Kultur für alle – Wissenschaft für alle
Abstract
Nicht nur in der Kulturellen Bildung, auch in der Wissenschaftskommunikation stellen sich die Fragen, wen die typischen Angebote erreichen und welche Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen sind? Gerade mit Blick auf den Teilhabebedarf an der gesellschaftlichen Debatte zu wissenschaftsbezogenen Themen, der sich erst kürzlich in der Covid-19 Pandemie oder zur Klimakrise zeigt, wird der Handlungsbedarf für eine milieuübergreifend zugängliche Wissenschaftskommunikation deutlich. Der Beitrag legt dar, welche Exklusionsfaktoren für die Wissenschaftskommunikation im Projekt Wissenschaft für alle identifiziert wurden, welche übergreifenden Empfehlungen zur Einbeziehung nicht erreichter Bevölkerungsgruppen formuliert werden können und welche ganz praktischen Erfahrungen aus partizipativ erarbeiteten Kommunikations-Projekten mit drei beispielhaften Gruppen gezogen werden können. Der Reflexionsansatz über einzelne Exklusionsfaktoren an Stelle von übergreifenderen Gruppen oder Milieus ermöglicht sowohl die Gestaltung barrierefreier, milieuübergreifender Formate als auch die Planung spezifischer Formate als Zugangspunkte für ansonsten ausgeschlossen Bevölkerungsgruppen. In der praktischen Erfahrung bestätigte sich die Notwendigkeit einer grundlegenderen, längerfristigen Community-Arbeit für den Abbau von Barrieren, was in den oft nur kurzfristigen Projektkontexten in der Wissenschaft kaum zu bewältigen ist.
Einleitung
Die kubi-online Jahrestagung 2020 stand unter dem Titel „Kultur für alle? Kultur mit allen!“. Dieser Beitrag stellt eine Perspektive aus der Wissenschaftskommunikation auf das Thema dar, basierend auf dem Projekt Wissenschaft für alle. Dabei zeigt nicht nur die Namensähnlichkeit der Tagung und des Projekttitels eine große Überschneidung, auch Kulturelle Bildung und Wissenschaftskommunikation insgesamt stehen hier vor den gleichen Herausforderungen.
In der Wissenschaftskommunikation hat jüngst die Covid-19 Pandemie erhebliche Herausforderungen im Umgang mit Desinformationen, sogenannten „Fake News“ und die grundlegende Bedeutung eines breiten Zugangs zu Wissenschafts- und Gesundheitskommunikation gezeigt (Roozenbeek et al. 2020). Auch für die Kommunikation zentraler Erkenntnisse zum Klimawandel gilt ähnliches (Van der Linden et al. 2017). Neben der im ersten Fall unmittelbaren Bedeutung für persönliche Lebens- und Gesundheitsentscheidungen, sind zugängliche Angebote der Wissenschaftskommunikation, die möglichst alle Gesellschaftsschichten erreichen zentral, um aktiven Bürgerinnen und Bürgern in einer modernen, wissenschaftlich [und technisch] geprägten Welt echte Teilhabe zu ermöglichen (Archer et al. 2015:923).
Die Wissenschaftskommunikation steht hier noch vor großen Herausforderungen: „[...] science communication practices construct a narrow public that reflects the shape, values and practices of dominant groups. [...] [E]xcluded or non-participating publics have remained largely unexamined in research or have been imagined in negative terms“ (Dawson 2018:2f).
Wie also kann diesen Herausforderungen begegnet werden? Der Beitrag stellt eine gekürzte Zusammenfassung der zentralen theoretischen Erkenntnisse aus dem Zwischenbericht von Wissenschaft für alle (Schrögel et al. 2018) und den weiteren Veröffentlichungen (Humm und Schrögel 2020, Humm et al. 2020) sowie der in den jeweiligen Erfahrungsberichten weiter ausgeführten praktischen Einblicke aus der Umsetzung dreier Pilotprojekte (Adler et al. 2020a, 2020b, 2020c) dar, aus denen einige Textstellen gekürzt übernommen wurden.
Im Projekt Wissenschaft für alle haben das Department Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie gemeinsam mit Wissenschaft im Dialog, gefördert von der Robert Bosch Stiftung, in den vergangenen zwei Jahren gemeinsam mit bisher nicht oder kaum erreichten Bevölkerungsgruppen Formate zur Wissenschaftskommunikation entwickelt, erprobt und erforscht. Grundlage hierfür war eine systematische, wissenschaftlich fundierte und um eine Praxisperspektive ergänzte Auseinandersetzung mit den Fragen, wer die bisher nicht erreichten Bevölkerungs- beziehungsweise Zielgruppen in der Wissenschaftskommunikation sind, wie ihre Lebenswelt aussieht und was sie über Wissenschaft und Forschung denken. Im Ergebnis wurde zunächst eine Typologie von Exklusionsfaktoren – die dazu führen, dass manche Personen oder Gruppen nicht erreicht werden – erarbeitet. Anschließend wurden gemeinsam mit dem Beirat beispielhaft drei Zielgruppen ausgewählt und in einem Nutzer*innen-zentrierten und aufsuchenden Ansatz Formate entwickelt, welche die bisherigen Zugangsbarrieren überwinden und mögliche Aktivierungsfaktoren der jeweiligen Zielgruppen nutzen. Um zu gewährleisten, dass die entwickelten Formate den Bedürfnissen der Zielgruppen entsprechen, wurde dabei eng mit bestehenden Initiativen und Organisationen sowie mit Stakeholder*innen aus den Zielgruppen und Expert*innen aus der Wissenschaftskommunikation zusammengearbeitet.
Von Gruppen zu Faktoren
Vor dem Hintergrund des im Tagungsthema formulierten Strebens nach einem milieuübergreifenden Ansatz stellt sich die Frage nach der Segmentierung von Publika und Zielgruppen, denn „die Konstruktion von Zielgruppen ist ambivalent“ (Transferstelle politische Bildung 2016:14). Dennoch ist ein Verständnis der bestehenden Barrieren und Diskriminierungen eine wichtige Voraussetzung für die Gestaltungen inklusiverer Wissenschaftskommunikationsangebote. Die Überlegung anhand spezifischer Milieus, Bevölkerungs- oder Zielgruppen kann es ermöglichen, Angebote bestmöglich auf Bedürfnisse und Interessen anzupassen. Weiterhin abstrahiert der Gruppenbegriff zu einem gewissen Grad notwendigerweise vom konkreten Individuum und vereinfacht damit die Gestaltung von übergreifenderen Kommunikationsangeboten. In der Praxis müssen deshalb Zielgruppenkonstruktionen immer wieder hinterfragt und „der Abgleich mit der Realität gesucht werden und individuell auf das eingegangen werden, was aus der Sicht der Betroffenen aktuell gesellschaftspolitisch und biografisch adäquat ist“ (Transferstelle politische Bildung 2016:14).
Allerdings sind „Gruppen“ hier nicht als Soziale Gruppen mit notwendigerweise gemeinsamen Werten und einem Gruppenverständnis und Zugehörigkeitsgefühl zu verstehen. Die Bedeutung orientiert sich an der „Bevölkerungsgruppe“ oder „Statistischen Gruppe“, die als eine Menge von Menschen zu verstehen ist, die zwar eine oder mehrere gemeinsame Merkmale aufweisen, aber nicht notwendigerweise (wenn auch möglicherweise) gemeinsame Ziele, Werte und ein Zusammengehörigkeitsgefühl haben. Mit dieser pragmatischen Definition – vgl. auch die „Öffentlichkeiten“ von Dewey (1927) – wird explizit auch die Möglichkeit geschaffen, dass Menschen parallel Teil von mehreren Gruppen oder Öffentlichkeiten sind (Einsiedel 2005, Weitze und Heckl 2016).
In einem systematischen Literatur-Review wissenschaftlicher Arbeiten mit Blick auf nicht erreichte Bevölkerungsgruppen wurden neben der Wissenschaftskommunikation auch vergleichbare Bereiche mit ähnlichen Herausforderungen, zum Beispiel politische Bildung, Gesundheitskommunikation und Erwachsenenbildung analysiert. Das ausführliche Review ist im Zwischenbericht verfügbar (Schrögel et al. 2018). Die Heterogenität und die Vielfalt der bisher nicht erreichten Gruppen macht es schwierig, diese klar übergreifend zu definieren. Meist führt ein Zusammenspiel verschiedener Exklusionsfaktoren und deren fehlende oder unzureichende Berücksichtigung seitens der Wissenschaftskommunikationsangebote zu einer Ausgrenzung. Exklusionsfaktoren können zudem individuell in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten oder können miteinander interagieren. Es scheint daher sinnvoller, für die Charakterisierung der bisher nicht erreichten Personen nicht bei den Zielgruppen anzusetzen, sondern bei den ursächlichen Faktoren.
Dieser Ansatz ermöglicht es auch, neben der Konzeption und Umsetzung spezifischer Wissenschaftskommunikationsformate als Zugangspunkte, für bisher nicht erreichte oder ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen, grundsätzlich barriere- und diskriminierungsfreie, milieuübergreifender Formate zu gestalten.
Zur Systematisierung der im Review identifizierten Faktoren wurde, in Anlehnung an ein Modell aus der Erwachsenenbildung von Gerhild Brüning (2002), eine Typologie aufgestellt und auf die Anwendung in der Wissenschaftskommunikation hin ausgerichtet. Das Modell unterscheidet drei Ebenen für Faktoren; eine ähnliche Gliederung schlug auch Lothar Heusohn (2010) vor.
- Individuelle Faktoren (Mikro-Ebene, Meso-Ebene): Dazu zählen beispielsweise individuelle finanzielle Ressourcen, Alter oder formaler Bildungsstand
- Soziale Faktoren (Mikro-Ebene, Meso-Ebene): Dazu zählen beispielsweise Behinderungen / Beeinträchtigung, Ethnische Herkunft / Nationalität, oder der Sozioökonomische Status
- Strukturelle Bedingungen (Meso-Ebene, Makro-Ebene): Dazu zählen beispielsweise der Ort bzw. die räumliche Situation oder die Verfügbarkeit von Serviceangeboten.
Es handelt sich um eine deskriptive Typologie (für alle gelisteten Faktoren siehe Tabelle 1), welche das Ziel hat, möglichst umfassend Exklusionsfaktoren zu beschreiben. Sie soll bei der Analyse, kritischen Reflexion und Gestaltung von Angeboten im Bereich der Wissenschaftskommunikation helfen. Dabei können sich die Faktoren in der Exklusions- und Diskriminierungswirkung überlappen und auch gegenseitig verstärken (Intersektionalität, siehe Crenshaw 1989, Winkler und Degele 2015). Weiterhin enthält das Modell auch zusammengesetzte Konstrukte wie zum Beispiel den sozioökonomischen Status, die in der Definition andere Faktoren beinhalten. Da diese in vielen Bereichen etablierte Bezüge sind, wurden sie hier parallel aufgeführt.
Um ein Aufgreifen dieser theoretischen Befunde in der Wissenschaftskommunikations-Praxis zu befördern, wurden die Faktoren gemeinsam mit einem Künstler in einem Wimmelbild mit Infografik-Elementen visualisiert (siehe Abb. 1). Das Wimmelbild zeigt beispielhafte Diskriminierungserfahrungen, Diversity-Defizite und symbolische Darstellungen von strukturellen Problemen. Es richtet sich an Akteur*innen in der Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation und soll zum Nachvollziehen und Reflektieren der Kommunikationsangebote mit Blick auf die identifizierten Exklusionsfaktoren anregen.
Ansatzpunkte für eine inklusivere, offenere Wissenschaftskommunikation
Auch wenn die zuvor beschriebenen Exklusionsfaktoren und deren Kombination spezifische Ansätze zum Abbau der bestehenden Barrieren erfordern – sowohl in der Gestaltung barrierefreier, milieuübergreifender Formate als auch in der Gestaltung spezifischer Formate als Zugangspunkte – können einige übergreifende Ansatzpunkte zusammengefasst werden, um ausgeschlossene und nicht erreichte Gruppen in der Wissenschaftskommunikation einzubeziehen. Diese Empfehlungen zielen zwar darauf ab, ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen einzubinden, und erfordern eine dafür spezifische Implementierung, aber ermöglichen gleichzeitig milieuübergreifende Konzepte: sie sind keine exklusiven Gestaltungsmerkmale, sondern schaffen weitere Zugänge und binden aktiv weitere Perspektiven ein.
Ausgehend von einem Literaturreview bestehender Studien und Leitfäden zu dem Thema haben wir in einer Synthese mit den Erkenntnissen aus Interviews und Fokusgruppen im Projekt Wissenschaft für alle sieben Empfehlungen herausgearbeitet (Humm und Schrögel 2019). Diese sind gekürzt zusammengefasst:
- Mit Zuhören beginnen: Um die Aktivitäten der Wissenschaftskommunikation nicht nur auf der Basis von Annahmen und Stereotypen zu planen, ist es wichtig, zunächst zuzuhören und Fragen zu stellen: Wie nehmen andere die Wissenschaft(-skommunikation) wahr? Welche Bedürfnisse äußern sie? „Es muss darum gehen, die Gedanken und Einfälle, die immer wieder im Verborgenen oder als Subversion der etablierten Narrative auftauchen, aufzuspüren und zu ihren eigenen Bedingungen anzunehmen" (Coffee 2008:271, Archer et al. 2016). Das bedeutet, dass man in der Lage sein muss, seine Pläne kontinuierlich an die Bedürfnisse und Wünsche der Gemeinschaften anzupassen und selbstkritisch zu reflektieren, welche Inhalte man vermitteln will und wie sie vermittelt werden (Aguirre 2014:11, Marschalek und Schrammel 2017:25-26). Zuhören kann als aktivierender Kommunikationsansatz gestaltet werden, wie zum Beispiel im Projekt „Diamond", bei dem Digital Storytelling in einem Museumskontext eingesetzt wurde (Da Milano und Falchetti, 2014).
- Distanz abbauen und zugänglich sein: Häufig gibt es eine bewusst oder unbewusst wahrgenommene Distanz zwischen Kommunikator*innen und unterrepräsentierten Gruppen: sei es als akademische oder gehobene Sprache in Bezug auf Vokabular, Redewendungen oder Referenzen, eine belehrende Haltung – kurzum ein bestimmter Habitus (Bourdieu 1982). Diese Distanz ist Ergebnis der eigenen, sozioökonomischen Lebensbedingungen und des immer noch selektiven Bildungssystems. Ansätze, diese zu überwinden können in einer weniger formalen Sprache liegen, die sich nicht nur im Vermeiden von Fachbegriffen erschöpft. Eng anknüpfend an Empfehlung eins sollte es zunächst darum gehen, Emotionen, Einstellungen und Werte auszuloten, um eine gemeinsame Gesprächsbasis zu schaffen. Sozialpsychologische Studien zu Werten und Emotionen in der Wissenschaft zeigen, dass bestimmte Einstellungen so stark von Werten und Emotionen gesteuert werden, dass man mit Informationsveranstaltungen allein nichts erreichen kann. Dan Kahan beispielsweise hat diese Beobachtung, die unter dem Stichwort „Cultural Cognition" (Kahan et al. 2010b) diskutiert wird, für die Impfaufklärung beschrieben (Kahan et al. 2010a).
- Relevanz für den Alltag herstellen: Für Wissenschaftskommunikation ist die Herstellung von Verbindungen “zwischen ihrem Zuhause, ihrem persönlichen Leben, ihren Gemeinschaften und der Wissenschaft wichtig" (Archer et al. 2016:936). Auch Marschalek & Schrammel (2017:28) stellten fest, dass in ihrem Projekt „Ausstellungsobjekte oder Ausstellungsthemen mit einem Bezug zum Alltag der Zielgruppe besonderes Interesse wecken und zum Wiederkommen anregen" (vgl. Streicher et al. 2014). Das Gleiche gilt für den Bezug zum kulturellen Hintergrund und zu anderen Erfahrungen der nicht erreichten Bevölkerungsgruppen (Archer et al., 2016:936). Ansatzpunkte können neben inhaltlichen Bezügen auch in eher pragmatischen Aspekten liegen, z. B. in einem wissenschaftlichen Ferienprogramm für Kinder, das eine kostenlose Betreuung als Leistung anbietet. In vielen Gesprächen im Projekt wurde deutlich, dass Wissenschaft außerhalb ganz konkreter Nutzenerwägungen kaum eine Rolle spielt - zum Beispiel für eigene Karriereplanungen oder als Bildungsperspektive für Kinder.
- Dorthin gehen, wo die Menschen sind: Für Wissenschaftskommunikation mit nicht erreichten Bevölkerungsgruppen ist es hilfreich, sich auch ganz wörtlich im räumlichen Sinne anzunähern: Orte und Gebäude nutzen, die der Gruppe vertraut, leicht erreichbar und zugänglich sind, im alltäglichen Umfeld und der Community der Menschen (Marschalek und Schrammel 2017:22, Streicher et al. 2014:1). Oft vermitteln Wissenschaftseinrichtungen einem nicht-akademischen Publikum den Eindruck, dass diese Orte „nichts für sie" sind (Dawson 2019:100-102); klassizistische Prachtbauten oder umzäunte Forschungszentren wirken auf viele Menschen nicht einladend (Marschalek und Schrammel 2017:22). Neben einer guten Erreichbarkeit des Ortes gehören dazu auch die Vermittlung einer familiären und offenen Atmosphäre oder mehrsprachige Informationen (Archer et al. 2016:936, Streicher et al. 2014).
- Kooperationen sind der Schlüssel: Wo immer möglich, wird die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren und Multiplikatoren empfohlen. Diese können im Quartiersmanagement, Sozialarbeit, Bibliotheken, Vereinen, Schulen, Bildungsinitiativen und Selbsthilfegruppen oder in engagierten Mitgliedern der Zielgruppe selbst gefunden werden (Lloyd et al. 2012:55, Marschalek und Schrammel 2017:34, Smithsonian Institution Office of Policy and Analysis 200:vi-vii). Sie kennen die Situation und die Bedürfnisse der Menschen und machen so Erkenntnisse und Lösungsansätze überhaupt erst möglich. Sie können über die Relevanz von Themen, Kommunikationsansätze und vermeidbare Fallstricke beraten. Sie können Türöffner*innen für einen weitergehenden Dialog sein (Marschalek & Schrammel 2017:27,35). Dabei ist es zentral, dass potenzielle Kooperationspartner*innen nicht nur als Dienstleistende betrachtet werden. Ihre Interessen und ihre begrenzte Zeit sollten respektiert werden, und es sollte berücksichtigt werden, inwieweit sie selbst kurz- und langfristig von der Zusammenarbeit profitieren können.
- Zu viel Offenheit kann auch eine Barriere sein: Je offener ein Wissenschaftskommunikationsprojekt ist, desto mehr Vorkenntnisse und Eigeninitiative brauchen die Teilnehmer. Partizipation ist in der Regel voraussetzungsreich, Angebote mit einem konkreten Bezug und didaktisch aufbereiteten Themenzugängen können einen leichteren Einstieg bieten. Freie Interaktion wird zwar oft als Instrument gepriesen, um Wissenschaftskommunikation attraktiver zu machen (Sievert und Purav 2018; The Science Museum 2016), aber Interaktion erfordert neben der grundlegenden Frage der Relevanz und Bezüge zum Thema auch methodische und akademisch geprägte Diskursfähigkeiten. So können entsprechende textbezogene Formate beispielsweise für Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen weniger zugänglich sein (Dawson 2019:114). In der praktischen Umsetzung dieser Empfehlung ist eine Abwägung zur ersten Empfehlung zu treffen.
- Einmalige Aktivitäten funktionieren selten: Häufig ist eine Projektfinanzierung auf einmalige Aktivitäten und Pilotprojekte beschränkt. Diese können, wenn sie entsprechend konzipiert sind, durchaus einen Erlebnischarakter entwickeln, Aufmerksamkeit erregen und einen ersten Ansatz schaffen. Bleibt es jedoch dabei, verpufft die Wirkung schnell und führt zu Frustration bei den angesprochenen Gruppen. Dies gilt selbst dann, wenn lokale Mittler das Projekt unterstützen. Es wird möglicherweise immer noch nicht als authentische Initiative aus der Gemeinschaft heraus und mit einer langfristigen Perspektive und nachhaltigen Wirkung wahrgenommen. Dawson beschreibt, wie einmalige Aktivitäten - selbst wenn sie gut gemeint sind - nach hinten losgehen können. Eine ihrer Interviewpartner*innen berichtete, „dass wissenschaftliche Lernaktivitäten, die auf ihre Gemeinschaft während des Black History Month zugeschnitten sind, symbolisch seien, und sie erklärte dazu wütend: „Wir sind den Rest des Jahres nicht eingeladen!'" (Dawson 2019:92).
Diese Empfehlungen stoßen an ihre Grenzen, wenn es um strukturelle Ungleichheiten geht, die auf gesellschaftlicher Ebene angegangen werden müssen und systemische Veränderungen erfordern (vgl. Birmingham 2016, Dawson 2019; Marschalek und Schrammel 2017:35-37). Sie können als eine „schwache Form der Inklusion" (Dawson 2019:137) verstanden werden, die nur einen begrenzten Teil der sich überschneidenden Exklusionsfaktoren im Bereich der Wissenschaftskommunikation anspricht (Schrögel et al. 2018).
Dawson beschreibt zum Beispiel, dass Menschen, die in prekären Jobs arbeiten, nicht nur ein geringes Einkommen haben, sondern gleichzeitig oft auch wenig Freizeit zur Verfügung haben. Die Abschaffung der Eintrittspreise für Museen in Großbritannien adressierte zwar das geringe Einkommen, ließ aber die Zeitproblematik ungelöst, so dass letztlich „die Abschaffung der Eintrittspreise das Besucherprofil dieser Museen kaum verändert hat" (Dawson 2019:95).
Dennoch glauben wir, dass die Empfehlungen für Wissenschaftskommunikationsprojekte mit begrenztem Umfang und begrenzten Ressourcen - sowohl zeitlich als auch finanziell - nützlich sein könnten, um „Zugang und Zugänglichkeit" (Birmingham 2016:955) auszubauen und als Ausgangspunkt für grundlegendere Veränderungen zu dienen.
Praktische Erfahrungen aus unseren Pilotprojekten
Aufbauend auf den theoretischen Erkenntnissen wurden im Rahmen des Projektes Wissenschaft für alle Pilotprojekte mit drei beispielhaften Communities, die von klassischen Formaten der Wissenschaftskommunikation oft nicht erreicht oder ausgeschlossen werden, geplant und umgesetzt. Die Auswahl erfolgte durch den Beirat:
- sozial benachteiligte Menschen in marginalisierten Stadtteilen
- Berufsschülerinnen und Berufsschüler
- muslimische Jugendliche mit Migrationshintergrund.
In einem partizipativen Ansatz wurden deren Situation und Bedürfnisse in Interviews und Fokusgruppen mit Vertreter*innen der Gruppen, Multiplikator*innen sowie bestehenden Initiativen ausführlich erhoben. Davon ausgehend wurden mit den Beteiligten gemeinsam neue Formate für Wissenschaftskommunikation entwickelt und erprobt. Die ausführlicheren Ergebnisse der Begleitforschung und die praktischen Erfahrungen sind in drei Erfahrungsberichten veröffentlicht (Adler et al. 2020a, 2020b, 2020c). Im Folgenden sind eine gekürzte Zusammenfassung und ausgewählte Einblicke dargestellt.
Aufsuchender Ansatz – Bestehendes an neue Orte bringen
Die Bewohner*innen marginalisierter Stadtteile werden in vielen Aspekten sozial benachteiligt und von Angeboten der Wissenschaftskommunikation in der Regel kaum erreicht, da diese häufig an den wissenschaftlichen Einrichtungen selbst oder in innerstädtischen Bereichen an etablierten Kulturorten stattfinden. Neben der räumlichen Trennung zur Wissenschaft bieten auch die Lebensrealitäten kaum Berührungspunkte mit Wissenschaft und die zentralen Herausforderungen des täglichen Lebens haben verständlicherweise Priorität.
Im Pilotprojekt wurden die Stadtentwicklungsgebiete Falkenhagener Feld (Ost und West) in Berlin Spandau näher betrachtet. In den Fokusgruppen und Interviews war ein wiederholt genannter Aspekt die Bildungsperspektive für die eigenen Kinder – sowohl in Bezug auf die schulische Bildung und spätere Karriereperspektiven als auch bei den wenigen genannten eigenen Bezugspunkten zur Wissenschaft im Leben (z. B. Museumsbesuche mit und für Kinder).
Daher wurde als Format eine Forschungsrallye „Für Groß und Klein" umgesetzt – Stände mit Mitmachexperimenten und wissenschaftlichen Einsichten für Kinder in Begleitung der Eltern an einem zentralen Platz im Quartier. Das entsprechende Konzept an sich ist kein neuer Ansatz in der Wissenschaftskommunikation und wurde bereits verschiedentlich bei Wissenschaftsfestivals umgesetzt – bedeutsam hier war die Verortung direkt im Quartier.
An der Evaluation nahm nur eine geringe Anzahl Erwachsener teil (n = 10). Trotz der begrenzten Aussagekraft ist eine hohe Zufriedenheit mit dem Format festzustellen und auch die Bekundung, Neues gelernt zu haben (siehe Abb. 2). Zwar gaben 60% der Befragten ein Abitur oder Studium als höchsten Bildungsabschluss an, aber nur 20% gaben an, ansonsten „häufig“ oder „sehr häufig“ Wissenschaftskommunikationsveranstaltungen zu besuchen. 60% der Befragten gaben einen Migrationshintergrund an.
Aus Projektsicht war die Verortung zentraler Erfolgsfaktor, da zwei angrenzende Schulen sowohl in der partizipativen Vorbereitung einbezogen werden konnten als auch dann bei der Umsetzung präsent waren. Die Gestaltung als Freizeitevent im Anschluss an die Schule hat gut funktioniert, lediglich die geplante Einbindung der Eltern konnte nur eingeschränkt realisiert werden.
Gemeinsame Formate denken – Bestehende Formate öffnen
Berufsschulen kommen in Bildungsdebatten kaum vor und auch Berufsschüler*innen werden von der Wissenschaftskommunikation als eigene Zielgruppe meist nicht beachtet. Sie sitzen gewissermaßen zwischen den Stühlen. Viele spezielle Angebote richten sich entweder an Kinder und Jugendliche, wofür Berufsschüler*innen schon zu alt sind, oder nur an Gymnasialschüler*innen mit Blick auf die Anwerbung künftiger Studierender.
Im Pilotprojekt war die Heinrich-Meidinger-Schule für Sanitär- und Heizungstechnik in Karlsruhe Kooperationspartner. Eine spezifische Klasse nahm sowohl an den Fokusgruppendiskussionen als auch am Formatentwicklungsworkshop teil. Dabei wurde sowohl der Freizeitcharakter (auch mit Essen oder Getränken wie bei einem Science-Pub Event) als auch Wettbewerbselemente als Vorschlag für ein Wissenschaftskommunikationsformat formuliert. Darauf basierend wurde ein Science-Pub-Quiz als konkretes Pilotformat umgesetzt. Wie auch bei der Forschungsrallye ist das Format an sich in der Wissenschaftskommunikation bereits bekannt, allerdings gab es noch kein derartiges Event in Karlsruhe. In der Planung wurden gezielt Fragen sowohl aus der Wissenschaft als aus dem Wissenschafts- und Handwerksbereich recherchiert, in zwei Kurzvorträgen von Wissenschaftler*innen während des Formats wurden auch handwerklich relevante Aspekte angeschnitten.
In der Evaluation zeigte sich auch hier wieder eine durchgehend hohe Zufriedenheit beim Publikum. Allerdings gaben nur 12 % der Befragten an, eine Berufsausbildung als höchsten Abschluss zu besitzen und 11 % gerade eine solche zu absolvieren. Die Mehrheit des Publikums war auch hier eher akademischer geprägt. Das Ziel, nach der Erarbeitung des Formates gemeinsam mit Berufsschüler*innen, auch eben diese Zielgruppe als Teilnehmende zu gewinnen hat also nicht in dem Ausmaß funktioniert wie gewünscht. 32 % der Befragten gaben an, dass sie einen Migrationshintergrund besitzen. In Bezug auf die sonstigen Gewohnheiten haben zumindest 40% der Befragten angegeben, sonst selten Wissenschaftskommunikations-Veranstaltungen zu besuchen (siehe Abb. 3).
Woran die geringe Teilnahme von weiteren Berufsschüler*innen beim Event lag, kann nicht definitiv empirisch beantwortet werden. Neben möglichen Termingründen (nach Ende der Prüfungsphase der zuvor aktiv eingebundenen Klasse) war die größte Herausforderung, Vertrauen in der Community aufzubauen. Zwar wurde das Projekt von den Berufsschulen in der Stadt und auch der Kreishandwerkerschaft unterstützt, für eine Etablierung im Kreis der Berufsschüler*innen wäre trotz aller Werbemaßnahmen (Plakate und Bekanntmachung an allen Karlsruher Berufsschulen) eine mehrmalige Durchführung wichtig. Eine weitere Überlegung in der Reflexion war, das Science-Pub-Quiz auch bei den Schulfesten der Berufsschulen anzubieten, um es in der Berufsschüler*innenschaft bekannter zu machen.
Kreative Ansätze können helfen – alleine genügen sie nicht
Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund sind zwei in der Literatur immer wieder genannte Faktoren der Benachteiligung bzw. Exklusion, die auch für Wissenschaftskommunikation besonders relevant sind. Dabei sind insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, deren Herkunftsländer muslimisch geprägt sind, häufig Diskriminierungen oder rassistischen Anfeindungen ausgesetzt, auch im Bildungsbereich. Insgesamt fühlt sich fast jede*r fünfte Muslimin oder Muslim aufgrund von Religion oder religiöser Überzeugung diskriminiert.
Im Pilotprojekt wurden verschiedene Initiativen und Gruppen in Deutschland kontaktiert und befragt. Die Umsetzung konzentrierte sich dann auf Berlin. Häufig benannte Aspekte aus den Fokusgruppen waren Diskriminierungserfahrungen in verschiedenen Ausprägungen, darunter insbesondere unzutreffende Fremdzuschreibungen und Stereotype, Diskriminierung im Bildungssystem und in der Wissenschaft sowie eine fehlende Sichtbarkeit von Role-Models in der Wissenschaft.
Ausgehend von diesen Erfahrungen wurde als Pilotformat ein Science & Poetry Slam konzipiert und in Zusammenarbeit mit dem Jugendzentrum Manege auf dem Rütli-Campus in Berlin-Neukölln umgesetzt. Das kombinierte Format beinhaltet sowohl die Sichtbarmachung von Role-Models durch die Präsentation der Forschungsarbeit von jungen Wissenschaftler*innen im Science-Slam als auch die Möglichkeit zur direkten Adressierung von Diskriminierungserfahrungen in Poetry-Slam Texten und auch durch die Gespräche mit der Moderation, eingebettet in einen kreativen Edutainment-Ansatz.
80 % der befragten Personen fanden die Veranstaltung „sehr gut“, in anschließenden telefonischen Befragungen wurde insbesondere die Mischung aus „Science“ und „Poetry“ und die Auswahl der Slammer*innen gelobt. Mit Blick auf den Bildungsabschluss wurden auch in diesem Format eher akademisch geprägte Jugendliche erreicht (siehe Abb. 4). 56 % der Befragten gaben an, dass sie einen Migrationshintergrund besitzen. Damit wies das Publikum zwar nicht ausschließlich einen Migrationshintergrund auf, aber einen beträchtlich höheren Anteil als bei vielen üblichen Wissenschafts-Veranstaltungen. Durch den Zuschnitt und das milieuübergreifende Potenzial des Formates konnten also gezielt weitere Perspektiven, diversere Vortragende gewonnen und auch ein diverseres Publikum als sonst häufig angesprochen werden.
Eine überraschende Erkenntnis bei der Umsetzung war, dass das eigentlich für Jugendliche konzipierte Format eine größere Anzahl Kinder angezogen hat, was durch die Umsetzung im Jugendzentrum und zum Teil auch eine grundlegende Neugier erklärt werden könnte. Die Kombination der Formate hat sehr gut funktioniert, es konnten auch Vortragende gewonnen werden, die zuvor noch nie bei einem derartigen Format mitgemacht hatten und durch den spezifischen Zuschnitt nun Interesse zeigten.
Fazit aus den Pilotprojekten bei Wissenschaft für alle
Im Projekt zeigte sich an verschiedenen Stellen, dass der vorgesehene partizipative Prozess der Formatentwicklung schnell an seine Grenzen stoßen kann: Während das Generieren von Input hinsichtlich der Einstellungen und Bedarfe der Zielgruppen durch genaues Zuhören und die Einbindung von lokalen Kooperationspartner*innen funktionierte, gestaltete sich die Entwicklung konkreter Formate aufgrund einer geringen konkreten Mitwirkungsbereitschaft seitens der Zielgruppe und der Stakeholder schwierig. Auf einer Meta-Ebene konkrete Formate ohne thematische Vorgabe zu entwickeln und zu diskutieren oder personelle und zeitliche Ressourcen für einmalige Veranstaltungen aufzubringen, erschien für viele Beteiligte zugleich herausfordernd und nicht gewinnbringend.
Weiterhin kann auch bei Berücksichtigung der selbst aufgestellten Empfehlungen die Umsetzung auf Probleme stoßen, beispielsweis bei der Recherche und Aktivierung von Stakeholder*innen und Multiplikator*innen. Die Ansprüche an das Projekt, kaum erreichte Bevölkerungsgruppen einzubinden, konnten zumindest in Bezug auf den angegebenen Bildungsabschluss im Rahmen der einmaligen Durchführung nur eingeschränkt realisiert werden. Auch die strukturellen Rahmenbedingungen von Projekten können eine Barriere darstellen, beispielsweise die begrenzte Projektdauer und Projektförderung, die der zentralen Empfehlung für ein längerfristiges Engagement jenseits von Pilotprojekten entgegenläuft.
Herausforderungen vor allem auf systemischer Ebene
Insgesamt gibt es trotz eines stärkeren Bewusstseins in der Wissenschaftskommunikations-Community bisher neben Pilotprojekten wie im Fall von Wissenschaft für alle nur wenige breitenwirksame, grundlegende und konkret wirksame Inklusions- und Diversity-Bestrebungen in der Praxis. Diese werden zwar zunehmend als Zielvorstellungen oder Leitfäden formuliert, bleiben in der Umsetzung häufig jedoch sehr vage oder werden – wenn überhaupt – ausschließlich auf spezifische Teilbereiche und Diskriminierungsformen angewendet.
Problematisch ist das Fehlen von Anreizen zur Verbesserung von Inklusion und Diversity im Hinblick auf die eigenen Kommunikationsmaßnahmen. Die täglichen Herausforderungen des Kommunikator*innen-Alltags, fehlende Sichtbarkeit und mangelnde zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen stehen den oftmals in Leitbildern geäußerten Ansprüchen entgegen.
Darüber hinaus liegen bislang vor allem Erkenntnisse über die Einstellungen zu Wissenschaft und Forschung allgemein oder punktuelle Evaluationen von neuen Formatideen vor. Die spezifische Nutzung und Konzeption von Wissenschaftskommunikationsformen hingegen wird kaum mit Blick auf Diversity evaluiert, sodass bisher keine belastbaren Rückschlüsse auf deren Inklusivität oder Exklusionswirkung gezogen werden können. Zwar entstanden durch die Evaluation im Projekt Wissenschaft für alle erste evidenzbasierte Empfehlungen für eine inklusive Wissenschaftskommunikation. Ein weitergehender Test sowie eine umfassendere Evaluation von Kommunikationsformen sind jedoch notwendig, um deren Nachhaltigkeit und Übertragbarkeit beurteilen zu können.