„Kultur ist eigentlich vieles“ – Zur Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung aus der Perspektive von Eltern
Abstract
Was verstehen Eltern unter Kultureller Bildung? Auf Basis einer diskursanalytischen Auswertung von qualitativen Interviews mit Eltern in ländlichen Räumen, werden Differenzen zwischen elterlichen Konzeptualisierungen von Kultureller Bildung und jenen der Fachsprache sichtbar gemacht. Dabei steht insbesondere die Frage nach der Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung im Fokus. Wie wird Kulturelle Bildung jeweils als solche bestimmt? Abseits von Tätigkeiten im Bereich Musik, Tanz und Malerei, die in den Elterninterviews i.d.R. unproblematisch als Kulturelle Bildung identifiziert werden, gibt es eine Reihe an diskursiven Knotenpunkte, in denen eine Zuordnung weit weniger eindeutig erscheint. Wenn nach der Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung in den analysierten Elterninterviews gefragt werden soll, erscheint es daher sinnvoll den Fokus gerade auf solche Themen zu lenken, die im fachsprachlichen Diskurs tendenziell seltener Berücksichtigung finden: Es geht um die Klassik, aber auch um den Sport oder die Feuerwehr.
Was ist Kulturelle Bildung? Wie lässt sie sich sinnvoll bestimmen, wie abgrenzen? Um diese Fragen wird im einschlägigen Fachdiskurs seit geraumer Zeit gerungen (vgl. u.a. Fuchs 2008; Reinwand-Weiss 2013/2012; Bilstein 2016; Weiß 2017; Timm/Scheunpflug/Costa/Kühn 2020). Doch welche Resonanz erzeugt die Rede von Kultureller Bildung in den Feldern pädagogischer Praxis? Was verstehen z.B. Adressat*innen von kulturellen Bildungsangeboten unter Kultureller Bildung?
Mit dieser Frage beschäftigt sich der vorliegende Artikel, in dem exemplarisch unterschiedliche Konzeptualisierungen von Kultureller Bildung aus der Perspektive von Eltern untersucht werden. Im Rahmen einer diskursanalytischen Auswertung von qualitativen Leitfadeninterviews soll nach den Abgrenzungsbemühungen rund um die Kulturelle Bildung gefragt werden, um das Verhältnis von elterlichen Konzeptualisierungen von Kultureller Bildung zu jenen des Fachdiskurses diskutieren zu können.
Die Untersuchung basiert auf Daten aus dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt „Elternsache Kulturelle Bildung. Elterliches Bildungsengagement in ländlichen Räumen“ (ElKuBi), das aktuell an der Universität Koblenz-Landau durchgeführt wird (Projektleitung: Jens Oliver Krüger; Projektmitarbeiterin: Mirjam Schön). Darin werden Eltern an vier unterschiedlichen, ländlich gelegenen Orten Deutschlands zu ihren Perspektiven auf und ihre Erwartungen an Angebote der kulturellen Bildung befragt (vgl. Krüger/Schön 2021).
Der Artikel gliedert sich in vier Teile: Zunächst wird schlaglichtartig der aktuelle Fachdiskurs um die Bezeichnung „Kulturelle Bildung“ in den Blick genommen (Teil 1). In einem zweiten Teil werden die method(olog)ischen Prämissen der empirischen Untersuchung, auf der der vorliegende Beitrag basiert, erläutert (Teil 2), bevor in einem dritten Teil näher auf konkrete Auswertungsergebnisse eingegangen wird (Teil 3). Ein Fazit diskutiert Unterschiede zwischen den Konzeptualisierungen der Kulturellen Bildung, die die interviewten Eltern vornehmen und jenen des Fachdiskurses (Teil 4).
Zur Diskussion um die Abgrenzbarkeit Kultureller Bildung im Fachdiskurs
Der fachsprachliche Diskurs zur Kulturellen Bildung ist überaus elaboriert. Neben einer Reihe einschlägiger Fachpublikationen (vgl. u.a. Weiß 2017; Timm/Scheunpflug/Costa/Kühn 2020; Fuchs 2008) gibt es Handbücher (Bockhorst/Reinwand-Weiss/Zacharias 2012), Fachzeitschriften (z.B. „KULTURELLE BILDUNG ONLINE“) und Förderprogramme (vgl. u.a. Förderrichtlinien des BMBF), die die Wendung „Kulturelle Bildung“ im Titel führen. Die hegemoniale Kraft der Bezeichnung „Kulturelle Bildung“ ist u.a. auf ihre integrative Qualität gegenüber weiteren, mitunter bedeutend älteren sprachlichen Wendungen wie die der „ästhetischen Erziehung“ (Schiller 2000) zurückzuführen. Verschiedentlich wird erörtert, inwiefern die Kulturelle Bildung als „Dachbegriff“ (Reinwand-Weiss 2013/2012) oder „Container-Word“ (Weiß 2017) für die Pluralität aktueller pädagogischer Felder und Aufgaben in Frage kommt:
„Kulturelle Bildung als Container enthält unzählige Attribute: Künstlerisches, Ästhetisches, Musikalisches, Poetisches, Kreatives, Schönes u.v.m. Problematisch wird das, wenn man meint, dass der Begriff zutreffend sei (‚es ist Kulturelle Bildung‘)“ (Weiß 2017:13).
Das Problem, das hier angesprochen wird, ließe sich so umschreiben, dass die Identifizierung von Kultureller Bildung den Diskursraum um dieselbe vereindeutigen, arretieren und damit schließen würde. Die damit einhergehende Schwierigkeit ist bildungstheoretisch nicht unbekannt (Thompson/Jergus 2014), insofern sich z.B. „das Versprechen der Bildung“ (Schäfer 2011:10) gerade in Abgrenzung und im Entzug von jeglicher empirischen Identifizierbarkeit konstituiert. Im Lichte dieser Überlegung ist es also kein Wunder, sondern quasi unumgänglich, dass um die Abgrenzbarkeit der Kulturellen Bildung gerungen wird, dass es zu „Streitfälle[n] der Vermessung Kultureller Bildung“ (vgl. Themenfeld auf www.kubi-online.de) kommt und „dass die zentralen Begriffe Kultur und kulturelle Bildung unterschiedlich gefasst werden und verschiedene Konstruktionen leitend sind“ (vgl. Timm/Scheunenpflug/Costa/Kühn 2020:11). So wird im akademischen Diskurs in diachroner Perspektive auf unterschiedliche geistesgeschichtliche Herkünfte verwiesen, die es in der diskursiven Bezugnahme auf Kulturelle Bildung zu berücksichtigen gelte, denn „im Begriff der Kulturellen Bildung synthetisieren sich Diskurstraditionen der ästhetischen und der musischen Bildung“ (Bilstein/Zirfas 2017:29). Man bietet gegenwartsbezogen z.B. eine instruktive Unterscheidung zwischen „Künstlerischer Bildung“, „Ästhetischer Bildung“ sowie „Kultureller Bildung“ (Reinwand-Weiss 2013/2012) an oder weist auf Unterschiede zwischen einem „anthropologischen“ einem „ethnologischen“, einem „normativen“, einem „soziologischen“ und einem auf „Künste“ verengten Kulturbegriff hin (vgl. Fuchs 2012/2013), wobei der Gebrauch des Kulturbegriffs unter postkolonialen Gesichtspunkten auch kritisch reflektiert werden kann (Auma 2018). Einflussreich ist nicht zuletzt auch die Unterscheidung zwischen soziokultureller Bildung und Kultureller Bildung (Knoblich 2007).
Aller Plausibilität der hier genannten Differenzierungsansätze zum Trotz darf allerdings nicht vergessen werden, dass es sich dabei in erster Linie um Einlassungen zum fachsprachlichen Diskurs handelt. Die Frage, wie die sprachliche Wendung der „Kulturellen Bildung“ von den Adressat*innen entsprechender Angebote verstanden wird, ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. z.B. Belet/Burkhard/Nuss 2021) – ein Desiderat. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass es bei der Identifikation eines solchen Desiderats nicht um die Validierung der Fachsprache geht, da diese programmatisch einer anderen Beobachtungsordnung angehört und sich dementsprechend auch anders legitimiert. Aus dem gleichen Grund erscheint der direkte Abgleich von Sprachspielen obsolet, da Differenzen auf der Ebene der Wortwahl in Abhängigkeit vom Beobachtungsstandpunkt unumgänglich sind. Es ist allerdings eine offene Frage, inwieweit sich das empirisch rekonstruierbaren „Ringen“ um die Abgrenzbarkeit der Kulturellen Bildung in Elterninterviews analog zu jenem im fachsprachlichen Diskurses verstehen lässt – bzw. inwiefern sich hier Unterschiede dokumentieren lassen.
Method(olog)ische Prämissen
Die Rede von Kultureller Bildung ist Teil einer Fachsprache. Auch das Projekt ElKuBi, auf dessen Auswertung der vorliegende Artikel fußt, ist von dieser Fachsprache durchdrungen, was sich unter anderem in seinen drei zentralen Forschungsfragen dokumentiert:
„Erstens: Welche Ansprüche artikulieren Eltern in Hinblick auf die kulturelle Bildung ihrer Kinder in ländlichen Räumen? Zweitens: Wie nehmen Eltern das Angebot an kultureller Bildung in der von ihnen bewohnten ländlichen Region wahr? Und drittens: Welche Herausforderungen verknüpfen sich aus elterlicher Perspektive mit dem Anspruch, den eigenen Kindern die Partizipation an Angeboten der kulturellen Bildung auf dem Land zu ermöglichen?“ (Projekt ElKuBi: https://www.uni-koblenz-landau.de/de/koblenz/fb1/sempaed/allg_paed1/projekte/elkubi; nachträgliche Hervorhebung)
Drei Mal hintereinander taucht hier die Wendung „Kulturelle Bildung“ auf. Das hat unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten die Konsequenz, dass die Rede von Kultureller Bildung im Rahmen des Projektes nicht als In-Vivo-Code des untersuchten Feldes in den Blick geraten kann, da sie immer schon vorausgesetzt und durch die Forschenden in das untersuchte Feld hineingetragen wird. Das muss allerdings nicht als Nachteil verstanden werden, insofern genau dieser Umstand die Prüfung ermöglicht, inwieweit sich die Rede von Kultureller Bildung im kommunikativen Austausch mit den Interviewpartner*innen bewährt.
Bislang haben wir 21 kontrastiv ausgewählte, extensive Elterninterviews in vier unter sozialgeographischen Gesichtspunkten kontrastiv ausgewählten Landkreisen in Nord- und Ostdeutschland durchgeführt. Im Sampling der Interviews, die unter Vermittlung durch schulische Elternbeiräte, Multiplikator*innen der Kulturellen Bildung oder Sozialberatungsstellen zustande kamen, berücksichtigen wir sowohl die soziale Heterogenität der interviewten Eltern, wie die differenten Zugangsbedingungen von Kultureller Bildung in der jeweiligen Erhebungsregion, um möglichst unterschiedliche Anwahlszenarien in den Blick zu bekommen (zur heuristischen Funktion des Szenarienbegriffs vgl. Krüger/Roch/Breidenstein 2020). Bei der Auswahl der Fälle geht es in erster Linie um das Aufsuchen von Kontrastivität, so dass ein möglichst breites Spektrum an Varianten, sich zum Gegenstand der Untersuchung zu positionieren, in den Blick gerät.
Pandemiebedingt wurden alle Interviews telefonisch durchgeführt, was sich unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten als produktiv erwies: Alle interviewten Eltern beantworteten unsere Fragen offen und kooperativ; einzelne Interviews dauerten bis zu einer Stunde. Aktuell werden die transkribierten Daten pseudonymisiert und in methodischer Verbindung von Grounded Theory und Diskursanalyse ausgewertet. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die methodischen Konzepte der Grounded Theory nicht linear auf die Diskursforschung übertragbar sind: Konzepte der Grounded Theory werden von uns in erster Linie „als Hilfsmittel betrachtet, die an die Fragestellungen und methodischen Schritte der Diskursforschung angepasst werden“ (Keller 2007, 94) müssen. Im vorliegenden Kontext rekurrieren wir in erster Linie auf den Schritt des offenen Codierens.
Schon vor der Auswertung, im Rahmen der Erhebung stellte sich heraus, dass die Wendung „Kulturelle Bildung“ von unseren Interviewpartner*innen i.d.R. nicht in Frage gestellt oder zurückgewiesen wurde. Methodisch werten wir das Ausbleiben von Verständnisfragen nicht als Hinweis darauf, dass sich die Rede von Kultureller Bildung von selbst versteht. Unter diskurstheoretischen Gesichtspunkten ist eher davon auszugehen, dass die Bezeichnung „Kulturelle Bildung“ als ein zusammengesetzter, „flottierender Signifikant“ (Laclau/Mouffe 2006:175) fungiert, der im Rahmen unterschiedlicher artikulatorischer Praktiken ein „Feld der Überdeterminierung“ (Laclau/Mouffe 2006:148) sowohl voraussetzt wie konstituiert. Einfacher ausgedrückt: wir gehen davon aus, dass die unwidersprochene Einheitlichkeit der Rede von Kultureller Bildung auf der Textoberfläche eine Differenz miteinander unvereinbarer oder sich widersprechender Konzeptualisierungen von Kultureller Bildung chiffriert, die es diskursanalytisch zu rekonstruieren gilt. Den Begriff der „Konzeptualisierungen“ übernehmen wir wiederum aus dem Horizont der Grounded Theory, die ihn pauschal mit „theoretischer Abstraktion“ (Glaser/Strauss 2008:33) übersetzt. Obwohl wir in der Auswertung offen codieren und auf die Software MAX-QDA zurückgreifen, sehen wir eine positivistische Lesart der Grounded Theory, die darauf setzt eine Theorie „aus den Daten zu generieren“ (Glaser/Strauss 2008:8) kritisch und interessieren uns im Horizont aktueller Einsätze der erziehungswissenschaftlichen Diskursforschung (Fegter/Kessl/Langer/Ott/Rothe/Wrana 2015) eher für Spannungsfelder und argumentative Dissonanzen, die das „Feld der Diskursivität“ (Laclau/Mouffe 2006:149) rund um die Kulturelle Bildung prägen und die sich auf ihre „Möglichkeitsbedingungen“ (Foucault 2003:35) hin befragen lassen. In dem von uns untersuchten Feld der Diskursivität gilt es spezifische „Knotenpunkte“ (Laclau/Mouffe 2006:151) zu identifizieren, in denen das Ringen um „Kulturelle Bildung“ sichtbar wird. Das „Ringen“, von dem hier die Rede ist, dokumentiert sich im Rahmen unserer qualitativen Interviewforschung nicht notwendig interviewimmanent. Über die Heterogenität der Sprecheinsätze in unterschiedlichen Interviews hinweg, sollen Spannungsfelder sichtbar gemacht werden, die die Einheitlichkeit der Identifikation von Kultureller Bildung durchkreuzen.
Ein Beispiel: während die Zuordnung von Musik, Tanz oder Malerei zur Kulturellen Bildung in den von uns geführten Elterninterviews i.d.R. wenig kontrovers ausfällt, gibt es andere Themen wie den Sport, der in seiner Zuordnung zur Kulturellen Bildung weit weniger eindeutig erscheint und von den Eltern unterschiedlich argumentiert wird. Gerade der Fokus auf den Sport eignet sich also dazu, die Frage nach der Abgrenzbarkeit der Kulturellen Bildung in den Elterninterviews zu untersuchen. Den Sport nehmen wir gerade deshalb als diskursiven Knotenpunkt in den Blick, weil er sich in seiner Zuordnung zur Kulturellen Bildung über viele der von uns erhobenen sprachlichen Artikulationen hinweg als hoch umstritten erweist.
Im Fokus auf solche Knotenpunkte und in der Zusammenschau des gesamten Interviewsamples gelangen wir letztlich zu einer ähnlichen Problematik wie im Fachdiskurs, denn in den Elterninterviews wird ebenfalls um die Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung gerungen. Hier geht es allerdings weniger um Abgrenzungen wie die zwischen ästhetischer und Kultureller Bildung, sondern die induktiv erschlossenen, diskursiven Kontenpunkte tragen profanere Namen wie „Sport“, „Feuerwehr“ oder „Klassik“, was – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – allerdings nicht bedeutet, dass das Ringen um die Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung im Kontext dieser Knotenpunkte weniger komplex ausfällt.
Auswertung der Elterninterviews
>> Sport
Dort, wo es in unseren Interviews um die Frage nach der Abgrenzbarkeit von „Kultureller Bildung“ geht, ist auffällig häufig von „Sport“ die Rede. Ein Beispiel dafür findet sich im Interview mit der Mutter Frau Müller (die Namen aller Interviewpartner*innen sind im Folgenden pseudonymisiert), die auf die Frage, welche Angebote der „Kulturellen Bildung“ sie für Ihre Kinder präferiert, sofort mit der Aufzählung sportlicher Tätigkeiten wie „Trampolinspringen“ oder „Klettern“ beginnt und dann erklärend hinzufügt:
„[B]ei meinem großen Sohn ist es so, dass der eher in die ungewöhnliche Sportrichtung geht. Also der ist glaube ich kein Ballspieler, er wird kein Handball und kein Fußball spielen.“
Auf die Frage nach der Kulturellen Bildung antwortet Frau Müller direkt mit der Differenz zwischen gewöhnlichen und ungewöhnlichen Sportarten, aber nicht mit der Differenz zum Sport. Sport ist im Interview mit Frau Müller Kulturelle Bildung.
Die Nähe des Sports zur Kulturellen Bildung kommt auch im Interview mit dem Vater Herrn Tanner zur Sprache, der mit Kultureller Bildung zwar zunächst „die Richtung Musik, Theater“ assoziiert, um dann allerdings hinzuzufügen:
„Verzeihung, Sport gehört auch noch dazu.“
Im Interview mit der Mutter Frau Grün, wird die Feststellung getroffen:
„Kultur ist ja auch Sport.“
Und die Mutter Frau Wahrlich erklärt:
„Kultur ist eigentlich vieles. […] Musik, Malerei, Tanz, Theater. Das ist Kultur. Sport kann auch ne bestimmte Form von Kultur sein, ja, also die Sportkultur. Das ist für Kinder auch ganz wichtig.“
In all diesen Aussagen wird „Kultur“ als eine Art Oberbegriff verwendet, dem der Sport subsumptionslogisch untergeordnet werden kann: d.h. wenn Sport als Kultur in Frage kommt, dann bedeutet das nicht, dass Kultur ‚automatisch‘ auch als Sport identifiziert werden kann. „Kultur“ wird als allgemeinerer Begriff konzeptualisiert. Dementsprechend stellt z.B. die Mutter Frau Nachtsheim fest, „Sport […] zähle ich auch eher im Grundkreise zur Kultur“. Als noch allgemeinere Kategorie kommt demgegenüber in einzelnen Interviews lediglich der Begriff der „Freizeit“ ins Spiel.
Doch die bruchlose Zuordnung des Sportes zur Kultur ist nicht alternativlos. In anderen Interviews wird die Zugehörigkeit des Sportes zur Kultur ganz offensiv in Zweifel gezogen, wie im Interview mit dem Vater Herrn Bülow, der die Anwahl von sportlichen Angeboten gegenüber kulturellen Angeboten für seine Kinder präferiert und dabei offensiv bestreitet, dass Sport als Kulturelle Bildung in Frage komme, denn „beim Sport bildet man sich ja nicht“. Eine ähnliche, aber etwas anders gelagerte Argumentation findet sich im Interview mit der Mutter Frau Franzen, die anders pointiert klarstellt:
„Ja, für mich ist Sport keine Kultur ((lacht)). Nee (-). Nee, das ist eine körperliche (-) Bildung, aber keine kulturelle Bildung.“
Frau Franzen plädiert also für eine klare Trennung zwischen sportlicher Betätigung und kulturellem Engagement. Gleichzeitig wird (im Unterschied zur zitierten Aussage von Herrn Bülow) mit dem Begriff der Bildung aber eine Beziehung zwischen beidem annonciert. Das Körperliche und das Kulturelle erscheinen hier quasi als zwei gegeneinander abgrenzbare Bildungsregister. Es gilt also zweitens Aussagen zu berücksichtigen, die eine relativ klare Abgrenzbarkeit zwischen Sport und Kultureller Bildung behaupten. Kulturelle Bildung wird dann z.B. – wie im Interview mit Frau Franzen – in einem relativ engen, musischen Sinne verstanden. Gerade die Abgrenzung zum Sport kann dann dazu dienen, die Besonderheit einer solchen musischen Kulturellen Bildung hervorzuheben.
Als dritte Variante finden sich in dem von uns erhobenen Sample Aussagen, in denen von einer Differenz zwischen Sport und Kultureller Bildung ausgehend ein Kontinuum zwischen beidem behauptet wird. Die einseitige Identifikation einer Tätigkeit als Sport oder als Kulturelle Bildung erscheint dann jeweils als extremer Pol, dem konkrete Tätigkeiten nur näherungsweise entsprechen. Ein Beispiel hierfür findet sich im Interview mit der Mutter Frau Freud, die, als sie über die Erreichbarkeit von Tenniskursen spricht, plötzlich fragt: „Ja gehört Tennis jetzt auch zu Kunst und Kultur und Bildung?“ um sich dann selbst die Antwort zu geben, dass Tennis „mehr Sport“ sei, was immerhin nicht ausschließt, dass ein wenig Kultur im Tennis trotzdem vorhanden ist.
Und viertens lassen sich schließlich Aussagen auffinden, die zwar eine Unterscheidung zwischen Kultureller Bildung und Sport nahelegen aber punktuell mit bereichsspezifischen Überlappungen rechnen. In diesem Kontext findet wiederkehrend das Beispiel des Tanzes Erwähnung, der die mögliche Unterscheidung zwischen einer kulturellen, vermeintlich ‚unkörperlichen‘ Bildung und dem Sport als ‚körperlicherer‘ Bildung unterläuft. In diesem Sinne wird im Interview mit Frau Wahrlich z.B. auf die Bedeutung des Balletts hingewiesen:
„Es kann ja nicht jeder zum Beispiel, weil wenn man sagt Kultur oder kulturelle oder musisch, Ballett, (-) kann ja jetzt nicht jeder Ballett lernen, ja. Da ist ja ne andere sportliche Tätigkeit auch in Ordnung.“
Frau Wahrlich weist hier darauf hin, dass sich im Ballett sowohl ein Teilbereich der Kulturellen Bildung wie des Sportes abbilde, dessen Abwahl sie fallbezogen für legitim hält.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Verhältnis von Sport und Kultureller Bildung in den Interviews zwar nicht in jedem Interview in der gleichen argumentativen Dichte expliziert wird, dass sich aber dennoch unterschiedliche – bisweilen sogar konträre Relationierungen unterscheiden lassen. Das ist umso bemerkenswerter, da wir in unseren Interviews gar nicht nach dem Sport gefragt haben. Die Abgrenzbarkeit der Kulturellen Bildung zum Sport gehört zum argumentativen Repertoire der Interviewten.
>> Feuerwehr
Regelmäßig findet in unserem Sample die Freiwillige Feuerwehr Erwähnung. Ein Beispiel hierfür findet sich im Interview mit Frau Grün, die berichtet:
„Also wir haben hier in [WOHNORT] dreihundert Einwohner. Und ähm (-) was gibt’s da kulturell, es gibt einen Musikverein, (-) der […] eine lange Tradition hat (-) und […] das ist (-) das Einzige letztendlich, was es jetzt kulturell gibt, (-) zusammen mit der Feuerwehr.“
Die Feuerwehr wird im Interview mit Frau Grün nicht als alleiniger Anbieter von Kultureller Bildung an ihrem ländlich gelegenen Wohnort erwähnt, aber sie wird eben doch als eine relevante „kulturelle“ Größe anerkannt. Ähnliches lässt sich im Interview mit Frau Hochrath feststellen, die erklärt:
„Wenn das Nachbarskind zur Feuerwehr geht, gut, das ist jetzt nicht – doch. Zählt auch zur Kultur.“
Für die Zuordnung der Feuerwehr zur Kultur ist nicht nur der musische Teil des Engagements für diese Institution verantwortlich (z.B. das Mitwirken in einer Feuerwehrkapelle). Im Umfeld der Aussagen zur Feuerwehr wird insbesondere die Wertschätzung der Tradition und des sozialen Miteinanders hervorgehoben. „Das Miteinanderarbeiten“ wird von der Mutter Frau Grün dementsprechend als Merkmal der Feuerwehr besonders betont. Und die Mutter Frau Kraus verweist nicht nur auf die Tradition der Feuerwehr in der Gemeinde, sondern auf die Tradition des eigenen familiären Engagements in diesem Kontext.
Am Beispiel der Thematisierung der Feuerwehr lässt sich ein weiteres Muster im Ringen um die Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung aufzeigen. Die Freiwillige Feuerwehr wird der Kulturellen Bildung nicht pauschal zugeordnet. Die Abgrenzbarkeit der Kulturellen Bildung zur Feuerwehr wird durch die Bezugnahme auf etwas Drittes – die Tradition oder die Gemeinschaftlichkeit – argumentiert.
In den von uns durchgeführten Interviews lässt sich diese Argumentationspraxis im Übrigen nicht nur in Hinblick auf das Verhältnis der Kulturellen Bildung zur Freiwilligen Feuerwehr feststellen. Ganz ähnlich funktioniert zum Beispiel auch die Relationierung von Kultureller Bildung zum Karneval, die man ebenfalls durch die Bezugnahme auf Tradition und Gemeinschaftlichkeit argumentiert.
>> Klassik
In der Auseinandersetzung mit Kultureller Bildung taucht in unseren Interviews wiederkehrend das Attribut „klassisch“ auf. Nicht alle Kulturelle Bildung wird von den interviewten Eltern als klassisch identifiziert, aber dort wo etwas als ‚klassisch‘ identifiziert wird, beschreibt man es regelmäßig auch als Teil der Kulturellen Bildung.
Es gibt Eltern, die hier sorgsam differenzieren. So unterscheidet die Mutter Frau Klapproth, die sich an „klassischer Musik vor allem“ interessiert zeigt, zwischen „Musical“ und „klassischem Theater“ und die Mutter Frau Fischer berichtet, dass ihr Sohn erst klassische Gitarre gespielt habe, bevor er zur E-Gitarre gewechselt sei. Das Attribut klassisch wird dabei i.d.R. genutzt, um qualitative Differenzen im Angebot der Kulturellen Bildung zu markieren. In unserem Sample sind es nicht nur aber insbesondere jene Eltern, die sich wie Frau Fischer selbst als „bildungsnah“ beschreiben, die sich an einer explizit klassischen Kulturellen Bildung der eigenen Kinder interessiert zeigen.
Ein besonderes Interesse an klassischer Kultureller Bildung wird zum Beispiel von der Mutter Frau Wahrlich artikuliert, die betont, wie wichtig es für sie sei, dass ihre Kinder „an die klassische Musik herangeführt werden“:
„Geige und Klavier ist ja da eigentlich auch perfekt. Ist ja vorwiegend klassisch, was wir hier lernen. Das war uns schon sehr, sehr wichtig, dass die Kinder einfach auch an die klassische Musiksache herangeführt werden und auch Zugang dazu haben.“
Mitunter geben die Eltern in den Interviews auch zu verstehen, dass sie der klassischen Kulturellen Bildung eine größere Wertschätzung zuerkennen, als einer bloß Kulturellen Bildung, die nicht mit dem Attribut „klassisch“ versehen wird. Ein Beispiel hierfür findet sich im Interview mit der Mutter Frau Freud, die sehr genau zwischen klassischer Musik bzw. klassischem Tanz und moderner Musik bzw. modernem Tanz unterscheidet, wenn sie berichtet:
„Ich habe eine Tochter, die Klavier spielt. Klassisches Klavier. Der Sohn hingegen spielt modernes Klavier. Die Eine macht klassisches Ballett, die Andere macht äh na sagen Sie schon hier äh ((Luft einziehen)) wie heißt des? Modern Dance, Hip-Hop und solche Sachen eben halt.“
Frau Freud, die es für selbstverständlich hält, dass jedes ihrer Kinder ein Instrument erlernen sollte, zeigt sich zwar im Prinzip mit der Kulturellen Bildung ihrer Kinder zufrieden. Aber es fällt ihr viel leichter das klassische Ballett auf einen Begriff zu bringen, als Tanzpraktiken wie Modern Dance oder Hip-Hop.
Die abgrenzende Funktion der klassischen Kulturellen Bildung wird insbesondere im Interview mit der Mutter Frau Franzen deutlich. Nach ihrem Verständnis von Kultureller Bildung befragt, erklärt Frau Franzen zunächst:
„also mir würde sofort Musik einfallen, […] ähm Theater, äh Kunst, bildende Kunst, mehr fällt mir schon gar nicht ein.“
Im weiteren Interviewverlauf wird allerdings deutlich, dass Frau Franzen Musik im Kontext Kultureller Bildung zuallererst mit klassischer Musik assoziiert wissen will, wenn sie sagt:
„also es gibt halt die ernste Musik […] oder für mich, seriöse Musik, und dann gibt’s die Unterhaltungsmusik, die […] einen unterhält, […] den Alltag ein bisschen netter gestaltet, […] beziehungsweise sich den Alltag vertreibt, aber mit klassischer Musik kann man sich bewusst auseinandersetzen. Also muss man sich teilweise sogar bewusst auseinandersetzen, Dinge hinterfragen. […] Also das andere ist so ein bisschen nett und das träufelt ein und […] klassische Musik das […] finde ich […] irgendwie nachhaltiger.“
Die Abgrenzung zur klassischen Musik wird hier durch weitere Attribuierungen ergänzt. Unterhaltungsmusik wird durch ihre Funktion definiert, Menschen zu unterhalten, den Alltag annehmlicher zu machen, sie „träufelt ein“, ist „ein bisschen nett“. Ernste, klassische Musik erfordert demgegenüber eine bewusste Auseinandersetzung, ein Hinterfragen; ist dadurch „irgendwie nachhaltiger“. Damit wird auf Seiten der klassischen Musik ein qualitativer Mehrwert suggeriert.
Mit dem Attribut „klassisch“ werden also Distinktionsgewinne innerhalb der Kulturellen Bildung markiert. Eltern können argumentieren, dass sie nicht nur an einer Kulturellen Bildung im Allgemeinen, sondern an einer besonderen Kulturellen Bildung ihrer Kinder interessiert sind.
Das Interview mit Frau Franzen ist allerdings auch ein Beispiel dafür, dass es nicht ganz leicht fällt, diese Grenze zwischen Kultureller Bildung und klassischer Kultureller Bildung argumentativ sauber durchzuhalten, wenn Frau Franzen selbst bemerkt, dass das „ganz schön schwierig“ sei und einräumt, es „gibt auch populäre Musik, die […] anspruchsvoll ist, anspruchsvolle Texte hat, wenn man sich mehr damit auseinandersetzt.“ Klassische Musik sei einfach „komplexer“, „wobei das stimmt jetzt nicht, also Mozart hat den Eindruck, als ob es sehr eingängig ist, aber ist […] hochkomplex.“
Im Unterschied zur Thematisierung des Verhältnisses von Kultureller Bildung zum Sport oder zur Freiwilligen Feuerwehr, in deren Kontext es um die Zugehörigkeit des Einen zum Anderen ging, ist das Attribut „klassisch“ geeignet, Abgrenzungen innerhalb der Kulturellen Bildung zu verhandeln.
Fazit und Ausblick
Sport, Feuerwehr oder Klassik – das sind nur einige Knotenpunkte, in deren Kontext die Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung in unserem Interviewsample verhandelt wird. Ihre Aufzählung ist exemplarisch, insofern sich weitere Knotenpunkte ergänzen ließen. Sie sind jedoch nicht beliebig, da sich im Kontext dieser Knotenpunkte zeigt, dass das Ringen um die Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung unterschiedlichen Logiken folgt: Die subsumptionslogische Funktion der Bezugnahme auf Kulturelle Bildung konnte u.a. im Kontext der Abgrenzbarkeit vom Sport aufgezeigt werden. Dass die Identifikation von Kultureller Bildung auch über die Bezugnahme auf dritte Eigenschaften (Tradition, Gemeinschaftlichkeit) möglich ist, wurde im Kapitel „Feuerwehr“ thematisiert. Und in der Auseinandersetzung mit dem Attribut „klassisch“ wurde schließlich auf die Möglichkeit hingewiesen, qualitative Differenzierung innerhalb der Kulturellen Bildung vorzunehmen.
Gemeinsam ist allen diesen Knotenpunkten, dass sie in den Interviews genutzt werden, um die Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung zu verhandeln. Im Zuge unterschiedlicher diskursiver Abgrenzungspraktiken werden dabei jeweils auch unterschiedliche Konzeptualisierungen von kultureller Bildung hervorgebracht, die im Vergleich zu denen des fachlichen Diskurses zwar auf den ersten Blick profaner aber nicht notwendig weniger komplex ausfallen.
Wenn es ganz praktisch um die Ansprechbarkeit von Eltern durch Angebote der Kulturellen Bildung geht, dann kann – vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Analyse – davon ausgegangen werden, dass bestimmte Eltern neben dem relativ konventionalisierten Fokus auf Musik, Malerei und Tanz ein breiteres Verständnis von Kultureller Bildung voraussetzen, während andere Eltern ihren Fokus auf Kulturelle Bildung z.B. über das Attribut „klassisch“ immer schon verengen. Die Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit elterlicher Vorverständnisse von „Kultureller Bildung“ kann für die erfolgreiche Adressierung entsprechender Bildungsangebote sinnvoll sein.
Inwieweit diese Vorverständnisse ihrerseits auf sozioökonomische Bedingungen fußen, bzw. auf die differenten Lebenssituationen der Befragten zurückzuführen sind, ist Gegenstand unserer weiteren Untersuchungen, bei denen wir auch sozialgeographische Daten hinzuziehen (vgl. Krüger/Schön 2022). Die Kontrastivität unseres Samples wäre durch die Hinzunahme weiterer Fälle erweiterbar. Den Stadt-Land-Unterschied betreffend ließe sich z.B. hinterfragen, ob die Bedeutung der Feuerwehr für die Kulturelle Bildung von Eltern, die eine städtische Umgebung bewohnen, in gleicher Deutlichkeit ins Spiel gebracht worden wäre. Die unterschiedlichen sozioökomischen Hintergründe der Befragten betreffend ließe sich z.B. fragen, inwiefern die Abgrenzung einer „klassischen“ Kulturellen Bildung milieutheoretisch gerahmt werden muss, um auch den Machtaspekt, der die Identifizierung von (klassischer) Kultureller Bildung notwendig prägt, adäquat in den Blick zu bekommen (vgl. Maase 2015). Auch diesbezüglich sind weitere Untersuchungen sinnvoll.
Zusätzliche Komplexität gewinnt die Auseinandersetzung mit elterlichen Perspektiven auf die Abgrenzbarkeit von Kultureller Bildung, wenn man die hier vorgestellte relativ formale Betrachtungsweise durch die Frage ergänzt, wie die Kulturelle Bildung im Horizont subjektiver Präferenzen der Eltern bedeutsam gemacht wird. Wenn z.B. die von uns interviewte Mutter Frau Hochrath von der Kulturellen Bildung „Denkanstöße“ für Ihre Kinder erwartet oder die Mutter Frau Klapproth dazu rät, die Kulturelle Bildung „als Ventil für sich selbst zu nutzen, als Ausgleich, als Stressabbau, […] als Seelenwärmer“ dann wird deutlich, dass neben der Frage, was unter Kultureller Bildung im Allgemeinen verstanden werden soll, immer auch die Frage eine Rolle spielt, was sie den einzelnen Eltern bedeutet. Hier besteht ein weiterer Ansatzpunkt für unsere künftige Forschung, in der das jeweilige Verhältnis unserer Interviewpartner*innen zur Kulturellen Bildung mit den unterschiedlichen Elternschaftsentwürfen der Befragten relationiert wird (vgl. hierzu Jergus/Krüger/Roch 2018), wofür die Berücksichtigung des sozialen Hintergrundes der Eltern und ihr Wohnort auf dem Land eine gesonderte Rolle spielen, denn: die Frage, was die Subjekte unter Kultureller Bildung verstehen, ist die eine Sache – die Frage, warum sie diese wertschätzen, eine andere.