Kulturelle Bildung und Digitalität: Von der postdigitalen Transformation zu einer veränderten Praxis
Abstract
In einem ersten Schritt zeigt dieser Beitrag aus dem „Praxishandbuch (Post-)Digitale Kinder- und Jugendarbeit“, wie Kulturelle Bildung unter den veränderten Bedingungen der Postdigitalität – als Transformation kultureller und kollektiver Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen – gedacht werden kann. Ausgehend von einer Darstellung des Feldes Kultureller Bildung und einem kleinen Rückblick auf bestehende Diskurslinien wird gezeigt, welche Rolle Kulturelle Bildung in der postdigitalen Kinder- und Jugendarbeit einnehmen kann und welches Potenzial sie einbringt. Vertieft werden diese Gedanken mit drei konkreten Ideen und Initiativen aus dem Praxisfeld der Kulturellen Bildung. Chancen und Möglichkeiten, die digitale Technologien und Artikulationsformen mit sich bringen, werden aufgezeigt und Grenzen und Probleme kritisch hinterfragt. Abschließend versucht der Beitrag einen Blick in die Zukunft und fragt angesichts der sich rasant weiterentwickelnden technologischen Möglichkeiten nach Denklinien, die mittelfristig Bestand haben könnten.
Einleitung
Wie in den grundlegenden Beiträgen im „Praxishandbuch (Post-)Digitale Kinder- und Jugendarbeit“ (vgl. Rösch/Brüggen, 2025, S. 13-60) dargestellt, ist die Digitalisierung inzwischen so weit fortgeschritten, dass eine Unterscheidung in online vs. offline, real vs. virtuell oder digital vs. analog wenig Sinn ergibt. Unsere Umwelten sind eng durchzogen von digitalen Technologien und den sich hieraus resultierenden Praktiken. Der Medienphilosoph Luciano Floridi vergleicht dies mit dem Ort, an dem ein Fluss ins Meer mündet. Ob hier Süß- oder Salzwasser fließt, ist die falsche Frage. Es entsteht ein spezifisches Ökosystem, das gerade durch die Vermischung charakterisiert wird. Mangroven sind ein Beispiel für Pflanzen, die sich diesem Ökosystem angepasst haben (vgl. Floridi, 2017, S. 295).
Die Bezeichnungen für diesen Zustand sind unterschiedlich. Ob nun von Postdigitalität (Cramer, 2014), Digitalen Kulturen (vgl. Klein, 2019; Leeker, 2022) oder dem Zustand der Digitalität (Stalder, 2018) gesprochen wird – entscheidend ist, dass eine rein technologische Perspektive auf diese Entwicklung nicht ausreicht, um sie in ihrer Komplexität, Vielfalt und Reichweite zu erfassen. Mit der ubiquitären Verfügbarkeit von digitaler Infrastruktur hat ein kultureller Transformationsprozess eingesetzt. Kultur wird im weiteren Verlauf verstanden als „die Formgefüge, die aus sozialen Praktiken hervorgehen, in sozialen Praktiken tradiert und transformiert (Schäfer, 2013) werden und die ihrerseits Sinnanschlüsse, und somit Sozialität, überhaupt erst ermöglichen (vgl. Hahn, 2000)“ (Jörissen, 2018, S. 52). Formgefüge können dabei einerseits Handlungen und Rituale sein, aber auch Artefakte, institutionelle Settings oder Gebäude. Im Zuge der digitalen Transformation verändern sich unsere kollektiven Orientierungs- und Artikulationsformen, die Gesten, Routinen und Rituale, mit denen wir miteinander den sozialen Raum formen; aber auch die Gestaltung von materiellen und immateriellen Formgefügen wandeln sich: Künstlerische Ausdrucksformen werden erweitert, Gebäude anders geplant, die Ideen von Geschlecht oder Familienzughörigkeit verändern sich – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Unter dieser Perspektive wird deutlich, warum sich mittels Kultureller Bildung hierzu in besonderer Weise Möglichkeiten zur Reflexion und Gestaltung auftun. Die in diesem Feld verhandelten Fragen nach der Rolle des Subjekts, nach Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung, nach der Gestaltung von Umwelt und – ganz zentral – der rezeptiven und produktiven Auseinandersetzung mit kulturellen und künstlerischen Praxen eröffnen ein enormes Potenzial zur kritischen Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden politischen, sozialen, geografischen, kulturellen und subjektiven Transformationen, die der digitale Wandel mit sich bringt.
In einem ersten Schritt zeigt dieser Beitrag, wie Kulturelle Bildung unter diesen veränderten Bedingungen gedacht werden kann. Ausgehend von einer Darstellung des Feldes und einem kleinen Rückblick auf bestehende Diskurslinien wird gezeigt, welche Rolle Kulturelle Bildung in der postdigitalen Kinder- und Jugendarbeit einnehmen kann.
Vertieft werden diese Gedanken mit Ideen und Initiativen aus dem Praxisfeld der Kulturellen Bildung. Chancen und Möglichkeiten, die digitale Technologien und Artikulationsformen mit sich bringen, werden aufgezeigt und Grenzen und Probleme kritisch hinterfragt.
Abschließend versucht der Beitrag einen Blick in die Zukunft und fragt angesichts der sich rasant weiterentwickelnden technologischen Möglichkeiten nach Denklinien, die mittelfristig Bestand haben können.
Kulturelle Bildung in einer postdigitalen Welt
„Kulturelle Bildung“ ist in den vergangenen 25 Jahren zu einem feststehenden Begriff in der Kinder- und Jugendarbeit geworden. Die aktuellen kultur- und bildungspolitischen Debatten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Begriff auf eine deutlich längere Tradition zurückblickt. Georg Bollenbeck verfolgt das Begriffspaar „Kultur“ und „Bildung“ bis in die europäische Aufklärung zurück (vgl. Bollenbeck, 1994) und Jörg Zirfas und Leopold Klepacki zeigen, dass sich wesentliche Argumentationslinien von der griechischen und römischen Neuzeit bis ins Heute rekonstruieren lassen (vgl. Zirfas et al., 2009, 2011, 2014, 2016).
Im Nachkriegsdeutschland kann die Geschichte der Kulturellen Bildung als eine Geschichte der Institutionalisierung und Professionalisierung in Abgrenzung von den Feldern der Jugendhilfe einerseits und der Schule andererseits beschrieben werden (vgl. Deutscher Kulturrat e.V., 1994). Zwischen den 1970er und 1990er Jahren professionalisiert und strukturiert sich das Praxisfeld zunehmend: Es entstehen erste Studiengänge in Kulturpädagogik, bundesweite Verbandsstrukturen werden ausgebaut und es erfolgt eine Anerkennung durch die Förderpolitik. In diesen Jahren wird der Begriff „Kulturelle Bildung“ (mit großem K) erstmals verwendet. Er stellt jedoch keinen fest definierten Begriff dar, sondern ist ein typischer Containerbegriff. Es gibt eine Fülle von Bezeichnungen und Konzepten, die sich in ihm wiederfinden: Ästhetische Bildung, musische Erziehung, Kinder- und Jugendkulturarbeit, Kulturpädagogik, Kunst- und Kulturvermittlung, ästhetisches Lernen, künstlerische Kinder- und Jugendbildung sowie eine Reihe von spartenspezifischen Teilbegriffen (Musikpädagogik, Theaterpädagogik usw.) (vgl. Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., 2001, S. 240; Zirfas/Klepacki, 2012). Trotz aller Unterschiede, die die jeweiligen historischen Bezüge der Begriffe mit sich tragen, eröffnet sich unter dem Begriff der Kulturellen Bildung ein gemeinsames Feld mit ähnlichen Denkbewegungen. Es geht um Bildungszusammenhänge, die dem Ästhetischen, der Wahrnehmung, den Künsten, den Kulturen und ihren Symbolwelten besondere Aufmerksamkeit schenken. Dabei werden sowohl individuelle Prozesse als auch die Strukturen und Institutionen, in denen diese Form von Bildung geschieht, in den Blick genommen (vgl. Unterberg, 2021, S. 244).
Eine häufig gegenüber dem Begriff und Praxisfeld geäußerte Kritik ist die der Ausgrenzung und Elitenbildung, die beispielhaft Jan Niggemann hervorbringt, wenn er den Vorwurf formuliert: „Sie [Kulturelle Bildung, Anm. L.U.] riecht für mich nach einer tradierten und traditionellen Auffassung bürgerlicher Kultur und damit verdächtig nach Missionierung, besonders in der Art und Weise, wie sie Othering und Dämonisierung wiederholt“ (Castro Varela / Mecheril, 2016, S. 8). Kulturelle Bildung als Erziehungs- oder Publikumsprojekt zu verstehen, verkennt dabei einerseits einen breiten Diskurshintergrund und verliert andererseits das Potenzial hinsichtlich der (Mit-)Gestaltung und kritischen Reflexion gesellschaftlicher Veränderungsprozesse (vgl. Eickhoff, 2023).
Betrachten wir Kulturelle Bildung als Prozess der Verhandlung von Bedeutungsgebung, Sinnanschlüssen und der Perspektive auf Wirklichkeit im Medium der Künste und mittels ästhetischer Praktiken in all ihrer Vielfalt – vom Musikhören über das Sprayen von Graffitis bis zur Entwicklung eigener Tanzchoreografien auf Tiktok – eröffnet sich hier die Chance, den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen der digitalen Transformation in ihrer Komplexität und Tiefe zu begegnen. So können über technisch-funktionale Aspekte hinaus auch andere Fragen, die die digitale Transformation mit sich bringt, verhandelt werden: Fragen nach Partizipation, Souveränität, Selbstermächtigung, Machtstrukturen, Demokratie und Interaktion mit dem Sozialen sind im Feld der Kulturellen Bildung schon immer bestimmend für den Diskurs.
Anhand von vier Strängen soll im Folgenden einerseits der diskursive Hintergrund in der Kulturellen Bildung beleuchtet werden und andererseits gezeigt werden, wie sich Kulturelle Bildung in digitalen Kulturen denken lässt. Dabei wird deutlich, dass die Effekte des digitalen Wandels auf unsere Selbst- und Weltverhältnisse und die hieraus entstehenden Fragen nicht vor der Folie des vollständig Neuen und der disruptiven Veränderung gedacht werden sollten, sondern auf vielen Ebenen Momente der Kontinuität und der Anschlüsse an unterschiedliche Diskursstränge sichtbar wird.
Teilhabe und Zugänglichkeit
Eine wesentliche konzeptionelle Grundlage für die Kulturelle Bildung wurde in den 1970er Jahren in soziokulturellen Zentren durch engagierte Pädagog*innen gelegt (vgl. u.a. Mayrhofer/Zacharias, 1977; Zacharias, 1989a, 1989b). Diese Ideen fallen mit Impulsen der „neuen Kulturpolitik“, die unter dem Slogan „Kultur für alle“ (Hoffmann, 1979) Fragen nach Inklusion und Teilhabe aller gesellschaftlichen Schichten an kulturellen Angeboten verhandelt hat, zusammen. So bilden Fragen nach Teilhabe und Zugänglichkeit, nach der gerechten Verteilung von Steuermitteln und der Mitgestaltung eines demokratischen Miteinanders eines der konzeptionellen Fundamente von Kultureller Bildung. So gilt es, die Chancen und Möglichkeiten zu nutzen, die digitale Kulturen zur Teilhabe und Mitbestimmung bieten: der verhältnismäßig leichte Zugang zu Informationen und künstlerischen Produktionen, „Vernetzungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, die einer Minderheit oder einer marginalisierten Gruppe angehören und sich so als Teil einer größeren Gemeinschaft erfahren“ (Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, 2020, S. 13), die Möglichkeit, Interessen zu bündeln und sichtbar werden zu lassen, oder die Möglichkeiten zur künstlerischen Produktion mit Hilfe digitaler Endgeräte.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Mitwirkung und Beteiligung unter postdigitalen Vorzeichen mindestens so voraussetzungsreich sind wie vor der digitalen Transformation. Der Zugang zur Infrastruktur (Geräte, Software, Internetanschluss), der Umgang mit Materialien und nicht zuletzt ein Verständnis für die Logiken der Verbreitung und Verarbeitung von Informationen geschieht nicht von selbst, sondern benötigt Ressourcen und muss angeleitet und begleitet werden.
Lebensweltbezug
Ein zweiter wesentlicher Bezugspunkt für das konzeptionelle Denken in der Kulturelle Bildung ist die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen sowie ihre Sozialräume (vgl. Hübner/Kelb, 2015). Lebenswelt begriffen als die selbstverständliche Basis unseres Denkens und Handelns, die unsere Wahrnehmung und unser Denken prägt (vgl. Husserl, 1936). Hier stehen die Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf ihre Themen und Bedürfnisse im Mittelpunkt der Arbeit.
Bezüge zur Pop- und Jugendkultur sind somit immer schon wesentlicher Inhalt in der Kulturellen Bildung. Diese Lebenswelt unterliegt angesichts der digitalen Transformation massiven Veränderungen: „Erfahrungswelten von Kindern und Jugendlichen ereignen sich heute vor dem Hintergrund einer mediatisierten Lebenswelt, die dem*der Einzelnen ein hohes Maß an Selbstinszenierung und an Strategien der Selbstermächtigung im Umgang mit Medien, Institutionen, öffentlichem Raum etc. abverlangt“ (Westphal/Jörissen, 2013, S. 10).
Die konkreten Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen gilt es weiterhin in den Blick zu nehmen, auch wenn diese durch Algorithmen gestaltet, medial vermittelt und durch die digitale Infrastruktur wesentlich bestimmt wird. Die Verknüpfungen sowohl des*der Einzelnen werden dabei durchaus komplexer als in der vordigitalen Zeit. Das analoge Verständnis von Nah- und Fernraum greift dann nicht mehr (vgl. Westphal, 2010). Die sozialen Verknüpfungen werden komplexer und erfordern die Auseinandersetzung mit diesen neuen Lebenswelten.
Subjektivierung und Selbstbestimmung
Eine dritte Diskurslinie aus der Kulturellen Bildung erhält im Zuge der digitalen Transformation eine neue Relevanzsetzung: die Frage nach Selbstbestimmung und Subjektivierung angesichts neoliberaler Steuerungsmechanismen und Kommerzialisierung. Mit dem Modellprojekt „Lernziel Lebenskunst“ (vgl. Baer, 1995) wird schon deutlich vor der digitalen Transformation das Thema der gelingenden Lebensgestaltung in den Blick genommen.
Versteht man Subjekte nicht als feststehende Entitäten, sondern erkennt an, „dass Menschen bzw. Individuen sich in Wissens-, Macht- und Selbstpraktiken als ein Subjekt zu verstehen lernen“ (Ricken, 2013, S. 33) und es sich hier um einen fortwährenden relationalen Prozess handelt, so drängt sich die Frage auf, wie diese Prozesse angesichts der nichtmenschlichen Akteure, die unser Alltagsleben wesentlich bestimmen, verändern und welche Gestaltungsmöglichkeiten sich hier auftun: Wie lässt sich das „Wechselspiel aus Authentizität und Inszenierung“, das Ingrid Paus-Haasebrink et al. für den Umgang mit Talkshows beschreiben (1999, S. 372) und das sich auf den Alltag mit und in Sozialen Netzen übertragen lässt, wirklich als Spiel gestalten, in dem Ausprobieren, Scheitern und Neuerfinden realistische Möglichkeiten darstellen? Wie bekommt man angesichts der engen Einbindung in digitale Infrastrukturen ein Gefühl für die Grenzen eigener Entscheidungen und für die Möglichkeiten, aus den vorgegebenen Rahmenbedingungen auszusteigen?
Künste
Die Künste, von der Literatur, über die Musik und das Theater bis zur bildenden Kunst, Film, Fotografie und weiteren, spielen sowohl rezeptiv wie auch produktiv für die Kulturelle Bildung eine herausragende Rolle. Sie sind, wenn man so will, das Alleinstellungsmerkmal dieses Diskursfeldes. Der Rat für Kulturelle Bildung spricht von einer „Allgemeinbildung im Medium der Künste“ (Rat für Kulturelle Bildung, 2013, S. 15).
Neben neuen künstlerischen Artikulationsformen – wie digital vernetzter Kunst (vgl. Klein, 2019), Makerkultur (vgl. Meißner, 2021) oder Gaming (Breuer, 2017) – verändert sich im Zuge der digitalen Transformation auch das Feld der ‚tradierten’ künstlerischen Sparten und Ausdrucksmöglichkeiten. Beispielhaft seien hier die Digitalisierung musealer Artefakte, Streamingdienste für klassische Konzerte oder Phänomene wie K-Pop oder Tiktok-Videos angeführt – sie alle sind Teil eines sich verändernden kulturellen Rahmens.
In und mit dem Medium der Künste eröffnet sich für Prozesse der Kulturellen Bildung ein großes Potenzial. Momente der Umdeutung, der Variation von Normen und der nicht regelkonformen Antworten auf gesellschaftlich relevante Fragen können erforscht und erprobt werden. Dabei erlauben digitale Infrastrukturen neue Herstellungs- und Produktionsbedingungen, die wiederum neue Möglichkeiten der Gestaltung und Artikulation eröffnen. Nicht nur neue technologische Möglichkeiten, sondern vor allem neue gesellschaftliche Logiken, neue Formen und veränderte Bedingungsgefüge können hier adressiert werden.
Beispiele aus der Praxis
In der Praxis der Kulturellen Bildung zeigt sich der Umgang mit digitaler Infrastruktur bzw. den digitalen Kulturen als vielfältig. Die folgenden Impulse aus der Praxis sind deswegen exemplarisch zu verstehen und erheben weder den Anspruch eines repräsentativen Ausschnitts noch einer systematischen Aufarbeitung. Wesentlich für die Auswahl war die in den Projekten sichtbar werdende Haltung. Weder geht es darum, vordigitale Zusammenhänge zu digitalisieren, wie dies bspw. im Rahmen der Corona-Pandemie vielfach geschehen ist, noch geht es um das Erlernen digitaler Techniken oder den Umgang mit digitalen Endgeräten. Die hier beschriebenen Vorhaben verhandeln mittels digitaler Kulturtechniken und Handlungslogiken aktuelle gesellschaftspolitische Themen auf künstlerischer Ebene.
Earth Speakr von Olafur Eliasson
Wie Kinder und Jugendliche über ästhetische Artikulation eine Stimme in der Öffentlichkeit bekommen können, zeigt das partizipative Kunstwerk ‚Earth Speakr‘ von Olafur Eliasson. Zwischen 2020 und 2022 lud der Künstler Kinder und Jugendliche ein, ihre Stimme für ihren Planeten zu erheben. Mittels Sprach- und Bildbotschaften konnten sie ihre Hoffnungen und Wünsche bezüglich einer Zukunft auf unserem Planeten teilen. In Zusammenarbeit mit seinem Studio, Kindern und Jugendlichen sowie Expert*innen und Wissenschaftler*innen entwickelte der Künstler eine App, die die Botschaften der Teilnehmenden auf die Umwelt projiziert. Die Mimik der Sprechenden fügt sich dann in den Avatar der Umwelt ein. So sind es Bäume, Steine oder Seen – die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen –, die Botschaften vortragen. Diese inszenierten Botschaften werden anschließend in Orten getaggt und auf einer virtuellen Landkarte sichtbar und öffentlich zugänglich.
Das Kunstwerk wurde vom Auswärtigen Amt aus Anlass der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 gefördert und in Kooperation mit dem Goethe-Institut realisiert. Schon in dieser Förderstruktur wird die politische Dimension des Kunstwerks sichtbar. Kindern und Jugendlichen eine öffentliche Stimme im Klimadiskurs zu geben, war das Anliegen des Projekts.
Die „Verstrickung von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft“ (Allert et al., 2017, S. 9) wird in den audio-visuellen Botschaften der Kinder und ihrer Umwelt in herausgehobener Weise sichtbar. (Anmerkung: Für eine ausführliche bildungstheoretische Analyse des Kunstprojektes sei auf Winderlich / Johns 2022 verwiesen.) Die Stimme wird digital auf die Umwelt übertragen und eröffnet ein neues Verhältnis zwischen Selbst und Welt: So bittet der Keks persönlich darum, nicht mehr in Plastik verpackt zu werden; der Gullideckel erklärt selbst, warum er stinkt; der Baum, was er für ein glückliches Leben in der Stadt braucht – mit der Stimme der Kinder. Das Kunstwerk eröffnet einen neuen Möglichkeitsraum der Artikulation für Kinder und Jugendliche, in dem eigene Bedürfnisse, Wünsche und Botschaften nicht nur ausgesprochen, sondern auch über die Einbindung in das Projekt anerkennungsfähig werden (vgl. Jörissen, 2015, S. 58).
Mit dem Projekt verbunden ist explizit die Aufforderung an die Erwachsenen, den inzwischen über 10.000 Nachrichten zuzuhören. So sagt der Künstler: „It is a testament to the importance of listening to the next generations, as we adults make crucial decisions that inevitably affect their future” (Eliasson, 2022).
Mittels der digitalen Infrastruktur (App, Software, Website) wird in diesem Kunstwerk einerseits eine Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an relevanten gesellschaftlichen Diskursen ermöglicht. Die Verfremdung der audio-visuellen Botschaften ermöglicht andererseits die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der beteiligten Kinder und verwickelt diese in die thematisierte Umwelt und eröffnet auf diese Weise eine neue Bedeutungsebene. Die schöpferische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Earth Speakr sowie Strategien des (Sich-)Zeigens werden hier in den Mittelpunkt gerückt. Die Wahrnehmung des Selbst, die Verortung der eigenen Botschaft in der Öffentlichkeit, das Sichtbarmachen und -werden in der Öffentlichkeit, letztlich die Fähigkeit zum Handeln werden hier in diesem Projekt sichtbar (vgl. Winderlich/Johns, 2022).
‹SELFIE2› von Kılınçel & Schaper
„Wie kann das Selfie einer Gemeinde aussehen?“ (vgl. Kılınçel/Schaper, 2020) – mit dieser Frage sind zwei Künstler*innen im Rahmen eines künstlerischen Residenz Programms in die hessische Stadt Schotten gereist. Schon mit dieser Frage knüpfen die Künstler*innen an ein alltägliches Phänomen digitaler Kulturen an: das „sich selbst zum Bild machen“ (Ullrich, 2019, S. 6). Während dieser Vorgang für den*die Einzelnen im Alltag ständig beantwortet wird, ist die Herausforderung eines Abbilds der ganzen Gemeinde deutlich größer.
Ausgehend von einer künstlerischen Feldforschung haben die Künster*innen gemeinsam mit den Bewohner*innen der Gemeinde Beiträge für eine Website entwickelt, die wiederum durch eine Webdesignerin umgesetzt wurde (vgl. Sterzenbacher et al., 2022).
Das Ergebnis ist eine Website (Link: www.schotten2020.de), die in alle Richtungen zu verschieben ist. Nie eröffnet sich der Blick auf das Gesamte. Immer werden lediglich Ausschnitte sichtbar. Auf die Einordnung des Materials verzichten die Künstler*innen, so dass die Bezüge beim Betrachten selbst hergestellt werden müssen. Hier werden (Selbst)bilder zusammengefügt, ohne dass ein homogenes Ganzes entstünde. Brüche, offene Enden und unklare Bezüge machen die vielfältigen Schichten sichtbar, die eine Selbsterzählung der Gemeinde enthalten: der Kickertisch, ein Mähdrescher, ein Erdmännchen, der Schriftzug ‚Dorfladen‘ – alles Puzzlestücke, deren Bedeutungsgebung und Verknüpfung individuell hergestellt werden müssen. „Man kann die Form der Website darum auch als Antwort auf die selbstgestellte Aufgabe interpretieren: Ihr dynamischer Aufbau verweist darauf, dass ein ‚Selfie‘ der Kleinstadt Schotten nur aus einer Vielzahl teils widersprüchlicher Selbstbilder zusammengefügt werden kann, die wiederum auf weitere Zusammenhänge verweisen.“ (Sterzenbacher et al., 2022)
Im Laufe der ethnographischen Begleitforschung des künstlerischen Projektes, die „auf die mit Jugendlichen entwickelten Videofragmente vor Überwachungskameras“ (Sterzenbacher et al., 2022) fokussiert, werden die unterschiedlichen Bildungsmomente im Rahmen des Entstehungsprozesses deutlich. Mithilfe künstlerischer Verfahrensweisen hinterfragen die Jugendlichen eines Jugendzentrums die Logiken und Mechanismen von Überwachungspraktiken und den damit verbundenen Machtkonfigurationen. Sie verbinden den digitalen und physischen Raum, die Website wird hier zu einer „Stelle des Übergangs“ (Herlitz/Zahn, 2019), die jenseits von eingeübten Ordnungen einen Interpretationsraum eröffnet. Auf wie vielen Ebenen die Intervention der Künstler*innen ansetzt, zeigt folgender Bericht der begleitenden Forschenden:
„Bis zum Tag der Zusammenarbeit hatten die Künstlerin und der Künstler noch nicht klären können, wie sie schließlich an die Aufzeichnungen der Kameras gelangen würden. Die Arbeit vor den Überwachungskameras war also auch eine Wette darauf, wie das Material am Ende aussehen würde (Qualität, Bildausschnitt) und ob die Kameras auch tatsächlich aufzeichneten. Das Ergebnis ist ambivalent: Einerseits kann die Anfrage als Teil einer künstlerischen Intervention gesehen werden, die der Verwaltung vermittelte, dass die Überwachung vom Residenzteam kritisch gesehen wurde. Andererseits zeigte sich bei der Sichtung des schließlich von der Gemeinde übergebenen Bildmaterials, dass die Linse einer der Kameras so zerkratzt war, dass die überwachte Treppe nicht mehr zu sehen war. Der beauftragten Firma war das bis dahin nicht aufgefallen. Während die Künstlerin und der Künstler also mit ihrer Aktion stigmatisierende Überwachung thematisieren wollten, könnten sie letztlich dazu beigetragen haben, dass diese nun langfristig besser durchgeführt werden kann. An der zerkratzten Kameralinse zeigt sich auch ein weiteres Mal: Das Residenzteam kennt wegen seiner vergleichsweise kurzfristigen Aufenthaltszeit in Schotten nicht alle Ebenen der lokalen Konflikte und Denkweisen.“ (Sterzenbacher et al., 2022)
Cultural Hacking
Neben den beiden vorgestellten künstlerischen Projekten, die als Prozess und Werk in sich geschlossen sind und die auf eine durchaus voraussetzungsvolle technologische Infrastruktur angewiesen sind, soll als drittes eine Handlungsoption vorgestellt werden, die auch ohne große technologische Infrastruktur umgesetzt werden kann. Thomas Düllo und Franz Liebl charakterisieren Cultural Hacking als subversives Spiel mit kulturellen Codes, Bedeutungen und Werten (2005).
Damit knüpft Cultural Hacking an eine Kulturtechnik der digitalen Medien an und überträgt diese auf den kulturellen Raum. Hacking versucht erwartbare Muster und Systeme zu stören, die Kontrolle zu hinterfragen und Bedeutung neu zu sortieren. Damit wird die Wahrnehmung des Möglichen verändert und Bewegungsoptionen eröffnet (vgl. Kolle, 2016).
Kultur im oben skizzierten Verständnis ist ein System aus Codes, Konventionen, Normen und Regeln. Götz Kolle beschreibt dies als „unsichtbaren Quellcode hinter den Mustern des Alltags“ (Kolle, 2016): Wie wir uns begrüßen, wie wir uns wann kleiden, was wir essen, wer sprechen darf und wer zuhören muss – in unserem täglichen Lebensvollzug spiegeln sich diese Konventionen immanent wider.
Diesen Konventionen begegnet Cultural Hacking kritisch: Es ist subversiv (vgl. Meyer, 2015) und die Hacker*innen agieren im Verborgenen. Eine notwendige Voraussetzung zum Hacken ist ein tiefgründiges Wissen über die Codes, die unsere Wirklichkeit strukturieren, um hier Umdeutungen vornehmen zu können. Diese können klein sein, entfalten aber über die Bedeutungsverschiebung einen großen Effekt, wie beispielsweise die Arbeiten des Street Art Künstlers Banksy zeigen. Der schweizer Künstler Johanens Gees ersetzte 2007, inmitten der Diskussion um die Erlaubnis oder das Verbot von Minaretten in der Schweiz, das Kirchturmleuten durch den Gebetsruf eines Muezzin (Gees, 2007). Indem er den Kirchturm mit der Geräuschkulisse eines Minaretts kombiniert, den geduldeten Gebetsruf (Glockenläuten) durch den verbotenen Ruf ersetzt, hinterfragt er bestehende Macht- und Denkmuster und codiert das kulturelle Verständnis um.
Ähnliche Strukturen finden sich im Phänomen des Memes. Limor Shifman versteht Memes als „kulturelle Information, die von Person zu Person weitergegeben werden, allmählich jedoch das Ausmaß eines gemeinsamen gesellschaftlichen Phänomens annehmen“ (Shifman, o. J., S. 23). Das Prinzip des Remix, das unterschiedliche Bezüge zu einer neuen Bedeutung zusammensetzt, ist den Memes neben der Praktik des Sharings (vgl. John, 2013), des Weiterverbreiten und Teilens inhärent. Die Kombination von Worten und (bewegten) Bildern, hinterfragt die bestehenden kulturellen Codes.
Mit kulturellen Mustern zu spielen, diese so weit zu verstehen, dass sie hinterfragt und mit neuer Bedeutung versehen werden können, ist eine anspruchsvolle, aber zutiefst lohnende Beschäftigung. Sowohl bei der Betrachtung (bspw. hier Hedinger, o. J.) als auch bei der eigenen Produktion entstehen Einsichten und Umsichten über die uns umgebende Kultur (vgl. Meyer, 2010).
Fazit – Blick nach vorn
Die hier dargestellten Projekte sind in ihrer Zusammenarbeit aus Künstler*innen mit Kindern und Jugendlichen beispielhaft, aber nicht ohne weiteres in die Breite übertragbar. An diesen Beispielen wird jedoch deutlich, welche Rolle der Kinder- und Jugendkulturarbeit in der postdigitalen Kultur zukommt: Die Herausforderungen, die Folgen und die Implikationen, die mit der digitalen Transformation einhergehen, können weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher Ebene kognitiv erfasst werden. Dazu sind die Veränderungen zu komplex, weitreichend und dynamisch. Ästhetische Prozesse und Vollzüge ermöglichen eine umfassendere Erfahrung und Reflexion dieser Vorgänge.
Konkret bedeutet dies, im pädagogischen Alltag in einer „annehmenden Haltung gegenüber digitaler Kultur“ (Jörissen, 2019) neue und veränderte kulturelle Praktiken auszuprobieren und Räume zu eröffnen, diese zu hinterfragen.
Sichtbar wird dies beispielsweise im Projekt Makerbox, das die LKJ Baden Württemberg umsetzt. Kinder und Jugendliche werden hier in die Makerkultur eingeführt und experimentieren über mehrere Tage mit Elektroschrott. Dabei entwickeln sie ihre eigenen Kunstmaschinen, die in einer abschließenden Präsentation vorgestellt werden (vgl. LKJ BW o.J.). Hier wird aktiv an kulturelle Handlungen und Ideen aus digitalen Zusammenhängen angeknüpft und die mit der Makerkultur verknüpften Ideen von Selbstbestimmung und kreativer Auseinandersetzung mit digitalen Geräten spielerisch thematisiert.
Ein anderes Beispiel dafür, wie digitale Medien Kulturelle Bildung verändern, zeigt ein Angebot der Kinder- und Jugendkunstschule Wartburgkreis. Hier gibt es ein Kursangebot für ‚Digitales Zeichnen‘, in dem auf Computer, Tablet oder Smartphone die Techniken und auch die Ausdrucksformen digitalen Zeichnens vermittelt und vertieft werden (Jugendkunstschule Wartburgkreis e.V. 2024). Jugendliche erleben hier die Möglichkeiten digitaler Tools für ihren künstlerischen Ausdruck im digitalen Raum.
Kultur bewegt sich schon immer in einem Spannungsfeld aus Tradition, dem Weiterführen von bestehenden Deutungsmustern, und Transformation, der ständigen Entwicklung und Veränderung dieser Deutungsmuster. So wird auch die Zukunft der Kulturellen Bildung zwischen Tradition und Transformation verortet sein. Einerseits werden sich ständig verändernde Bedingungen der Artikulation und der Bedeutungszuweisung sowie neue technologische Möglichkeiten auf die Praxis der Kulturellen Bildung verändert auswirken. Die wesentlichen Momente von Kultureller Bildung, wie ein Blick auf ästhetische und künstlerische Phänomene sowie die Frage nach der Selbstbestimmung unter den bestehenden Bedingungen werden ihr aber erhalten bleiben.