Kulturelle Bildung – hausgemacht? Zum Effekt elterlichen kulturellen Kapitals auf die kulturellen Aktivitäten von Jugendlichen
Abstract
Kulturelle Bildung beginnt im Elternhaus – oder im Jugendzentrum. Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung von Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS), die am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation durchgeführt wurde.
Inwieweit Kinder und Jugendliche an Angeboten kultureller Bildung teilnehmen, hängt in erheblichem Maße vom Elternhaus ab. Das betrifft insbesondere Museums-, Konzert- und Theaterbesuche sowie Kurse außerhalb der Schule. Einzig kreative Angebote in Jugendzentren werden unabhängig vom familiären Hintergrund wahrgenommen. Für ihre Studie wählten die Forscher einen besonders breiten Begriff der kulturellen Bildung, um möglichst umfassend die vielfältigen Sparten und Formen darzustellen. „Abseits vom Unterricht in der Schule findet kulturelle Bildung ja nicht nur in der Kunstausstellung oder beim Instrumentalunterricht statt, sondern auch in einem Verein, der Brauchtum pflegt, oder beim Streetdance-Workshop im Jugendzentrum“, erläutert Jannis Burkhard, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DIPF-Abteilung „Struktur und Steuerung des Bildungswesens“ und Erstautor der ZfE-Veröffentlichung. „Gerade die Teilnahme an kreativen Aktivitäten in kulturellen Vereinen und in Jugendzentren ist bislang nur wenig empirisch erforscht.“ Diese Lücke konnte das wissenschaftliche Team nun durch eine Sekundäranalyse von NEPS-Daten schließen, die das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe der Wissenschaft zur Verfügung stellt.
Die dabei erschlossenen Befunde reihen sich gut in den bisherigen Forschungsstand ein. So stellten die Autoren fest, dass das Elternhaus einen starken Einfluss darauf hat, ob Kinder Museen, Theater, klassische Konzerte sowie Kurse in der Musikschule besuchen. Auch beim Besuch von Schulen mit einem künstlerischen Profil und kulturellen Angeboten in Vereinen zeigte sich ein zumindest moderater Effekt der Eltern. Lediglich bei der Teilnahme an künstlerischen Angeboten in Jugendzentren gab es keinen Zusammenhang mit dem Elternhaus, unterstreicht DIPF-Forscher Jannis Burkhard. „Jugendzentren bieten offenbar einen Zugang zu kultureller Bildung, der unabhängig vom familiären Hintergrund ist. Aus bildungspolitischer Sicht können Jugendzentren also als Orte betrachtet werden, die insbesondere den Jugendlichen kulturelle Teilhabe ermöglichen, denen diese nicht schon durch die Eltern mitgegeben wird.“ (PM/DIPF 11.03.2024).
Die Ergebnisse der Studie sind in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft erstmalig veröffentlicht und erscheinen wegen der Relevanz der Erkenntnisse auch auf kubi-online.
Zusammenfassung
Im vorliegenden Beitrag wird aufgezeigt, dass elterliches kulturelles Kapital für den Zugang zu kultureller Bildung von Jugendlichen eine wesentliche Rolle spielt. Es wird argumentiert, dass die intergenerationale Weitergabe von kulturellem Kapital einen Mechanismus darstellt, der ungleiche Chancen auf Teilhabe an kultureller Bildung von Generation zu Generation perpetuieren kann. Der Beitrag stützt sich auf die Kapitaltheorie Pierre Bourdieus und leitet zum einen eine eng daran angelehnte, elaborierte Operationalisierung für kulturelles Kapital her. Zum anderen wird auch kulturelle Bildung differenzierter als üblich in hoch- und soziokulturellen Facetten erfasst, die sowohl formale, non-formale als auch informelle Lernkontexte in allen Sparten einschließen. Die Effekte von elterlichem kulturellem Kapital auf die kulturellen Aktivitäten der Jugendlichen werden auf Basis von NEPS-Daten mit Strukturgleichungsmodellen analysiert. Es zeigt sich, dass hochkulturelle Aktivitäten am stärksten mit der elterlichen Kapitalausstattung zusammenhängen, aber auch außerschulische Kurse, die Teilnahme an Angeboten in Kulturvereinen und der Besuch einer Schule mit musischem Profil, während für kulturelle Aktivitäten in Jugendzentren keine Zusammenhänge mit dem kulturellen Kapital der Eltern nachgewiesen werden können. Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit weiterführender Forschung, um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie mehr Chancengleichheit in der kulturellen Bildung herbeigeführt werden kann.
1 Einleitung
Chancengleichheit beim Zugang zu kultureller Bildung – oft gefordert und viel beforscht, scheint sie dennoch bisweilen kaum erreichbar. Was bereits die Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012) feststellte, bescheinigt deren damaliger Sprecher Horst Weishaupt dem deutschen Bildungssystem auch Jahre später: „Nicht alle Heranwachsenden in Deutschland haben in gleicher Weise die Möglichkeit, an Angeboten der kulturellen Bildung teilzunehmen“ (Lehmann-Wermser et al. 2020, S. 14). Doch wie kommen solche Bildungsbarrieren zustande?
Der vorliegende Beitrag wirft einen Blick auf zugrundeliegende Mechanismen. Als theoretischer Rahmen dient der Diskurs zu sozialer Ungleichheit im Bildungswesen, die einen Kerngegenstand der Bildungssoziologie darstellt (vgl. Baumert et al. 2019), aber auch in erziehungswissenschaftlichen Kontexten zu kultureller Bildung diskutiert wird (Ermert 2012). Zur Untersuchung von Ungleichheiten in der kulturellen Bildung bietet es sich an, auf das Konzept von Prozessmerkmalen sozialer Herkunft zurückzugreifen (vgl. Baumert et al. 2006). Als ein solches Prozessmerkmal kann das kulturelle Kapital der Herkunftsfamilie verstanden werden (Bourdieu 2012). Die bourdieu’sche Kapitaltheorie bietet großes Erklärungspotenzial für die Untersuchung von Disparitäten in der kulturellen Bildung und dient folglich als theoretischer Ausgangspunkt. Zum einen liefert sie Argumente dafür, dass es für Eltern ein Distinktionsmerkmal sein könnte, wenn ihre Kinder kulturelle Bildungsangebote wahrnehmen. Zum anderen bietet Bourdieu eine Erklärung dafür, wieso es viel Zeit braucht, um in puncto Chancengleichheit Veränderungen herbeizuführen: Durch die intergenerationale Weitergabe von kulturellem Kapital können sich die Ungleichheiten beim Zugang zu kultureller Bildung in den nachfolgenden Generationen reproduzieren oder sogar verstärken. Das elterliche kulturelle Kapital wird also sowohl für den Zugang zu kultureller Bildung als auch für den Zeithorizont, innerhalb dessen es zu Veränderungen kommen kann, zur zentralen Einflussgröße.
In der bisherigen empirischen Forschung zur Herkunftsabhängigkeit kultureller Bildung überwiegen Untersuchungen von einzelnen Aktivitäten bzw. Sparten kultureller Bildung (z.B. bildende Kunst, Medien, Literatur), ohne dass verglichen wurde, inwieweit die Aktivitäten stärker oder weniger stark von der sozialen Herkunft abhängig sind. Im vorliegenden Beitrag wird daher unter Rückgriff auf Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS-Netzwerk 2022) eine vergleichende Perspektive eingenommen. Ziel ist es, anders als in bisherigen Studien sowohl formale, non-formale als auch informelle Formen kultureller Bildung zu untersuchen, die alle Sparten einschließen und neben hochkulturellen auch soziokulturelle Aspekte umfassen. Damit soll ausgelotet werden, inwiefern sich der Facettenreichtum kultureller Bildung empirisch differenzierter abbilden lässt als in bisherigen Studien. Auch soll geprüft werden, inwiefern die Operationalisierung von elterlichem kulturellen Kapital enger als bisher an Bourdieus Theorie angelehnt und dadurch elaborierter erfasst werden kann. Die Effekte des elterlichen kulturellen Kapitals auf die kulturellen Aktivitäten der Kinder werden mit Strukturgleichungsmodellen untersucht. Abschließend wird diskutiert, welche Implikationen sich daraus für die Forschung zu kulturellen Aktivitäten und zur Operationalisierung von kulturellem Kapital ableiten lassen.
2 Kulturelles Kapital & kulturelle Bildung
2.1 Kulturelles Kapital
Im Kontext der Untersuchung sozialer Ungleichheit im Bildungssystem hat sich Bourdieus Kapitaltheorie seit geraumer Zeit als eine der grundlegenden Theorien etabliert (vgl. Nash 1990; Reay 2020). Ein zentraler Gedanke dieser liegt in der Weiterentwicklung des bis dato rein ökonomischen Verständnisses von Kapital zu einem dreiteiligen Konzept. Neben ökonomischem definiert Bourdieu (2012) auch soziales und kulturelles Kapital, wobei insbesondere Letzteres für diese Studie von Bedeutung ist. Bourdieu unterteilt kulturelles Kapital wiederum in drei Formen: inkorporiertes (Geschmack, Verhalten, Werthaltungen), objektiviertes (kulturelle Besitztümer) und institutionalisiertes (Bildungszertifikate) Kulturkapital (vgl. Jæger 2022).
Daran anknüpfend haben sich zwei große Forschungsstränge herausgebildet, einer in der Tradition des Modells kultureller Reproduktion (Bourdieu und Passeron 1990), der andere in der Tradition des Modells kultureller Mobilität (DiMaggio 1982). Beide Modelle bieten Erklärungspotenzial für Bildungsungleichheiten, fokussieren jedoch verschiedene Aspekte. Im Reproduktionsmodell wird eine starke Abhängigkeit des kulturellen Kapitals von der sozialen Herkunft angenommen. Als zentraler Mechanismus zum Erwerb von kulturellem Kapital wird die Weitergabe innerhalb der Familie betrachtet. Bourdieu selbst beschreibt den passiven Erwerb durch familiale Sozialisation als primären Weg, um kulturelles Kapital zu akkumulieren, während neuere Forschung zwischen passivem Erwerb und aktiven Investitionen der Eltern in das kulturelle Kapital des Kindes unterscheidet (Jæger und Breen 2016; van Hek und Kraaykamp 2015). Im Reproduktionsmodell wird in der Hinsicht ein Matthäuseffekt angenommen, dass Kinder aus privilegierten Familien kulturelles Kapital schneller erwerben, welches ihnen in Bildungskontexten wiederum größere Vorteile bringe. In der Tradition des Mobilitätsmodells wird hingegen betont, dass kulturelles Kapital auch unabhängig von der Herkunftsfamilie erworben werden kann. Weiter wird ein Aufholeffekt angenommen – Kinder aus sozial benachteiligten Familien seien durch den außerfamiliären Erwerb von kulturellem Kapital dazu in der Lage, zu anderen aufzuschließen, was zu verstärkten positiven Effekten auf den Bildungserwerb führe (Aschaffenburg und Maas 1997; Hu et al. 2022; Nagel et al. 2010).
2.2 Kulturelle Bildung
Die Frage danach, was kulturelle Bildung ist, erscheint auf den ersten Blick zwar trivial, auf den zweiten Blick aber als ausgesprochen komplex. „Allgemeinbildung im Medium der Künste“ (Rat für Kulturelle Bildung 2013, S. 15) ist eine gängige Umschreibung kultureller Bildung. Die Künste stehen also zentral, doch an vielen Stellen findet sich der Hinweis darauf, dass neben den Künsten auch soziokulturelle Praktiken eingeschlossen sind (z.B. Liebau 2018). Ein Blick in die Kulturtheorie macht deutlich, dass dies unter anderem durch die Dehnbarkeit des Kulturbegriffs erklärbar ist (vgl. Fuchs 2008; Ort 2008; Reckwitz 2010): ein enges/normatives Kulturverständnis reduziert Kultur auf die (hochkulturellen) Künste, wohingegen ein symbol-/bedeutungsorientiertes Verständnis den Begriff auf den „handlungskonstitutiven Hintergrund aller sozialen Praktiken“ (Reckwitz 2010, S. 25) ausweitet. Historisch gesehen erweitert „kulturelle Bildung“ Begriffe wie ästhetische, musische oder künstlerische Bildung, die bereits seit längerer Zeit bestehen, und schließt heute als Dachbegriff alle verschiedenen Kulturbegriffe mit ein (Reinwand-Weiss 2013). Kulturelle Bildung wird im vorliegenden Beitrag als Bildung in ästhetisch-expressiven Praxen verstanden, die vorwiegend im Kontext von Künsten stattfindet. Dies schließt neben sämtlichen Formen des eigenen, selbsttätig-kreativen künstlerischen Ausdrucks auch rezeptive oder kommunikative Aneignungsmodi, kulturelle Werte, Orientierungen und Handlungsmuster ein (vgl. Freide 2020; Kühne et al. 2023).
2.3 Kapital trifft Bildung – zum Verhältnis zweier Begriffe
Wo aber berühren sich kulturelles Kapital und kulturelle Bildung? So liegen eigentlich zunächst die Unterschiede auf der Hand: Kulturelles Kapital ist als eine Facette sozialer Herkunft zu betrachten, die sich vor allem auf die Vertrautheit mit Hochkultur bezieht (Watermann et al. 2016). Kulturelle Bildung hingegen beschreibt Bildungsprozesse im Medium von Kunst und Kultur. Sie wurde darüber hinaus in den 1970er-Jahren durch den Leitspruch „Kultur für alle und von allen“ geprägt (Reinwand-Weiss 2013), der bis heute fortwirkt. Der im Feld stark ausgeprägte egalitaristische Selbstanspruch äußert sich in dem Ziel, die Teilhabe an kultureller Bildung von sozialer Herkunft zu entkoppeln und steht daher in Kontrast zu kulturellem Kapital als Merkmal sozialer Herkunft.
Die Schnittmenge der beiden Begriffe liegt im jeweiligen Verhältnis zu kulturellen Symbolen und damit der gemeinsamen Bezugsgröße Kultur. Folgt man der Definition von Broer et al. (2019, S. 19), kann kulturelles Kapital als „knowledge of cultural symbols and ability to decode cultural messages“ aufgefasst werden. Kulturelle Bildung hingegen „könnte dann als (angeleiteter) Entwicklungsprozess des Subjekts in jeder einzelnen symbolischen (= Kultur-)Form verstanden werden“ (Fuchs 2008, S. 7). Kulturelles Kapital als Kompetenz im Umgang mit kulturellen Symbolen ist demnach eine Disposition, während kulturelle Bildung einen Prozess darstellt, in dem der Umgang mit kulturellen Symbolen erlernt werden kann. Dies legt die Vermutung nahe, dass das Erlernen des Umgangs mit kulturellen Symbolen im Rahmen kultureller Bildungsprozesse das Potenzial der sozialen Distinktion in Form von kulturellem Kapital birgt, was auch bereits an anderer Stelle diskutiert wurde (vgl. Ermert 2012; Liebau 2015). In einem weitreichenderen Verständnis kann kulturelle Bildung neben individuellen Bildungsprozessen auch Angebote eines Bildungsfeldes sowie deren Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft bezeichnen (Bockhorst et al. 2012; Büdel und Kolleck 2023; Kröner et al. 2021; Kühne et al. 2023). Daher können damit sowohl Rahmenbedingungen bzw. individuelle Ausgangslagen, Prozesse als auch Ergebnisse von Bildung gemeint sein. Unter dieser Perspektive kann kulturelles Kapital als Zustand des „kulturell gebildet seins“ und damit als Ergebnis kultureller Bildung verstanden werden, das im Bildungssystem insgesamt wiederum als Ausgangslange für weitere Bildungsprozesse fungieren kann.
Darüber hinaus kann kulturelle Bildung sowohl in formalen, non-formalen als auch informellen Lernkontexten stattfinden. Die Grenzen dieser Lernkontexte sind jedoch fließend, sodass sich konkrete Angebote durch ihren Grad der Institutionalisierung (z.B. in- oder außerhalb der Schule), Formalisierung (z.B. zertifizierte Abschlüsse als Ziel) und Professionalisierung (z.B. Qualifikation des pädagogischen Personals) differenzierter beschreiben lassen (Kühne und Maaz 2023, S. 23). Vor dem Hintergrund, dass institutionalisiertes Kulturkapital den Unterschied zwischen autodidaktisch erworbenen und offiziell zertifizierten Fähigkeiten markiert, lässt sich vermuten, dass kulturelle Bildungsergebnisse durch stärkere Institutionalisierung, Formalisierung und Professionalisierung auch eher als kulturelles Kapital wahrgenommen werden. Im formalen Bereich könnte also beispielsweise die Wahl einer Schule mit musischem Profil zur kulturellen Distinktion dienen, wobei Distinktion nur einen von vielen Gründen in der Wahl einer Schule darstellt (Sawert 2019; Schwarz et al. 2018; Zunker und Neumann 2020). Im Kontrast dazu steht die Bedeutung der sogenannten „concerted cultivation“ (Lareau 2003). Diese versteht die kulturelle Freizeitgestaltung als den wichtigsten Bereich, um „feine Unterschiede“, also bestimmte habituelle Verhaltens- und Deutungsmuster, herauszubilden und einen hohen Sozialstatus zu signalisieren – wobei der Freizeitbereich in der Regel mit einem geringeren Grad an Institutionalisierung und Formalisierung einhergeht als der Bereich der formalen Bildungseinrichtungen. Auch dem informellen Bereich kann eine hohe Bedeutung für den Erwerb kulturellen Kapitals zukommen. So kann generell der Umgang mit Anderen über Sozialisationsmechanismen auch ohne jeglichen Grad an Institutionalisierung, Formalisierung und Professionalisierung zur Akkumulation von kulturellem Kapital beitragen. Insgesamt ist folglich davon auszugehen, dass sowohl formale, non-formale als auch informelle Lernkontexte im Erwerb von kulturellem Kapital bedeutsam sind.
3 Forschungsstand
Dem Einfluss der familiären Herkunft auf die kulturelle Bildung wurde in zahlreichen empirischen Studien nachgegangen (vgl. im Überblick Jæger 2022; Jæger und Breen 2016). Dabei wird kulturelles Kapital häufig über die rezeptive Teilnahme an hochkulturellen Aktivitäten wie klassischen Konzerten, Theateraufführungen und Kunstausstellungen operationalisiert (Aschaffenburg und Maas 1997; Huth und Weishaupt 2009). Insgesamt lässt sich die Reproduktionsthese in einer Vielzahl an Studien sowohl im deutschen (Georg 2016; Jacob und Kalter 2011; Kröner et al. 2012; Maaz und Watermann 2007; Rössel und Beckert-Zieglschmid 2002; Steinbach und Nauck 2004) als auch internationalen Raum (Kallunki und Purhonen 2017; Nagel 2009; Raudenská und Bašná 2021) bestätigen. Gleichzeitig findet sich auch Evidenz für die Mobilitätsthese (Aschaffenburg und Maas 1997; Jæger 2011; Maaz und Watermann 2007).
Neben der rezeptiven Teilnahme an hochkulturellen Veranstaltungen liegt ein Fokus vor allem soziologisch geprägter Arbeiten auch auf der Untersuchung von non-formalen kulturellen Aktivitäten. So wird kulturelles Kapital oft über die aktivkreative Teilnahme an außerschulischen Kursen kultureller Bildung operationalisiert (Aschaffenburg und Maas 1997; Breinholt und Jæger 2020; Georg 2016). Der Effekt des kulturellen Kapitals der Eltern auf den Besuch solcher Kurse in der Freizeit konnte ebenfalls bereits nachgewiesen werden (Koal et al. 2016; Tarazona und Tillmann 2013). Dieser wird auf „concerted cultivation“ zurückgeführt, also die statusbewusste Freizeitgestaltung von Kindern durch deren („kulturell gebildete“) Eltern (Lareau 2003). Die Untersuchungen hier beschränken sich allerdings häufig auf die Sparte Musik.
Neben Aktivitäten in der Freizeit sind auch kulturelle Aktivitäten in der Schule Gegenstand der Ungleichheitsforschung. Kinder und Jugendliche gehen in der Schule im Vergleich zur Freizeit jedoch seltener kulturellen Aktivitäten nach (Grgic und Rauschenbach 2013), wenngleich der Schule insbesondere vor dem Hintergrund oftmals mangelnder Unterstützungsmöglichkeiten sozial benachteiligter Eltern (vgl.
Bayer und Süßlin 2017) eine zentrale Rolle in teilhabepolitischen Bemühungen zukommt. Effekte elterlichen kulturellen Kapitals wurden neben außerschulischen auch auf außerunterrichtliche Aktivitäten an der Schule bereits nachgewiesen (Busch und Lehmann-Wermser 2019; Busch et al. 2014; Züchner und Grgic 2013), mit teilweise widersprüchlichen Befunden im internationalen Raum (Mak und Fancourt 2021). Aus einer vergleichenden Perspektive wurde in einer Untersuchung zur Ganztagsgestaltung festgestellt, dass außerschulische kulturelle Aktivitäten stärker vom elterlichen kulturellen Kapital abhängig sind als außerunterrichtliche (Nonte und Lehmann-Wermser 2010). Neben der Ausübung von konkreten Aktivitäten wird im schulischen Bereich auch die musische Profilbildung beforscht, durch die Gelegenheitsstrukturen für kulturelle Teilhabe geschaffen werden können. So konnten Zunker und Neumann (2020) nachweisen, dass der Besuch von Schulen mit „akademischem“ Profil (zu denen Schulen mit künstlerisch-kulturellem Schwerpunkt gezählt wurden), von der sozialen Herkunft abhängig ist. Im Gegensatz dazu konstatieren Schwarz et al. (2018), die Wahl einer Schule mit künstlerisch-kulturellem Schwerpunkt sei durch die in ihrer Studie gewählten Prädiktoren – zu denen das kulturelle Kapital der Eltern und des Kindes gehörten – nicht ausreichend zu erklären. Generell ist davon auszugehen, dass die Schulwahl von Eltern und Kindern auch von der sozialen Herkunft abhängig ist (Keßler und Nonte 2020).
Ebenfalls bereits beforscht wurden kulturelle Praktiken, die in noch weniger formalisierten bzw. institutionalisierten Kontexten stattfinden. Die Partizipation in kulturellen Vereinen und Jugendzentren wurde dabei bislang vor allem deskriptiv beschrieben (Belet et al. 2023; Grgic und Rauschenbach 2013; Grgic und Züchner 2013) und nur teilweise nach Herkunftsmerkmalen differenziert. Dabei kommt Vereinen insbesondere in ländlichen Räumen eine hohe Bedeutung zu (Büdel und Kolleck 2023). In einer qualitativen Studie wurde festgestellt, dass in Musikvereinen die Selbstwahrnehmung verbreitet ist, alle sozialen Schichten zu erreichen – dass sie aber gleichzeitig von ihren Mitgliedern als Orte verstanden werden, „in which the members speak the regional dialect [...], eating vegetarian food is unusual and academics are the exception“ (Bons et al. 2022, S. 251). Dies spricht zunächst dafür, dass kulturelle Vereine auch Kinder aus nicht-akademischen Elternhäusern erreichen können. Jedoch konnte gezeigt werden, dass diese sich insgesamt öfter in weniger institutionalisierten Kontexten wie Jugendzentren aufhalten, während es eher Kinder aus privilegierten Familien sind, die ihre Freizeit in Vereinen und mit kulturellen Aktivitäten verbringen (Züchner und Arnoldt 2011). Da kulturelle Bildung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit eine nachgeordnete Rolle spielt (Treptow 2021), lässt der reine Besuch eines Jugendzentrums noch keine Rückschlüsse in der Hinsicht zu, ob und wie dort auch kulturellen Aktivitäten nachgegangen wird. Nach ausgiebiger Recherche sind uns keine empirischen Ergebnisse dazu bekannt, inwiefern künstlerische Aktivitäten in Jugendzentren vom elterlichen kulturellen Kapital abhängig sind.
In der Gesamtbetrachtung scheint es ein gut gesicherter Befund, dass das elterliche kulturelle Kapital sowohl auf hochkulturelle Aktivitäten als auch auf den Besuch non-formaler Kurse der Kinder einen positiven Effekt hat. Dabei wird das elterliche kulturelle Kapital oft durch rezeptive hochkulturelle Aktivitäten operationalisiert. Gleiches gilt für das Kulturkapital der Kinder, das bisweilen auch durch den Besuch non-formaler Kurse operationalisiert wird. Bei non-formalen Kursen überwiegt jedoch die Forschung zur Sparte Musik, während andere Sparten oft unberücksichtigt bleiben. Wenngleich der Forschungsstand zu Aktivitäten in kulturellen Vereinen deutlich geringer ausfällt als zu rezeptiven hochkulturellen Aktivitäten und außerschulischen Kursen, deuten die vorhandenen Untersuchungen darauf hin, dass auch kulturelle Vereinsaktivitäten von der Herkunft abhängig sind. Zur Operationalisierung von kulturellem Kapital werden diese jedoch üblicherweise nicht herangezogen. Auch der Besuch einer Schule mit musischem Profil stellt keine gängige Operationalisierung von kulturellem Kapital dar. Zur Abhängigkeit der Wahl einer Schule mit musischem Profil von kulturellem Kapital liegen gemischte Ergebnisse vor, sodass hier weitere empirische Evidenz erforderlich ist. Im Gegensatz dazu legen bisherige Analysen einen kompensatorischen Effekt von Jugendzentren nahe, da dort insbesondere Jugendlichen aus sozial benachteiligten Elternhäusern ein Angebot zur kulturellen Betätigung gemacht werden kann. Ein Vergleich der Abhängigkeit der verschiedenen Aktivitäten vom elterlichen Kulturkapital wurde bislang nur vereinzelt vorgenommen. Zusammenfassend lassen sich daher die drei nachfolgenden Forschungsfragen ableiten: 1) Wie gestaltet sich die soziale Selektivität der verschiedenen kulturellen Aktivitäten im Vergleich zueinander? 2) Wie stark sind außerschulische Kurse in der kulturellen Bildung insgesamt, also in all ihren Sparten, von der Herkunft abhängig? 3) Inwiefern können auch die Wahl einer Schule mit musischem Schwerpunkt sowie kulturelle Aktivitäten in Vereinen und Jugendzentren als intergenerationale Transmission kulturellen Kapitals verstanden werden?
3.1 Hypothesen
Ausgehend vom dargelegten theoretischen und empirischen Forschungsstand sowie den skizzierten offenen Forschungsfragen adressiert die vorliegende Studie die übergreifende Frage, inwiefern das elterliche kulturelle Kapital verschiedene Formen kultureller Teilhabe von Jugendlichen prägt. Dabei wird davon ausgegangen, dass rezeptive hochkulturelle Aktivitäten, die Wahl einer Schule mit musischem Profil, außerschulische Kurse sowie kulturelle Vereinsaktivitäten von der Herkunft abhängig sind. Als zugrundeliegender Mechanismus wird hier der passive Erwerb kulturellen Kapitals durch familiale Sozialisation angenommen. Im Gegensatz dazu legt der Forschungsstand nahe, dass Jugendzentren durch ihre sozialpolitische Aufgabe eher einen kompensatorischen Ansatz verfolgen und die Teilnahme an kulturellen Angeboten dort nicht vom kulturellen Kapital der Eltern abhängig ist. Dies entspricht in der Hinsicht der Mobilitätsthese, als dass dort Jugendlichen die Möglichkeit gegeben wird, sich unabhängig von familialer Sozialisation kulturell zu betätigen. Insgesamt lassen sich daher folgende Hypothesen ableiten:
- Je höher das elterliche Kulturkapital, desto öfter gehen Jugendliche hochkulturellen Aktivitäten nach.
- Je höher das elterliche Kulturkapital, desto eher besuchen Jugendliche eine Schule mit musischem Profil.
- Je höher das elterliche Kulturkapital, desto eher besuchen Jugendliche Kurse kultureller Bildung außerhalb der Schule.
- Je höher das elterliche Kulturkapital, desto eher partizipieren Jugendliche an Angeboten kultureller Vereine.
- Das elterliche Kulturkapital hat keinen Effekt darauf, ob Jugendliche künstlerischen Tätigkeiten in Jugendzentren nachgehen.
Des Weiteren soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die Abhängigkeit der verschiedenen Formen kultureller Teilhabe vom elterlichen Kulturkapital im Vergleich zueinander gestaltet. So liefert der bisherige Forschungsstand am meisten Evidenz dafür, dass hochkulturelle Aktivitäten und der Besuch außerschulischer Kurse vom elterlichen Kulturkapital abhängig sind. Doch sind hochkulturelle Aktivitäten stärker durch die Herkunft bedingt als außerschulische Kurse? Wie stark sind Aktivitäten im Verein und Jugendzentrum sowie die Wahl einer Schule mit musischem Profil im Vergleich dazu vom elterlichen Kulturkapital abhängig? Diese Fragen bleiben bislang unbeantwortet. Konkrete Hypothesen dazu, wie sich die Vergleiche gestalten, lassen sich anhand des bisherigen Forschungsstands nicht formulieren. Im Folgenden wird diesen Forschungsfragen jedoch in explorativer Weise nachgegangen.
4 Datengrundlage, Operationalisierung & Methode
4.1 NEPS: Startkohorte 3
Für die Analysen des vorliegenden Beitrags wurden Daten der Startkohorte 3 des Nationalen Bildungspanels (NEPS, NEPS-Netzwerk 2022) sekundäranalytisch ausgewertet. Die Stichprobe dafür wurde deutschlandweit anhand von Schulen gezogen, wobei neben den Schüler*innen selbst auch deren Eltern befragt wurden. Die Daten bieten sowohl für die Kinder (Wellen 4, 5 und 8) als auch deren Eltern (Wellen 1 und 6) geeignete Operationalisierungen der Konstrukte, sodass die innerfamiliäre bzw. intergenerationale Weitergabe von kulturellem Kapital mit den NEPS-Daten gut untersucht werden kann. Insgesamt wurden in Welle 5 (Herbst/Winter 2014/2015) von 5778 Schüler*innen Daten erhoben, die zu diesem Zeitpunkt durchschnittlich 15 Jahre alt waren und die 9. Klassenstufe besuchten. In Welle 1 (Herbst/Winter 2010/2011) liegen Daten von 4154 Eltern vor, darüber hinaus werden teilweise auch Angaben von 3262 Eltern aus Welle 6 (Frühjahr 2015) verwendet. Generell gilt, dass die Variablen auf Elternseite mit Elternangaben operationalisiert wurden und die Angaben auf Seite der Jugendlichen mit deren Angaben. Auf Seite der Eltern wurden, sofern möglich, die Angaben aus Welle 1 verwendet. Ausnahmen hiervon bilden die Variablen zu objektiviertem kulturellem Kapital, die nur in Welle 6 erhoben wurden. Daraus ergibt sich zwar, dass bei der untenstehenden Modellierung manche unabhängigen Variablen zeitlich nach den abhängigen Variablen erhoben wurden. Dies ist jedoch als unproblematisch zu betrachten, da die Zeitpunkte (Welle 5 und 6) sehr nah beieinander liegen und das objektivierte kulturelle Kapital auf Elternseite als zeitstabil angenommen werden kann. Einen guten Überblick über die Messung von kulturellem Kapital im NEPS gibt Goßmann (2018). Im Folgenden wird erläutert, wie die Operationalisierung der Konstrukte für diesen Beitrag vorgenommen wurde.
4.2 Operationalisierung kulturelles Kapital (Prädiktorvariablen)
In der Literatur wird die Definition und Operationalisierung von kulturellem Kapital im Anschluss an Bourdieu kontrovers diskutiert (Cardona et al. 2015; Sieben und Lechner 2019; Vryonides 2007). Insbesondere die Messung von inkorporiertem kulturellem Kapital gestaltet sich anspruchsvoll. Für diesen Beitrag wurden zur Operationalisierung drei Variablen aus der Skala „Partizipation an Hochkultur“ ausgewählt, die hochkulturelle Aktivitäten (Museums-, Konzert-, und Theaterbesuche) abbilden (vgl. Goßmann 2018). Die Häufigkeit dieser Aktivitäten dient hier als Proxy für die Vertrautheit mit hochkulturellen Symbolen und damit für das inkorporierte kulturelle Kapital. Objektiviertes kulturelles Kapital wurde über drei Items (Literatur, Gedicht, Kunst) der Skala „HOMEPOS“ (Home Possessions) sowie die Anzahl der Bücher im Elternhaus abgebildet. Durch die Items wird der Besitz von kulturellen Gütern gemessen. Das institutionalisierte kulturelle Kapital wurde über die Bildungsabschlüsse der Eltern operationalisiert. Diese fanden mit der CASMIN-Skala Eingang in die Analysen (Bildung Elternteil 1= höchster Abschluss des befragten Elternteils; Bildung Elternteil 2= höchster Abschluss Partner*in des befragten Elternteils). Die Skalenbezeichnungen werden im Einklang mit dem NEPS verwendet. In Anhang A (supplementary materials) findet sich ein Überblick über die Variablen, die zur Operationalisierung von kulturellem Kapital verwendet wurden.
4.3 Operationalisierung kulturelle Bildung (Kriteriumsvariablen)
Üblicherweise werden in groß angelegten Bildungsstudien nur wenig differenzierte Informationen zu Aktivitäten kultureller Bildung erfasst. Im NEPS bestand jedoch die Möglichkeit, mehrere Facetten kultureller Bildung abzubilden. Dafür wurden fünf Variablen ausgewählt bzw. gebildet: [1] Rezeptive hochkulturelle Aktivitäten („Wie oft hast du in den vergangenen 12 Monaten folgende Dinge getan? – ein Museum oder eine Kunstausstellung besucht“), [2] der Besuch einer Schule mit musischem Profil („Hat Ihre Schule ein spezifisches Profil? Wenn ja, welches? – musische Fächer“, Schulleitungsfragebogen), [3] der Besuch von Kursen kultureller Bildung außerhalb der Schule („Hast du in diesem oder im vergangenen Schuljahr Kurse außerhalb der Schule besucht (ohne Sport)? Wenn ja, welche?“), [4] die Teilnahme an Angeboten in Kulturvereinen („Nehmen Sie an einem Kulturverein wie Theaterring, Jugendorchester, Heimatverein, Folkloreverein etc. teil?“) und [5] Jugendzentren („Welche Angebote gibt es dort [im Jugendzentrum] und welche davon nutzt du? – Musik machen, Tanzen, Theater oder andere künstlerische Tätigkeiten“). Die hochkulturellen Aktivitäten werden analog zum inkorporierten kulturellen Kapital der Eltern gemessen und daher auch als solches bezeichnet. Die anderen Kriteriumsvariablen sind jeweils binär kodiert (bzw. so umkodiert worden), sodass sie miteinander vergleichbar sind. Eine Besonderheit stellt die Variable zum Kursbesuch außerhalb der Schule dar. Um diese bilden zu können, wurden insgesamt 11.853 offene Angaben der Kinder bzw. Jugendlichen mit einem selbst entwickelten Kategoriensystem kodiert (Burkhard und Lampel 2023).
Die Schüler*innen wurden zunächst gefragt, ob sie im aktuellen oder vergangenen Schuljahr einen Kurs an einer Musik-, Jugendkunst- oder Volkshochschule besucht haben. Wurde die Frage mit Ja beantwortet, sollten sie jeweils in ein offenes Antwortfeld eintragen, was für einen Kurs sie genau besucht haben. Darüber hinaus wurde auch die Möglichkeit gegeben, weitere Kursbesuche in offenen Antwortfeldern einzutragen. Obwohl nur nach außerschulischen Aktivitäten gefragt wurde, wurden auch außerunterrichtliche Tätigkeiten bei der Kodierung einbezogen. „Schulradio“ wurde beispielsweise als Mediengestaltung kodiert, obwohl die Angabe eigentlich keine außerschulische Aktivität darstellt. Bei der Neukodierung wurde jeweils kodiert, in welche Kategorie die offene Angabe fällt. Dabei standen 16 Kategorien zur Auswahl, wie Tab. 1 zeigt.
Die Kategorien wurden zunächst deduktiv hergeleitet und nach einer Probekodierung überarbeitet. Diese Überarbeitung führte zum einen dazu, dass die Kategorien 13 bis 15 im Kodierleitfaden hinzugefügt wurden. Zum anderen wurde im Zuge der Überarbeitung die Kategorie Sonstige unterteilt in Sonstige/kulturelle Bildung und Sonstige/nicht kulturelle Bildung. Darüber hinaus stand auch die Kategorie nicht ermittelbar zur Auswahl, mit der inhaltslose Angaben kodiert wurden und die einem fehlenden Wert entspricht. Mehrfachkodierungen waren möglich, sodass beispielsweise die Antwort „Musical einstudieren“ dazu führte, dass die Angabe sowohl mit der Kategorie Musik, als auch mit den Kategorien Tanz und Sprechtheater/ Schauspiel kodiert wurde. Nicht berücksichtigt hingegen wurde bei der Kodierung, wenn eine Zielperson mehrere Kurse der gleichen Kategorie in derselben offenen Angabe nannte. Wurde z.B. in einem freien Textfeld „Chor, Drumset, Geige“ angegeben, wurde die Kategorie Musik nur insgesamt einmal vergeben, nicht für jeden genannten Kurs einmal. Daher lässt sich mit der Kodierung nicht die Anzahl von Kursen bestimmen. Allerdings kann abgebildet werden, ob und welche Kategorie(n) genannt wurde(n) oder nicht. Die Kodierung erfolgte mit dem Kodiertool CODI, bei dem es sich um ein eigenes Softwareprodukt des NEPS handelt. (Kurze weiterführende Erläuterung zum Vorgehen bei der Kodierung: Alle Angaben wurden von zwei Personen kodiert, die zuvor sowohl eine inhaltliche Schulung zum Kategoriensystem als auch eine Schulung zum Kodiertool durch einen Mitarbeiter des NEPS durchlaufen hatten. Bei den Angaben, die beide Personen gleich kodiert hatten, wurde die jeweilige Kategorie ohne weitere Überprüfung übernommen („validiert“). Bei unterschiedlich kodierten Angaben wurde die Validierung durch eine dritte Person oder im Gespräch gemeinsam vorgenommen. Grundlage für die Analyse in diesem Beitrag ist jeweils die validierte Kodierung. Die Daten der Kodierung wurden mit der Datensatz-Version 12.0.0 publiziert und sind daher öffentlich zugänglich. Grundlage für die Analysen des empirischen Teils der vorliegenden Studie ist jedoch eine überarbeitete Version der Daten, die mit dem nächsten NEPS-Datenrelease im Frühjahr 2024 publiziert wird. Ein flankierender Technical Report legt das Vorgehen bei der Kodierung im Detail dar (Burkhard und Lampel 2023). Anm.: diese Fußnote ist dem Originaltext entnommen.)
4.4 Analysemethode
Der Zusammenhang zwischen den Konstrukten wurde mit Strukturgleichungsmodellen untersucht (vgl. Hair et al. 2018). Das kulturelle Kapital der Eltern und Jugendlichen wurde latent modelliert, während der Besuch einer Schule mit musischem Profil, außerschulische Kurse, kulturelle Vereinsaktivitäten sowie künstlerische Aktivitäten im Jugendzentrum in manifester Form in die Analysen eingingen. Zur Modellierung des elterlichen Kulturkapitals wurden das inkorporierte, objektivierte und institutionalisierte kulturelle Kapital zunächst jeweils getrennt latent modelliert. Die drei Unterformen wurden dann wiederum zu einem Faktor zweiter Ordnung zusammengefasst, der das gesamte kulturelle Kapital der Eltern abbildet und die exogene („unabhängige“) Variable darstellt. Ein Vorteil dieser Modellierung ist, dass dadurch vorhandene Messfehler berücksichtigt werden. Dies verbessert wiederum die Genauigkeit der Analyse, da die Beziehung zwischen den Variablen nicht durch zufällige Messfehler verzerrt wird. Außerdem ist davon auszugehen, dass diese Modellierung das gesamte kulturelle Kapital adäquater abbildet als einzelne manifeste Indikatoren, die eher als Proxys fungieren. Die kulturellen Aktivitäten des Kindes bilden die endogenen („abhängigen“) Variablen. Die hochkulturellen Aktivitäten wurden als inkorporiertes Kulturkapital analog zu dem der Eltern latent modelliert. Der Besuch einer Schule mit musischem Profil, Kursbesuche, sowie kulturelle Aktivitäten in Vereinen und Jugendzentren gingen jeweils als manifeste Variablen in dichotomer Form in das Modell ein.
Stichprobe für die Analyse sind alle Fälle, für die in Welle 5 Befragungsdaten der Jugendlichen vorliegen. Ausgeschlossen wurden lediglich die Fälle, bei denen in der Gewichtungsvariable fehlende Werte vorliegen. Daraus ergibt sich eine Gesamtstichprobe von 5520 Fällen. Bei allen Berechnungen wurde die Verzerrung der Standardfehler korrigiert, die durch die Mehrebenenstruktur der Daten (Schüler*innen genestet in Schulen) entsteht. Um die Repräsentativität so weit wie möglich zu gewährleisten, wurden die Surveygewichte aus Welle 5 verwendet. Zum Umgang mit fehlenden Werten wurde Full Information Maximum Likelihood (FIML) gewählt, in Welle 1 fehlende Elternangaben wurden jedoch (sofern verfügbar) vorher mit Angaben aus Welle 6 ersetzt. Detailliertere methodische Erläuterungen finden sich in Anhang B (supplementary materials).
Datenaufbereitung und -analyse wurden in der Statistik-Software R (R Core Team, 2021) mit den Paketen tidyverse (Wickham et al. 2019), lavaan (Rosseel 2012) und semTools (Jorgensen et al. 2021) vorgenommen. Der vollständige R-Code vom Einlesen der Daten über die Aufbereitung bis hin zu den Analyseergebnissen ist unter https://doi.org/10.17605/OSF.IO/YC4Z9 verfügbar und ermöglicht es, die einzelnen Arbeitsschritte im Detail nachzuvollziehen. Die Ergebnisse sind somit, den Zugang zur Remote-NEPS-Umgebung sowie zu den Daten des kommenden NEPS-Datenreleases vorausgesetzt, vollständig reproduzierbar.
5 Ergebnisse
5.1 Deskriptiva
Genauere Erläuterungen zu den verwendeten Variablen finden sich in Anhang A (supplementary materials). Dort finden sich auch deren insgesamt unauffällige deskriptive Statistiken (Tab. 2) sowie deren bivariate Zusammenhänge (Tab. 3). Generell zeigen sich die größten Korrelationen zwischen den Variablen auf Elternebene. Die Assoziation zwischen Eltern- und Kindervariablen ist bei hochkulturellen Aktivitäten und dem außerschulischen Kursbesuch am stärksten ausgeprägt. Auffällig ist weiterhin, dass insbesondere die Zusammenhänge mit künstlerischen Aktivitäten in Jugendzentren schwach ausgeprägt sind und oft nicht zufallskritisch abgesichert werden können.
5.2 Strukturgleichungsmodellierung
Die Daten wurden mit Strukturgleichungsmodellen analysiert. Diese setzen das elterliche kulturelle Kapital in Beziehung zu den kulturellen Aktivitäten der Kinder, sodass geprüft werden kann, wie diese miteinander zusammenhängen. Die Analyse wurde in zwei Schritten vollzogen. Im ersten Schritt wurde in einem Messmodell zunächst die Faktorenstruktur mit einer konfirmatorischen Faktorenanalyse untersucht, um zu prüfen, inwiefern die unterschiedlichen Kapitalformen mit den Daten abgebildet werden können (Abb. 1). Die Ladungen der Indikatoren auf die Faktoren erster Ordnung (Lambda-Werte) sind insgesamt als gut zu bewerten, die einzelnen Items lassen sich also jeweils zum entsprechenden latenten Faktor zusammenfassen. Um die Reliabilität der Faktoren zu prüfen, wurde McDonalds Omega berechnet (Hayes und Coutts 2020). Hier ergeben sich Werte zwischen 0,679 und 0,7, die damit im Bereich des oft berichteten Schwellenwerts von 0,7 liegen, was auf eine akzeptable Reliabilität verweist. Das inkorporierte, objektivierte und institutionalisierte kulturelle Kapital der Eltern laden jeweils auch hoch auf den Faktor zweiter Ordnung (Lambda-Werte). Das bedeutet, dass sich ein großer Anteil der Varianz in den einzelnen Formen kulturellen Kapitals auf einen Gesamtfaktor Kulturkapital zurückführen lässt. Insgesamt bestätigt das Messmodell die Voraussetzungen für eine weiterführende Modellierung mit Regressionspfaden.
Im zweiten Schritt wurde der Effekt des elterlichen kulturellen Kapitals als latenter Gesamtfaktor 2. Ordnung auf die verschiedenen Facetten kultureller Bildung der Kinder untersucht (Abb. 2). Für das inkorporierte kulturelle Kapital des Kindes zeigt sich ein mittelstark positiver, statistisch signifikanter Effekt (vgl. Hair et al. 2018). Am zweitstärksten hängt der außerschulische Kursbesuch mit dem elterlichen Kulturkapital zusammen, auch hier kann der Effekt noch als mittelstark bezeichnet werden. Auf die Teilnahme an kulturellen Angeboten in Kulturvereinen sowie den Besuch einer Schule mit musischem Schwerpunkt hat das kulturelle Kapital der Eltern einen positiven, wenngleich schwächeren Effekt.
Hingegen lässt sich für die Teilnahme an künstlerischen Angeboten in Jugendzentren kein Effekt nachweisen. Insgesamt zeigt sich also, dass das kulturelle Kapital der Eltern am stärksten mit demjenigen des Kindes assoziiert ist, gefolgt vom Kursbesuch außerhalb der Schule. Aber auch, ob die Jugendlichen eine Schule mit musischem Profil besuchen oder sich in Kulturvereinen betätigen, hängt mit dem kulturellen Kapital der Eltern zusammen. Hingegen scheint das elterliche kulturelle Kapital keinen Einfluss darauf zu haben, ob die Jugendlichen in Jugendzentren kulturellen Aktivitäten nachgehen.
Entsprechend der Regressionskoeffizienten gestaltet sich auch die Varianzaufklärung in den abhängigen Variablen: 28,1% für das inkorporierte kulturelle Kapital das Kindes, 11% für den Kursbesuch, 3,6% für die Variable zu Kulturvereinen, 2,2% für den Besuch einer Schule mit musischem Profil sowie 0% für die Teilnahme an künstlerisch-kulturellen Angeboten in einem Jugendzentrum (R2-Werte). Die Werte bestätigen die Erkenntnisse, die sich aus den Regressionskoeffizienten ergeben.
Um darzulegen, wie gut Modell und Daten zueinander passen, sind die Fit-Indizes der Modelle jeweils direkt unterhalb der Abbildungen aufgeführt. Für CFI und TLI werden Werte „close to“ 0,95 (L.-t. Hu und Bentler 1999, S. 1), für SRMR „close to“ 0,08 (Hu und Bentler 1999) und für RMSEA „close to“ (Hu und Bentler 1999) 0,06 empfohlen. Die Fit-Indizes ergeben das Bild, dass die aufgestellten Modelle die Daten insgesamt gut abbilden.
6 Diskussion
Unser Ziel war es, mit diesem Beitrag intergenerationale Zusammenhänge ungleicher kultureller Teilhabe zu analysieren und daraus Implikationen für die Operationalisierung kulturellen Kapitals abzuleiten. Wir vermuteten positive Effekte des elterlichen Kulturkapitals auf das inkorporierte kulturelle Kapital – operationalisiert über hochkulturelle Aktivitäten – des Kindes (Hypothese 1), den außerschulischen Kursbesuch (Hypothese 2) sowie die Wahl eines musischem Schulprofils (Hypothese 3) und die kulturelle Partizipation in Vereinen (Hypothese 4). Darüber hinaus erwarteten wir, dass das Kulturkapital der Eltern keine Rolle für die Teilnahme an künstlerischen Angeboten in Jugendzentren spielt (Hypothese 5). Die empirischen Ergebnisse unserer Studie stehen im Einklang mit allen aufgestellten Hypothesen.
Durch das kulturelle Kapital der Eltern lässt sich ein substantieller Anteil des kulturellen Kapitals der Kinder erklären: Je höher das gesamte kulturelle Kapital der Eltern, desto höher das inkorporierte Kapital der Kinder. Damit stützen die vorliegenden Befunde Bourdieus These der intergenerationalen Weitergabe von kulturellem Kapital (vgl. Nash 1990). Ähnliches gilt für die Teilnahme der Kinder an außerschulischen Kursen kultureller Bildung. Der Zusammenhang mit dem elterlichen kulturellen Kapital ist zwar nicht so stark wie für die hochkulturellen Aktivitäten des Kindes. Doch auch hier konnte gezeigt werden, dass signifikante Effekte bestehen, ein höheres Kapital der Eltern also positiv mit der Teilnahme an Kursen der kulturellen Bildung assoziiert ist. Ebenso lässt sich für den Besuch einer Schule mit musischem Schwerpunkt sowie die Teilnahme an Angeboten von Kulturvereinen ein positiver Effekt nachweisen, der jedoch nochmals deutlich kleiner ausfällt. Das elterliche Kulturkapital scheint keinen Erklärungswert für die Teilnahme an kulturellen Angeboten in Jugendzentren aufzuweisen.
Die Befunde sind als weitestgehend theoriekonform einzustufen und reihen sich gut in den bisherigen Forschungsstand ein. Dass kulturelles Kapital innerhalb von Familien von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, wird seit langem diskutiert und untersucht. Unsere Ergebnisse dazu unterstreichen, erweitern und differenzieren die empirische Befundlage. Auch der Befund, dass kulturelles Kapital von Eltern förderlich für die Teilnahme von Kindern an kulturellen Bildungsaktivitäten ist, kann durch unsere Analysen insgesamt bekräftigt werden. Es zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede in den Herkunftseffekten auf die verschiedenen Formen kultureller Bildung: Kurse im non-formalen Bereich scheinen neben rezeptiven hochkulturellen Aktivitäten am stärksten von der Herkunft abhängig zu sein, während das elterliche Kulturkapital für die formale und informelle(re) kulturelle Bildung eine kleinere bzw. im Fall von Jugendzentren keine Rolle zu spielen scheint. Dieses Ergebnis verdeutlicht die Bedeutung der „concerted cultivation“ (Lareau 2003) für die Forschung zu Freizeitaktivitäten. Die Ergebnisse deuten weiter darauf hin, dass die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1987) am stärksten durch den Besuch hochkultureller Veranstaltungen herausgebildet werden können, die hier zur Operationalisierung des inkorporieren kulturellen Kapitals der Jugendlichen verwendet wurden. Aber auch außerschulische Kurse scheinen Distinktionspotenzial zu bieten, während dies für kulturelle Bildung in Schulen und Kulturvereinen nur eingeschränkt sowie für Jugendzentren gar nicht zutrifft. Oft wird betont, dass kulturelle Bildung auch soziokulturelle Praktiken umfasse (Liebau 2018; Reinwand-Weiss 2013), was die Bedeutung von Jugendzentren für kulturelle Teilhabe unterstreicht und mit Implikationen zur Mobilitätsthese einhergeht: Wenn künstlerische und soziokulturelle Angebote in Jugendzentren Jugendliche erreichen, die ansonsten keinen Zugang zu kultureller Bildung haben, geht damit die Chance zum herkunftsunabhängigen Aufbau von kulturellem Kapital einher. Auch wenn bislang nicht erforscht ist, inwiefern diese Aktivitäten auch als kulturelles Kapital fungieren, können sie unter Teilhabegesichtspunkten Zugänge zu Kultur und Kunst eröffnen, die wiederum potenziell zum Erwerb von kulturellem Kapital beitragen können.
Die Befundlage wird durch den vorliegenden Beitrag in dreifacher Hinsicht erweitert: Erstens konnte das elterliche kulturelle Kapital empirisch elaborierter abgebildet werden als üblich. In vielen Studien werden je nach Datenverfügbarkeit und persönlicher Neigung wahlweise entweder kulturelle Aktivitäten, die Anzahl der Bücher oder elterliche Bildungsabschlüsse als Proxy für das kulturelle Kapital herangezogen. Unser Beitrag leistet hingegen eine Operationalisierung von kulturellem Kapital, die alle drei Formen einschließt und dadurch sehr nah an der theoretischen Konzeption von Bourdieu liegt. Zweitens konnten die kulturellen Aktivitäten der Kinder differenzierter und umfangreicher erfasst werden als in anderen Studien. Die von uns erarbeitete Operationalisierung umschließt zum einen sowohl formale, non-formale als auch informellere Bildungskontexte und ermöglicht es dadurch, auch bislang kaum empirisch erforschte Formen kultureller Teilhabe zu untersuchen und zu vergleichen, wie stark die Aktivitäten im Verhältnis zueinander vom elterlichen Kulturkapital abhängig sind. Zum anderen schließt sie alle Sparten kultureller Bildung ein. Dies gilt auch für die Kursvariable, die durch die eigene Kodierung der offenen Angaben in ihrer Anlage zwar keinen direkten Fokus auf einzelne Sparten legt, wenngleich sich empirisch zeigt, dass Musikkurse mit Abstand am häufigsten besucht wurden. Diese Offenheit für die verschiedenen Facetten kultureller Bildung in Verknüpfung mit den für viele Fragestellungen gut geeigneten NEPS-Daten macht den Beitrag an den interdisziplinären Diskurs zu kultureller Bildung anschlussfähig. Drittens ergeben sich aus unseren Ergebnissen Implikationen für die Operationalisierung kulturellen Kapitals. Während die Messung der objektivierten und institutionalisierten Form weniger umstritten ist, stellt die Messung von inkorporiertem Kulturkapital ein komplexeres Vorhaben dar. Aschaffenburg und Maas (1997, S. 577) beschreiben die Teilhabe an „high culture (art and literature) [...] as the best proxy for cultural capital“. Dies unterstützen unsere Ergebnisse zunächst: Dass der Besuch hochkultureller Veranstaltungen deutlich stärker von der Herkunft abhängig ist als die anderen untersuchten Variablen, kann als Indiz dafür verstanden werden, dass er zur Operationalisierung von kulturellem Kapital besser geeignet ist als die auch oft verwendeten Variablen zu außerschulischen Kursen (vgl. Aschaffenburg und Maas 1997; Breinholt und Jæger 2020; Georg 2016) oder gar Vereinsaktivitäten, die Wahl einer Schule mit musischem Profil oder künstlerische Aktivitäten in Jugendzentren.
Limitationen unserer Studie ergeben sich sowohl im Hinblick auf methodische Fragen als auch in Bezug zur Operationalisierung der Konstrukte. Methodische Einschränkungen bestehen aufgrund der Umstände zur Verwendung nicht optimaler Schätzer (vgl. Anhang B supplementary materials) und der insgesamt noch akzeptablen, jedoch nicht idealen Reliabilitäten. Eine weitere methodische Einschränkung liegt in der Natur von Sekundärdatenanalysen begründet, bei denen der Handlungsspielraum zur Entwicklung neuer Instrumente stark eingeschränkt ist. Hinsichtlich der Operationalisierung der Konstrukte ergeben sich weitere Limitationen. Insgesamt lässt sich zwar die Tendenz ausmachen, dass sich die Varianzanteile in substantiellem (hochkulturelle Aktivitäten), moderatem (außerschulische Kurse) bzw. vernachlässigbarem Umfang (Profilschule, Kulturvereine, Jugendzentren) durch das elterliche Kapital erklären lassen. Der direkte Vergleich bleibt jedoch dadurch eingeschränkt, dass die hochkulturellen Aktivitäten der Jugendlichen latent und messfehlerbereinigt operationalisiert wurden, während die anderen Aktivitäten in manifester, dichotomer Form in die Analysen eingingen. Trotz der auf Basis unserer Befunde ableitbaren Erkenntnisse zur Operationalisierung von kulturellem Kapital bleiben auch dazu wichtige Fragen offen. Die Grundproblematik besteht darin, dass der verschiedentlich konstatierte Mangel an inhaltlicher Klarheit in Bourdieus Schriften zu einem „mushrooming of alternative interpretations of what cultural capital is“ (Jæger 2022, S. 122) geführt habe. In der Literatur besteht keine Einigkeit darüber, was inkorporiertes kulturelles Kapital ist – wahlweise wird es als Verhalten, Geschmack, Werthaltungen oder auch Kompetenz verstanden. Darüber hinaus stellen Forschungsergebnisse, wonach kulturelles Kapital weniger über Signalwirkungen als über tatsächlich erhöhte Kompetenzen zu höherer Bildung führe (Breinholt und Jæger 2020), die von Bourdieu angenommenen Reproduktionsmechanismen infrage. Vor diesem Hintergrund schlägt Jæger (2022) gar vor, kulturelles Kapital als ein Set von non-kognitiven Fähigkeiten bzw. Persönlichkeitsmerkmalen wie beispielsweise Kreativität, akademisches Selbstvertrauen oder Persistenz zu verstehen. Auch methodisch vielversprechende Messansätze, wie der in diesem Beitrag verwendete Faktor zweiter Ordnung oder Instrumente, die kulturelles Kapital mit Mitteln der Item-Response-Theorie operationalisieren (vgl. Otte et al. im Druck), können bei einer solch großen Uneinigkeit über die inhaltliche Definition und mechanismenbezogene Funktionsweise von kulturellem Kapital keine finale Klarheit bringen. In dieser Hinsicht ist weitere Theorie- und Entwicklungsarbeit nötig. Unserer Auffassung nach sollten bei der Weiterentwicklung der Messinstrumente zwei Aspekte Berücksichtigung finden. Zum einen stellt sich die Frage, wie adäquat die Messung von kulturellem Kapital hierzulande über „hoch“kulturelle Aktivitäten unter einer tendenziell eurozentristischen Perspektive ist, wenn bedacht wird, dass Deutschland inzwischen weltweit das Land mit der zweitgrößten Nettozuwanderung ist (McAuliffe und Triandafyllidou 2022). Eine zukunftsfähige Operationalisierung von inkorporiertem kulturellem Kapital müsste der zunehmenden kulturell-ethnischen Pluralisierung der Gesellschaft Rechnung tragen. Zum anderen sollten die Messinstrumente idealerweise auch weitere Bereiche erfassen, in denen „feine Unterschiede“ abgebildet werden können, wie Reisen, Sportarten oder Überzeugungen. So bietet beispielsweise für den Bereich Musik nicht nur der Instrumentalunterricht per se Distinktionspotenzial, sondern auch die Frage, welches Instrument wie erlernt wird (Wießnet et al. 2018). Insgesamt scheint es, da die Erforschung kultureller Ungleichheiten „durch disziplinäre Zersplitterung gekennzeichnet [ist]“ (Kröner 2013, S. 233), gewinnbringend und wünschenswert, die Expertise der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen stärker zusammenzuführen.
Unsere Studie wirft die Frage auf, inwiefern sich die Ungleichheiten in der Teilhabe an kultureller Bildung, die durch die intergenerationale Weitergabe von kulturellem Kapital entstehen, verringern lassen – eine Frage, die nicht Gegenstand dieser Arbeit ist, sondern zukünftigen Arbeiten vorbehalten bleibt. Möglicherweise kann, wie im Feld der kulturellen Bildung vermutet wird, kulturelle Bildung selbst dazu beitragen, dass Individuen kulturelles Kapital unabhängig von der eigenen Herkunftsfamilie aufbauen. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Jugendzentren oder andere gering formalisierte Lernorte eine solche kulturelle Mobilität ermöglichen könnten. Dadurch böte sich das Potenzial, durch gezielte Förderung die Teilhabe an kultureller Bildung von der Vererbung kulturellen Kapitals zu entkoppeln. Jedoch ist zu vermuten, dass „feine Unterschiede“ selbst bei einer Angleichung der kulturellen Kapitalien zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Milieus weiter existieren bzw. sich neu herausbilden werden. Es bedarf also auch einer gesamtgesellschaftlichen Verständigung darüber, wie viel kulturelle Vielfalt und damit einhergehende soziale Disparitäten aus normativer Sicht gewünscht bzw. akzeptabel sind.