Kultur, Kulturelle Bildung, Nachhaltigkeit und die Agenda 2030

Der Versuch einer Einordnung

Artikel-Metadaten

von Volkmar Liebig

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

Um zu verstehen, wie Kultur und Kulturelle Bildung mit Nachhaltigkeit zusammenhängen, müssen beide möglichst genau in den vier gängigen Dimensionen nachhaltiger Entwicklung (ökologische, ökonomische, politisch-institutionelle, soziokulturelle) verortet werden. Zwei dieser Dimensionen bieten sich dafür in besonderem Maße an: Einerseits die politisch-institutionelle Dimension, da es bei dieser um die Rahmenbedingungen nachhaltiger Politik, also auch nachhaltiger Kultur- und Bildungspolitik geht, derzeit mit der Agenda 2030 und den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs) als wichtigstem Referenzpunkt. In diesem Zusammenhang sind Kultur und Kulturelle Bildung als Gegenstand von Nachhaltigkeitsfragen zu betrachten. Andererseits relevant für die Einordnung von Kultur und Kultureller Bildung in den Nachhaltigkeitsdiskurs ist dessen soziokulturelle Dimension. In diesem Zusammenhang sind Kultur und Kulturelle Bildung als Agent, also als treibende Kraft, des nachhaltigen Wandels zu verstehen. Dabei geht es sowohl um die Rolle von Gesellschaftskultur bei dieser Transformation als auch um Elemente, wie insbesondere die Kulturelle Bildung zu einer nachhaltigeren Gesellschaftskultur beitragen kann.

Einleitung

In Debattenbeiträgen sind komplexe Begriffe wie Kultur, Kulturelle Bildung oder Nachhaltigkeit häufig nicht präzise definiert. Nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Tiefenschärfe herrscht ein unterschiedliches Verständnis davon vor, ob es in der Nachhaltigkeitsdebatte um die Rolle „der Künste“ oder „Gesellschaftskultur“ allgemein geht. Auch bleibt unklar, ob die Bezugspunkte dabei etwa „alltägliches“ Nachhaltigkeitshandeln oder politische Nachhaltigkeitsziele sind (siehe bspw. Deutscher Kulturrat 2019, Culture Action Europe 2019 oder Weiger/Zimmermann 2023).

Um zu verstehen, wie sich Kultur und Kulturelle Bildung auf politischer Ebene zu Nachhaltigkeitspolitiken und -diskursen verhalten, müssen diese Begriffe im Kontext der politisch-institutionellen Nachhaltigkeitsdimension verortet werden (Definition siehe z.B. Brocchi 2022:321 ff., oder Rauch 2009:270 ff.). Es geht also darum, sie in Zusammenhänge einer nachhaltigkeitsorientierten „global governance“ einzuordnen. Dieser Prozess ist derzeit noch nicht beendet. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die aktuell relevanteste Ausgestaltung dieses globalen politischen Rahmens: die Agenda 2030 mit den 17 United Nations Sustainable Development Goals (UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, SDGs). Und vielleicht ist diese Positionierung von Kultur in den SDGs sogar unabschließbar (vgl. Hübner 2023). Mit Blick auf die Schnittstelle von Kultur und Nachhaltigkeit gibt es für die makropolitische Ebene gleichwohl schon verschiedene Überlegungen. So könnten Anknüpfungspunkte durch ein eigenes „Kultur-SDG“ hergestellt sowie politische Rahmenbedingungen für den Kontext Kultur und Nachhaltigkeit nachdrücklicher formuliert werden (siehe z.B. Culture2030 Goal campaign 2019 oder Voices of Culture 2021:89).

Im ersten Teil dieses Texts werden die Begriffe Kultur und Kulturelle Bildung daher genauer beleuchtet und deren dahinterstehende Konzeptionen herausgearbeitet.  Auf dieser Basis wird anschließend eine Verortung der „Kultur“ im politisch-institutionellen Nachhaltigkeitsdiskurs und der globalen politischen Nachhaltigkeitsdebatte vorgenommen. Hauptreferenzpunkt sind dabei die UN-SDGs. Da alle 193 UN-Mitgliedsstaaten diese 2015 verabschiedet haben, gelten sie als derzeit zentrale globale Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsagenda (vgl. z.B. Martens/Obenland 2017, Ellmers/Martens 2020, Ottacher/Vogel 2016). Andere politisch-institutionelle Nachhaltigkeitsbezüge wären in diesem Sinne beispielsweise die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie oder die Agenda 2063 der Afrikanischen Union (Die Bundesregierung 2021, African Union Commission 2013).

In der Logik der SDGs ist Kultur in erster Linie ein Gegenstand von Nachhaltigkeitspolitiken und möglichen Nachhaltigkeitsproblemen. Daneben kann sie aber auch die Rolle eines Agents nachhaltiger Transformation haben, also einen Wandel vorantreiben. Dafür ist wiederum relevant, Kultur im Kontext der soziokulturellen Nachhaltigkeitsdimension zu verorten – also dem eigentlichen Entfaltungsraum von Kultur im weiteren Sinne. Diese Verortung folgt im zweiten Teil des Textes.

TEIL 1: Die Verortung von Kultur und Kultureller Bildung in den SDGs

Die SDGs und deren Perspektive auf Nachhaltigkeit orientieren sich an einem relativ engen Verständnis von „nachhaltiger Entwicklung“. Nachhaltigkeit wird hier mit einem Entwicklungsbegriff in Verbindung gesetzt, der sich – in sehr traditioneller Form – vor allem auf eine implizit angenommene „Unterentwicklung“ bezieht. In der SDG-Logik bedeutet dies, dass die angestrebte „nachhaltige Entwicklung“ vor allem defizitorientiert ist. Die SDGs definieren also häufig quantitative und zum Teil auch qualitative Mindeststandards von „Entwicklung“, die in linearer Form als Ziele erreicht werden sollen. Dies ist an den Indikatoren ablesbar, die zu den einzelnen Entwicklungszielen gehören. Im Umkehrschluss geht es in den SDGs daher weniger um eine flächendeckende sozio-ökologische oder -ökonomische „große“ Transformation im Sinne von Nachhaltigkeit (vgl. z.B. WGBU 2011 oder Schneidewind 2018). Dies schwingt nur unterschwellig in einigen SDG-Formulierungen und im begleitenden Text der Agenda 2030 mit. Vielmehr steht vor allem eine punktuell gedachte Erfüllung der einzelnen Ziele beziehungsweise Indikatoren im Vordergrund. Dieser Ansatz stammt weitestgehend aus der „klassischen“ Entwicklungspolitik, die einer der wesentlichen Ausgangspunkte der SDGs und ihrer Vorläufer-Agenden wie den Millenniums-Entwicklungszielen (Millenium Development Goals, MDGs) ist (Ottacher/Vogel 2016, Loewe 2005). Wenn Kultur also vor allem als Gegenstand gedacht wird, geht es bei der Verortung in den SDGs oder einer Nachfolge-Agenda demnach um (aktuelle) Defizite und (größere) Problemlagen mit Blick auf „Kultur“. Damit ist der Kulturbezug in den SDGs aufgrund ihrer (Entwicklungs-)Logik nicht deckungsgleich zu einer allgemeinen nachhaltigen Kulturpolitik, der es beispielsweise allgemein um den Aufbau langfristig gefestigter kultureller Strukturen geht (vgl. z.B. Schneider 2014).   

Gleichwohl gibt es große Überschneidungsbereiche. Denn auch im Kulturbereich kann jedes nicht-nachhaltige Handeln zu Entwicklungsdefiziten führen. Der Unterschied liegt vor allem in der Dringlichkeit, der damit verbundenen Priorisierung und dem eher kurzfristigen Zielhorizont. Für die politisch-institutionelle Nachhaltigkeitsdebatte bedeutet dies also, dass etwa die Agenda 2030 mit den darin enthaltenen SDGs nicht die gesamte nachhaltige Kulturpolitik abbildet. Doch stellen die SDGs derzeit den wichtigsten politisch-institutionellen Referenzrahmen für Nachhaltigkeit dar. Im Folgenden sollen die Nachhaltigkeitsziele und ihr Kulturbezug daher näher beleuchtet werden. 

Die Hauptausrichtung der UN-Nachhaltigkeitsziele

Die SDGs sind Teil der 2015 von der UN-Vollversammlung im Konsens verabschiedeten Agenda 2030. Diese verzahnt die Diskurse um die weltweiten Herausforderungen für mehr ökologische, soziokulturelle, politisch-institutionelle und ökonomische Nachhaltigkeit eng miteinander. Bei der Umsetzung der SDGs wird zudem nicht mehr zwischen „Entwicklungs-“ oder „Industrieland“ unterschieden, sondern sie gelten prinzipiell für alle Länder gleichermaßen. Trotzdem gibt es einen Fokus auf „Entwicklung“, der diesen globalen Anspruch etwas relativiert. Über die SDGs werden „Entwicklungsbedarfe“ definiert und identifiziert, also Aspekte in den vier Nachhaltigkeitsbereichen (ökologisch, soziokulturell, politisch-institutionell und ökonomisch) benannt, bei denen eine wie auch immer definierte „Entwicklung“ nur unzureichend vorhanden ist. „Entwicklung“ kann in diesem Zusammenhang bedeuten, sich an Mindeststandards zu orientieren (zum Beispiel besonders deutlich bei den SDGs 1 und 2, UN 2015a). Andererseits kann damit auch eine Verringerung von Defiziten gemeint sein, die lebenswertes menschliches Leben verhindert beziehungsweise die Entfaltung des menschlichen Lebens (potenziell) einschränkt (z.B. ablesbar an den SDGs 7, 14 oder 15, siehe UN 2015a; Definitionen von „Entwicklung“, siehe z.B. Nuscheler 2012). Bei der Auseinandersetzung mit den SDGs muss dieser Entwicklungsbegriff daher stets mitgedacht, aber auch kritisch hinterfragt werden.

Die SDGs sind zudem darauf ausgelegt, im bestehenden politischen und ökonomischen System umgesetzt zu werden. Allgemeine gesellschaftliche Nachhaltigkeitsziele können aber auch außerhalb dieses Systems gedacht werden (siehe dazu als erste bekanntere Positionierung, z.B. Meadows 1972).

Für die Abgrenzung zu anderen Nachhaltigkeitsansätzen ist es daher wichtig, die Einstiegsperspektive der SDGs zu kennen. Diese sind zwar rechtlich unverbindlich (Dückers 2017). Sie repräsentieren aber weite Teile des aktuellen politisch-institutionellen Nachhaltigkeitsdiskurses, da sie in jedem Land und durch jedes Land (Martens/Obenland 2017) anerkannt sind, umgesetzt in gemeinsamer Verantwortung (vgl. z.B. Müller-Espey 2019).

In 17 thematischen Zielen beschreiben sie die aus Sicht der UN-Vollversammlung aktuell größten Probleme und Herausforderungen für globale „Entwicklung“. Dabei können Ziele auch im Widerspruch zueinander stehen. Dies zeigt sich etwa am Zielkonflikt zwischen Wirtschaftswachstum (SDG 8, UN 2015a) und ökologischen Ziele, die auf geringeren Ressourcenverbrauch ausgerichtet sind (z.B. SDGs 7, 14 oder 15, UN 2015a).

Die SDGs sind stark problemorientiert und daher sehr „technisch“ (und oft nur quantitativ) mit Blick auf Lösungen formuliert. Ansatzpunkte sind dabei „Basisbedürfnisse“ des Menschen, kombiniert mit Klima- und Umweltschutz. Nur bedingt geht es darum, mehr globale Gerechtigkeit anzustreben (Brocchi 2022:319 ff.). Auf die Debatte rund um eine sozio-ökologische Transformation im Sinne eines kulturellen Wandels von Denk- und Handlungsweisen gehen sie kaum ein. Einzig in SDG-Unterziel 4.7 geht es konkret darum, transformatives Denken zu befördern, obwohl sich die Agenda 2030 selbst als „transformative Vision“ bezeichnet (UN 2015a).

Die SDGs sind ein Top-Down-Ansatz, der einen globalen Rahmen für die Arbeit vor Ort zu schafft. Allerdings sind sie nicht kontextspezifisch formuliert. In den Umsetzungsvorgaben bleiben sie daher vage und unterkomplex. Es ist in erster Linie die Aufgabe nationaler Politiken, diese zu konkretisieren und umzusetzen. Je nach nationaler politischer Agenda und Priorisierung kann dies zu einer stark unterschiedlichen Bearbeitung führen.

Zwischen globalen und spezifischen lokalen Problemen wird in den SDGs nicht ausdifferenziert. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die unterschiedliche Relevanz der vielen abgebildeten Themen in einer gegebenen Situation vor Ort. Daher kann es diesbezüglich sehr verschiedene Perspektiven auf die SDGs sowie deren Umsetzung und Priorisierung geben. Globale Strukturpolitik tendiert oft dazu, die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die wirklichen Probleme der Menschen vor Ort zu legen (Rauch 2009:110). Damit liegt eine große Herausforderung darin, die SDGs jeweils sinnvoll in nationale, regionale und lokale Politiken und Strategien zu übersetzen. Auch gilt es, sie dort in Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu verankern sowie mit anderweitig vorhandenen Nachhaltigkeitspolitiken zu kombinieren. Die SDGs sind daher komplementär zu anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen zu sehen. So erwähnt die Agenda 2030 als deren Basis ausdrücklich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Milleniumserklärung und die Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung (UN 2015:4 f.). Implizit gibt es zum Beispiel mit Blick auf den Kulturbereich auch Anknüpfungspunkte zum „Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ der UNESCO von 1972 (vgl. z.B. SDG 11, UN 2015a).

Eine weitere Funktion der SDGs ist, sie als Werkzeug für Kampagnen in der Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen.  In diesem Zusammenhang sollen sie relativ willkürlich und zum Teil mit wenig Tiefenschärfe für bestimmte Nachhaltigkeitsthemen sensibilisieren und nachhaltigkeits- und entwicklungspolitische Impulse erzeugen. Damit können die SDGs in bestimmten Kontexten auch als Lobbyinstrument für mehr nachhaltigkeitspolitisches Denken und Handeln eingesetzt werden. Wichtig ist, diese Kampagnenfunktion von den Bestrebungen zu unterscheiden, die Ziele umzusetzen.

Kultur und Kulturelle Bildung als Gegenstand der SDGs

Um zu identifizieren, wo Kultur und Kulturelle Bildung in den SDGs als Gegenstand verortet werden können, muss zunächst der dabei zugrundeliegende Kulturbegriff definiert werden. Der Fokussierung von Kultur als Gegenstand der SDGs, also im Kontext der politisch-institutionellen Nachhaltigkeitsdebatte, liegt grundsätzlich ein „enger“ Kulturbegriff zugrunde. Denn ein Problembezug kann nur mit Blick auf den eigentlichen Kultursektor, das heißt Kultur als „materiellem Ausdruck der Gestaltungskraft von Menschen“ (Stoltenberg 2020/2010), die Kulturproduktion und „die Künste“ hergestellt werden.

Um nicht konkret auf den Kultursektor bezogene SDGs zu erreichen, ist wiederum ein weiter Kulturbegriff von Kultur als „System von Werten“ (vgl. ebenso Stoltenberg 2020/2010) beziehungsweise als „die gesamte Grundlage menschlichen Zusammenlebens“ relevant (Pinkert 2020/2011). In diesem Fall geht es also um die „Gesellschaftskultur“, das heißt, um Kultur als wesentlichen Faktor gesellschaftlichen Wandels im Kontext der soziokulturellen Dimension von Nachhaltigkeit (siehe Teil 2 dieses Textes). 

Basierend auf dem engen Kulturbegriff, der bei der der Verortung in der politisch-institutionellen Dimension der relevante ist, soll daher im Folgenden erläutert werden, wo „Entwicklungsprobleme“ im Kulturbereich und damit verbundene Ziele bisher in den SDGs zu finden sind. Auch geht es darum, ob die Behandlung einzelner „Defizite“ bis dato gegebenenfalls fehlt.

Zudem soll analysiert werden, ob und wo Kulturelle Bildung (im Sinne kultureller Jugendbildung, siehe BKJ 2020a und 2020b) Gegenstand eines Entwicklungsziels ist. Dafür soll insbesondere beleuchtet werden, welche Rolle non-formale beziehungsweise außerschulische Bildung überhaupt als Entwicklungsziel in den SDGs spielt.

In den SDGs identifizierte Entwicklungsdefizite und Entwicklungsziele im Kulturbereich

Basierend auf einem engeren Kulturbegriff können grundsätzlich folgende Bereiche darauf überprüft werden, ob es in ihnen Defizite beziehungsweise (potenzielle) Probleme hinsichtlich einer „nachhaltigen Entwicklung“ gibt: Kulturelle Rechte und kulturelle Diversität, der Umgang mit Kulturerbe sowie Ermöglichungsräume für kreatives Schaffen inklusive dessen Vergütung (UCLG Committee on Culture 2018). Hier geht es also darum, wie sich „kulturelles Kapital“ individuell und gesellschaftlich entfalten sowie langfristig erhalten werden kann (Dessein/Soini 2016:2)

In diesen Bereichen verortete Entwicklungsfragen sind bereits Teil der UN-Nachhaltigkeitsziele. Sie tauchen dort aber häufig nur als Unterziele von SDGs mit einem anderen Hauptfokus auf. Zudem sind sie dort nur mit sehr groben, quantitativen Indikatoren verknüpft. Daneben ist auch bedeutend, wie die Entwicklungsproblematiken dieser Bereiche aufgegriffen werden.

So fordert SDG 4 („Hochwertige Bildung“) in Unterziel 4.7 vage beschrieben und nicht mit Indikatoren hinterlegt eine „Wertschätzung kultureller Vielfalt“ ein (UN 2015a). Weder in diesem noch in anderen SDGs werden aber die Ermöglichung von Räumen für kulturelle Diversität noch der „Schutz“ kultureller Vielfalt als Ziel formuliert. Zudem fehlt eine konkrete Definition, was mit „kultureller Diversität“ in diesem Kontext überhaupt gemeint ist. Es ist beispielsweise unklar, ob hier das uneigentliche Konzept kultureller Diversität von weltweit fest fixierbaren „diversen Kulturen“ zugrunde liegt. Ist damit also – vereinfachend gesagt – der sogenannte Multi-Kulti-Gedanke mit vermeintlich(!) klar abgrenzbaren Gesellschaftskulturen gemeint? Oder wird sich auf das Konzept kultureller Diversität im eigentlichen Sinne bezogen, bei dem es um das Recht und den Schutz der kulturellen Identität einer*s jeden einzelnen geht?

Anknüpfungspunkt ist bei der Frage nach (potenziellen) Entwicklungsdefiziten bei kultureller Diversität zum Beispiel die „UNESCO-Konvention zum Schutz kultureller Vielfalt“ von 2005 (UNESCO 2005). Diese schafft für Nationalstaaten einen völkerrechtlich verbindlichen Rahmen, um die „kulturelle Vielfalt“ im jeweils eigenen Land zu schützen und zu fördern. Mit „kultureller Vielfalt“ sind dabei in erster Linie bestehende identitäts- und wertstiftende Kulturpraktiken gesellschaftlicher Gruppen beziehungsweise der Gesellschaft gemeint. Dies umfasst auch die Kulturproduktion, also künstlerisches Schaffen oder bereits Geschaffenes und deren Nutzung.

Mit vier Hauptzielen und elf untergeordneten „Monitoringbereichen“ ist die UN-Konvention relativ komplex. Bei einer möglichen Übernahme von Teilen der Konvention in eine Folgeagenda der SDGs müsste daher überprüft werden, inwiefern sie im Detail den Schutz kultureller Vielfalt im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung adressiert. Die meisten „Monitoringbereiche“ der Konvention werden mittlerweile zwar über einen regelmäßig einzureichenden Staatenbericht –ohne genauere Spezifizierungen – mit den SDGs in Verbindung gebracht. – (z.B. Indikator 2 von Monitoringbereich von Ziel 1 mit den SDG-Unterzielen 16.6 und 16.7, UNESCO 2022: 20 ff.). Allerdings gibt es eine solche Verknüpfung zu dieser Konvention auf SDG-Seite nicht.

Eine komplette Lücke im „Bildungs“-SDG 4 ist wiederum der fehlende Bezug zur informellen und non-formalen sowie damit auch in weiten Teilen zur Kulturellen Bildung (s.u.).

SDG 8 („Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“) ist eines der umstrittensten Entwicklungsziele. Denn es beinhaltet den problematischen Gedanken, dass ökonomisches Wachstum Teil einer nachhaltigen Entwicklung sein muss. Dabei ist dies mit Zielen der ökologischen Dimension nur schwer in Einklang zu bringen (siehe dazu u.a. Meadows 1972 oder Brocchi 2022:198 ff.). Wirtschaftlich nicht zu wachsen, gilt aus dieser Perspektive heraus also als Entwicklungsdefizit.

Über SDG 8 ist grundsätzlich das Wachstum aller Formen des Wirtschaftens adressiert. Es umfasst also auch die Kultur- und Kreativwirtschaft sowie eine menschenwürdige Beschäftigung in dem Bereich, ohne dass er (genau wie die meisten anderen Wirtschaftsbereiche) dezidiert erwähnt wird. Auch in der Kultur- und Kreativwirtschaft geht es im engeren Sinne um Wachstum, das heißt letztlich um die Steigerung des Gewinns. Dies gilt aber nicht unbedingt für den gegebenenfalls defizitären Bereich, Räume für kreatives Schaffen zu ermöglichen (hier ginge es eher grundsätzlicher um Ein- und Auskommen). Daher müsste bei der gegebenen Entwicklungsdefizitorientierung auch hinterfragt werden, ob über das SDG insbesondere auf solche spezifischen Probleme (vor allem professionellen) künstlerischen Schaffens eingegangen wird. Künstlerisches Engagement ist oft nicht rentabel. Einzelne Künstler*innen sind gegenüber der Logik eines wachsenden Marktes daher sehr vulnerabel und schutzbedürftig, vor allem in Bezug auf das überlebensnotwendige Einkommen, das sie generieren müssen. Zudem scheint im Sinne von künstlerischer Freiheit und Diversität nicht wünschenswert, dass Kulturproduktion von Marktwachstum abhängig ist beziehungsweise beides in der Kultur- und Kreativwirtschaft miteinander verwoben wird.

Global betrachtet ist zudem ein weiterer Punkt relevant: Die Marktmacht in vielen Kultursparten und die sich daraus ergebende Möglichkeit der Kultursteuerung einiger weniger Akteur*innen der Kulturwirtschaft aus dem Globalen Norden kann dem Schutz von kultureller Diversität, insbesondere im Globalen Süden, entgegenstehen. Dies gilt auch, wenn Globalisierung nicht zwingend zu einer Homogenisierung führen muss (vgl. z.B. BPB 2017a und 2017b, UNESCO 2009, S. 8). Mit Blick auf die Logik der SDGs ergibt sich daher zum Beispiel die Frage, inwieweit „Wachstum“ zum Ziel, Räume für künstlerisches Schaffen zu ermöglichen und „menschenwürdige Arbeitsbedingungen“ beitragen kann.

Der einzige direkte Kulturbezug, den SDG 8 herstellt, ist die Förderung der Tourismusindustrie (vgl. SDG-Unterziel 8.9). Von dieser sollen positive Impulse auf „lokale Kultur“ und Produktion ausgehen (UN 2015a). Diese Zielformulierung ist per se schon sehr unterkomplex und hinsichtlich der impliziten Verwobenheit von Tourismus und kultureller Produktion sowie dem zugrundeliegenden traditionellen, undynamischen Bild von Kultur und deren Repräsentationsfunktion zu hinterfragen (Stichwörter z.B.: Essentialismus und exotisierender Kulturtourismus, Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2007). Insbesondere auch aufgrund der damit verbundenen (Tourismus-)Marktsteuerung künstlerischen Schaffens widerspricht dies dem Gedanken kultureller Diversität und einem modern verstandenen Konzept von Kultur (vgl. z.B. Mae 2018). Auch die UNESCO-Konvention zur kulturellen Diversität verweist trotz dieses problematischen Zusammenhangs bei einigen Indikatoren auf SDG-Unterziel 8.9 (siehe Indikatoren 15, 16, 17 in UNESCO 2022).

Auf den ersten Blick wenig ersichtlich ist als Unterziel 11.4 von SDG 11 („Nachhaltige Städte und Siedlungen“) relativ knapp, aber deutlich der Schutz des materiellen Kulturerbes einsortiert. Der Indikator folgt dabei implizit dem Ansatz, die Umsetzung des entsprechenden „Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ der UNESCO (= UNESCO-Welterbe, UNESCO 1972) finanziell zu stärken. Den Schutz des sogenannten immateriellen Kulturerbes, den die UNESCO per Konvention von 2003 ebenfalls anstrebt, greift SDG 11 hingegen nicht auf (UNESCO 2003).

Zwar wird der Schutz „kulturellen Kapitals“ eingangs auch in diesem Text als relevante Entwicklungs- beziehungsweise Nachhaltigkeitsproblematik benannt. Beim „Konservieren“ eines materiellen oder immateriellen kulturellen Erbes müsste jedoch analysiert werden, wie dieser Ansatz mit modernen Kulturkonzepten zusammenpasst, die von einer zeitlichen Dynamik von Kultur, Transkulturalität und kultureller Diversität ausgehen (vgl. z.B. Mae 2018). Bei diesem Ziel ist daher insbesondere zu reflektieren, wie ein „Schutz“ kulturellen Erbes gestaltet ist beziehungsweise werden sollte. Die Frage ist, was als solches von wem definiert wird, welche Machtpositionen es dabei gibt und was dies, besonders hinsichtlich einer möglichen „Musealisierung“ und „Monolithisierung“ von Kultur, für konkrete Konsequenzen mit sich bringt. Dafür sind auch Perspektiven auf die schon existierenden UNESCO-Konventionen relevant.

Keine Erwähnung im SDG finden (kulturelle) Bildungslandschaften oder (kulturelle) Teilhabe, die beide eigentlich Teil einer partizipativer, inklusiver und nachhaltiger gestalteten Verstädterung sein sollten, die per Unterziel 11.3 angestrebt ist (UN 2015a).

Das SDG 16 („Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“) hat als einen Schwerpunkt „good governance“. Damit sind unter anderem Rechtssicherheit und antidiskriminierende Gesetzgebungen gemeint, wie es beispielsweise in den Unterzielen 16.3 und 16.b formuliert ist. Dieses SDG hat damit implizit einen Anknüpfungspunkt zu einem rechtlichen (und ggf. auch finanziellen) Rahmen. Dieser gewährleistet, dass sich ein Mensch individuell und in einer Gesellschaft kulturell im Sinne des Diversitätsgedanken entfalten und selbstgesteuert am kulturellen Leben teilhaben kann. Ein Anknüpfungspunkt dabei ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in der in Artikel 27 das Recht auf kulturelle Teilhabe beschrieben ist (UN 1948). In diesem SDG wird allerdings nicht ausdrücklich als Zielperspektive ausformuliert, dass ein solcher (Rechts-)Rahmen sowie entsprechende Strukturen geschaffen werden sollen.

Auch wenn die oben genannten Aspekte nicht im SDG erwähnt sind, weist die UNESCO-Konvention zur kulturellen Diversität, in der ähnliche Ziele schon konkreter ausformuliert sind, ihrerseits wiederum auf SDG 16 hin (siehe Indikatoren 19, 21 und 22, UNESCO 2022).

Die Verortung von außerschulischer und non-formaler Bildung in den SDGs

Referenzpunkt für Bildung und damit auch non-formale und Kulturelle Bildung ist das SDG 4 („Hochwertige Bildung“). Dieses ist eines der komplexeren Entwicklungsziele, da es zwei Ebenen zusammenbringt: zum einen das Ziel, eine formale Bildung als Selbstzweck (und damit als Grundlage eines lebenswerten Menschseins) zu gewährleisten und zum anderen eine implizite Meta-Zielebene, nämlich Bildung als Schlüssel, um andere Ziele zu erreichen (z.B. Beschäftigung, bestimmte inhaltliche Kenntnisse oder die Umsetzung anderer Nachhaltigkeitsziele, vgl. z.B. Holthoff). Bei näherer Betrachtung der Unterziele (ausgenommen Unterziel 4.7, das eine Ausnahme ist und weiter unten im Text genauer betrachtet wird) ist erkennbar, dass sich das SDG dabei nicht auf alle Bildungsangebote bezieht. Im Mittelpunkt stehen vor allem formale Bildungsangebote und der Zugang zu ihnen, während der gesamte non-formale Bildungssektor ausgeblendet wird. So werden in den verschiedenen Unterzielen dezidiert nur Zugangsmöglichkeiten zu frühkindlicher Betreuung (im Sinne von Kitas), Grundschulbildung, Sek I + II, Berufsausbildung, Hochschulbildung und eine (nicht näher definierte) Förderung von „Skills“ (insb. von ICT-Skills) als Zielvorgaben benannt (UN 2015a). Dies ist dadurch erklärbar, dass auf Meta-Zielebene mit Blick auf Inhalte vor allem isoliert betrachtete Bildungsziele erreicht werden sollen, die als Entwicklungsdefizite gesehen werden: Lesen, Mathe-Kenntnisse, Berufskenntnisse und weitere direkt auf das „moderne“ Arbeitsleben bezogene Fähigkeiten.

Holistische Bildungsziele klingen wiederum nur mit Blick auf die frühe Kindheit durch, für die allgemeiner eine „hochwertige frühkindliche Erziehung“ (Englisch: „quality early childhood development“(!)) als Ziel benannt wird, das auch „psychosoziales Wohlbefinden“ umfasst (UN 2015a). Zudem wird im Untertitel des SDGs das Ziel formuliert, „Möglichkeiten lebenslangen Lernens“ fördern zu wollen (UN 2015a), ohne dass in diesem SDG und seinen Unterzielen ein klares Bild eines Life-Long-Learning-Konzepts gezeichnet wird. 

Aus Sicht der non-formalen Bildung sind daher drei Fragen relevant:

Zunächst einmal: Gibt es insbesondere in Bezug auf die Meta-Ziele-Ebene (also dem Ziel, über Bildung andere Ziele zu erreichen) Anknüpfungspunkte, bei denen auch die non-formale Bildung dazu beitragen kann, diese anderen Ziele zu erreichen? Die Antwort wäre möglicherweise ein Begründungszusammenhang, warum auch die non-formale Bildung stärker in den SDGs in ihrer bisherigen Form oder in künftigen Agenden bedacht werden sollte.

Dazu gibt es bisher einige wenige Anknüpfungspunkte:

In Unterziel 4.4 wird als Ziel formuliert, für eine Beschäftigung die Anzahl der Menschen mit „entsprechenden Qualifikationen“ zu erhöhen (Englisch: „relevant skills“) (UN 2015a). Insbesondere können Akteur*innen der non-formalen Bildung „Skills“ und Kompetenzen fördern beziehungsweise stärken (Wenzlik 2013/2012, BKJ 2020c:54) auch wenn es in diesem Feld parallel dazu eine Debatte gibt, inwiefern sich dieser Bildungsbereich für die gezielte Förderung von Kompetenzen für den Beruf instrumentalisieren lassen beziehungsweise einer Wettbewerbslogik unterwerfen sollte (siehe dazu z.B. Meis/Mies 2018:54 ff., Wenzlik 2013/2012). „Common ground“ wäre hier, dass im non-formalen Bildungsbereich Kompetenzen gestärkt werden können, die auch mit Blick auf einen Beruf Relevanz haben (z.B. Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenzen). Je nachdem, wie und wo die mit dieser Bildungsarbeit adressierten Personen sie später einsetzen möchten.

Insbesondere mit Blick auf frühkindliche Entwicklung, wie sie in Unterziel 4.2 formuliert ist, haben viele Akteur*innen der non-formalen Bildung große Erfahrung und ein breites Repertoire an Konzepten, bei denen es unter anderem um das als Meta-Ziel erwähnte „psychosoziale Wohlbefinden“ geht (siehe z.B. den Beitrag zur frühkindlichen Kulturellen Bildung von Hübner 2022 oder Meis/Mies 2018:76). Angemerkt sei jedoch, dass die als Ziel formulierte frühkindliche Entwicklung in den SDGs auch als Schritt gesehen wird, um bereit für die „Grundschule“ zu sein. Das würde vielen eher offen gehaltenen Ansätzen der non-formalen Bildung widersprechen. Dabei ist zudem nicht näher definiert, was diese „Bereitschaft“ genau beinhaltet.

Im Kontext von Patchwork-Bildungs- und Berufswegen können auch Angebote der non-formalen Bildung zu einer ersten Annäherung zum SDG-Meta-Ziel „Beruf“ und zu (informellen) Qualifizierungen führen. Allerdings ist dies kontrovers: So stellen beispielsweise die EU-Jugendstrategien 2010 – 2018 sowie 2019 – 2027 einen Zusammenhang zwischen non-formaler Bildung und „Beschäftigungsfähigkeit“ her (Rat der Europäischen Union 2009 und 2018). In der erstgenannten Strategie geschieht dies sogar ausdrücklich mit der Aussage, dass nicht formales Lernen zur „Begünstigung von Innovationssinn, Kreativität, Unternehmensgeist“ gefördert werden solle (Rat der Europäischen Union 2009). Genau diese Verzweckung und starke Verknüpfung non-formaler Bildung mit Anforderungen des Arbeitsmarkts kritisieren aber gerade die eigentlichen Akteur*innen des non-formalen Bildungsbereichs deutlich (siehe z.B. DBJR 2016). 

Mit Blick auf das SDG-Meta-Ziel, Grundkenntnisse in den Bereichen Lesen und Mathematik zu erreichen, können Akteur*innen der non-formalen Bildung einen Beitrag leisten. Benannt seien hier beispielsweise für den Bereich Lesen in Deutschland der Bundesverband Leseförderung oder die Stiftung Lesen (Bundesverband Leseförderung und Stiftung Lesen) sowie für die „Digital Literacy“ als Dachverband die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK). Wobei die GMK deutlich formuliert, dass sich auch „Medienbildung sowie kritisch-reflexiver Umgang mit digitalen Bildungstechnologien […] nicht auf Skills und Anwendungskompetenzen reduzieren [lassen]“ und dabei auch „die Rolle und der wachsende Einfluss der IT-Wirtschaft im Bildungsbereich […] kritisch reflektiert […] werden [muss]“ (Braun/Büsch/Dander et al. 2021).

Zu beachten ist, dass diese Aufstellung insbesondere aus der Perspektive des non-formalen Bildungsbereichs in Deutschland beziehungsweise im Globalen Norden erfolgt. Eine internationale Perspektive insbesondere aus Sicht der Länder des Globalen Südens und dem non-formalen Bildungsbereich dort müsste daher noch ergänzt werden.

Die zweite relevante Frage lautet: Wie ist Bildungsqualität in den SDGs definiert und welche Qualitätskriterien fehlen gegebenenfalls, die auch ein moderneres Verständnis von Bildung (Stichwort z.B. „Persönlichkeitsentwicklung“) sowie Qualitätsmaßstäbe der non-formalen Bildung berücksichtigen? Daraus folgend ergibt sich die Unterfrage, ob nicht auch das mögliche Fehlen von Angeboten und Formaten zu Persönlichkeitsentwicklung oder Selbstbildung als „Entwicklungsdefizit“ gerahmt werden müsste. Daraus wiederum die Notwendigkeit, dass grundsätzlich eine Qualitätsdebatte mit Blick auf das SDG oder ein sich daraus ergebendes Entwicklungsziel einer Nachfolge-Agenda geführt werden müsste. Dabei ginge es im Endeffekt darum, welche Vision eines „gebildeten“ beziehungsweise für das Leben gewappneten Menschen hier als Ziel zugrunde gelegt wird.

Obwohl das SDG 4 „Hochwertige Bildung“ (Englisch: „Quality Education“) heißt, geht es in diesem tatsächlich kaum um Bildungsqualität. „Qualitäten“, die als Ziel beziehungsweise Meta-Ziel formuliert werden, sind in erster Linie schon der Erwerb von „basic skills“. Dazu zählen Lesen und Rechnen sowie der Zugang zu einem formalen Bildungsangebot, das implizit per se als an bestimmten Qualitätsstandards ausgerichtet gesehen wird. Eine wesentliche „Qualität“ von Bildung, die im SDG im Zusammenhang mit der Teilhabe an formalen Angeboten formuliert ist, ist der Erwerb von Kenntnissen (a.k.a. „Bildung“), die für den Arbeitsmarkt als relevant gesehen werden (vgl. z.B. SDG-Unterziele 4.1, 4.2, 4.4; UN 2015a und 2015b). Da die SDGs Entwicklungsziele sind, wird an diesen „Qualitäten“ (Lesen, Rechnen, Arbeitsmarktbefähigung) auch sichtbar, wo aus SDG-Perspektive „Entwicklungsdefizite“ gesehen werden.

Daraus ergibt sich die wesentliche Frage danach, inwiefern eine Bildung Sinn ergibt, die sich dezidiert an bestimmten Defiziten ausrichtet, gegenüber einer, der es allgemein um gefestigte, lebensfähige Persönlichkeiten geht. Auch muss beantwortet werden, ob der erstgenannte Bildungsansatz überhaupt getrennt von anderen gesehen werden kann. Grundsätzlich ergibt eine isolierte Betrachtung wenig Sinn. Eine breitere Bildungsperspektive berücksichtigt unabhängig von gewünschten Funktionen und mit einem ganzheitlichen Fokus auch mögliche Entwicklungsdefizite mit. Sinnvoll wäre es daher, das SDG mit Blick auf Bildungsqualität eher an einem moderneren, holistischeren Bildungsverständnis auszurichten. Dadurch wäre es auch möglich, eine größere Wirkung im Entwicklungskontext zu erzielen und das Subjekt zu befähigen, sich individuell zu entfalten sowie den Fokus auf das formelle Lernen im Sinne einer ganzheitlichen Bildung komplementär zu ergänzen (Lipkina 2018:146 f.).

Generell basiert ein modernes Bildungsverständnis, das in SDG 4 wenig berücksichtigt wird, auf ebendiesem komplementären Ineinandergreifen von Elementen der formalen Bildung, der non-formalen Bildung sowie auch der informellen Bildung (ebd.:146 f.). Insbesondere in der Debatte um ein modernes „neuhumanistisches“ Bildungsverständnis wird daher gerade betont, dass dieses mit dem Fokus auf die „‘Selbstkonstitution‘ des Subjekts“ den „Vorstellungen funktionaler Bildung als einseitige Instrumentalisierung und Ausrichtung des Bildungsgeschehens auf die Erfordernisse der eigenen späteren Existenzsicherung auf Beruf und Arbeitswelt‘“ gegenübersteht (ebd. sowie BMFSFJ 2005:83 f., ). Der Beitrag von non-formaler Bildung ist in diesem Kontext unter anderem hinsichtlich der Qualität zu sehen, den Erwerb überfachlicher Kompetenzen zu unterstützen und so zur ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung beizutragen (Lipkina 2018:147 f. oder DFJW 2018:9 ff.).

Mit Blick auf SDG 4 wäre also zunächst zu überprüfen, inwiefern das dort vermittelte, eher traditionelle und relativ lineare Bildungsverständnis modernen Anforderungen gerecht wird. Das gilt auch für die Debatte um den Zielhorizont eines „lebenslangen Lernens“. Dieses entspricht eigentlich einem modernen holistischen Bildungsverständnis und setzt auf selbstgesteuertes Lernen sowie Entfaltung der Persönlichkeit. Zum Teil ist es in der politischen Debatte aber eindimensional mit den Themen Wettbewerbs- und Beschäftigungsfähigkeit verzahnt und wird auf diese Weise sehr linear verzweckt (Nuissl/Przybylska 2014). Gerade hier können neuere Ansätze der non-formalen Bildung ein wertvoller Ansatzpunkt sein (vgl. z.B. Bockhorst 2013/2012).

Als drittes stellt sich schließlich die Frage, ob qualitativ hochwertige Angebote der non-formalen Bildung als komplementäre Bildungsangebote mit den entsprechenden Zielvorgaben in den SDGs oder einer Folgeagenda eingefügt werden sollen.

Unabhängig davon, wie notwendig die Debatte zu Bildungsqualität und -verständnis ist, können schon jetzt Stellen in der Formulierung von SDG 4 identifiziert werden, wo Verknüpfungen zur non-formalen Bildung möglich sind. Zu nennen wären hier folgende Unterziele, wobei für eine Folgeagenda auch die Formulierung eines eigenen Unterziels zur non-formalen Bildung in Betracht gezogen werden könnte:

  • Unterziel 4.2 („Bis 2030 sicherstellen, dass alle Mädchen und Jungen Zugang zu hochwertiger frühkindlicher Erziehung, Betreuung und Vorschulbildung erhalten, damit sie auf die Grundschule vorbereitet sind“, UN 2015a): Gerade mit Blick auf die „frühkindliche Erziehung“ kann ein direkter Bezug zu Angeboten non-formaler Bildung hergestellt werden (siehe oben).
  • Unterziel 4.3 („Bis 2030 den gleichberechtigten Zugang aller Frauen und Männer zu einer erschwinglichen und hochwertigen fachlichen, beruflichen und tertiären Bildung einschließlich universitärer Bildung gewährleisten“, UN 2015a): Hier könnte auch der Zugang zu non-formaler Bildung als Ort der Kompetenzstärkung aufgeführt werden. Zudem könnte sich der Fokus des Unterziels weg von einem funktionalen hin zu einem modernen Bildungsverständnis im Sinne der Selbstbildung und der Persönlichkeitsentwicklung ändern.
  • Unterziel 4.4 („Bis 2030 die Zahl der Jugendlichen und Erwachsenen wesentlich erhöhen, die über die entsprechenden Qualifikationen einschließlich fachlicher und beruflicher Qualifikationen für eine Beschäftigung, eine menschenwürdige Arbeit und Unternehmertum verfügen“, UN 2015a): Relevante „Skills“ können gerade in der non-formalen Bildung erworben beziehungsweise gestärkt werden. Dabei müsste auch in diesem Unterziel zunächst grundsätzlich der Fokus auf ein rein funktionales Bildungsverständnis überdacht werden. Vor allem gilt dies hinsichtlich der ausschließlichen Schwerpunksetzung auf ICT-Skills im Indikator (UN 2015b), die wiederum auch kritisch gesehen werden kann (Braun/Büsch/Dander et al. 2021).
  • Unterziel 4.5 („Bis 2030 geschlechtsspezifische Disparitäten in der Bildung beseitigen und den gleichberechtigten Zugang der Schwachen in der Gesellschaft, namentlich von Menschen mit Behinderungen, Angehörigen indigener Völker und Kindern in prekären Situationen, zu allen Bildungs- und Ausbildungsebenen gewährleisten“, UN 2015a): Dieses Unterziel befasst sich mit dem Thema „Inklusion“ im Bildungsbereich, bei der auch Ansätze und Konzepte non-formaler Bildung eine wichtige Rolle spielen können (Nagel 2020, Montag Stiftung 2018).
  • Unterziel 4.6 („Bis 2030 sicherstellen, dass alle Jugendlichen und ein erheblicher Anteil der männlichen und weiblichen Erwachsenen lesen, schreiben und rechnen lernen“, UN 2015a): Bezüglich dieses Unterziels ist eine Analyse nötig, welche wichtigen anderen Schlüsselkompetenzen es neben den im Unterziel erwähnten gibt und welche Rolle auch die non-formale Bildung spielen könnte, um diese zu stärken.
  • Unterziel 4.7 („Bis 2030 sicherstellen, dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben, unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Lebensweisen, Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt und des Beitrags der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung“, UN 2015a): Grundsätzlich wird in Unterziel 4.7 die Ausbreitung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) gefordert, die per se auf den drei Säulen formale, non-formale und informelle Bildung fußt (BMBF, Brock/Grund 2020, UNESCO 2020). Daher sind viele Anknüpfungspunkte zum non-formalen Bildungsbereich gegeben. Dieses Unterziel nimmt eine Sonderrolle ein, weil die hier implizit als Meta-Ziel formulierte Änderung von Haltung und Mentalität ein Schlüssel sein soll, um wiederum andere SDGs zu erreichen. Daher wird dieses Unterziel in Teil 2 des Textes debattiert, in dem es um die soziokulturelle Dimension von Nachhaltigkeit geht.
  • Unterziel 4a („Bildungseinrichtungen bauen und ausbauen, die kinder-, behinderten- und geschlechtergerecht sind und eine sichere, gewaltfreie, inklusive und effektive Lernumgebung für alle bieten“, UN 2015a): In die Zielformulierung hinsichtlich des Baus und der Instandhaltung benötigter Bildungsinfrastruktur im Globalen Süden (inkl. barrierefreien Zugängen) sollten auch non-formale beziehungsweise außerschulische Bildungsorte aufgenommen werden.
  • Unterziel 4b („Bis 2020 weltweit die Zahl der verfügbaren Stipendien für Entwicklungsländer, insbesondere für die am wenigsten entwickelten Länder, die kleinen Inselentwicklungsländer und die afrikanischen Länder, zum Besuch einer Hochschule, einschließlich zur Berufsbildung und zu Informations- und Kommunikationstechnik-, Technik-, Ingenieurs- und Wissenschaftsprogrammen, in entwickelten Ländern und in anderen Entwicklungsländern wesentlich erhöhen“, UN 2015a): Neben Stipendien „zum Besuch einer Hochschule“ für Personen aus dem Globalen Süden sollte auch in die Zielformulierung aufgenommen werden, die Beteiligung von Menschen aus dem Globalen Süden an non-formalen Bildungsmaßnahmen zu fördern. Dies ist nicht zuletzt aufgrund der damit verbundenen Breitenwirksamkeit geboten, die im Gegensatz zum Fokus auf die Bildung für Eliten steht.
  • Unterziel 4c („Bis 2030 das Angebot an qualifizierten Lehrkräften unter anderem durch internationale Zusammenarbeit im Bereich der Lehrerausbildung in den Entwicklungsländern und insbesondere in den am wenigsten entwickelten Ländern und kleinen Inselentwicklungsländern wesentlich erhöhen“, UN 2015a): Neben der Anzahl qualifizierter Lehrer*innen für Schulen im Globalen Süden sollte als Ziel mitformuliert werden, die Anzahl an qualifizierten Pädagog*innen im Globalen Süden für den non-formalen Bildungsbereich zu steigern.

Mit Blick auf die Unterziele 4a  – 4c müssten insbesondere Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und des non-formalen Bildungsbereichs in Ländern des Globalen Südens ihre konkreten Bedürfnisse formulieren. An dieser Stelle können dafür nur Denkanstöße gegeben werden.

Die Verortung Kultureller Bildung im Sinne kultureller Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung in SDG 4

Wenngleich Kulturelle Bildung auch im formalen Bildungsbereich stattfindet (z.B. im Kunstunterricht), soll für die Verortung in SDG 4 deren non-formale Ausrichtung betrachtet werden. Es geht also um die kulturelle Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung. Wichtig ist, dass es dabei um ein Bildungskonzept in Deutschland geht, das in anderen Ländern möglicherweise ähnlich, aber nicht komplett gleich vorhanden ist. Da die folgenden Betrachtungen allgemeiner Natur sind, ist die Übertragbarkeit auf ähnliche Konzepte in anderen Ländern aber gegeben. 

Die kulturelle Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung ist grundsätzlich ein Teilbereich der non-formalen Bildung. Anhand dieser konkretisiert sich also, wie der non-formale Bildungsbereich einen Beitrag leisten kann, SDG 4 und dessen Unterziele zu erreichen.

Zwei Perspektiven sind dabei interessant: Einerseits die Rolle der kulturellen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung im Kontext eines modernen Bildungsverständnisses, das dem SDG zugrunde gelegt werden sollte. Und andererseits die Identifizierung konkreter Anknüpfungspunkte, wo diese zur Umsetzung bereits formulierter Unterziele beziehungsweise deren impliziten und expliziten Meta-Zielen beitragen kann.

Perspektive 1: Die kulturelle Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung ist grundsätzlich ein „modernes“ Bildungskonzept mit holistischer Perspektive. Dieses ist auf Persönlichkeitsentwicklung, ein ganzheitliches Menschenbild sowie Lernen mit allen Sinnen über kulturelle Ausdrucksformen und ästhetische Erfahrungen fokussiert (vgl. z.B. BKJ 2020a und 2020b). Kulturelle Bildung in diesem Sinne befördert unter anderem die Fähigkeit zur Selbstbildung und kann ein breites Spektrum von Kompetenzen stärken. Beispiel für ein System, über das gezielt Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenzen im Kontext Kultureller Bildung gestärkt und sichtbar gemacht werden können, ist der Kompetenznachweis Kultur (KNK) (Schorn/Timmerberg 2013/2012). Darüber hinaus zeigt das Konzept „Lebenskunst“ (Bockhorst 2013/2012) auf, wie das Prinzip des „lebenslangen Lernens“, das im SDG-4-Untertitel als Zielhorizont formuliert ist, konkret umgesetzt werden kann. Wenn sich der Fokus von SDG 4 weg von einem eher traditionellen, funktionalen und linearen Bildungsverständnis hin zu einem modernen Bildungsverständnis wandelt, wäre demnach für Umsetzung und Zielerreichung auch die Kulturelle Bildung ein relevantes Puzzlestück.

Perspektive 2: Die kulturelle Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung hat verschiedene Anknüpfungspunkte zu Unterzielen von SDG 4 mit Blick auf deren Umsetzung. Komplementär zu den bereits für die non-formale Bildung benannten Anknüpfungspunkten, seien hier insbesondere folgende Unterziele benannt:

  • 4.4: In der Kulturellen Bildung können sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene in verschiedenen Sparten und spartenübergreifend künstlerisches Wissen und künstlerische Fähigkeiten aneignen, die eine große Nähe zum professionellen künstlerischen Arbeiten haben. In diesem Sinne kann die Beteiligung an Maßnahmen der kulturellen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung auch als Beitrag zu „fachlichen und beruflichen Qualifikationen“ (UN 2015a) gesehen werden, wenn keine Instrumentalisierung damit verbunden ist. Über die kulturelle Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung können zudem eine Vielzahl von Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenzen (inkl. Schlüsselkompetenzen) ausgebaut werden. Sie kann damit direkt zum Ziel beitragen, „entsprechende Qualifikationen“ (Englisch: „relevant skills“, UN 2015a) zu stärken. Deren Spektrum müsste im Indikator über ICT-Skills hinaus aber mindestens allgemein auf Schlüsselkompetenzen erweitert werden.
  • 4.5: Kulturelle Bildung ist ein Bildungskonzept, bei dem Inklusion ein wesentliches Prinzip ist (Nagel 2020, BKJ 2017:10 ff.). Damit trägt sie per se zu gerechteren Zugängen im Bildungsbereich und mehr Chancengleichheit bei.
  • 4.7: Siehe Teil 2 zur soziokulturellen Dimension von Nachhaltigkeit

TEIL 2: Kultur und Kulturelle Bildung im Kontext der soziokulturellen Dimension von Nachhaltigkeit

Die Verortung von Kultur und Kultureller Bildung in den vier Nachhaltigkeitsdimensionen

Um eine nachhaltige und sozial gerechtere Lebensweise zu erreichen, ist es nötig, auf den dafür relevanten Ebenen und in den „Nachhaltigkeitsdimensionen“ nachhaltige Prozesse zu etablieren. Dazu zählen die Mikro-, Meso-, Makro- und globale Ebene sowie die ökologische, ökonomische, politisch-institutionelle und soziokulturelle Dimension von Nachhaltigkeit (vgl. z.B. KMK/BMZ 2016, Abb. 3 und Abb. 9).

Dieses Kapitel handelt davon, wie Nachhaltigkeit in der soziokulturellen Dimension erreicht werden kann und wo in dieser Kultur und Kulturelle Bildung verortet sind. In anderen Worten geht es in diesem Kapitel also um „den Beitrag von Kultur zur nachhaltigen Entwicklung“, wie es beispielsweise in SDG-Unterziel 4.7 formuliert ist (UN 2015a). Wesentlich ist dabei, dass in der soziokulturellen Dimension vor allem im Mittelpunkt steht, gesellschaftliche Teilhabe und – basierend auf einem weiten Kulturbegriff – eine soziokulturelle Transformation zu erreichen. Damit soll die Umsetzung anderer Nachhaltigkeitsziele und auch anderer Nachhaltigkeitsdimensionen bewirkt werden. Es geht in der soziokulturellen Dimension anders als in den SDGs also nicht zentral um Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsdefizite im engeren Sinne, sondern vielmehr um längerfristige Transformations- und Beteiligungsprozesse. Die soziokulturelle Dimension hat also insofern eine Sonderrolle, als dass sie sich mit vorherrschenden kulturell bedingten Handlungsweisen und gesellschaftlich verwurzelten kulturellen Konzeptionen befasst, um die Nachhaltigkeitsziele in allen Dimensionen zu erreichen (Holthoff 2020, Leipprand 2012, Brocchi 2022:47 ff.). Gleichzeitig bezieht sich die soziokulturelle Dimension auf die gegebenen soziokulturellen Bedingungen, also darauf, gesellschaftliche Teilhabe im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu ermöglichen. Das heißt, von der soziokulturellen Dimension von Nachhaltigkeit und der Verortung von „Kultur“ zu sprechen kann im Wesentlichen zwei Ansätze meinen, die beide ineinandergreifen:

Zum einen die Transformation einer „Gesellschaftskultur“ hin zu nachhaltigeren Haltungen und Handlungsweisen. Dem erweiterten Kulturbegriff folgend geht es also darum, einen Wandel der kulturellen Symbolsysteme und der kulturellen Praxis zu erreichen (Klepacki 2020, Pinkert 2020/2011). Auch „die Künste“ können über sozial-engagierte Kunst oder als Experimentierraum für gesellschaftspolitische Fragen Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen haben (auch im Kontext der Praxis Kultureller Bildung).

Zum anderen ermöglichen zu schaffende Rahmenbedingungen und Strukturen die soziokulturelle Teilhabe im Sinne nachhaltiger Entwicklung. Die Strukturen beeinflussen nämlich die konkreten Handlungsspielräume einer Gesellschaft und einzelner gesellschaftlicher Gruppen, während sie auch Resultat des menschlichen Handelns sind (Rauch 2009).

Bei der Frage nach „Gesellschaftskultur“ geht es um sämtliches kulturelles, gesellschaftliches und politisches Handeln im Sinne von Nachhaltigkeit als Kollektiv, aber auch als Individuum (insbesondere auf Verantwortungspositionen) sowie darum, nötige Mindsets und Haltungen zu schaffen. Dabei sind vor allem Faktoren zu berücksichtigen, die (sozio-)kulturelle Vorstellungen besonders stark beeinflussen. Dazu zählen Politik, Medien, die Öffentlichkeit, aber beispielsweise auch Religion, Familie und andere Peer-Gruppen. (Sozio-)kulturelle Merkmale, die konkret nachhaltiges Denken und Handeln beeinflussen können sind beispielsweise Werte, Normen, Verhaltensmuster, kulturelle Prinzipien, Zugang zu gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe einzelner Gruppen sowie die Handhabe gesellschaftlicher Handlungsprozesse (vgl. z.B. Rauch 2009, Holthoff 2020).

Der Wandel einer „Gesellschaftskultur“ hin zu mehr Nachhaltigkeit ist weder kurzfristig zu erreichen noch ist er ein Automatismus, der von allen gesellschaftlichen Akteur*innen gleichermaßen mitgetragen wird. Ganz im Gegenteil zwingen häufig erst durch nicht-nachhaltiges Verhalten ausgelöste Krisen Menschen dazu, sich kurzfristig und zu hohen Kosten anzupassen sowie Denk- und Handlungsmuster zu ändern (zu Krisen und zum menschlichen Umgang damit, siehe Brocchi 2022:163 ff.). Oder es vollzieht sich durch Einsichten und Erkenntnisse, auf einer entsprechenden strategischen gesellschaftlichen Ausrichtung basierend, langfristig ein Wandel in Handeln und Denkweisen (Brocchi 2022, insbesondere mit Augenmerk auf den Titel der Veröffentlichung: „By Desaster Or By Design“).

Die Frage, wie sich der Wandel einer „Gesellschaftskultur“ im Sinne nachhaltigen Denkens und Handelns tatsächlich vollziehen kann, ist daher noch unbeantwortet. Er wird derzeit unter anderem aus soziologischer, kulturwissenschaftlicher, psychologischer oder auch bildungstheoretischer Perspektive reflektiert (siehe z.B. Eicker/Eis/Holfelder et al. 2020, Singer-Brodowski 2016 oder Schneidewind 2018). Bezogen auf die non-formale und die Kulturelle Bildung wären in diesem Kontext ihre möglichen systemischen Wirkungen relevant, unabhängig von ihren möglichen individuellen Bildungswirkungen.

Zu den Prinzipien, die nachhaltig soziokulturelle Teilhabe ermöglichen sollen und, da sie so zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen, auch selber nachhaltig gesellschaftlich gut verankert sein sollten, zählen unter anderem folgende (im weitesten Sinne nach Rauch 2009):

  • Empowerment / Ermächtigung von Einzelnen und Gruppen, um an soziokulturellen Prozessen teilzunehmen
  • Anstoßen und Nutzung von individuellen und gemeinschaftlichen „Problemlösungsfähigkeiten“
  • Ermöglichung, sich verantwortungsvoll und mit entsprechendem Einfluss eines Problems annehmen zu können (= Ownership-Gedanke, der auch mit Subsidiaritätsgedanken gepaart werden kann)
  • Inklusion und Förderung benachteiligter gesellschaftlicher Zielgruppen
  • Stärkung der Rolle der organisierten Zivilgesellschaft

Gespiegelt werden diese Prinzipien in verschiedenen Werkzeugen, die diese Formen soziokultureller Teilhabe ermöglichen können:

  • Partizipation: Über Strukturen echter Beteiligung können Empowerment und Ownership erreicht sowie die Nutzung gesellschaftlicher „Problemlösungsfähigkeiten“ gewährleistet werden. Partizipation kann dabei über die (kanalisierte) Äußerung von Bedürfnissen und das Einbringen von „Expertise“ bis hin zur Mitentscheidung und Interessenvertretung reichen. Wichtig ist dabei, auch zuzulassen, dass sich dafür bisherige gesellschaftliche (Entscheidungs-)Strukturen ändern.
  • Bildung: Machtkritische und inklusive Bildung befördert einerseits die Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe und führt andererseits sowohl mit Blick auf die individuelle als auch auf die strukturelle Ebene zu einer (nachhaltigkeitsorientierten) Handlungsfähigkeit (= Empowerment, Ownership-Gedanke als auch Förderung benachteiligter Gruppen, wenn Bildung wirklich inklusiv ist).
  • Ermöglichung von Handlungsspielräumen („bottom up“): Subsidiaritätsprinzip, Förderinstrumente, Gesetzgebung, Informationskanalisierung etc.; so geschaffene Handlungsspielräume betreffen die Ownership sowie Stärkung der Rolle der organisierten Zivilgesellschaft.
  • Zielgruppenorientierung: Stärkung benachteiligter Zielgruppen, Erhöhung des sozialen Kapitals, damit auch Festigung des sozialen Zusammenhalts. Dies ist insbesondere für die Inklusion benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen relevant.

Kulturelle Bildung wird in diesem Kontext an zwei Stellen berührt. Einerseits ist sie eine Akteurin, die sich konzeptionell einer inklusiven und machtkritischen Bildung inklusive damit verbundener Prinzipien wie Empowerment sowie der Stärkung soziokultureller Teilhabe verschrieben hat. Wobei mit Blick auf die Praxis Kultureller Bildung immer wieder zu überprüfen ist, ob und wie sie dieser Intention oder Eigenzuschreibung gerecht wird. Andererseits gehören Akteur*innen der Kulturellen Bildung beziehungsweise der kulturellen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung zur organisierten Zivilgesellschaft: Daher sind sie im Kontext einer nachhaltigen soziokulturellen Struktur prinzipiell zu stärken, womit gleichzeitig eine entsprechende politische Verantwortung einhergeht (Liebig 2022). Mit Blick auf die vier Nachhaltigkeitsdimensionen ist die Kulturelle Bildung konzeptionell und verbandlich also vor allem in der soziokulturellen Dimension mit Schnittstellen zur politisch-institutionellen Dimension verortet.

Zusammen kommen diese beiden Aspekte – die politische, kritische Bildungsarbeit sowie die Rolle der Kulturellen Bildung als zivilgesellschaftlicher Akteur*in – in SDG-Unterziel 4.7. Darin geht es darum, dass sich „alle Lernenden“ das nötige Wissen und die nötigen Kompetenzen „zur Förderung nachhaltiger Entwicklung“ aneignen sollen (UN 2015a). Dieses SDG-Unterziel soll im abschließenden Kapitel daher gesondert betrachtet werden.

Kulturelle Bildung und die Umsetzung von SDG-Unterziel 4.7

Unterziel 4.7 hat eine Sonderrolle im Kontext des SDG 4 (und der Entwicklungsziele allgemein). Denn darin geht es weniger um eine „Hochwertige Bildung“, als darum, Nachhaltigkeitsdenken und -handeln zu verbreiten (was im besten Fall auch hochwertige Bildung ist). Der geringe Fokus auf „Hochwertigkeit“ macht sich beispielsweise an der eher unpräzisen Umschreibung bemerkbar, wie die Aneignung von Nachhaltigkeitswissen und „-Skills“ erreicht werden soll. Nämlich einerseits zwar über das bereits etablierte Bildungskonzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), aber auch über „nachhaltige Lebensstile, Menschenrechte, Gendergerechtigkeit, Förderung einer gewaltfreien Kultur, Weltbürgertum und die Anerkennung kultureller Diversität und des Beitrags von Kultur zur nachhaltigen Entwicklung“ (UN 2015a). Im Kontext dieses Unterziels wäre also beispielsweise über Indikatoren genauer zu definieren, wie eine qualitäts- und wirkungsvolle Ausbreitung eines Nachhaltigkeitsdenkens erreicht werden könnte und welche Qualitäten eine (breitenwirksame) BNE aufweisen muss.

Sowohl bei der Frage nach der Qualität von Nachhaltigkeitsbildung als auch der Verbreitung von Nachhaltigkeitsdenken kann Kulturelle Bildung eine Rolle spielen. Mit Blick auf Qualität wäre insbesondere die Frage zu erörtern, ob und wie BNE und Kulturelle Bildung zusammen gedacht werden könnten. Zudem muss geklärt werden, welche besonderen Fähigkeiten in diesem Kontext die Kulturelle Bildung hätte, um entsprechende Inhalte aufzugreifen sowie Kompetenzen zu stärken. Sie könnte so eine qualitativ angemessene Ausbreitung von Nachhaltigkeitsdenken unterstützen und einen Beitrag zur Umsetzung von SDG-Unterziel 4.7 leisten.

Grundsätzlich gibt es inhaltlich verschiedene Anknüpfungspunkte und Schnittstellen zwischen den Bildungskonzepten der BNE und der Kulturellen Bildung (siehe z.B. Liebig 2023, Geier/Timmerberg 2012). Zum Beispiel gehen beide von einer potenziellen Transformation des Individuums in den jeweiligen Bildungsprozessen aus (Reinwand-Weiss 2020). Zudem haben sie einen ähnlichen Horizont bei den grundsätzlichen Bildungszielen, nämlich die Förderung von Kompetenzen, wie Reflexions-, Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit (Leipprand 2013/2012, Liebig 2022). Kulturelle Bildung hat wiederum gegenüber der BNE den potenziellen Mehrwert, dass sie andere Zugänge zu Fragen des zukunftsfähigen Handelns öffnen kann (Ebel 2020, Klepacki 2020, Reinwand-Weiss 2020). Dies ist möglich, indem sie Perspektivwechsel und ästhetische Wahrnehmung sowie „einen emotionalen und sinnlichen Zugriff auf Wirklichkeit“ ermöglicht.

Bezüglich der eigentlichen Bildungspraxis gibt es neben theoretischen Gegenüberstellungen der Bildungskonzepte (BKJ 2013, BKJ 2020, Reinwand-Weiß 2020) bereits verschiedene Ansatzpunkte, wie Akteur*innen der Kulturellen Bildung theoretische Überlegungen sowie Werte und Haltungen der BNE in ihre Bildungsarbeit übertragen können. Um BNE in der Kulturellen Bildung umzusetzen, könnte diese zum Beispiel konkrete Ziele aus der Bildung nachhaltiger Entwicklung übernehmen (wenn diese kompatibel sind). Auch könnte sie deren Themen gezielt aufgreifen, pädagogische Herangehensweisen adoptieren oder Methoden sowie Formate der BNE ausprobieren und danach in die eigene Praxis transferieren (Liebig 2023). Dabei ist klar, dass Kulturelle Bildung konzeptionell grundsätzlich Kulturelle Bildung bleibt (ebd.). Doch besteht ein großes Potenzial, wie kulturelle Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen BNE qualitativ hochwertig ergänzen und damit konkret dazu beitragen kann, dass SDG-Unterziel 4.7 erreicht wird.

Hinsichtlich der Verbreitung von Nachhaltigkeitsdenken kann die Kulturelle Bildung zudem niederschwellig andere Zielgruppen erreichen, die möglicherweise nicht über „klassische“ Formate der BNE angesprochen werden (Liebig 2022). Im Endeffekt ist es aber eine verbandspolitische Entscheidung beziehungsweise die Entscheidung einzelner Bildungsträger aus dem Feld der Kulturellen Bildung, ob und wie sie Themen der nachhaltigen Entwicklung sowie Ziele der BNE als normative Vorgaben aufgreifen möchten (vgl. Liebig 2022). Möglichkeiten dafür sind beispielsweise, als Selbstverpflichtung den sogenannten „Whole Institution Approach“ zu übernehmen oder eine Nachhaltigkeitsstrategie zu implementieren (Liebig 2023).

Schlussbetrachtungen

Für eine Verortung von Kultur, Kultureller Bildung und deren Akteur*innen in der politischen Nachhaltigkeitsdebatte ist immer klar zwischen (Zielen von) nachhaltiger Kulturpolitik und „Lobbyarbeit“, „Nachhaltigkeits- bzw. Entwicklungszielen“ im eigentlichen Sinne mit Blick auf „Kultur“ sowie gesellschaftskulturellen Einflussfaktoren zu trennen. Nur so können politische Forderungen mit Blick auf die anstehende Reformulierung der SDGs bzw. auf die Formulierung einer neuen Nachhaltigkeitsagenda gestellt werden. Insbesondere betrifft das klare Ausdifferenzieren die Frage nach einem (möglichen) eigenständigen „Kultur-SDG“ sowie die nach einem „Nachschärfen“ bereits vorhandener SDGs, bei denen kultur- und bildungspolitische Leerstellen festgestellt werden können. Hier wäre aus Sicht der non-formalen beziehungsweise Kulturellen Bildung insbesondere SDG 4 ins Visier zu nehmen. Gleichzeitig sollte mitbedacht werden, dass die SDGs einer sehr linearen Entwicklungs-, Zielerreichungs- und Indikatorenlogik folgen, die nicht allen Facetten von Kultur- und Bildungspolitik oder auch der Kulturellen Bildung gerecht werden. Sie bieten aber den Vorteil, dass Nationalstaaten über sie bis zu einem gewissen Grad in die Verantwortung genommen und bestimmte Problemlagen sichtbarer gemacht werden können.

Um Kultur und Kulturelle Bildung im politischen Nachhaltigkeitsdiskurs zu verorten, sollten zudem die vorhandenen Analysen, Konzeptionen und Ziele auch mit globalen, zivilgesellschaftlichen Counterparts aus diesen Bereichen abgeglichen werden. Dies gilt insbesondere für Ansätze und Überlegungen aus Ländern des Globalen Südens. Denn das Ziel sollte sein, eine möglichst große Bandbreite an Perspektiven einzubeziehen und einen den SDGs sowie einer möglichen Folgeagenda angemessenen globalen und postkolonialen Standpunkt gewinnen zu können. 

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Volkmar Liebig (2024): Kultur, Kulturelle Bildung, Nachhaltigkeit und die Agenda 2030. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/kultur-kulturelle-bildung-nachhaltigkeit-agenda-2030 (letzter Zugriff am 11.11.2024).

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