Kulturelle Bildung für nachhaltige Entwicklung
Nachhaltige Entwicklung gilt als eine globale Herausforderung und als Leitbild des 21. Jahrhunderts. Erreicht werden kann sie jedoch nur, wenn auch ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit stattfindet, der sich im Denken und Handeln der Menschen widerspiegelt. „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) stellt den Schlüssel einer solchen Entwicklung dar (siehe: Eva Leipprand „Kultur, Bildung und Nachhaltige Entwicklung“).
Bildung für nachhaltige Entwicklung soll Menschen dazu befähigen, an der „nachhaltigen“ Gestaltung ihres eigenen und des gesellschaftlichen Lebens verantwortlich und aktiv mitzuwirken. Ziel ist die Herstellung und Erhaltung von Zukunftsfähigkeit bei einer möglichst ausgewogenen Berücksichtigung ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit, ökologischer Verträglichkeit, kultureller Vielfalt und sozialer wie auch globaler Gerechtigkeit.
Neben die ethischen Prinzipien von Menschenwürde, Mitbestimmung und Gleichheit tritt dabei die Verantwortung für den Erhalt und die gerechte Nutzung der natürlichen Lebensgrundlagen (Stoltenberg 2008:34). Die Lebensqualität der gegenwärtigen Generation soll deshalb ebenso gesichert sein, wie die Wahlmöglichkeiten zukünftiger Generationen zur Gestaltung ihres Lebens (vgl. WCED 1987:8). BNE fragt nach zentralen lokalen und globalen Wechselwirkungen und Verantwortlichkeiten und vermittelt Kompetenzen zur Mitgestaltung, Problemlösungs- und Handlungsfähigkeit.
Von der Agenda 21 zur Bildung für nachhaltige Entwicklung
Grundlage für die Verbreitung des Bildungskonzeptes BNE und seiner politischer Verankerung war das 1992 auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro verabschiedete umwelt- und entwicklungspolitische Aktionsprogramm „Agenda 21“. Das Programm sollte dem Streben der Entwicklungsländer nach sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Wachstum und dem Wunsch der Industrieländer nach mehr Umweltschutz gleichermaßen gerecht werden und die unterschiedlichen Zukunftsinteressen vereinen. Ziel war es, das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung, das ökologische und ökonomische sowie soziale Faktoren gleichermaßen berücksichtigt, weltweit in alle gesellschaftlichen Handlungsfelder hineinzutragen und als Leitlinie öffentlichen Handelns zu etablieren und zu verankern. Der Bildung wurde dabei eine besondere Rolle zugeschrieben (vgl. BMU o.J.:Kapitel 36).
Zehn Jahre später wurde Bildung gar als Schlüsselkatalysator zur nachhaltigen Entwicklung auf dem Weltgipfel Rio+10 in Johannesburg (2002) hervorgehoben. Allein durch sie könne der notwendige Wandel erreicht werden, denn ohne Bildung kann kein Wissen, keine Persönlichkeitsentwicklung und letztlich auch keine soziale und gesellschaftliche Teilnahme und Verantwortungsübernahme gefördert werden. Auf Empfehlung des Weltgipfels in Johannesburg rief die Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York noch im gleichen Jahr von 2005 bis 2014 die Weltdekade (UN-Dekade) für „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ aus. Im Mittelpunkt der Zielvereinbarungen steht der mentale Wandel zu mehr Nachhaltigkeit durch die Vermittlung von Verhaltensweisen und Lebensstilen, die eine lebenswerte Zukunft ermöglichen und die Weltgemeinschaft positiv verändern. Die UN-Mitgliedstaaten verpflichteten sich, das Leitbild in ihre nationalen Bildungssysteme und -strategien zu integrieren.
Politische Grundlagen der Verbreitung und Umsetzung von BNE in Deutschland
In Deutschland wurde der Nachhaltigkeitsgedanke 1994 in Bezug auf die staatliche Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen der künftigen Generationen als Staatsziel in Artikel 20a im Grundgesetz verankert. In den Jahren 1998 und 2000 haben die Bundesregierung und die Bundesländer das Bildungskonzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ als übergreifende Aufgabe für alle Bildungsbereiche formuliert und als Ausgangspunkt zur Weiterentwicklung einer zukunftsfähigen Bildungspolitik benannt (vgl. Deutscher Bundestag 2000:2, BLK 1998:4). Es folgten weitere Beschlüsse, Berichte und Programme des Deutschen Bundestages, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (z.B. „Transfer 21“), der Bund-Länder-Kommission (BLK-Programm „21“) und der Kultusministerkonferenz, in denen BNE verankert und explizit als Herausforderung für das Bildungssystem benannt werden.
Seit 2005 setzt die Deutsche UNESCO-Kommission (DUK) auf Grundlage eines einstimmigen Bundestagsbeschlusses die UN-Dekade BNE in einem nationalen Aktionsplan um. Sie verfolgt dabei vier strategische Ziele: Die Weiterentwicklung und Bündelung nachhaltiger Aktivitäten sowie den Transfer guter Praxis in die Breite, die Vernetzung der Akteure der Bildung für nachhaltige Entwicklung, die Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung von BNE und die Verstärkung internationaler Kooperationen (BMBF 2005:11ff.). Zur Realisation, Verbreitung und Diskussion des Konzeptes wurden verschiedene Gremien wie ein Nationalkomitee, ein jährlich stattfindender Runder Tisch mit mehr als 100 Mitgliedern aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft sowie Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen und Bildungsbereichen einberufen, unter anderem aus der außerschulischen Bildung, aus der beruflichen Aus- und Weiterbildung, aus Hochschulen sowie aus der schulischen Bildung. Zusammen mit diesen Akteuren ruft die DUK zu lokalen, kommunalen und nationalen Bildungsprogrammen und -maßnahmen im Kontext BNE auf, zeichnet gute Praxis als UN-Dekade-Projekte aus und veröffentlicht diese im BNE-Portal (www.bne-portal.de).
Trotz über 1.500 ausgezeichneten UN-Dekade-Projekten ist fast 20 Jahre nach der Verabschiedung der Agenda 21 und sieben Jahre nach Beginn der UN-Dekade die Verankerung von BNE im non-formalen wie auch im formalen Bildungssektor in Deutschland nur begrenzt gelungen. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Projekte findet nur eine punktuelle Umsetzung einzelner BNE-Elemente statt. Der Anspruch einer umfassenden Durchdringung des individuellen und institutionellen Denkens und Handelns mit den Prinzipien und Handlungsparadigmen der BNE wird in der Regel nur in Ansätzen eingelöst (Michelsen u.a. 2011:20f.).
BNE als Leitbild Kultureller Bildung?
Bereits seit nahezu zwei Jahrzehnten unterstützen zahlreiche NachhaltigkeitsexpertInnen und -gremien, WissenschaftlerInnen, Kulturinstitutionen und -verbände, wie die UNESCO, der Rat für Nachhaltigkeit, die Kulturpolitische Gesellschaft, der Deutsche Kulturrat und die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) u.a., die Verknüpfung von Ästhetik, Kunst und Kultur sowie Kultureller Bildung mit Nachhaltigkeit. Auf Fachtagungen und in Publikationen bringen sie zum Ausdruck, dass ästhetisch-künstlerische Zugänge und (Bildungs-)Prozesse für einen gesellschaftlichen Wandel hin zu einer nachhaltigen Entwicklung unverzichtbar sind (vgl. Goehler 2012:13ff.). Diese Parameter wurden und werden in den Nachaltigkeits-Diskussionen häufig vernachlässigt und fanden bisher kaum Eingang in Theoriebildung und den politischen Diskurs, obwohl den grundlegenden Definitionen von nachhaltiger Entwicklung der kulturelle Anspruch im Sinne einer „Gestaltung“ von Zukunftsfähigkeit bereits immanent ist. Auf der anderen Seite hat sich eine Kulturelle Bildung, die sich als Lebenskunst-Bildung versteht, längst in den Dienst des Leitbildes BNE gestellt (Fuchs 2008c:287). Im Positionspapier der BKJ-Mitgliedsverbände heißt es z.B.: „Kulturelle Bildung bietet in allen Lebensphasen die Möglichkeit, sich kritisch und kreativ mit dem eigenen Selbstverständnis, dem kulturellen Erbe sowie mit der politischen und gesellschaftlichen Situation und den Zukunftsperspektiven Deutschlands, Europas und der Welt auseinanderzusetzen. Damit können die eigene Rolle in globalen Fragen neu definiert und die Formen des weltweiten Zusammenlebens mit gestaltet werden“ (BKJ 2011:10).
Geht man von der eingangs genannten Definition von Bildung für nachhaltige Entwicklung aus, scheint das Konzept in vielen Grundsätzen (Anspruch, Intention, didaktischen Prinzipien, Lernzielen, Qualitätsentwicklung) nahezu deckungsgleich mit den Bildungszielen Kultureller Bildung zu sein. Wenn man in Anlehnung an den Kulturbegriff der UNESCO Kultur neben den Künsten auch als Lebensweise versteht, ist kulturelle Bildungsarbeit ein guter Weg, sein eigenes Projekt des guten Lebens zu erfinden und zu gestalten (Fuchs 2008c:287). Allein die inhaltliche Dimension nachhaltiger Entwicklung unter Berücksichtigung ökologischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Faktoren gleichermaßen ist kein explizites und grundsätzliches Ziel Kultureller Bildung.
Ohne hier einen vollständigen systematischen Vergleich der beiden Konzepte leisten zu können, lassen sich exemplarisch einige Gemeinsamkeiten benennen: Beide Bildungskonzepte sollen zur Reflexions- und „Wahrnehmungsfähigkeit für komplexe soziale Zusammenhänge beitragen, das Urteilsvermögen stärken und zur aktiven und verantwortlichen Mitgestaltung der Gesellschaft ermutigen“, wie es im Kinder- und Jugendplan des Bundes (BMFSFJ 2012:145) im Kapitel zur Kulturellen Bildung heißt. Gemein sind beiden unter anderem auch ihre didaktischen Prinzipien der Visions- und Partizipationsorientierung.
Pädagogisches Ziel beider Konzepte ist es, Schlüsselkompetenzen zu fördern (siehe: Alexander Wenzlik „Schlüsselkompetenzen in der Kulturellen Bildung“). Im BNE-Diskurs werden diese Teilkompetenzen zu einer nachhaltigen Entwicklung in dem von Dorothee Harenberg und Gerhard de Haan entwickelten „Gestaltungskompetenz“-Modell beschrieben (vgl. ebd. 1990:61ff.). In der Kulturellen Bildung wird der Ansatz der Kompetenzförderung z.B. in dem von der BKJ entwickelten partizipativen Erfassungsverfahren und Reflexionstool des „Kompetenznachweises Kultur“ deutlich (siehe: Brigitte Schorn/Vera Timmerberg „Kompetenznachweis Kultur“). Zudem liegt sowohl der Kulturellen Bildung als auch der BNE ein ganzheitliches Bildungsverständnis – im Sinne eines „Lernens mit Kopf, Herz und Hand“ – zu Grunde, welches eine rein kognitive Wissensvermittlung kritisiert.
Mehrwert Kultureller Bildung im Kontext BNE
Kulturelle Bildung kann bei der gesamtgesellschaftlichen Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung und eines mentalen Wandels „eine wichtige Aufgabe als kritisches Korrektiv erfüllen, deren Qualität weniger in der Formulierung von machbaren Zukunftsszenarien, sondern in deren Befragungen und Infragestellung besteht“ (Wimmer 2007:31). Des Weiteren kann sie aufzeigen, wie Nachhaltigkeits- und Zukunftsfragen in Tanz-, Theater-, bildenden Kunst-, Literatur-, Medien-, Spiel-, Zirkus- oder Musik-Projekten durch Gestaltungs-, Wahrnehmungs- und/oder Auseinandersetzungsprozesse Menschen befähigt, einen Perspektivwechsel zu vollziehen und jenseits von kognitiven Prozessen eine sinnliche und bleibende Erfahrung zu ermöglichen. „Gerade mit ihren ästhetischen Zugängen kann Kulturelle Bildung deutlich machen, dass Entwicklung nicht nur eine Sache des Verstandes, sondern aller Sinne ist“ (Wimmer 2007:31). Eine umfassende Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung muss deshalb nicht nur kognitive, sondern auch affektive und emotionale Fähigkeiten fördern.
Herausforderungen Kultureller Bildung für nachhaltige Entwicklung
Die Erfolge des Konzepts Kultureller Bildung dürfen nicht über dessen Entwicklungsbedarf hinwegtäuschen. Denn nicht jede kulturelle Bildungsarbeit teilt die Prinzipien und den gesellschaftspolitischen Anspruch einer nachhaltigen Entwicklung. Ein Blick in die Liste der ausgezeichneten UN-Dekade-Projekte zeigt (vgl. BNE-Portal), dass Maßnahmen aus dem Feld der Kulturellen Bildung nach wie vor unterrepräsentiert sind und sich trotz der Nähe der Konzepte bisher wenige Einrichtungen, PädagogInnen und KünstlerInnen bewusst in diesem Bildungskontext verorten.
Zugleich machen gelungene Praxisbeispiele deutlich, dass und wie eine Verknüpfung von BNE und Kultureller Bildung gelingen kann und welchen Mehrwert künstlerische Zugänge und Herangehensweisen insbesondere in Kooperation mit anderen Bildungsbereichen, die häufig eine inhaltliche Nachhaltigkeitsexpertise mitbringen, im Kontext einer BNE bieten.
Für eine Kulturelle Bildung für nachhaltige Entwicklung muss sich die kulturelle Bildungspraxis nicht neu erfinden, sondern sich vielmehr auf ihre Prinzipien besinnen und diese angemessen berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund sind die Akteure der Kulturellen Bildung herausgefordert, ihre Bildungsarbeit hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung und Kompetenzvermittlung zu reflektieren und das Leitbild von Zukunftsfähigkeit neu zu justieren.
Der Schlüssel zu einer Kulturellen Bildung für nachhaltige Entwicklung liegt sowohl bei den einzelnen Fachkräften als auch bei den Institutionen. Nur wenn beide sich der gesellschaftlichen Herausforderung stellen und eine gemeinsame positive Haltung hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung und ihrer Rolle bei der Gestaltung der Zukunft entwickeln, kann der Nachhaltigkeitsgedanke langfristig in den Strukturen der Kulturellen Bildung verankert werden. Kooperationen mit Akteuren aus dem Wirtschafts-, dem Umwelt- und dem sozialen Sektor, aber auch aus anderen Bildungsbereichen können dabei eine Kulturelle Bildung für nachhaltige Entwicklung bereichern. Sie begünstigen das Querdenken und das gemeinsame Gestalten von Zukunft unter möglichst ausgewogener Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer, kultureller und sozialer Faktoren.