrer Einschätzung zum Verlauf:

Bianca: Aber wie war das jetzt? Wart ihr jetzt zufrieden? oder-,

Marc: Ich find des war super.

Carmen (antwortet gleichzeitig): Jaaa, ich war zwischendrin gestresst, weil ich meine, bei mir war es dann so, klar, ich hatte den Film ausgesucht, ich hatte den bei den anderen, aber man muss dazu sagen, es war vor zwei Jahren, dass ich das begleitet habe, da war der Konzentrationsraum noch n Tick länger, also ich hatte, also ich hatten das so viel Rausfallen, die Quote hatte ich bei den anderen nicht

Bianca: Hmmm

Carmen: und eehm das hat mich gestresst, ja.

Bianca: Okee

Marc: Dass so viele nicht gekommen sind?

Bianca: Rausgegangen sind

Carmen: Nein, rausgegangen sind.

Bianca positioniert sich mit ihrer Frage „Aber wie war das jetzt?“ als Gesprächsleitung und leitet eine Konkretisierung des Gesprächsgegenstands und stärkere evaluative Ausrichtung des weiteren Gesprächs an. Sie formuliert eine zweite geschlossene Frage „Wart ihr jetzt zufrieden? Oder-“, von der sich die Filmvermittler*innen Marc und Carmen adressiert fühlen, die zeitgleich zu einer Antwort ansetzen. Marc teilt seine Einschätzung, er habe den Projektauftakt „super“ gefunden, zugleich ergreift Carmen das Wort und berichtet, sich während der Veranstaltung phasenweise gestresst gefühlt zu haben. Sie begründet das damit, dass sie den Film ausgewählt hat, und führt aus, dass sie diesen Film vor einiger Zeit bereits zwei Mal Gruppen gezeigt habe. Sie positioniert sich damit als erfahren in der Filmvermittlung, auch in Bezug auf diesen Film. Sie schließt mit der Aussage, dass sie damals nicht „so viel Rausfallen” erlebt habe und markiert damit, dass das nicht erwartbar für sie war. Auf Nachfrage ihres Kollegen expliziert sie, dass sie sich darauf bezieht, dass in ihrer Wahrnehmung viele Schüler*innen den Kinosaal während des Films verlassen haben. Die beiden universitären Forscherinnen äußern prompt eigene Interpretationen:

Bianca: Aber jetzt die bei mir zum Beispiel, die aus meiner Reihe rausgegangen sind, das war auch derjenige, kannst du dich erinnern, der auch vorne bei uns saß, der auch einfach, der auch in der Klasse der Einzige war, der der ist nicht sitzen geblieben, der also ich vielleicht kann der das nicht, ne

Fenna: Ich finde das total wichtig, dass sie das hier mal ausprobieren und merken, ich kann rausgehen, ich kann wieder reinkommen, ist in Ordnung. Ich finde das super für nen Auftakt.

[...]

Bianca: Aber ich verstehe, dass es stressig ist, wenn man den Film ausgesucht hat.

Fenna: Natürlich, klar, aber ich, also ich würde jetzt sagen, ne, das ist auch, die testen ja auch aus

Carmen: Genau

Fenna: was kann ich hier machen, für die ist das auch, aus anderen Gründen spannender Grund, ne, die kommen nicht nur um den, sondern die sind mal raus, die erleben auch ihre Leute irgendwie anders und vielleicht ist jemand Spannendes mit rausgegangen, dann gehen die auch raus.

Bianca: Genau, genau, ja.

Fenna: Das muss gar nicht immer am Film liegen, also das kann ja 100 Gründe haben, ne. Das ist auch ein Raum, die, von den Lehrkräften ist keiner mit rausgegangen, von uns, du warst dann mit raus, ne, aber da war dann hier auch kein Erwachsener und die saßen an einem Ort für Erwachsene alleine dann.

Bianca leitet mit „aber” eine alternative Erklärung zum von Carmen hergestellten Kausalzusammenhang ein, in dem diese sich als verantwortlich für die Filmauswahl und die Filmauswahl als ursächlich für den Drop Out der Schüler*innen positioniert hat. Sie widerspricht damit der Perspektivierung von Carmen. Bianca äußert in einer Vermutung, dass ein Schüler, dessen Rausgehen sie beobachtet habe, möglicherweise nicht in der Lage sei, lange sitzen zu bleiben. Sie begründet dies mit Wissen, das sie im Rahmen teilnehmender Beobachtungen im Unterricht über den Schüler gewonnen hat, und adressiert in diesem Zusammenhang Fenna, die diesen ebenfalls aus ethnographischen Feldaufenthalten kennt. Damit positioniert sie sich als Expertin für die Schulklasse, die wertvolle Kontextinformationen aus dem Feld liefert, die Schüler*innen in ihren individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten kennt und deshalb deren Verhalten im Gegensatz zu Marc und Carmen kontextualisieren kann. Das kann als Versuch verstanden werden, ihre Aussage für Carmen zu validieren.

Fenna geht auf diese Adressierung nicht weiter ein, sondern äußert eine weitere alternative Perspektivierung des Rausgehens. Sie deutet es als Austesten der Rahmenbedingungen der Veranstaltung und bewertet die dabei von ihr antizipierten gewonnenen Erfahrungen der Schüler*innen als „total wichtig” und „super” für einen Projektauftakt – dabei bezieht sie sich auf den partizipativen Anspruch des Projekts und idealisiert das Schüler*innenverhalten als subversive Praktik im Kontext von Ermächtigungsmöglichkeiten in partizipativen Settings (Gallagher 2008:146).

Durch ihre Einschübe reagieren die beiden universitär Forschenden auf die Aussage der Filmvermittlerin, in der es um die Einordnung des Angebots im Spektrum von Gelingen und Misslingen geht und Bedauern darüber geäußert wird, dass es scheinbar nicht alle Kinder erreicht hat. Vor allem Fenna reagiert darauf mit einem Bezug zum Projektkontext, der als ‚partizipativ‘ gelabelt ist, und kehrt die Interpretation in ein Gelingen des Angebots um. Bianca hingegen antizipiert im Anschluss Carmens Perspektive und validiert ihre Einordnung, indem sie ausspricht, dass aus Sicht der Verantwortlichen für die Filmauswahl das Rausgehen der Schüler*innen als stressig wahrgenommen werden kann. Als Fenna ihre Perspektivierung des Schüler*innenverhaltens als Beleg für das gelungene Eröffnen von Räumen des Probierens im Rahmen des Projektauftakts darlegt, stimmt Carmen zu. Sie kontextualisiert das Kino als Setting eines partizipativen Projekts, das als Gegenraum zu Schule gelesen werden könne und – wie erwünscht – von den Schüler*innen als spannend erachtet wird und neue Möglichkeitsräume für peerkulturelle Praktiken eröffnet.

Carmen nimmt deutlich die Position einer verantwortungsbewussten Vermittlerin ein, wohingegen Fenna und Bianca die partizipative Ausrichtung des Projekts in den Vordergrund stellen und das Schüler*innenhandeln in diese Perspektivierung ‚einpassen’. Gleichzeitig stellen ihre Reaktionen in einer Beziehungsdimension Strategien dar, Carmen als Verantwortliche zu entlasten. Durch den Wechsel der Perspektive kommt es zu einer Gegenmarkierung, die das Angebot als erfolgreich im Sinne des Projekts kennzeichnet.

An die Analyse dieses Transkriptauszugs, in der Perspektivierung, Verantwortungsübernahme und Care-Arbeit (Sander 2021) im Projektkontext thematisiert werden, schließen wir nun weitere Materialauszüge an, in denen sich die Projektzusammenarbeit und deren Aushandlung dokumentieren.

Aushandeln von Stressverantwortung – (Auto-)ethnographische Notizen zu einem multidisziplinären Planungstreffen

Die folgenden Ausschnitte sind Auszüge aus der (auto-)ethnographischen Feldnotiz eines multidisziplinären Planungstreffens der Medienbildnerin Kimlotte und der universitär Forschenden Bianca. Das Treffen findet als Videogespräch im digitalen Raum statt, beide sind diese Art von Gesprächen miteinander gewohnt. Gesprächsanlass ist der anstehende gemeinsame Feldaufenthalt in einer vierten Klasse, zu dem die beiden das kulturelle Bildungsprojekt mit den Grundschüler*innen beginnen wollen. Autorin des Protokolls ist Bianca.

Während des Gespräches komme ich mehr zu dem Eindruck, dass sie [Kimlotte] von der Offenheit & der Ungewissheit, die mit der Partizipation einhergeht, ein Unbehagen bekommt. Wir sprechen später auch noch über Stress in dem Projekt. Mir ist es aktuell ein Anliegen aus dieser Dauer-Stresssituation aus dem Projekt rauszukommen. In meiner Wahrnehmung hatten wir als Forscherinnen den ganzen Stress in unser nationales Team gebracht, weil wir so viele Deadlines haben. Das teile ich Kimlotte mit & sage, dass ich das weniger will.

Bianca teilt hier ihre Gedanken. Während des Gesprächs kommt sie zu der Einschätzung, dass Kimlotte Unbehagen bei dem Gedanken empfindet, mit großer Offenheit in das Projekt zu starten. Diese Feststellung bleibt an dieser Stelle eine Vermutung, die Bianca in Form eines Perspektivenwechsels als Erkenntnis festhält, jedoch im Gespräch (an dieser Stelle) nicht teilt. Sie startet mit einem Thema, das sie sich scheinbar vorab bereits vorgenommen hatte: Stress im internationalen Projektsetting. Auch das führt sie auf der Ebene von Deskription ihrer Hintergrundgedanken aus. Ihre Formulierung erinnert an eine Einleitung, bevor sie dokumentiert, was in der Interaktion ausgehandelt wird. So kennen Lesende zwar die Perspektive der Forschenden, aber nicht diejenige der Medienbildnerin.

Später entsteht dazu ein Briefwechsel: Um dem Ungleichgewicht in der Interpretation der Situation zu begegnen, hat Bianca das Protokoll an Kimlotte geschickt und um Rückmeldung gebeten. Kimlotte hat das in Form eines Briefes an Bianca per Mail getan. Es handelt sich dabei nicht um ein weiteres Protokoll, wie es die Protokollantin erwartet hatte, sondern explizit um einen Brief. Diese Form der direkten Adressierung haben wir daraufhin weiterverwendet.

Auch hier spielt die Perspektivierung als partizipatives Forschungsprojekt sowie Care-Arbeit im Projektsetting eine Rolle: Die Forschende geht davon aus, dass der Stress im Projekt von ihrer, der forschenden Position, ausgeht. Sie übernimmt an dieser Stelle die Verantwortung für die Gefühlslage der Projektpartner*innen und hat dazu die von ihr antizipierte Perspektive ihrer Kolleginnen eingenommen. Das markiert sie in ihrem Protokoll, indem sie schreibt, dass es sich um ihre „Wahrnehmung“ handele. In einem weiteren Schritt übernimmt sie ein zweites Mal die Verantwortung. Sie formuliert den Wunsch nach Handlung – und zwar mit dem Ziel, aus dieser Situation „rauszukommen“. Die Medienbildnerin Kimlotte reagiert auf das Interpretationsangebot der Forschenden:

Sie widerspricht mir und sagt der Stress käme daher, dass es allen inhaltlich wichtig sei. Das liege aber daran, dass es eben alle gut machen wollen.

Kimlotte widerspricht Biancas Analyse sofort. Der Wahrnehmung einer „Dauer-Stresssituation“ an sich stimmt sie allerdings unausgesprochen zu. Durch diese Korrektur der Wahrnehmung der Forschenden findet ein Austausch von unterschiedlichen Perspektiven auf die Ursache des Empfindens von Stress statt. Kimlotte bezieht sich in ihrer Erklärung für den Stress auf „alle“, wobei offenbleibt, ob es auf das gesamte Team oder auf das Team von Medienbildner*innen bezogen ist. Gleich zwei Mal in der Sequenz macht sie allerdings deutlich, dass der Grund letztendlich sei, „dass es allen inhaltlich wichtig sei“ und, „dass es eben alle gut machen wollen“.

Durch die Verantwortungsverlagerung und eine alternative Lesart der Ursache der „Dauerstress-Situation“ entzieht sie der Forschenden wiederum die Verantwortung über ihr eigenes Empfinden in dieser Situation und widerspricht deren Deutung, ‚Schuld’ an ihrem Stress zu sein. Dadurch entlastet sie gleichzeitig die Forschende und weist den Vorschlag einer Lösung zurück. An dieser Stelle findet eine Aushandlung von Verantwortung statt, in der beide Beteiligten sich als diejenigen positionieren, die mit ihrem Handeln Folgen für die jeweils andere Seite einleiten. Das Protokoll geht weiter:

Daran hatte ich in meiner Interpretation nicht gedacht. Ich weiß, dass das Projekt allen inhaltliches Anliegen ist, aber dass das so viel Stress aufbaut, war mir nicht bewusst. Wir versuchen uns in der Situation jetzt zu versichern, dass wir uns auf den offenen Prozess einlassen & es so gut wie möglich machen und dann wird es wie es wird.

In dem Ausschnitt macht die Protokollantin wieder ihre eigenen Gedanken sichtbar. Sie notiert, dass sich diese Interpretation ihrem Vorstellungsraum entzogen hat. „Inhaltlich wichtig“ und „gut machen wollen“ waren für ihre Deutung für die Ursache von Stress bisher nicht relevant. Sie vollzieht einen deutlichen Perspektivenwechsel und verweist auf ein Bewusstsein dafür, „dass das Projekt allen inhaltliches Anliegen ist“. Es ist davon auszugehen, dass sie in „alle“ sowohl die Forschenden als auch die Medienbildner*innen einbezieht. Sie wechselt nach der Erklärung ihrer Gedanken zu der Beschreibung der Interaktion zwischen sich und der Medienbildnerin. Die Protokollantin bezieht sich nun auf ein „Wir“, schafft dadurch sprachlich Einigkeit, die scheinbar auch auf der inhaltlichen Ebene stattfindet: Die beiden diskutieren ihre unterschiedlichen Perspektiven in Bezug auf ihre Positionierungen nicht aus, sondern stellen Gemeinsamkeit her, indem sie ihre Perspektiven artikulieren, aber nicht zusammenführen, dabei bleibt vieles unbesprochen. Sie knüpfen an das vorherige Gesprächsthema an: die Offenheit des Projekts. Bei der Herstellung eines „Wirs“ übernehmen sie die Interpretation der Medienbildnerin und verändern die Perspektive auf den Anspruch: von „gut machen wollen“ hin zu „so gut wie möglich machen“. Durch das Protokoll wird allerdings nicht sichtbar, wer diesen Perspektivenwechsel auf den Anspruch als Vorschlag formuliert und wer sich an welcher Stelle mit dem Ergebnis „und dann wird es wie es wird“ einverstanden zeigt.

Übergreifende Analyse der Materialauszüge

In beiden Materialausschnitten finden Aushandlungsprozesse in Bezug auf den Projektstart und sich in diesem Kontext vollziehende Beziehungsarbeit statt. Stressempfinden wird in beiden Sequenzen thematisiert, woraufhin die Verantwortung für diese Gefühle innerhalb der Kollaboration verhandelt wird. Deutlich wird, dass die Projektpartner*innen gegenseitige Verantwortung übernehmen, um jeweils für Entlastung zu sorgen. Den Forschenden scheint es in beiden Situationen ein Anliegen zu sein, Verantwortung für das von ihnen wahrgenommene Unwohlsein der Filmbildner*innen zu übernehmen. Hier werden Fragen gestellt und vor allem eigene – das Gegenüber entlasten wollende – Lesarten präsentiert. In beiden Ausschnitten wird deutlich, dass die universitär Forschenden Spannungen sowie Unwohlsein durch die Artikulation antizipierter Perspektiven anderer Forschungsteilnehmender auffangen wollen, Verständnis zeigen und Verantwortung übernehmen. Es zeigen sich hier deutlich die Perspektiven und widersprüchlichen Positionen, die sie im partizipativen Projektkontext beziehen: „In the frame of a participatory research collaboration, academics are no longer the ones setting the agenda or deciding on the issues, and they are not the main producers or final interpreters of the data. Yet, as members of the academic field, they do have to produce text (as output) and interpret data. The question is: How can this be done in a participatory way? And how can we meet community needs as well as expectations of the academic field?“ (von Unger et al. 2022:5).

Diese Fragen stellen sich, wie die Materialauszüge zeigen, auch uns während des Projektstarts. Es finden Aushandlungen dazu statt, wer Verantwortung für welche Prozesse, aber auch für begleitende Emotionen trägt. Übergeordnetes Ziel scheint dabei die Entwicklung gelingender Beziehungen und kollaborativer Bündnisse innerhalb des Projektteams zu sein, die Kerstin Hallmann et al. als Kompliz*innenschaften im Sinne von Interessengemeinschaften mit geteilter Verantwortung beschreiben (Hallmann et al. 2021:14). In beiden Auszügen werden in diesem Zuge Emotionen der Forschungspartnerinnen antizipiert und bearbeitet.  Auch die Verteilung von Rollen kann als Teil der sich gerade im Aufbau befindenden Arbeitsstruktur verstanden werden. Als Bedingung für eine funktionierende Kompliz*innenschaft lässt sich aus Perspektive der Beteiligten rekonstruieren, dass sich alle wohlfühlen: Die Verantwortung für Misserfolg und Erfolg wird geteilt. Die universitär Forschenden antizipieren dabei auch besondere Vulnerabilitäten von Praktiker*innen im Kontext partizipativer Forschungsprojekte: „Die eigene Praxis zu erforschen, heißt, sowohl sich, die eigenen Erfolge wie auch Fehler […] in den Fokus zu rücken” (Eßer et al. 2020:19). Gleichzeitig wird in den beiden Auszügen auch deutlich, dass dabei Emotionen antizipiert werden, die sich nicht unbedingt als geteilte Deutungen erweisen. Zugleich werden eigene Emotionen der Forschenden in diesen Ausschnitten nicht thematisiert und so auch nicht bearbeitet. 

Partizipation gestalten

Zu sehen ist in den Auszügen das Bemühen um die Herstellung und Aufrechterhaltung einer kollaborativen Beziehung in Form einer Kompliz*innenschaft. Das Gelingen des Projekts ist allen ein Anliegen. Deutlich wird, dass es aus den jeweiligen Perspektiven der Forschenden, der Filmvermittlerin und der Medienbildnerin heraus auch eigene Ziele gibt. Die Forschenden sind angehalten, Verantwortung für das Projekt zu übernehmen, da sie u.a. aufgrund der Projektstruktur längere Zeit im Projekt bleiben, höhere Stellenanteile innehaben und mehr koordinierende Aufgaben übernehmen. Zudem sind sie über die Projektvorgaben verpflichtet, ‚akademisch verwertbare’ Produkte herzustellen (von Unger et al. 2022:5). Die Filmvermittlerin und Medienbildnerin folgen dem Interesse, mit ihren Angeboten ihre (pädagogischen) Ziele und die Adressat*innen erreichen. Zudem vertreten sie ihre Institution nach außen. Durch die jeweiligen Perspektiven und Motive ergeben sich unterschiedliche Deutungen von gemeinsam erlebten Situationen. Wir wollen deshalb Ansatzpunkte für die reflexive Betrachtung kollaborativer Beziehungen in partizipativen Settings vorschlagen:

Emotionen im Forschungsprozess ernst nehmen

Wir fokussieren Emotionen, die wir als interdependent mit dem Finden von Rollen verstehen. In sozialwissenschaftlichen Forschungskontexten finden wir Hinweise darauf, dass gerade das affektive Empfinden als Ausgangspunkt für Erkenntnisgewinn verstanden werden kann (Breuer 2010:124). Explizit Affekte als Reaktionen im Forschungsfeld in den Blick zu nehmen, ist also sowohl Teil einer Strategie des Erkenntnisgewinns als auch der Reflexion des Forschungsprozesses selbst (von Bose 2023:8). So können in den vorgestellten Ausschnitten die Emotionen, die Enttäuschung der Filmvermittlerin, die relativierende Reaktion der universitär Forschenden, deren Reaktion auf das antizipierte Empfinden von Stress, Verantwortungsübernahmen und deren Zurückweisung durch die Medienbildnerin rekonstruiert werden. Dabei zeigen sich auch Thematisierungen und De-Thematisierungen: Emotionen der universitär Forschenden werden im Gespräch nicht so explizit benannt wie die der Filmvermittlerinnen.

Adele Clarke argumentiert, wie relevant Situierung auch während des Forschungsprozesses ist, dies geht wiederum mit einer erhöhten Verantwortungsübernahme einher (Clarke 2012:116 nach Ritter 2024:7). Das zeigt sich besonders für partizipative Settings, in denen Rollen nicht von Anfang an so eindeutig sind wie in klassischen Forschungssettings: Mitunter finden situative Rollenwechsel und damit verbundene Übernahmen von ‚fachfremden’ Aufgaben statt, die innerhalb unseres Projekts teilweise als Überforderung erlebt wurden, wenn sich die Akteur*innen als zunächst unsicher und unerfahren erlebten. Umso mehr gilt es, die Übernahme von Verantwortung bei der Rollenklärung in den Blick zu nehmen. Das bedeutet, dass Emotionen – sowie antizipierte Emotionen anderer – von allen Kompliz*innen artikuliert und ernst genommen werden sollten. Zentral ist das auch für die Wahrung der Gütekriterien sozialwissenschaftlicher Forschung und für die differenzierte Analyse des Forschungsgegenstands (Ritter 2024:22).

Verhandeln von Perspektiven und Lesarten

In den Materialauszügen wurden unterschiedliche Perspektiven deutlich. Diese dienen dem Projektteam als Ausgangspunkt für Reflexionen. Interessen werden sichtbar und dann auch diskutierbar, wie es beispielsweise der durch das Protokoll initiierte Briefwechsel zwischen Kimlotte und Bianca oder der Austausch innerhalb des Projektteams im Kontext der Entstehung dieses Beitrags zeigen. Passend dazu formulieren Kerstin Hallmann et al. (2021), dass die Kollaboration „ein Ort der Kollegialität im Unterschiedlichen [ist]. Eine Tankstelle. Ein Interaktionsraum, in dem ich teilnehmen und teilhaben kann. Ein Ort der Selbstvergewisserung und gleichermaßen Selbstverunsicherung“ (Hallmann et al. 2021:21).

Reflexionsgewinn auf beiden Seiten

In partizipativen Forschungssettings wird die Absicht verfolgt, Veränderungen in Bezug auf Machtverhältnisse auf der Ebene von Subjekten, von Diskursen und Strukturen zu initiieren und zu begleiten (Tanzer / Fasching 2022:3). Das gelingt einerseits durch gemeinsames Handeln in der Interaktion, aber auch durch begleitende Reflexionsprozesse (Hallmann et al. 2021:23). Durch den Aufbau von gegenseitigem Vertrauen (von Unger et al. 2022:5) kann das Äußern von Irritationen bezüglich vermeintlich selbstverständlicher Logiken auf beiden Seiten artikuliert werden (Langer / Richter 2022:150). So erlebten die Kulturschaffenden in unserer Zusammenarbeit die Verwendung von Fachbegriffen aus dem Kontext qualitativer Forschung im Rahmen der Teilnahme an Forschungswerkstätten als hierarchisierend, die universitär Forschenden hingegen hatten beim Verfassen dieses Beitrags in Bezug auf Berufs- und Tätigkeitsbezeichnungen aus dem Kontext Kultureller Bildung den Eindruck, sich ohne Unterstützung der Kulturschaffenden nur unpräzise auszudrücken zu können und zu zentralen Aspekten des Projekts nicht autonom sprachfähig zu sein. Diese Unsicherheiten anzusprechen, bot den Anlass für die reflexive Betrachtung und den Austausch über Vorannahmen und vermeintliche Selbstverständlichkeiten innerhalb der eigenen und der jeweils anderen Disziplin.

Verantwortung übernehmen und reflektieren

Das Verändern von Machtasymmetrien als Ziel partizipativer Forschungssettings steht in Verbindung damit, Verantwortung zu übernehmen und neu zu verteilen, dabei entstehen oftmals „komplexe Abhängigkeiten“ (Hallmann et al. 2021:9). Für akademisch Forschende entstehen dabei vor allem Spannungen zwischen den Anforderungen eines partizipativen Projekts, das einerseits das Einlassen auf den Prozess bedeutet, und andererseits Ansprüchen an Erkenntnisgewinn in einem akademischen Sinne (von Unger et al. 2022:3). Ihnen wird innerhalb der Projekte häufig eine Fürsprechendenrolle für die weiteren Beteiligten zugeschrieben, zugleich sind paternalistische Haltungen mit partizipativer Forschung unvereinbar. Dies betrifft beispielsweise auch die Antizipation der Perspektiven von Forschungsbeteiligten, die auch in den Auszügen oben rekonstruiert wurden. Die Verantwortung füreinander, für das Gelingen des Projekts und für den ethisch verantwortlichen Umgang mit allen am Projekt Beteiligten wird gemeinsam getragen.

Fazit

„Es gibt nicht die endgültige Partizipation, nur die Arbeit daran.“ (Büker et al. 2021:404)

Für uns als Projektkomplizinnen hat das Arbeiten an diesem Text Räume eröffnet: zum einen durch die Analyse der vorgestellten Daten und dabei sichtbar gewordenen Positionierungen und Perspektiven und wiederum dadurch ausgelöste Emotionen; zum anderen durch den Austausch im multidisziplinären Team über diese Prozesse. Als Abschluss dieses Textes wollen wir dazu anregen, in partizipativen Forschungssettings kontinuierlich reflexive Räume zu eröffnen. Die Möglichkeit, sich so detaillierten Analysen einzelner Situationen im gemeinsamen Schreiben zu widmen, setzt natürlich privilegierte Ressourcen im Arbeitsalltag voraus. Kerstin Hallmann et al. (2021) schlagen diesbezüglich vor, gemeinsam Texte zu verfassen und dabei sogenannte „Hacks“ zu verwenden: das Einarbeiten von Assoziationen und Kommentaren zum Geschriebenen von unterschiedlichen Autor*innen in den Text. Für den vorliegenden Beitrag haben wir diesen Zugang modifiziert und an unsere Arbeitsweisen angepasst: Die Medienbildnerin initiierte, Briefe aneinander zu schreiben, in denen wir in weitere Reflexionsschlaufen eintauchten. So konnten wir über diesen Text in Räume der Reflexion eintreten, die uns herausgefordert und intensive Care-Arbeit gefordert, zugleich aber die partizipative Zusammenarbeit im Projekt bereichert haben.

Über Herausforderungen im Kontext von Kollaborationen in partizipativen (Forschungs-)Settings zu reflektieren und sich die einzelnen Aspekte bewusst zu machen, hat immer auch Einfluss auf pädagogische Haltungen in Settings von (Kultureller) Bildung – und auf die Forschungspraxis. Vulnerabilitäten werden sichtbar und berührt: Die Kulturschaffenden sind damit konfrontiert, begleitet und dabei beobachtet zu werden. Das wird, so formuliert es Kimlotte, zum einen als „Honorierung“ der Arbeit und zum anderen mitunter auch als Gefühl, beim „Scheitern“ beobachtet zu werden, empfunden. So werde die Kollaboration zu einem sehr intensiven Betrachten der eigenen Arbeit, schreibt sie weiter. Wir verstehen die genaue Analyse unseres Einstiegs in diese besondere Verbundenheit in einem partizipativen Forschungsprojekt und dessen Reflexion als konkrete Arbeit an Partizipation. Der Austausch unter Kompliz*innen ermöglicht „Sicherheit und Vertrauen“, aber auch das Empfinden von „peinlich berührt“ sein. Durch den schriftlichen und mündlichen Austausch dazu bleiben wir in Kontakt. Räume der Reflexion in partizipativen Settings sind zudem notwendig, um den zeitlichen Druck an bestimmten Stellen herauszunehmen. Darauf nimmt Carmen Bezug, wenn sie unsere gemeinsame Arbeit als „Einladung“ zum Perspektivenwechsel hin zu einem „geteilten Erleben“ beschreibt. Im Arbeitsalltag fehle dazu häufig sowohl Zeit als auch Interesse. Reflexionsräume sind außerdem unerlässlich, wenn Rollen und Funktionen immer wieder neu ausgehandelt werden (Bergold / Thomas 2012:15). In unserem Fall haben die eröffneten Räume in Bezug auf das Datenmaterial die Perspektivenwechsel und Wahrnehmung von Verantwortlichkeiten deutlich geschärft und auch verändert. So haben z.B. die Kulturschaffenden eigene Wege der Datenerhebung entwickelt und wir haben gemeinsam Formate entwickelt, in denen die universitär Forschenden an der Vermittlung Kultureller Bildungsangebote teilhaben.

Dialogisches Reflektieren in gemeinsamen Räumen kann auch in Reflecting Teams geschehen, wie sie Lena Tanzer und Helga Fasching (2022) vorschlagen. Dort wird in drei Schritten eine Diskussion moderiert, geführt, reflektiert und diese Reflexion wiederum reflektiert – dabei nehmen im Wechsel Beteiligte in unterschiedlichen Rollen unterschiedliche Positionen ein (ebd.:19). Die Reflexion in unterschiedlichen Zusammensetzungen von unterschiedlichen Beteiligten eröffnet letztendlich Räume, um die Frage „Who is the research for?“ (Genat 2015:162) zu stellen und zu beantworten. Carmen formuliert dazu folgende Fragen, die sich aus dem Projekt und der Zusammenarbeit ergeben haben: „Kann Kunst unseren Blick auf die Welt verändern? Kann künstlerische Praxis bestehende Strukturen und Abläufe durchrütteln – oder gar transformieren? Und: Wie viel Nachhaltigkeit steckt in einem solchen Projekt?“ Für Kimlotte öffnet sich dabei eher die Perspektive bzw. Option, als Medienbildnerin auch erziehungswissenschaftliche Konzepte mitzunehmen.

Neben gemeinsamen Räumen wollen wir uns auch für getrennte Räume der Reflexion für die unterschiedlichen disziplinären Teams stark machen (von Unger 2012:25). Um Artikulation von Emotionen, deren Dezentrierung und die Reflexion dessen für Forschende zu ermöglichen, schlagen Hella von Unger et al. (2022) Reflection Labs vor. Diese können Safer Spaces eröffnen, in denen Perspektivitäten und damit zusammenhängende Folgen für die Zusammenarbeit in Bezug auf Verantwortung getrennt voneinander reflektiert werden. Sie ermöglichen somit auch einen verantwortungsvollen Umgang mit Emotionen, die in einem gemeinsamen Austausch (zunächst) keinen Platz finden. Dafür haben die Kulturschaffenden im internationalen Projektkontext eigene Reflexionstreffen initiiert, die sie nutzen, um auch die Kollaboration mit den jeweiligen Forschenden (macht-)kritisch in den Blick zu nehmen.

Bill Genat beschreibt, dass nach der Entwicklung eines partizipativen Settings, in dem sich Vertrauen und gegenseitiges Verstehen entwickelt haben, Raum entstanden ist, in dem Herausforderungen zu potenziell zu beforschenden Fragestellungen werden können (Genat 2015:162). So hat sich aufgrund der Reflexion in diesem Text die Frage ergeben, inwiefern unsere Kollaboration selbst Forschungsgegenstand ist. Daraufhin haben wir u.a. den Text auf die Beantwortung dieser Frage ausgerichtet. Partizipation bedeutet eine nicht abgeschlossene Arbeit, die auf der Übernahme von Perspektiven und dem verantwortungsbewussten Umgang damit aufbaut. 

Verwendete Literatur

  • Baßler, Bianca (2024): (De-) Thematisierung von Macht und Ungleichheit: Eine ethnografische Untersuchung in der Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Bergold, Jarg / Thomas, Stefan (2012): Partizipative Forschungsmethoden: Ein methodischer Ansatz in Bewegung. In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 13(1).
  • Breuer, Franz (2010): Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS.
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Bianca Baßler, Fenna tom Dieck (2025): Kulturelle Bildung trifft partizipative Forschung – Ziele und Herausforderungen in der Startphase multidisziplinärer Kollaboration. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-trifft-partizipative-forschung-ziele-herausforderungen-startphase (letzter Zugriff am 28.06.2025).

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