Kulturelle Bildung und Digitalisierung – zwei Gegensätze?
Abstract
Digitalisierung und Kulturelle Bildung: Im post-digitalen Zeitalter gehören beide zum Alltag. Doch was heißt dies für die künstlerisch-pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen? Was bedeutet dies für die Künste? Die Kulturelle Bildung ist im 21. Jahrhundert weder per se analog noch digital. Aktuelle Kulturelle Bildung nutzt die Möglichkeiten, die in einem digitalisierten Zeitalter zur Verfügung stehen, um Menschen aller Altersgruppen ästhetische Erfahrungen, Selbstwirksamkeitserfahrungen und kulturelle sowie gesellschaftliche Teilhabeprozesse und damit Bildungsprozesse zu ermöglichen.
Immer häufiger findet sich im Diskurs um Kulturelle Bildung das Wörtchen „und“. Kulturelle Bildung und Bildung für Nachhaltige Entwicklung, Kulturelle Bildung und politische Bildung oder eben Kulturelle Bildung und Digitalisierung. Zwei Begriffe, die zunächst einmal und theoretisch betrachtet so weit entfernt scheinen wie die Erde vom Mond: Auf der analogen Seite der Kulturellen Bildung und der Anspruch an Ganzheitlichkeit und Leiblichkeit, Übersummation – das Ganze ist mehr als seine Teile – und sinnesbezogene Erfahrungen; auf der anderen, der digitalen Seite, die Reduzierung auf Eins und Null, auf die Welt in einem Smartphone, auf den Digitus, den Finger. Der Kulturellen Bildung liegt ein Menschenbild als erfahrungsbezogenes und bildsames Wesen zugrunde, in dem potenzielle Möglichkeiten schlummern, die es zu entdecken, zu entwickeln und pädagogisch zu sehen gilt; aber jenseits von Null und Eins existiert theoretisch betrachtet nichts mehr, kein Dazwischen, kein Inter-Esse, keine Wahlmöglichkeiten (siehe: Thomas Damberger „Herausforderung der Kulturellen Bildung im Digitalzeitalter"). Wie gestaltet sich also das Verhältnis von Kultureller Bildung und Digitalisierung?
Das Post-Digitale – mehr als sichtbare Objekte
Wir leben in einer post-digitalen Welt. Das heißt nicht, wie man annehmen könnte, dass wir das Digitale bereits hinter uns gelassen hätten. Vielmehr ist das Analoge vom Digitalen nicht mehr zu trennen. Unsere analoge Kommunikation ist digitalisiert, unsere Arbeitsprozesse sind durchzogen von digitalen Tools und die Werbung, die wir bekommen, unterliegt Algorithmen, die scheinbar persönliche Interessen exakt bedienen. KI – Künstliche Intelligenz ist auf dem Vormarsch. Wir „nutzen“ nicht ein analoges oder digitales Medium, sondern wir denken mittlerweile in einem analog-digitalen Möglichkeitsraum, in dem das Digitale und Analoge ineinander übergehen, sich ergänzen, verschwimmen. Die Erlanger Bildungstheoretiker*innen um Benjamin Jörissen (siehe: Benjamin Jörissen/ Lisa Unterberg „Digitale Kulturelle Bildung: Bildungstheoretische Gedanken zum Potenzial Kultureller Bildung in Zeiten der Digitalisierung") nutzen dafür – auch in Rückgriff auf den Begriff des Rhizoms geprägt durch Gilles Deleuze – das Bild des Myzels, die „Gesamtheit der fadenförmigen Zellen eines Pilzes oder eines Bakteriums“. Als Pilz wird – biologisch gesprochen – eigentlich nur der auf der Bodenoberfläche sichtbare Fruchtkörper bezeichnet. Der eigentliche Körper des Pilzes befindet sich aber als Myzel unter der Erde und ist weit verzweigt, manchmal bis zu einem Quadratkilometer. Ein schönes Bild für digitale Objekte: Was wir an der Oberfläche wahrnehmen als Hardware, als Software, als digitales Medium ist nur ein kleiner, sichtbarer Teil der Welt; bildet nur einen kleinen Teil der Möglichkeiten und Einflussfaktoren ab, die dieses Objekt auf uns und unsere Lebenswelt, auf unseren Alltag nimmt.
Auch Kulturelle Bildung ist im 21. Jahrhundert weder per se analog noch digital. Aktuelle Kulturelle Bildung nutzt die Möglichkeiten, die in einem digitalisierten Zeitalter zur Verfügung stehen, um Menschen aller Altersgruppen ästhetische Erfahrungen, Selbstwirksamkeitserfahrungen und kulturelle sowie gesellschaftliche Teilhabeprozesse und damit Bildungsprozesse zu ermöglichen. Das heißt natürlich, dass Anbieter Kultureller Bildungsangebote und Vermittler*innen in kulturellen Bildungsprozessen über diese Entwicklungen Bescheid wissen müssen und am besten nicht nur die Pilzkörper unterscheiden, sondern auch das darunter liegende Myzel reflektieren können sollten, um sich darin nicht zu verheddern. Gerade eine reflexive Grundhaltung gegenüber zeitgenössischen gesellschaftlichen Phänomenen ist ein Kennzeichen einer guten kulturellen Bildungsarbeit.
Die Künste helfen dabei. Ihre unterschiedlichen Formen machen deutlich und sichtbar, wie das Post-Digitale bereits selbstverständlicher Teil unseres Alltags geworden ist. Fast jede Musik, die wir hören, ist digital bearbeitet oder wird zumindest auf digitalen Tonträgern gespeichert. Literaturkritik wird auf großen Plattformen von Laien gemacht und löst vielfach die gedruckte Fachanalyse und -expertise von „Literaturpäpsten“ ab. Installationen im Feld der bildenden Kunst arbeiten mit digitalen Medien und weisen auf soziale und politische Abhängigkeiten, aber auch unentdeckte Möglichkeiten hin. Museen stellen ihre Sammlungen online und machen ganze Museen digital begehbar und demokratisieren – zumindest in der Theorie – kulturelle Teilhabe. Video, Games und Film sind seit Langem anerkannte Kunstgenres und werden selbst wiederum genutzt, um neue Formen in typischerweise „analogen“ Kunstsparten wie Theater oder Tanz (weiter) zu entwickeln. Wer glaubt, die Kunstszene wäre ein Relikt aus analogen Zeiten, irrt gewaltig. Durch künstliche Intelligenzen werden innovative Kunstformen geschaffen, die ohne eine menschliche Ideengenerierung auskommen und im Ergebnis nicht mehr von einem durch Menschen hergestellten Kunstwerk zu unterscheiden sind (Reinwand-Weiss 2019:71f.).
Alle diese Formen haben eines gemeinsam: Sie sind weder rein analog noch rein digital. Ob nun analog oder digital, dies wäre eine bloße Klassifizierung der Erscheinung, würde nicht das Myzel, das heißt die darunter liegende gesellschaftliche Struktur unter diesen Phänomenen sich grundlegend verändern. Gesellschaftlich betrachtet haben post-digitale ästhetische Praktiken gemein, dass sie auf der einen Seite Macht- und Hierarchiestrukturen verändern, Partizipation und Zugänglichkeit erhöhen sowie andere Formen der Kommunikation erfordern und Selbstbestimmungsmöglichkeiten erweitern. Auf der anderen Seite verhindern sie Transparenz und lückenloses Verstehen, schaffen neue Abhängigkeiten und Machtstrukturen, schränken Selbstbestimmungsmöglichkeiten ein, Vermitteln angesichts einer Vielfalt an Optionen ein Gefühl der subjektiven Unzulänglichkeit Optionen wahrzunehmen und entziehen uns die vollständige Kontrolle über unser Handeln. Denken wir nur an die Unmöglichkeit, unsere privaten Daten zu schützen und gleichzeitig vollumfänglich an Kommunikation und Information beteiligt zu sein. Denken wir an unsere Unfähigkeit, digitale Prozesse bis in den Kern zu verstehen und damit echte Wahlmöglichkeiten des Handelns zu generieren (vgl. auch: Max Fuchs: „Das Internet als sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Raum. Überlegungen im Anschluss an Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus"). Gesellschaftliches und soziales Handeln wird also durch post-digitale Praktiken grundlegend verändert.
Für eine humane Bildung, das heißt die vernünftige Selbsttransformation anhand eines reflexiven Verhältnisses zur sozialen Umwelt, stellen post-digitale Praktiken Chancen, aber auch Herausforderung dar. Digitalisierung dagegen auf einen technischen Prozess zu verkürzen, wäre angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit dem Post-Digitalen einhergehen, naiv.
„Es ist kein Zufall, daß Kinder mit der unbestimmt gewordenen Realität rascher vertraut werden als wir Erwachsenen, die wir uns nach alten Sicherheiten sehnen. (Nebenbei: Eine geschickte Variante dieser rückgewendeten Sehnsüchte – derzeit etwa in der schulpädagogischen und bildungstheoretischen Diskussion rund um den Einsatz von Computern besonders geläufig – ist diese: Wir klammern uns an die scheinbare Rationalität der neuen digitalen Apparate, wir behaupten steif und fest und gegen allen Augenschein, diese neuen Medien seien nichts anderes als nützliche Instrumente neben anderen nützlichen Instrumenten, wie sie uns Mechanisierung und Automatisierung beschert hatten. Wir hoffen, daß alles beim alten bleibt…)“ (Bergmann 2000:218)).
Digitalisierung ist gesellschaftlicher und menschengemachter Wandel
Kulturelle Bildung, die sich für die Transformationen in der Beziehung von Subjekt und Umwelt im und durch das Ästhetische interessiert, kommt also nicht umhin, sich um Digitalität und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu kümmern und die Transformationen des „digitalen Kapitalismus“ (siehe: Horst Niesyto „Medienpädagogik und digitaler Kapitalismus") zu analysieren. „Offensichtlich werden alle Gesellschaftsbereiche [durch diesen Wandel] angesprochen: Wirtschaft, Politik, Soziales und verschiedene kulturelle Felder (Wissenschaften, Religion etc.). Es geht insbesondere um einen gravierenden Wandel im Konzept des Subjekts, bei dem alle bisherigen Errungenschaften einer Entwicklung starker Subjektivität begrenzt bzw. beendet werden“ (siehe: Max Fuchs „Das Internet als sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Raum. Überlegungen im Anschluss an Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus").
Das Arbeits- und Angebotsfeld Kultureller Bildung hat sich einerseits für Digitalisierung als technischen Prozess zu interessieren, sich über die damit einhergehenden Kommunikations- und Gestaltungsmöglichkeiten zu informieren, diese anzuwenden und die damit verbundenen ethischen, ästhetischen und pädagogischen Implikationen zu reflektieren. Nicht um Kulturelle Bildung „hip“ und „aktuell“ anzubieten und im Schielen auf neue Zielgruppen; sondern um zu verstehen, was Kulturelle Bildung im digital-analogen, im 21. Jahrhundert bedeutet: Was heißt eigentlich Selbstbildung und Selbstwirksamkeit und wie bildet sich ein „starkes Subjekt“ (Fuchs 2016) angesichts von sich immer schneller vollziehendem digitalem Wandel und der Begrenzungen, die damit für starke Subjektivität einhergehen? Was bedeutet es, Herr der eigenen Biografie zu sein angesichts von unglaublichen Möglichkeiten, aber auch angesichts von zunehmenden Kontrollverlusten in Hinblick auf Algorithmen und Künstliche Intelligenzen, die wir nur ansatzweise verstehen und kaum beherrschen? Was sind Aufgaben einer ästhetischen und Kulturellen Bildung, die sich post-digitaler Praktiken bedient und gleichzeitig eine kritische Distanz und Reflexion herstellen möchte? Was heißt digitale Mündigkeit und wie ist sie herzustellen?
Digitalisierung beschreibt aber andererseits eben nicht nur diesen technischen Prozess, sondern einen kulturellen Wandel, der durch und mit Menschen gestaltet wird und – das dürfen wir nicht vergessen – gestaltbar ist. Nida-Rümelin und Weidenfeld leisten mit ihrem Buch „Digitaler Humanismus“ (Nida-Rümelin/ Weidenfeld 2018) diesem Argument Vorschub. Wir Menschen können wollen, fühlen, denken und entscheiden – Maschinen können das sehr erfolgreich simulieren, aber mehr auch nicht. „Die Frage ist nicht so sehr, was möglich ist, sondern was wir wollen.“ (ebd.:98) Menschen, in die Lage zu versetzen, aktiv ihre soziale Umwelt zu gestalten, etwas zu wollen, zu entscheiden – damit hat Kulturelle Bildung jahrhundertelange Erfahrung. Die Entdeckung von Möglichkeiten, Orientierung durch kritische Selbst- und Weltreflexion, Umgang mit Ambivalenzen und Unsicherheiten, das Aushalten von Offenheit und die Füllung von Möglichkeitsräumen sind Eigenschaften, welche insbesondere durch die produktive und reflexive Auseinandersetzung mit den Künsten und ästhetischen Praxen geschult werden kann. Qualifizierte kulturelle Bildungsmaßnahmen zwingen das Subjekt, sich in Beziehung zu setzen, einen Standpunkt einzunehmen, Distanz herzustellen, in den Widerstand zu gehen. Sie ermöglichen aber auch Identifikation, Verbunden-Sein und lehren, dass jede*r Einzelne gestaltend einen Unterschied macht, dass Verantwortung für das eigene Handeln möglich und nötig ist. Diese Fähigkeiten werden nicht rein kognitiv, sondern handlungspraktisch und leiblich vermittelt und ermöglichen somit eine Teilhabe gerade vermeintlich bildungsbenachteiligter Gruppen sowie die Generierung von inkorporiertem und damit auch unbewusst zugänglichem Wissen. Diese Kompetenzen sind notwendig, um gerade in sich schnell transformierenden Zeiten den Überblick zu behalten und als Einzelner überhaupt noch gestalten zu können.
Der Kulturellen Bildung wie auch der Digitalisierung sind jedoch Aussagen, die leicht in Optimierungsrhetoriken kippen, inhärent. „Kunst und Kultur machen stark“, „Kulturelle Bildung macht resilient“, „Kultur öffnet Welten“, „Kunst und Kultur gestalten (nun auch noch) Digitalisierung“. Umgekehrt: „Digitalisierung schafft wirtschaftliche Vorteile.“ „Digitalisierung bereitet auf die Zukunft vor.“ „Digitalisierung ermöglicht Entwicklung und wer nicht digital ist, ist out.“ Kulturelle Bildung ist keine Digitalschule und Digitalisierung mitnichten ein Freifahrschein für eine ökonomisch gesicherte Zukunft. Aber wenn Digitalisierung einen gesellschaftlichen Wandel markiert, der menschengemacht ist, muss Kulturelle Bildung, die sich um Subjekttransformationen bemüht und das Rüstzeug mitbringt, Standpunkte zu markieren, Wahloptionen zu sichten, aber auch Entscheidungen zu generieren, sich mit digitalen Entwicklungen produktiv auseinandersetzen.
Voraussetzungen und Herausforderungen für Kulturelle Bildung zur Gestaltung von Digitalisierung
Interesse und Initiative
Um den digitalen Wandel als kulturellen Wandel mitgestalten zu können, müssen Akteure der Kulturellen Bildung – Institutionen und Verbände, aber auch Einzelpersonen wie Kulturvermittler*innen oder Kulturpädagog*innen – zunächst ein grundsätzliches Interesse an digitalen Formen entwickeln und sich um eine Wertschätzung digitaler Praktiken gerade junger Menschen bemühen (Rat für Kulturelle Bildung: Jugend/Youtube/Kulturelle Bildung). Blickt man in die Argumentationen im Diskursfeld Kulturelle Bildung in den letzten Jahrzehnten, stößt man immer wieder und immer noch auf Bewahrungs- und Schutzrhetoriken, welche analoge Kulturpraktiken gegen digitale ausspielen und gerade im Kontext der Kinder- und Jugendbildung vor einem Überkonsum von digitalen Praktiken warnen (Zur Kritik siehe Baacke 1997). Eine kritische Haltung gegenüber dem Einsatz von digitalen Endgeräten und Software zu behalten, scheint allerdings dringend geboten angesichts einer Omnipräsenz von Smartphones und Tablets bereits in den Kinderzimmern sehr junger Menschen. Die Alles-ist-möglich-Philosophie, die neue Medien häufig suggerieren, verunmöglicht teilweise identitätsbildende und sozialisatorische Prozesse wie sie im Kindes- und Jugendalter stattfinden (Bergmann 2000; Funk 2011). Die Entwicklung von Werthaltungen, Grenzen, einem stabilen Innen und Außen ist gefährdet, wenn insbesondere der frühe Gebrauch von digitalen Medien nicht entsprechend dosiert und begleitet wird. Das Smartphone als „Welt in der Hosentasche“ realisiert Zugänge und bietet Entwicklungsoptionen, wenn Orientierungen und eigene Stabilität das sichere Navigieren ermöglichen. Um im Bild zu bleiben: Erfolgreich surfen kann nur, wer das Wasser und seine Eigenschaften als Element gut kennen gelernt hat und die Balance halten kann.
In diesem Zusammenhang ist interessant, einen Blick in die Embodied-Cognition-Forschung zu werfen, einer Erforschung der verkörperten Erkenntnistätigkeit. Christian Rittelmeyer schreibt dazu:
„Die Forschungen machen zunehmend deutlich, dass die menschliche Denk- und Vorstellungstätigkeit in erheblichem Ausmaß durch unsere Ernährung, durch unsere Art der Bewegung im Raum, unsere wechselnde Körpertemperatur und Herztätigkeit, unsere Gesten und Gebärden, unsere Körperpflege und viele andere Körperaktivitäten bestimmt werden.“ (Rittelmeyer 2018:85)
Es macht also einen Unterschied, ob wir tippen oder mit der Hand schreiben; ob wir in der Virtual Reality sind – und sei sie noch so gut imaginiert – oder ob wir „in echt“ kämpfen, Sport machen oder musizieren. Es ist eben bildungspraktisch nicht egal, ob wir auf einen Bildschirm zeichnen, den Undo-Knopf drücken und noch einmal von vorne beginnen oder ob wir auf einer Bühne stehen und den einmal geäußerten Satz nicht mehr revidieren können. Das eine oder das andere ist zunächst weder gut noch schlecht – es ist anders. Das heißt: Ein vernünftiger pädagogischer und kreativer ästhetischer Umgang mit dem Post-Digitalen muss sich sowohl mit den Potenzialen wie auch mit den Einschränkungen kompetent auseinandersetzen; mehr Sachkenntnis im Feld der Kulturellen Bildung ist also dringend geboten. Kulturpädagog*Innen und Kulturvermittler*innen müssen dabei keine technischen Digitalexpert*innen sein. Sich mit den Zielgruppen eines Angebotes auf den Weg zu machen, die Stärken und biografischen Vorerfahrungen jeder*s einzelnen Beteiligten zu nutzen und sich gemeinsam als Lernende zu begreifen, ist nicht nur ein Credo der Erwachsenenbildung, sondern ein Prinzip Kultureller Bildung, das vor allem auch im Erproben digitaler Praxen Anwendung finden sollte. Dabei den „Primat des Pädagogischen“ und des Ästhetischen gegenüber dem Digitalen nicht zu verlassen, scheint dringend geboten (vgl. Rittelmeyer 2018:79ff.).
Information und Inspiration
Die Angebote der Fort- und Weiterbildung für Praktiker*innen in der Kulturellen Bildung sind jedoch im Bereich des „Digitalen Wandels“ noch unzureichend ausgebaut. Es ist im Curriculum der Fort- und Weiterbildungen nicht damit getan, Tools zu vermitteln, die Dinge digital werden lassen, die bisher auch ganz gut analog funktioniert haben. Das beste Beispiel ist die Ablösung eines Schulbuches durch ein E-book – die Präsentation ist anders, der Zweck bleibt weitestgehend gleich. Es geht vielmehr darum, neue Möglichkeiten der kreativen Gestaltung, der Partizipation sowie der Selbst- und Welt-Befragung im Post-Digitalen zu entwickeln, d.h. im Zwischenraum von Analogem und Digitalem. Ein passendes Beispiel wäre die Entwicklung eines Games zu einem bestimmten (Lern-)Gegenstand oder Thema, das eine intensive Einarbeitung in das jeweilige Fachgebiet voraussetzt, eine adäquate technische, aber auch strategische Umsetzung verlangt und Aktivitäten im Analogen und Digitalen möglich macht. Das Goethe-Institut in Seoul hat unter der Leitung von Peter Lee mit den Spielentwicklern NOLGONG schon vor einiger Zeit versucht, „Faust“ in Form einer Wanderausstellung in unterschiedlichen Ländern ästhetisch „erfahrbar“ zu machen. Zentraler Teil des Big-Game, das neue Technologien und physische Präsenz von Teilnehmenden vereint, war es, für bestimmte menschliche Eigenschaften seine Facebook-Freund*innen zu verkaufen. Die Ausstellung funktionierte digital und analog und machte eines der Kernthemen des literarischen Werkes: „Für wen oder was würde ich meine Seele verkaufen?“ nicht nur versteh- sondern begreifbar. Die Texte des klassischen Werkes bekamen durch die besondere Inszenierung und Aufarbeitung der Mitmach-Ausstellung mit Hilfe digitaler Medien eine eigene Aktualität und Nähe: Durch eine analoge, ästhetisch ansprechende Ausstellungsgestaltung wurde ein Zentrum, ein leiblich erfahrbarer Begegnungsraum geschaffen und durch den Einsatz der persönlichen Smartphones der Besucher*innen das spielerische Element bedient. Gleichzeitig wurden eine medienkritische Haltung und darüber ein Bezug zum literarischen Werk geschaffen. Die Besucher*innen-Stimmen zeigen: Ein gelungenes Beispiel post-digitaler Kultureller Bildung.
Solche post-digitalen Arrangements der Kulturvermittlung sind sehr voraussetzungsvoll und anspruchsvoll in der Umsetzung. Je nach Kunstsparte ergeben sich zahlreiche unterschiedlichste Techniken und Möglichkeiten, die es spartenspezifisch zu entwickeln und zu entdecken gilt. Künstlerische Praktiken können Vorreiter in der Entwicklung solcher pädagogischen Möglichkeiten sein, weshalb die Zusammenarbeit mit Künstler*innen im Digitalen auch für die Vermittlung ganz neue Wege eröffnen kann (siehe: Hanne Seitz „Interaktive Kunst in Postdigitalen Zeiten").
Interaktion und Ideologie
Nicht nur für die Forschung, sondern auch für die kulturvermittelnde Praxis ist eine genauere Untersuchung der Schnittstellen („Interfaces“) zwischen Analogem und Digitalem interessant, um Bildungswirkungen des Post-Digitalem auf die Spur zu kommen. In welcher Weise wird der Körper durch ein Medium, eine Maus, eine Bildschirmoberfläche, eine VR-Brille erweitert? Welche Sinne interagieren wie mit einem Medium? Welche Selbstveräußerung oder Selbstbeziehung wird dadurch deutlich? „Wir beziehen Stellung, urteilen und demonstrieren damit für die wissenschaftliche Beobachtung, wie eng die sinnlichen Aktivitäten unseres Körpers mit kognitiven Leistungen des alltäglichen Lebens zusammenhängen, ja deren Objekte erst als Urteilsgegenstände konstituieren. Der Körper fungiert wie ein Resonanzboden einer Violine, die eine Seitenschwingung erst zum Klang werden lässt – vergleichbar mit dem geistig-seelischen Engagement und Anteilnehmen an den Phänomenen unserer Welt“ (Rittelmeyer 2014:18). Gerade die außerschulische Kulturelle Bildung lebt von der Produktion und nicht nur der Kulturrezeption. Körper-Resonanzen werden wiederum in ästhetische Objekte übersetzt und damit zugänglich und verhandelbar, jenseits von kognitiven Leistungen. Antworten auf die oben gestellten Fragen nach dem Bildungswert von post-digitalen Schnittstellen können im handelnden Vollzug ästhetisch „beantwortet“ und dadurch beispielsweise der Umgang mit Themen wie Massenkommunikation, Selbstinszenierung oder FakeNews handelnd und gestaltend leiblich erfahrbar werden. In der ästhetischen Erfahrung werden „Möglichkeiten […] wirklich, und die Wirklichkeit zeigt sich nur als eine unter anderen Möglichkeiten; der Eigensinn der künstlerischen Perspektive provoziert die Einbildungskräfte, sich buchstäblich einen Reim auf das dem Begriff Entzogene zu machen und eigene Denkformen herauszubilden“ (Seitz 2013:145).
Digitale Mündigkeit heißt nicht nur, technisch versiert alle Spielarten der Kommunikation, Informationsbeschaffung, Unterhaltung, (Selbst-)Inszenierung sowie Programmierung zu beherrschen. Digitale Mündigkeit bedeutet auch, das Wissen um die Herstellung, Gestaltung und Beeinflussung medialer Kontexte und Phänomene, die Entscheidungskompetenz, selbstbestimmt geeignete Formen zu wählen und dafür Verantwortung zu tragen, und schließlich jederzeit frei zu sein, digitale Enthaltsamkeit zu praktizieren, wo es subjektiv geboten scheint. Eine starke Subjektivität kann sich im digitalen Zeitalter vor allem im Kindes- und Jugendalter nur ausbilden, wenn eine bewusste und stabile Wahrnehmung der Trennung von Selbst und (digitaler) Welt und damit Identität entstehen kann. Dies bildet die Basis für verantwortungsvolles und selbstbestimmtes Handeln. Kulturelle Bildung bietet zahlreiche Angebote hierfür.
Aufgabe Kultureller Bildung ist es m.E. nicht nur post-digitale Formen der Vermittlung zu entwickeln und post-digitale Formate reflexiv und ästhetisch zu begleiten, so dass digitale Mündigkeit möglich wird, sondern auch gegen eine digitale Bildungsideologie aufzubegehren, die pädagogisch verteufelt, was nicht digital daherkommt. Ästhetische Bildung hat jahrhundertelange Erfahrung in leiblichen Wahrnehmungsmustern und Erfahrungen, die Denk- und Lernprozesse unterstützen, anstoßen und entwickeln können und bekommt durch neuere Forschung wie die Embodied-Cognition-Forschung oder Resonanztheorien (vgl. Rosa 2016) Bestätigung. Das Post-Digitale ist Fakt. Es ist die Lebenswelt unserer Kinder und Jugendlichen. Kultureller Wandel darf nicht negiert werden, er muss gestaltet werden. Dass dem Ästhetischen eine besondere Kompetenz in dieser Gestaltungsaufgabe zukommt, konnte deutlich gemacht werden. Es wird Zeit, diese Herausforderung anzunehmen, sei sie auch noch so groß.