Kulturelle Bildung und Tanz unter dem Vorzeichen der Digitalität. Eine explorative Studie mit Senior*innen im Elementaren Tanz

Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEU-START KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland. Durchgeführt im Auftrag des Elementaren Tanz e.V. Köln

Artikel-Metadaten

von Michael Obermaier, Rita Molzberger

Erscheinungsjahr: 2023

Abstract

Die vorliegende Kurzzusammenfassung einer explorativen Studie zur digitalen kulturellen Bildung im Tanz bei Senior*innen untersuchte die Potentiale der Umstellung eines analogen auf ein – pandemiebedingt – digitales Tanzangebot (N=63) bei nicht medienaffinen Menschen im Alter zwischen 68 und 83 Jahren (N=12). Das zentrale Erkenntnisinteresse lässt sich auf drei Dimensionen verorten: Erstens auf den Erhalt körperlicher Fitness und des physiologischen Wohlbefindens durch digitale Angebote im Tanz. Zweitens, mit Blick auf die psychosoziale Komponente, zielte die Untersuchung auf den Aufbau und die Stärkung von Medienkompetenz, um – drittens – speziell während des Lockdowns soziale Teilhabe, bestehende Beziehungen und gemeinschaftliche Erlebnisse insbesondere der im Tanz so zentralen ästhetisch-sinnlichen Ausdrucksform weiterhin zu erhalten.
Die beschriebene Studie liefert viele Hinweise darauf, dass auch Tanzangebote im digitalen Raum für wenig medienaffine Senior*innen ein großes Unterstützungspotential sowohl auf der physiologischen als auch auf der psychosozialen Ebene bieten können.
Mit Blick auf neue digitale Technologien und kulturelle Entwicklungen machen diese Ergebnisse Hoffnung, dass in Zukunft Programme und Angebote im Kontext von Mobile Health für Senior*innen in stärkerem Maße auf Lebensstil, Fitness und Wohlbefinden, vor allem aber auf soziale Teilhabe, aktive Teilnahme und somit auf gemeinschaftliche Erlebnisse abzielen. Die Langfassung der Studie finden Sie hier.

Rahmendaten, Fragestellung und Design der Studie

Rahmendaten

Im Zeitraum von März 2021 bis November 2022 wurde das Forschungsprojekt Digitale Kulturelle Bildung im Tanz bei Senior_innen (dikuBiTaS) vom Kölner Institut für Forschung und Transfer in Kindheit und Familie (foki) der Katholischen Hochschule NRW durchgeführt. Entscheidend für die Durchführung der Studie waren vor allem die aktuellen pandemischen Entwicklungen, die insbesondere nach dem Lockdown für Menschen im Pensionsalter eine doppelte Gefährdung bedeuteten: Soziale Isolation mit psychosozialen Folgen und motorische Regression mit physiologischen Folgen.

Konkret nahmen an dem hier evaluierten Angebot 12 Frauen im Alter zwischen 68 und 83 Jahren regelmäßig teil. Das Leistungsniveau innerhalb dieser Gruppe streut stark und die Teilnehmer*innen haben, neben altersbedingten Einschränkungen, einerseits mit Vorerkrankungen (etwa Krebserkrankung, Herzkreislauferkrankung, Lungenamputation, Hüftgelenkersatz) und andererseits mit chronischen Beeinträchtigungen unterschiedlicher Intensität (Darmerkrankung, Arthrose) zu kämpfen. Für alle Teilnehmer*innen war die Beteiligung an einem digitalen Tanzangebot neu, der Großteil hatte keinerlei Vorkenntnisse in der Bedienung von Tablets und niemand hatte Erfahrungen mit kollaborativen digitalen Formaten und der Anwendung von Videokonferenzsoftware.

Fragestellung

Im Rahmen des hier evaluierten digitalen Tanzangebots (ein vom Elementaren Tanz e.V. getragenes Projekt „Ein digitales Tanz-Abenteuer für Senior*innen. Förderung einer vernachlässigten Gruppe im Tanz“) wurden zwei Stränge verfolgt. Einerseits wurde mit Blick auf die körperliche Fitness und das physiologische Wohlbefinden versucht, das bislang analog stattfindende, wöchentliche Tanzangebot durch ein digitales Angebot zu kompensieren, um so die Kontinuität im Training zu gewährleisten. Andererseits, mit Blick auf die psychosoziale Komponente, zielte das Projekt auf den Aufbau und die Stärkung von Medienkompetenz, um speziell während des Lockdowns soziale Teilhabe, bestehende Beziehungen und gemeinschaftliche Erlebnisse vor allem im Sinne der tänzerisch-ästhetisch-sinnlichen Ausdrucksform weiterhin zu erhalten.

Dazu wurden alle teilnehmenden Senior*innen mit der entsprechenden technischen Infrastruktur (Internetzugang, iPads, Videokonferenzsoftware, etc. ) ausgestattet, in der Anwendung geschult (zwei Schulungen durch professionellen Trainer) und so die Grundlagen gelegt für die im Zeitraum März 2021 bis Juli 2021 dreimal wöchentlich stattfindenden Angebote (N=63 Kurse) im Bereich digitaler kultureller Bildung im Tanz. Entlang dieser Projektstruktur ergaben sich drei Themenkomplexe, welche die vorliegende Untersuchung bestimmen:

Abbildung 1: Themenkomplexe der Untersuchung

Verortung des digitalen Tanzangebotes innerhalb der Gesundheitsversorgung

Das hier evaluierte Projekt lässt sich einem zunehmend expandierenden Bereich der Gesundheitsversorgung zuordnen: dem Bereich der sog. M-Health (mobile health), einem der Telemedizin und E-Health verwandten Feld. M-Health, so der Achte Altersbericht (2020:87) mit dem Schwerpunkt Ältere Menschen und Digitalisierung, „geht über Telemedizin insofern hinaus, als hier auch gesundheitsnahe Dienstleistungen angesprochen sind, die nicht einzig auf Prävention, Therapie oder Nachsorge von Erkrankungen, sondern in stärkerem Maße auf Lebensstil, Fitness und Wohlbefinden abzielen.“

Das hier untersuchte Projekt übersteigt durch die interaktiven und kollaborativen Komponenten das Spektrum gängiger E-Health Angebote bei weitem und schafft so den Rahmen für neue Formen von Referentialität und Gemeinschaftlichkeit (vgl. Stalder 2019:95).

Neben dem Boom in Telemedizin, E-Health und M-Health besonders für Senior:innen hat die Pandemie ganz deutlich vor Augen geführt, dass das Digitale auch bei dieser Altersgruppe längst Alltagswirklichkeit ist, wie dies Luciano Floridi (2017:295) trefflich ins Wort bringt: „In Wahrheit sind wir weder on- noch offline, sondern onlife: Wir leben zunehmend in diesem besonderen Raum, der sowohl analog als auch digital, sowohl online als auch offline ist.“

Forschungsdesign

Der Studie liegt ein in drei sequenziellen Stufen aufgebautes Mixed-Methods-Design zugrunde, wie dies Abbildung 2 illustriert. Detaillierte Ausführungen zum Forschungsdesign sowie die ausführliche Darstellung der Forschungsergebnisse sind in der Originalfassung des Abschlussberichts der Studie zu finden (vgl. Obermaier, Molzberger 2022).

Abbildung 2: Mixed-Methods-Design in drei sequenziellen Stufen

Kurzzusammenfassung der Ergebnisse

Zusammenfassung der quantitativen Ergebnisse

Die vorliegende Studie hatte primär explorativen Charakter und untersuchte die Wirkung eines pandemiebedingt in den digitalen Raum verlagerten Tanzangebotes für elf Senior*innen im Alter zwischen 68 und 83 Jahren (Versuchsgruppe). Dabei standen die Einschätzungen der Auswirkungen des Online-Tanzangebotes (Moderner Tanz) sowohl auf der psychosozialen (Wohlbefinden, Einsamkeit, Depression, …) und kognitiven (Medienkompetenz) als auch auf der physiologischen Ebene (Fitness oder Konzentrationsfähigkeit) im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Zur Kontrastierung wurde die vom Zentrum für Altersfragen generierte Stichprobe (DZA-Vergleichsgruppe, N=2792) herangezogen, so dass sich folgende Ergebnisse skizzieren lassen:

  • Die Versuchsgruppe fühlt sich um 11,73 Jahre jünger als sie tatsächlich sind (DZA-Vergleichsgruppe 9,17 Jahre) und schätzt andere erst mit 82,73 Jahren als „alt“ ein, in der DZA-Vergleichsgruppe liegt die Altersgrenze bei 78,32 Jahren.
  • Die Lebenszufriedenheit und das Alterserleben sind in beiden Gruppen als hoch einzuschätzen, die Versuchsgruppe meldet zumeist etwas höhere Werte zurück (M+05).
  • Mit Blick auf die körperliche Aktivität unterscheiden sich beide Gruppen stark; während die Versuchsgruppe täglich bis mehrmals in der Woche Sport treibt, ist dies in der DZA-Vergleichsgruppe einmal in der Woche oder seltener der Fall.
  • Die Internetaktivitäten beider Gruppen sind als gering einzuschätzen, zumeist wird das Internet zum Zweck der Kontaktnahme mit Freunden oder zur Unterhaltung genutzt. Online-Gottesdienste, medizinische Beratung oder die Suche nach neuen sozialen Kontakten liegt außerhalb des Nutzungsspektrums fasst aller befragten Personen. Lediglich in der Erzeugung eigener digitaler Inhalte zeigt die Versuchsgruppe deutlich höhere Aktivitäten (1- bis 3-mal im Monat).
  • Das Online-Tanzangebot (N=63 Kurse) hat alle Teilnehmer*innen bereichert, ebenso der Tableteinsatz im Online-Unterricht.
  • Obschon sich die Teilnehmer*innen nur bedingt als medienkompetent bezeichnen, so werden alle das Tablet weiter nutzen, 70% fühlen sich gar nicht, 10% eher nicht und 0% völlig überfordert; 25% schätzen, dass sie mit Blick auf ihre Sicherheit im Umgang mit digitalen Medien durch das Kursangebot eher nicht dazu gewonnen haben, für 75% hingegen ist dies schon der Fall.
  • Bezogen auf den Tanz schätzen die elf Teilnehmer*innen die Online-Angebote als sinnvolle Ergänzung von Präsenzkursen ein, wobei die Online-Angebote für 72% keinen Ersatz für Präsenzunterricht in der Halle darstellen.
  • Für alle Beteiligten war die Umstellung von analog auf digital „einfacher als gedacht“, so dass sich alle „schnell auf die Situation“ einstellen konnten.
  • Über 90% wollen auch in Zukunft Online-Angebote im Tanz nutzen.
  • Obwohl die Einschätzungen hier streuen, schadet der Online-Unterricht für über die Hälfte der Befragten kaum oder gar nicht dem Gruppengefühl; 18% finden, dass Online-Angebote dem Gruppengefühl schaden.
  • Mit Fokus auf die körperliche Fitness geben 73% an, dass sie keinesfalls so fit durch den Lockdown gekommen wären, für die verbleibenden 27% war dies eher der Fall.
  • Daran anschließend klärt sich auch eine zentrale Motivation für den Besuch der Tanzangebote: Die Aussage „Ich tanze, um körperlich fit und gesund zu bleiben“ trifft für 72% voll und ganz und für 18% eher zu.
  • 100% geben an, dass das regelmäßige Tanzen ganz allgemein ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens ist und starke bis sehr starke Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden sowie die Konzentrationsfähigkeit hat, bei über 80% der Teilnehmer*innen trifft dies auch auf den Bereich der Selbstsicherheit und auf den Zugewinn an Wissen über die eigene Person und den eigenen Körper zu.
  • So stellt das Tanzen für 50% reine Selbsterfahrung dar, für 40% trifft dies eher zu. Damit korrespondiert auch die Aussage von über 80% der Befragten, dass sie sich beim Tanzen nicht mit anderen vergleichen.
  • Und schließlich zeigt sich die alltagsstrukturierende Funktion von regelmäßigen Kursangeboten, für 100% ist dies eine starke (64%) bis sehr starke (36%) Hilfe, ihren Alltag zu strukturieren.

Zusammenfassung der qualitativen Ergebnisse

Neben eher erwartbaren Ergebnissen, die die Befragungsergebnisse stützten oder illustrierten, zeigte sich auch Überraschendes in den Antworten der intensiven Interviewrunde in der zweiten Stufe, der kommunikativen Validierung (vgl. Mayring 2015). Es wurden Problemzentrierte Interviews (vgl. Witzel 2000) geführt und der Inhalt anschließend inhaltlich strukturierend analysiert (vgl. Kuckartz 2018). Dies soll nun in aller Kürze dargestellt werden.

Nutzungsverhalten und Sozialität

Die Nutzung von Tablet und Internet stellte alle Befragten, die sich teilweise selbst als digitale Analphabet*innen verstanden, zunächst vor große Herausforderungen. Dank Schulungsangebot und flankierender Begleitung, die als notwendig und auch weiterhin erwünscht markiert wird, wurden diese Herausforderungen jedoch angemessen gemeistert. So hat sich das Nutzungsverhalten von digitalen Angeboten seit Beginn des digitalen Tanzangebotes insgesamt verändert und intensiviert. Zugleich zeigten die Befragten ein großes Problembewusstsein in Bezug auf das Veröffentlichen von Inhalten im Internet und anderen Risikofaktoren.

In Hinsicht auf soziale Aspekte des digitalen Tanzangebots wurden Unterschiede zum analogen Angebot benannt; analoges Zusammensein wird als motivierender wahrgenommen. Die Spannung, die sich innerhalb der Halle aufbaue, sei unter digitalen Bedingungen nicht gegeben, auch das Gruppengefühl sei weniger intensiv. Dennoch wird das Vorhandensein des digitalen Angebots als gruppenstärkend empfunden:

Ja, ich glaube auch, die Erfahrung, dass wir das als Gruppe zusammen gemeistert haben, dass wir alle zusammengeblieben sind, das schweißt insgesamt zusammen.“ (00:28:07:22 - 00:28:43:12)

Als das Technische einmal bewältigt war, wurden seitens der bereits miteinander vertrauten Mitglieder – abgesehen vom begrenzten Platzangebot zuhause – kaum noch Hürden empfunden:

„Also kann ich gerne bestätigen, das digitale Medium stört mich überhaupt nicht. Das ist für mich gar nicht da. Ich tanze das, was ich gerne möchte.“ (00:23:29:22 - 00:23:40:10)

Neue Mitglieder hatten es aufgrund der digitalen Bedingungen etwas schwerer, a) die Gruppenatmosphäre zu spüren und sich b) auf die Musik einzulassen.

Gemeinsam in einem digitalen Raum zu sein war für das leibliche Empfinden eine ambivalente Erfahrung; während einige meinten, man habe sich besser „verstecken“ können, empfanden andere dies gerade gegenteilig. Interessant ist hier das Erleben bzw. Benennen von Intensität:

„Die Halle ist größer, aber auf dem Bildschirm war es intensiver. In der Halle verliert sich das auch, wenn man zwei Leute beobachten muss, weil wenn man zwei oder drei auf dem Bildschirm sieht, das ist viel intensiver, da sieht man jede Bewegung.“ (00:23:40:24 - 00:24:12:20)

Die Selbstwahrnehmung unterlag dabei kaum nennenswerter Veränderung. Auch von stärkeren unangenehmen Gefühlen (Angst, Scham) wurde selbst auf Nachfrage nicht berichtet.

Kognition und Wissen

Kognitive Aspekte haben dagegen größeres Gewicht: Auswirkungen auf Konzentrationsfähigkeit, geistige Wendigkeit und Gedächtnis werden bestätigt. Die Rolle der regelmäßigen Übung und der Wiederholung wird betont

„Jede Bewegung besteht ja aus vielen einzelnen Punkten und die Achtsamkeit, diese Kurve zu bilden, erfordert Übung. Und wenn man die erhalten will, dann muss man es wiederholen. Deswegen ist es ganz wichtig, möglichst oft da zu sein.“ (00:34:19:05 - 00:34:42:20)

Auch Wissenszuwachs spielt für die Teilnehmenden eine große Rolle. So wird sowohl das Wissen über den eigenen Körper und seine Funktionen als auch Wissen im Bereich der allgemeinen und der ästhetischen Bildung als stets wachsend thematisiert:

„[Die Kursleitung] ist sehr zu loben. Sie hält mitunter zehn Minuten vor Schluss oder auch nach Schluss ein Referat was Bezug nimmt auf das, was wir gemacht haben und gibt einen schönen Hintergrund. Das macht richtig Spaß einzuordnen.“ (00:35:22:02 - 00:35:37:04)

Psychologische Anteile

Auf psychologischer Ebene zeigte sich der Punkt „Altersempfinden“ als zentral. Die Befragten schätzten sich im Vergleich zur DZA-Gruppe um mehr als 9 Jahre jünger ein. Jung ist körperliche Fitness, aber auch, etwas Neues zu wagen, das Bekannte häufig zu variieren, Wendigkeit, Reflexion und eine Haltung des Hinterfragens. Es geht insgesamt um Beweglichkeit – körperlich und kognitiv.

Diese Fähigkeit wird nach Einschätzung der Teilnehmer*innen durch das Tanzen aufgebaut und unterstützt:

„Ich finde ja, das ist ganz wichtig, dass man diese Grenze offenlassen kann, ja und dann nicht sagen ‚nicht in diesem Alter‘. Normalerweise machen Leute das nicht, aber für mich mindestens ist das kein Argument. Probier mal! Wenn es geht, dann geht es; wenn es nicht geht, dann versuch es doch. Ja, das ist ganz, ganz wichtig.“ (00:43:56:22 - 00:44:26:02)

Zusätzlich zur Selbsteinschätzung werden auch andere Menschen als weniger alt eingeschätzt. Insgesamt ist ein überdurchschnittlich positives Bild vom Älter-Sein vorherrschend.

Es wird deutlich, dass die digitalen Angebote während der Pandemie zum Wohlbefinden der Teilnehmenden beigetragen haben. Betont wird vor allem das Glücksgefühl, das sich beim Tanzen einstelle, verbunden mit der Freude, die anderen Beteiligten zu treffen (auch bei digitalen Treffen). Die Auswertung der Fragebögen hatte bereits ergeben, dass über 70% der Beteiligten angab, dass ohne das regelmäßige Tanzen etwas Wichtiges in ihrem Leben fehlen würde. Im Rahmen des Interviews konkretisierte sich diese Einschätzung.

Alltagsrelevanz entfaltet das Tanzangebot aber auch insofern, als es als verlässlicher Quell freudvoller Erfahrung erlebt wird, der zusätzlich strukturierende Wirkung hat. Es scheint den Teilnehmenden daher im Alltag unverzichtbar (insbesondere während des Lockdowns, wo sonstige Termine wegfielen). Es wird als zentral für Teilhabe und Teilnahme empfunden.

„Es hat dem Tag einfach eine Struktur gegeben und die braucht man.“ (00:50:11:19 - 00:50:18:11)

Partizipation und Teilhabe

Das digitale Angebot wird mit einer Reihe positiver Aspekte verbunden. Genannt wird nicht nur der eher pragmatische Punkt der Zeitersparnis durch wegfallende Wege, sondern auch die Raum- und Zeitunabhängigkeit, das Erleben einer Normalisierung des Digitalen (s.o.), die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit sowie ein neuer und erweiterter Analysezugang durch die technischen Möglichkeiten (Zoomen, Stoppen, Wiederholen, Zeitlupe, unterschiedliche Perspektiven).

Digitales und Analoges stehen demnach nicht in Konkurrenz, sondern in einem Ergänzungsverhältnis. Das Digitale erweitert die Zugangsmöglichkeiten erheblich und fördert Toleranz und Offenheit. So wird für Kulturelle Vielfalt sensibilisiert.

„Aber diese digitale Welt gibt ja sehr viel Zugang zu irgendwelchen Tanzdarbietungen weltweit. Die einen dann sehr tolerant werden lässt, sodass man mit den eigenen Muskeln nicht mehr so spielt, um es mal so zu sagen. Und es zeigt neue Ziele, man muss sie ja nicht erreichen, aber Sehen und Sehnen ist bestimmt interessant.“ (01:18:03:21 - 01:18:33:09)

Digitale Möglichkeiten eröffnen Horizonte, wobei diese Offenheit als grundlegend und positiv für Neuerungen an sich sowie als Grundlage Kultureller Bildung bewertet wird.

Gesundheit, Fitness, Kulturelle Bildung

Wie oben bereits angerissen, wird dem Tanzangebot – digital wie analog, hier sind keine signifikanten Unterschiede festzustellen – besonderer Wert beigemessen. Im Unterschied zum Betonen des rein Physischen, Individualistischen, Kompetitiven/ Bewertenden und Funktionalen ohne besondere Erlebnisqualitäten des Fitnessangebots, ermögliche der Tanz neben sozialer Teilhabe ein bio-psychosoziales Erleben besonderer Art:

„Aber Tanzen ist für den ganzen Körper, für Seele, Herz, Emotionen. Alles ist frei und losgelöst, wenn man sich braucht. Also das im Verhältnis [zur Fitness]. Und ich finde, jedes hat seine Berechtigung. (01:11:50:12 - 01:12:09:11)

Gesundheit als multidimensionales Phänomen wird durch das Tanzangebot besonders erlebt. Hierbei ist interessant, dass seitens der Befragten der durchweg der Aspekt „Bildung“ dem Aspekt „Gesundheit/Fitness“ vorgeordnet wird. Letztere werden als Voraussetzung für das eigentlich Intendierte, nämlich das Tanzen als kulturelle Bildungserfahrung, verstanden. Fitness ist nötig, um weiter tanzen zu können:

„Ich mache das auch, um hier zu bleiben, aber in erster Linie, um zu tanzen. Der Tanz hat für mich eine eigene Qualität.“ (01:15:29:19 - 01:15:36:24)

Quer zu allen im Fragebogen erhobenen Daten und den weiterführenden Interviewfragen zeigte sich in Antworten aller Themenbereiche, dass die Rolle der anleitenden Person als zentral und für alles Gelingen bestimmend erlebt wird. Wie das Angebot gestaltet wird, ob und inwiefern Didaktik und Methodik transparent gemacht werden, wie die individuellen Gegebenheiten der Teilnehmer*innen berücksichtigt werden – all das wird als durchweg positiv erlebt.

Expert*innenworkshops

Nach Abschluss der kommunikativen Validierung wurden mit den Beteiligten letzte Korrekturen in der Interpretation des Materials vorgenommen, so dass nun zwei Expert*innenworkshops mit 18 Teilnehmer*innen (siehe auch hierzu den ausführlichen Abschlussbericht mit Anhang) realisiert werden konnten, um so die validierten Ergebnisse mit Blick auf zukünftige Forschungsbedarfe, Transferoptionen und kulturpolitische Handlungserfordernisse zu diskutieren.

Neben der Reflexion des Designs und forschungsmethodologischen Vorgehens wurden die Ergebnisse entlang von den unten aufgeführten, vier zusammenfassenden Thesen zunächst quantitativ vorgestellt, mit Ankerbeispielen illustriert und anschließend offen diskutiert:

  1. Digitale (Tanz)Angebote öffnen gesellschaftliche Zugänge und befördern Inklusion und Partizipation.
  2. Digitales und analoges Tanzen haben positiven Einfluss auf das psychische Alterserleben.
  3. (Digitale) Tanzangebote wirken bei Senior*innen förderlich auf biopsychosozialer Ebene.
  4. Fitness ist dem Tanz nachgeordnet.

Ausblick

Die vorliegende Studie liefert viele Hinweise darauf, dass auch Tanzangebote im digitalen Raum für wenig medienaffine Senior*innen ein großes Unterstützungspotential sowohl auf der physiologischen als auch auf der psychosozialen Ebene bieten können. Im Konkreten zeigte sich, dass die Umstellung des bislang analog stattfindenden, wöchentlichen Tanzangebotes auf ein digitales Online-Angebot durch die Verbindung von medienpädagogischen und tanzpädagogischen Arrangements von den Adressat*innen leicht zu bewältigen war, so dass das Angebot auf sehr hohe Akzeptanz stieß und somit auch das entwicklungsförderliche Potential entfalten konnte.

Mit Blick auf neue digitale Technologien und kulturelle Entwicklungen lässt dies darauf hoffen, dass Engführungen überwunden und die oftmals allzu engen Begriffe von „Bildung“ und „Gesundheit“ entsprechend erweitert werden. Im Kontext von Mobile Health für Senior*innen sollten in Zukunft Programme und Angebote nicht nur auf Lebensstil, Fitness und Wohlbefinden abheben, sondern vor allem auf soziale Teilhabe, aktive Teilnahme und somit auf gemeinschaftliche Erlebnisse, die die je neu gemeinsam zu findende Spannung von Nähe und Distanz konkret ausbuchstabieren, sodass Bildung als „existenzielles Wagnis“ zwischen „Entfremdung und veränderter Selbstwerdung“  ermöglicht wird (ausführlich hierzu Obermaier, Molzberger 2023).

Schließlich fordern die Ergebnisse dieser explorativen Studie auf, nicht bei der Fokussierung auf Algorithmizität und der Entwicklung sogenannter Gesundheits-Apps für mobile Endgeräte sehr unterschiedlicher Art (wie Smartphone, Tablet, Smart Watch) stehen zu bleiben. Vielmehr ist die evidenzbasierte Entwicklung neuer Formen der Gemeinschaftlichkeit, des sinnlich-ästhetischen Erlebens und der Kollaboration ins Zentrum der Anstrengungen zu rücken, um eine zukunftsfähige und inklusive Kultur der Digitalität zu befördern (vgl. Stalder 2019).

Vermittlungskonzepte des Modernen Tanzes scheinen durch die konzeptionelle Offenheit dafür einen besonders geeigneten Praxis- wie Forschungsraum Kultureller Bildung zu bieten, sicherlich nicht nur für und mit Senior*innen. Hier ist insbesondere mit Blick auf die pädagogisch-künstlerischen Grundlagen der Tanzvermittlung Forschungsbedarf angezeigt.

Verwendete Literatur

  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020): Achter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland Ältere Menschen und Digitalisierung und Stellungnahme der Bundesregierung. Berlin: Bundesdruckerei.
  • Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA) (2021): Fragebogen der DEAS-Kurzbefragung 2020. Berlin: DZA.
  • Engstler, Heribert (2021a): Deutscher Alterssurvey (DEAS): Kurzbeschreibung des SUF DEAS2020, Version 1.0. Herausgegen vom Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA). Berlin: DZA.
  • Engstler, Heribert (2021b): Deutscher Alterssurvey (DEAS): Codebuch des SUF DEAS 2020 Kurzbefragung, Version 1.0. Herausgegen vom Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA). Berlin: DZA.
  • Floridi, Luigi (2017): Die Mangroven-Gesellschaft. Die Infosphäre mit künstlichen Akteuren teilen. In: Otto, Philip; Gräf, Eike (Hrsg.). 3Th1CS – Die Ethik der digitalen Zeit. Berlin: iRights.Media.
  • Kuckartz, Udo (2018): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Beltz.
  • Mayring, Philip (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12., überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz.
  • Obermaier, Michael/Molzberger, Rita (2022): Digitale kulturelle Bildung im Tanz bei Senior:innen [diku BiTaS]. Eine explorative Mixed-Methods-Studie am Beispiel des Elementaren Tanzes. Abschlussbericht. Köln: o.V.
  • Obermaier, Michael/Molzberger, Rita (2023): Dis-Tanzen – Digitale Kulturelle Bildung im Tanz bei Senior*innen. Empirische Annäherungen und bildungspolitische Perspektiven. In: Zeitschrift für Pastoraltheologie. Themenheft Nähe. 43 Jg. H. 1/2023. (Im Erscheinen).
  • Stalder, Felix (2019): Kultur der Digitalität. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Witzel, Andreas (2000): Das problemzentrierte Interview. In: Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum: Qualitative Social Research. H 1(1), Art. 22, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0001228

Anmerkungen

Danksagung:

Wir danken Laura Schurff vom Institut für Forschung und Transfer in Kindheit und Familie (foki) für die engagierte Hilfe bei der Erstellung dieser Kurzfassung.

Die Langfassung der Studie finden Sie hier.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Michael Obermaier, Rita Molzberger (2023): Kulturelle Bildung und Tanz unter dem Vorzeichen der Digitalität. Eine explorative Studie mit Senior*innen im Elementaren Tanz. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-tanz-unter-dem-vorzeichen-digitalitaet-explorative-studie-senior-innen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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