Kultur für alle! – Kultur mit allen? Zu den Chancen milieuübergreifender kultureller Bildungsarbeit
Abstract
Bedarf die zunehmende Fragmentierung und soziale Spaltung der Gesellschaft neuer Konzepte für die Kulturelle Bildung? Sind zielgruppenspezifische kulturelle Angebote noch angemessen oder müssten diese Angebote nicht stärker milieuübergreifend konzipiert sein? Und was ist mit dem bisherigen Konzept der Lebensweltorientierung? Ist es heute nicht wichtiger, alternative Gestaltungsperspektiven aufzuzeigen jenseits eigener Milieupraktiken?
Um Antworten auf diese Fragen finden zu können, wird die Entwicklung von Teilhabezugängen in der Kulturellen Bildungen im Zuge des bisherigen gesellschaftlichen Wandels zunächst historisch reflektiert, hier auch Entwicklungen in der damaligen DDR. Des Weiteren werden Chancen und Herausforderungen digitaler Techniken für milieuübergreifende kulturelle Bildungsprozesse in den Blick genommen. Hieraus folgen erste Überlegungen zur Konzeption einer milieuübergreifenden kulturellen Bildungsarbeit und ein Fazit zu künftigen Chancen und Herausforderungen milieuübergreifender Kultureller Bildung.
Kultur, Kulturelle Ausdrucksformen und die Künste sind Spiegel ihrer Zeit und gesellschaftlicher Positionen. Dies gilt auch für die Zugänge zu Kunst, Kultur und Kultureller Bildung. So verwies Pierre Bourdieu schon in den 1980er Jahren auf den wichtigen Stellenwert kultureller Praktiken und Vorlieben als Mittel zur Distinktion, Macht und Abgrenzung (Bourdieu 1987). Die Nachwehen von Kunst und Kultur als Distinktionsmittel können bis heute in unserem Bildungssystem beobachtet werden, beispielsweise innerhalb des dreigeteilten Schulsystems, wo Hauptschulen nach Lernplänen in einzelnen Bundesländern oft nicht nur weniger künstlerischen Unterricht als Gymnasien haben, sondern hier auch andere inhaltliche Schwerpunkte gesetzt werden, wie das Textile Gestalten/Werken in Hauptschulen versus Kunst- und Musikunterricht an Gymnasien (Weishaupt et. al. 2013:19). Auch beim Ausbau der Ganztagsschulen konnten weniger und andere kulturelle Akzentsetzungen innerhalb der weiterführenden Schulformen beobachtet werden (ebd.:64 und Keuchel 2007:240).
Mit der Forderung Hilmar Hoffmanns „Kultur für alle“ Ende der 1970er Jahre (vgl. Hoffmann 1984) wurden Zugänge für alle Bevölkerungsgruppen zunehmend in den Blick genommen und kontinuierlich neue Konzepte entwickelt, um möglichst viele Menschen für Kulturelle Bildung zu begeistern: Angebote der außerschulischen Kulturellen Bildung wurden in den Ganztag verlagert, um Kinder und Jugendliche zu erreichen, deren Eltern den Besuch kultureller Bildungseinrichtungen nicht unterstützten. Es wurden stadtteilbezogene Konzepte entwickelt und letztlich eine aufsuchende Kulturarbeit für junge Menschen aus bildungsfernen Kontexten, Fluchthintergrund etc. ermöglicht.
Damit stellt sich die Frage: Sind nun alle zukunftsweisenden Konzepte für Kulturelle Bildung entwickelt worden? Oder bedarf es im Zuge der zunehmenden Fragmentierung und sozialen Spaltung der Gesellschaft neuer, anderer Konzepte? Im folgenden Beitrag wird die Frage nach der Notwendigkeit milieuübergreifender kultureller Bildungsangebote angesichts einer zunehmenden fragmentierten und individualisierten Gesellschaft diskutiert. Reicht es aus, mit zielgruppenspezifischen Konzepten möglichst viele Kinder und Jugendliche zu erreichen oder wird es zunehmend wichtig, gemeinsame milieuübergreifende kulturelle Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zu schaffen, innerhalb derer sie sich begegnen und unterschiedliche kulturelle Lebenswelten kennenlernen?
Um die Relevanz milieuübergreifender kultureller Bildungsangebote einschätzen zu können, wird in einem ersten Schritt der Einfluss des gesellschaftlichen (Werte-)Wandels auf Entwicklungen und Zugänge der Kulturellen Bildung in Westdeutschland innerhalb eines historischen Rückblicks betrachtet. Dabei wird in einem Exkurs auch ein Blick auf Konzepte zu Kultur für alle in der DDR geworfen. In einem zweiten Schritt werden aktuelle Konzepte, die alternative Zugänge zur Kulturellen Bildung schaffen wie eine aufsuchende Kulturarbeit sowie – nach vorne gewandt – Chancen und Herausforderungen der digitalen Techniken für milieuübergreifende kulturelle Bildungsprozesse in den Blick genommen. Es werden erste Überlegungen zur Konzeption milieuübergreifender kultureller Bildungsarbeit angestellt und abschließend ein Fazit zu Chancen und Herausforderungen milieuübergreifender Kultureller Bildung gezogen.
Ein historischer Rückblick: Einfluss des gesellschaftlichen (Werte-)Wandels auf Zugänge Kultureller Bildung
Welchen Einfluss hatte der gesellschaftliche (Werte-)Wandel in der Vergangenheit auf Entwicklungen und Zugänge Kultureller Bildung? Zur Illustrierung des gesellschaftlichen Wandels werden im Folgenden Ergebnisse der quantitativen Werteforschung als Indikator herangezogen und diese den fachlichen Entwicklungen und daraus resultierenden Zugängen zur Kulturellen Bildung gegenübergestellt.
Westdeutschland 1950 bis 1968
Die quantitative Werteforschung, die sich unter Vertretern wie Talcott Parson 1950 vor allem in den USA formierte, ging zu Beginn von einer Stabilität der Werte innerhalb der Gesellschaft aus (vgl. Parsons/Shils 1951). Auch innerhalb der Kulturellen Bildung, die damals noch unter dem Begriff Musisch-ästhetische Erziehung formierte, wurde von einer Stabilität der fachlich zu vermittelnden Inhalte und Kunstformen ausgegangen. Im Zentrum der damaligen musisch-ästhetischen Erziehung stand eine „allgemeine, humane, durchaus national-historisch differenzierte, aber vor allem klassisch-idealistische Kultur“ (Zirfas 2015:24) – also ein Verständnis von Kultureller Bildung, das den „Idealen des Wahren, Guten und Schönen verpflichtet ist“ (ebd.). Damit ging es in dieser Zeit vor allem um den (Wieder-)Aufbau von Strukturen in der Kulturellen Bildung. Das Schaffen von Zugängen zur Kulturellen Bildung als „Insel des Heils“ (Mattenklott 2003:210) oblag dabei dem sozialen Umfeld von Kindern und Jugendlichen, hier vor allem den Eltern. Der kulturelle Bildungsbereich beschränkte sich auf die Bereitstellung von Angeboten wie beispielsweise musikalischen Instrumentalunterricht für Interessierte von Seiten der Musikschulen.
Westdeutschland 1968 bis 1980
1968 wurde innerhalb der quantitativen Werteforschung erstmals von einem Wertewandel gesprochen: Ronald Inglehart differenzierte dabei zwischen einer materiellen Bewegung, der Nachkriegsgeneration, konservativ bewahrend, traditionell und am kulturellen Erbe orientiert und einer postmateriellen Bewegung der Wohlstandsgeneration, die Bestehendes infrage stellt, teils politisch in Form von Bürgerbewegungen, teils auch hedonistisch orientiert (vgl. Inglehart:1989).
Dieser Wertewandel spiegelt sich parallel auch fachlich innerhalb der Kulturellen Bildung wider: Auf der einen Seite beharrende Kräfte einer alten Kulturpädagogik, die „zu einer Kultur erzieht“ (Liebau/Zirfas 2004:579), auf der anderen Seite eine neue Kulturpädagogik, die den Anspruch formuliert, „Bildung solle sich in Kultur vollziehen“ (ebd.). Die neue Kulturpädagogik, die zugleich den Begriff Kulturelle Bildung etablierte und sich aus einem außerschulischen Handlungsfeld heraus formierte, forderte u.a. demokratische Kulturarbeit (Fuchs 1990:18), Sinnorientierung, das Prinzip der Selbstbildung (Zacharias 2001), Anspruch nach Aktualität des Ästhetischen (Bohrer 1992) und damit auch Lebensweltorientierung (Braun/Schorn 2012), eine erweiterte Perspektive auf Alltagskunst. So wurden neue fachliche, inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, die auch zur Etablierung neuer Orte führten, beispielsweise die Jugendkunstschulen im Sinne des Aufbrechens einer kunstspartenspezifischen Segmentierung der alten Kulturpädagogikpraxis. Das Grundprinzip der Zugänge jedoch, die Existenz von Orten und Angeboten, die freiwillig aufgesucht werden, blieb. Die Angebote selbst erhielten jedoch eine deutlich stärkere jugendkulturelle und lebensweltorientierte Ausrichtung innerhalb der außerschulischen Bildung.
Der Anspruch Hilmar Hoffmanns von 1979, Kultur für alle zugänglich zu machen, wurde in Folge sehr offensiv in der Kulturpolitik diskutiert. Hoffmann forderte, dass „eine demokratische Kulturpolitik […] nicht nur von dem formalen Angebot für alle ausgehen [sollte], sondern kulturelle Entwicklung selbst als einen demokratischen Prozess begreifen“ sollte (Hoffmann 1984:12). Um diesem inhaltlichen Anspruch gerecht zu werden, aber eben auch kulturelle Angebote für alle zu unterbreiten, führte er als Alternative zu den etablierten Kultureinrichtungen, die oftmals im Zentrum angesiedelt waren, alternative „Kulturläden“, soziokulturelle Zentren in diversen Stadtteilen ein. Dabei betonte er, dass „der Kulturladen als soziokulturelles Kleinzentrum nicht als Alternative zur Institution Kultur gedacht sei, sondern als Ergänzung“ (ebd.:257). Es ging auch hier um eine Ästhetisierung des Alltäglichen. Hermann Glaser umschreibt Soziokultur verkürzt auch als "Kultur von allen, für alle" (Glaser/Stahl 1983).
Letztlich wurden aber auch hier Orte geschaffen und das Aufsuchen dieser Orte oblag weitgehend den Interessierten. Eine Neuerung war dabei eine stärkere Dezentralisierung dieser Orte innerhalb der Großstädte in diversen Stadtteilen, also die Schaffung einer stärkeren örtlichen Nähe zu einer Vielzahl von Bürgern.
Exkurs: „Kulturelle Bildung für alle“ in der DDR
„Kultur für alle“ war zeitgleich auch ein zentrales Ziel in der DDR. „So formulierte die Verfassung der DDR den staatlichen Auftrag einer ‚Kultur für und von allen‘ seit 1968“ (siehe: Birgit Mandel/Birgit Wolf „Diskurs: Staatsauftrag „Kultur für alle“ in der DDR“). So wurde beispielsweise auch die erste Jugendkunstschule 1967 in Oederan noch ein Jahr vor der ersten Jugendkunstschule in Wesel 1968 in Westdeutschland gegründet. Ähnlich, wie die soziokulturellen Zentren wurden auch in der DDR sehr breitflächig Kulturhäuser und Jugendklubs errichtet (vgl. LAKS).
Im Gegensatz zu Westdeutschland fuhr hier die DDR zweigleisig. Sie schaffte nicht nur alternative kulturelle Orte, sondern zugleich auch systematisch Zugänge zu den professionellen Kultureinrichtungen, die zugleich „überdimensional“ (Mandel/Wolf 2021) gefördert wurden. So wurden beispielsweise auch die Zugänge wesentlich stärker subventioniert als in Westdeutschland. Die Ausleihe in Büchereien war beispielsweise kostenlos. „Erstürmt die Höhen der Kultur!“ war ein Motto, die Zugänge zu allen bestehenden kulturellen Angeboten für alle zu fördern: zur „klassischen Kunst und Kultur“, der „sozialistischen Gegenwartskunst“, der „Volkskunst“ und „Unterhaltungskunst“ (ebd.). In diesem Sinne wurden beispielsweise auch die Betriebe angehalten, „kulturelle Angebote sowohl in Form rezeptiver Aktivitäten wie gemeinsame Theater- oder Ausstellungsbesuche als auch in Form von Zirkeln des künstlerisch-kulturellen Volksschaffens anzubieten“ (ebd.). Und Kulturveranstaltungen für ganze Brigaden – auch während der Arbeitszeit – wurden beispielsweise ermöglicht.
In der DDR wurden also nicht nur neue kulturelle Begegnungsräume mit alternativen Inhalten etabliert, sondern systematisch Zugänge geschaffen, diese vielfach nicht nur gratis zugänglich gemacht, sondern diese Zugänge mit Schulen, Betrieben etc. vernetzt. Diese Zugänge wurden dabei nicht für Teilgruppen nach vermuteten Interessenlagen in den Blick genommen, beispielsweise für Arbeiter die Volkskunst und für Akademiker die klassische Kultur, sondern alles wurde allen zugänglich gemacht – vorausgesetzt, die kulturellen Inhalte wurden nicht als regimefeindlich eingestuft. Denn in einer klassenlosen Gesellschaft war es ein erklärtes Ziel, alle Werktätigen auch an klassische Kultur heranzuführen, damit sie sich zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ (ebd.) entwickelten.
Westdeutschland ab 1980 bis zur Wiedervereinigung
In der Werteforschung wurde zunehmend die Frage diskutiert, warum sich kein weiterer Wandel abzeichnet (vgl. Müller 2012) und die These diskutiert, ob der damals proklarierte Wertewandel 1968 nicht vielmehr eine fortschreitende Entwicklungsbewegung hin zu einer kontinuierlichen Modernisierung und Individualisierung gewesen sei (Jarausch 2007). Zu berücksichtigen ist hier, dass 1968 letztlich nur ein sehr kleiner Anteil an Studierenden die so genannte 1968er Bewegung repräsentierte, das Gros der Bevölkerung jedoch weiterhin eher eine bewahrende Haltung bestehender Werte an den Tag legte. Auch wurde die Frage aufgeworfen, ob die Entwicklung wirklich eindimensional gewesen ist innerhalb der 1968er-Bewegung oder ob nicht vielmehr auch hier sehr heterogene Ausrichtungen zwischen politischem Engagement und Hedonismus zu beobachten waren (vgl. Siegfried 2008).
All diese Diskurse führten zu mehrdimensionalen Modellen, die nicht mehr zwischen zwei unterschiedlichen Wertegruppen differenzierten, sondern in mehrere unterschiedliche Wertegruppen unterteilten, sogenannte Milieustudien. Klages entwickelte beispielsweise ein Modell, in dem er nicht nur das Konservative der Moderne, sondern auch den Pflicht-idealistischen Typ der Selbstentfaltung und dem Hedonismus gegenübergestellte (Klages 1985). Sehr bekannt geworden sind die Sinus Milieustudien (Sinus 2017), die die soziale Lage in Beziehung zur Wertekonstellation zwischen Tradition und Moderne setzen.
Im Gegensatz zur Erkenntnis des wachsenden Individualismus, der zu diversen Lebensstilen und Werten führt, hat sich in der Kultur die Zwei-Dimensionalität einer klassischen Kultur versus einer Soziokultur in den Strukturen, aber auch in den Annahmen gegenüber den Interessenslagen erreichter Zielgruppen, lange gehalten: Die klassische Kultur erreicht das Bildungsbürgertum und die Soziokultur breite Bevölkerungsgruppen. Das Vertrauen der Soziokultur, dass bestehende Angebote auch von breiten Bevölkerungsgruppen „freiwillig“ wahrgenommen werden, wurde lange Zeit auch von der Kulturellen Bildung geteilt. Entsprechend wurden alternative Konzepte, die Zugänge für spezifische Gruppen in den Blick nehmen, kaum diskutiert. Stattdessen wurde im Zuge der Wiedervereinigung an den bestehenden Strukturen und Konzepten in Westdeutschland festgehalten und diese Strukturen nahezu „kolonialistisch“ auf den Osten übertragen.
Aktuelle Trends bei der Gestaltung von Zugängen: Vernetzt, zielgruppenspezifisch und aufsuchend …
Im Rahmen erster bundesweiter repräsentativer Befragungen zur kulturellen Teilhabe, hier vor allem das Jugend-KulturBarometer 2004 (Keuchel/Wiesand 2006), konnten systematische Erkenntnisse darüber gewonnen werden, dass spezifische junge Bevölkerungsgruppen über die Freiwilligkeit kultureller Bildungsorte kaum erreicht werden. Parallel zum PISA-Schock (Deutsches PISA-Konsortium 2001) in Deutschland wurde auch für die Kulturelle Bildung deutlich, dass große Ungleichheiten bezogen auf den Bildungshintergrund der Eltern bestehen (Keuchel/Wiesand 2006). Diese Erkenntnisse führten dazu, die Zugänge zur Kulturellen Bildung verstärkt in den Blick zu nehmen und alternative Konzepte zu entwickeln.
Zugänge erweitern über Kooperationen mit Schulen
Neben der Erkenntnis, spezifische junge Bevölkerungsgruppen nicht erreichen zu können, führte auch der parallele Ausbau der Ganztagsschulen zu einer systematischen Ausdehnung von Kooperationen mit Schulen und Ganztag innerhalb der Kulturellen Bildung. Mit dem Ausbau wurde die Hoffnung verbunden, alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern, zu erreichen. Neben den kulturellen Bildungseinrichtungen zeigten auch Kultureinrichtungen zunehmend Bereitschaft, nicht nur stärker in Kulturelle Bildung mit Kindern und Jugendlichen zu investieren, sondern sich dabei auch mit Schulen zu vernetzen. Hintergrund war hier die Sorge um das Nachwuchspublikum mit Blick auf empirische Studien, die nahelegten, dass im Alter keine zwangsweise Hinwendung zur klassischen Kultur erfolgt, sondern, dass im jungen Erwachsenenleben entwickelte kulturelle Interessen auch im Alter prägend sind (Keuchel 2009:115). Entsprechend konnte 2005 mehr als eine Vervierfachung der kulturellen Bildungsangebotsstruktur in klassischen Kultureinrichtungen wie Museen, Theater, Bibliotheken und Orchestern beobachtet werden (Keuchel/Weil 2010).
Zugänge schaffen durch zielgruppenspezifische kulturelle Bildungsarbeit
Es wurde vorausgehend schon auf die lange Zeit vorherrschende Betrachtung einer zweigeteilten Zielgruppe innerhalb der Kultur und Kulturellen Bildung hingewiesen, die verkürzt in eine kulturelle Elite im Sinne von Bourdieu (1987) bzw. dem Bildungsbürgertum und einer Gruppe, die nicht dazu gehörte, unterteilt wurde. Dies stand lange Zeit im Widerspruch zur soziologischen Forschung, die zunehmend von einer Vielfalt an Lebensstilen ausging, obwohl es auch innerhalb der empirischen Kulturforschung schon damals Versuche einer Differenzierung gab, die das Kulturpublikum in vielfältige Kulturtypen unterteilte (Keuchel 2003) und verdeutlichte, dass das Kulturpublikum der Einrichtungen keineswegs so heterogen war, wie oft angenommen wurde. In diesen Studien wurde auch deutlich, dass die Annahme, auf der einen Seite gibt es eine Soziokultur, die breite Bevölkerungsgruppen anspricht, und auf der anderen Seite die klassischen Kultureinrichtungen, die das Bildungsbürgertum ansprechen, so nicht haltbar ist und es hier sehr große Schnittmengen gibt. Studien aus den USA prägten hier den Begriff des „Kulturellen Allesfresser“ (Peterson/Simkus 1992), der umschreiben sollte, dass Personen mit hohem beruflichem Status beispielsweise nicht nur mehr klassische, sondern auch Konzerte aus dem Rock- und Popsektor aufsuchten. Der Widerstand, sich mit diesem Modell in Deutschland auseinanderzusetzen, liegt möglicherweise auch in den Schlussfolgerungen begründet, wie sie Gebesmair anhand des Modells für Österreich und Deutschland reflektiert (Gebesmair 2006:895): Nämlich, dass alle bisherigen „kulturpolitischen Maßnahmen zur Reproduktion der Eliten beitrage(n)“ würden, so auch die Förderung der Soziokultur.
Die Erkenntnis, dass vor allem junge Bevölkerungsgruppen aus sozialbenachteiligen Kontexten mit Angeboten nicht erreicht werden, führte zu ersten zielgruppenspezifischen Bildungskonzepten, hier vor allem einer verstärkten Kooperation mit Hauptschulen und Grundschulen in sozialen Brennpunkten. Es wurde schon eingangs darauf verwiesen, dass sich diese Projekte, im Vergleich beispielsweise zu Projekten an Gymnasien, überproportional an den vermuteten Interessen der Zielgruppen ausrichten, beispielsweise jugendkulturelle Ausdrucksformen wie Hip-Hop oder Grafitti aufgreifen, also dem Prinzip der Lebensweltorientierung folgen (Keuchel 2007:240; Keuchel/Aescht 2007). Damit zeichnet sich bereits eine Tendenz zu einer inhaltlichen Zielgruppenarbeit ab. Weitere zielgruppenspezifische kulturelle Bildungskonzepte, die zugleich die altersspezifische Entwicklung berücksichtigten, entwickelten sich in der Kooperation mit Kitas, die zugleich auch ein weiterer Schritt im Entwicklungsprozess einer vernetzten kulturellen Bildungsarbeit sind.
Neue zielgruppenspezifische Konzepte entwickeln sich auch im Zuge des Diskurses um Migration (Keuchel 2012) und Diversität, beispielsweise im Kontext der Fluchtbewegungen 2015. Inhaltliche Fragen stellen sich hier beispielsweise nach Empowerment, nach der Präsenz von außereuropäischen kulturellen Perspektiven und Kunstgenres oder auch der von Multiplikator*innen mit Migrationshintergrund innerhalb der Kulturellen Bildung, die aufgrund anderer kultureller Hintergründe weitere Perspektiven auf Vermittlungsinhalte einbringen können (Keuchel 2015). Dabei gibt es durchaus auch kritische Stimmen, die mit Verweis auf Transkulturalität migrationsspezifische Ansätze eher in Frage stellen oder auch umgekehrt, im Zuge postkolonialer Diskurse (Akuno et al. 2014), Inhalte und Perspektiven der kulturellen Bildungsarbeit als westliche Position grundsätzlich hinterfragen.
Mit Blick auf die fehlende kulturelle Infrastruktur in strukturarmen ländlichen Räumen werden aktuell auch verstärkt Überlegungen angestellt, spezifische kulturelle Bildungskonzepte für den ländlichen Raum zu entwickeln. Innerhalb dieses Diskurses wurden zunächst verstärkt mobile Angebote in den Blick genommen, die bestehende großstädtische Angebote in den ländlichen Raum transferieren sollten. Aktuelle Analysen (vgl. BMBF 2019) und Diskurse verdeutlichen zunehmend, dass Strukturen, Inhalte und Formate ländlicher Kulturarbeit eigene Merkmale besitzen, die bei dem Ausbau kultureller Bildungsarbeit berücksichtigt werden sollten.
Es kann also zunehmend ein Ausbau zielgruppenspezifischer kultureller Bildungskonzepte beobachtet werden, in Anlehnung an eine zunehmende Fragmentierung und Individualisierung der Gesellschaft. Diese Diskurse rütteln grundsätzlich an der Vorstellung einer zweigeteilten kulturellen, inhaltlichen Perspektive zwischen der sogenannten „Hochkultur“ und der „Soziokultur“ und legen nahe, dass es vielfältige unterschiedliche kulturelle Perspektiven gibt, wie dies auch die kulturellen Lebensstile der Milieustudien widerspiegeln (siehe: Stefan Hradil „Wurden die sozialen Milieus in Deutschland geschlossener? Konfliktreicher?").
Zugänge ermöglichen durch eine aufsuchende kulturelle Bildungsarbeit
Letztlich ist der damalige dezentrale Ausbau Soziokultureller Zentren ein erster Schritt in Richtung einer aufsuchenden Kulturarbeit gewesen. Auch gibt es in der Spielpädagogik im Rahmen der Spielmobilpraxis eine längere Tradition der aufsuchenden Kulturarbeit. Der Fokus der Kulturellen Bildung lag jedoch lange Zeit nahezu ausschließlich auf Kooperationen mit dem formalen Bereich im Zuge des Ausbaus des Ganztags und dem Anspruch, auch Kinder und Jugendliche mit formal niedriger Schulbildung zu erreichen.
Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Auch hier gab es Studien, die nahelegten, alternative Konzepte zu entwickeln. So wurde 2011 das zweite Jugend-KulturBarometer (Keuchel/Larue 2012) durchgeführt. Die Studie belegte, dass eine anteilig stärkere Einbindung von Hauptschulen im Zuge kultureller Teilhabe seit 2004 gelungen war, dennoch hatte das Interesse der 14- bis 24-Jährigen mit formal niedriger Schulbildung am Kulturgeschehen im Zeitvergleich aber abgenommen. Darauf wurden die jeweiligen Zugänge der 14- bis 24-Jährigen auf formaler, non-formaler und informeller Ebene zu kulturellen Bildungsimpulsen detailliert betrachtet. Diese Analyse legte nahe, dass das intrinsische Interesse am Kulturgeschehen der 14- bis 24-Jährigen vor allem mit Multiplikator*innen aus dem non-formalen und informellen Bereich korrelierte. Es wurde daraufhin vermutet, dass formale, non-formale oder informelle Zugänge durchaus unterschiedliche Wirkungen erzielen können. Die formale Ebene ist grundsätzlich wichtig, da sie Grundlagen für alle schafft. Die non-formale Ebene könnte, da sie Freiraum für die individuelle Verwirklichung bietet, sich mit den Inhalten in der Intensität auseinanderzusetzen, wie sich der/die Einzelne dies wünscht und vor allem die intrinsische Interessensbildung fördern. Die informelle Ebene könnte dagegen die Motivation fördern, da sie Relevanz im sozialen Umfeld für das Investment im Non-formalen schafft. In der Studie wurde zugleich deutlich, dass den 14- bis 24-Jährigen aus sozial benachteiligten Kontexten innerhalb ihres bisherigen Lebensverlaufs non-formale und informelle kulturelle Bildungsimpulse fehlten.
Ergänzend entstanden flächendeckende Bundes- und Landesprogramme wie Kulturrucksack NRW oder Bündnisse für Bildung „Kultur macht stark“, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die non-formale kulturelle Bildungszugänge fördern, indem sie sich systematisch mit dem Sozialraum vernetzen und so eine aufsuchende Praxis innerhalb der Kulturellen Bildung verstärken. Zugleich ist speziell das Programm Kultur macht stark zielgruppenspezifisch auf junge Bildungsbenachteiligte ausgerichtet. Beispiele für eine systematische Vernetzungsstrategie innerhalb der Kulturellen Bildung sind auch die sich zunehmend etablierenden Modelle der kommunalen bzw. regionalen Gesamtkonzepte Kultureller Bildung (Keuchel 2014).
Es gibt also zunehmend einen Trend innerhalb der Kulturellen Bildung, sich zu vernetzen, stadtteilbezogene aufsuchende Kulturarbeit zu leisten und dabei spezifische Zielgruppen in den Blick zu nehmen wie Bildungsbenachteiligte, junge Menschen mit Migrationsgeschichte, LGBT etc. All diese Ansätze sind bisher jedoch vor allem projektspezifisch finanziert und nicht nachhaltig infrastrukturell verankert.
Digitalität – Chance für neue (milieuübergreifende) Zugänge?
Lange Zeit wurde fachlich eine analoge kulturelle Bildungspraxis favorisiert. Diese Haltung hat sich in den letzten Jahren und vor allem im Zuge der Corona-Pandemie verändert (vgl. BKJ 2020; mehr auch auf kubi-online: Corona-Themenschwerpunkt). Es stellt sich daher die Frage: Welche Chancen bietet Kulturelle Bildung in der Digitalität, um Kinder und Jugendliche milieuübergreifend zu erreichen? Denn das Internet wurde in seiner Entstehungsgeschichte als Chance einer neuen gesellschaftlichen Form des Miteinanders gefeiert (Neuberger 2018:27), da es sowohl zeitgleich wie zeitversetzt senden als auch empfangen kann und als Plattform sowohl für individuelle Gruppen als auch als Massenmedium dient. Damit birgt es die Chance, „dezentral, ohne Hierarchie die Kommunikation zu demokratisieren unter nomineller Gleichheit aller Nutzer“ (Hoecker 2002). So lautet der 4. Punkt des Google-Manifests „Ten Things we know to be true“: „Die Demokratie im Internet funktioniert.“ (Google 2021).
Eine retroperspektive Betrachtung des demokratischen Potentials des Internets zeigt jedoch ein gespaltenes Bild: Es diente in der Vergangenheit als Plattform für demokratische Widerständler – z.B. dem Arabischen Frühling – aber auch als Regulierungsplattform für totalitäre Staaten – z.B. China –, als Plattform für Kriminalität – Stichwort „Dark Net“ –, aber auch als Plattform für Wissen und Austausch – im Sinne von Open Source und Open Communities – oder als Plattform kommerzieller Megakonzerne wie google und facebook. Dies legt nahe, dass das Internet nicht per se demokratisch ist, sondern es darauf ankommt, welche Ziele diejenigen verfolgen, die Inhalte einstellen und das Machtpotenzial haben, diese Inhalte auch sichtbar zu machen. Und es ist nachvollziehbar, dass kommerzielle Gatekeeper wie google oder facebook mit ihren finanziellen Investitionen und personellen Ressourcen hier eine stärkere Sichtbarkeit erzielen als Einzelpersonen – und damit zugleich eine Kontrolle sowohl über die Zugänge als auch über die Sichtbarkeit von Inhalten, Meinungen und Lebensstile erhalten. Dies gilt auch für kulturelle und künstlerische Inhalte, wird beispielsweise die Bedeutung von Plattformen wie Youtube betrachtet.
Dass Ungleichheiten der Teilhabe durch digitale Medien nicht aufgehoben werden, ist das Ergebnis vieler Studien (u.a DIVSI 2014 oder Sinus/Aktion Mensch 2020) und gilt auch für die kulturelle Teilhabe: Gemäß einer vom BMBF geförderten bundesweiten Studie (Keuchel/Riske 2020) ist der Anteil unter den 14- bis 24-Jährigen, die sowohl analog wie digital künstlerisch-kreativ sind, unter denjenigen, die eine hohe Schulbildung haben (53%) deutlich höher, als unter denjenigen, die eine niedrige Schulbildung haben (35%). Auch korreliert ein emanzipierter Umgang mit digitalen Kontexten mit der Schulbildung junger Leute: Wissen 71% der 14- bis 24-Jährigen mit hoher Schulbildung um die Funktion von Algorithmen im Internet, sind es bei denjenigen mit niedriger Schulbildung nur 29%, kennen 51% Open-Source-Programme und 48% Social Bots unter den 14- bis 24-Jährigen mit hoher Schulbildung, sind es unter denjenigen mit niedriger Schulbildung vergleichsweise nur 23% bzw. 25% (ebd.). Die kulturellen Teilhabevoraussetzungen sind also auch im Digitalen ungleich gesetzt.
Wie stehen hier zumindest die Chancen, junge Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen mittels kultureller Bildungsinhalte milieuübergreifend zu erreichen?
Die eben erwähnte bundesweite Jugendbefragung hat auch hier nachgefasst. Die 14- bis 24-Jährigen wurden gefragt, wie sie auf interessante Angebote aufmerksam werden: An erster Stelle werden hier zum einen das soziale Umfeld, insbesondere Freunde (98%) und Familie (78%), zum anderen eigene selbständige Recherchen (92%) und Empfehlungen von Plattformen und Webseiten (68%) genannt (ebd.). Bei den beiden letztgenannten Punkten könnte eine gewisse Autonomie angenommen werden. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass Suchmaschinen, die von kommerziellen Anbietern betrieben werden, Zugänge zu Inhalten oft selbstreferentiell, bezogen auf frühere Suchabläufe der Suchenden, über Algorithmen regeln. Dies führt dann auch zu den so genannten „Filter Bubbles“: Die Fragen oder Interessen, die suchend eingegeben werden, bzw. die Inhalte, die gelesen werden, nehmen Einfluss auf die Ergebnisse weiterer Recherchen.
Es kann also auch in digitalen Kontexten davon ausgegangen werden, dass milieuübergreifende Zielgruppenansprache nicht automatisch gelingt, sondern ebenso, wie im Analogen, konzeptionell entwickelt werden muss.
Überlegungen zur Konzeption milieuübergreifender Zugänge
Damit stellt sich die Frage: Wie können analoge und/oder digitale milieuübergreifende Bildungskonzepte entwickelt werden? Wie können junge Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und aus unterschiedlichen Lebenskontexten motiviert werden, gemeinsam miteinander aktiv zu werden? Mit welchen kulturellen Bildungsinhalten gelingt dies? Und welche pädagogischen Fertigkeiten bedarf es, um ein konstruktives Miteinander diverser Gruppen zu gestalten? Da es hierzu kaum Projekte und Erfahrungen gibt, werden im Folgenden ein paar Thesen und vor allem Leitfragen zur Gestaltung solcher milieuübergreifender kultureller Bildungskonzepte aufgeworfen.
Pädagogische Erfahrungen und Konzepte
Wie sieht es mit den pädagogischen Fertigkeiten und Konzepten aus, die es für eine milieuübergreifende kulturelle Bildungsarbeit bedarf? Hier kann auf bereits bestehende pädagogische Konzepte der Inklusion und Diversität zurückgegriffen werden.
Im Zuge der Inklusion gilt es, die unterschiedlichen Stärken und Potenziale der/des Einzelnen in den Blick zu nehmen (Georgi 2015:27). Zudem legen Diversitätsdiskurse nahe, beispielsweise zu Gender, Migration oder Beeinträchtigungen, dass es bei der Konzeption und Durchführung auf der pädagogischen Ebene vorteilhaft sein kann, die Heterogenität der Zielgruppe widerzuspiegeln. So wird schon seit Längerem diskutiert, dass die starke weibliche Präsenz innerhalb der Kulturpädagog*innen möglicherweise mit dazu beiträgt, dass sich junge männliche Zielgruppen weniger stark für kulturelle Bildungsaktivitäten motivieren lassen (Keuchel/Larue 2012:103). Im Zuge von Migration wurde ebenfalls deutlich, dass es vorteilhaft sein kann, wenn im Zuge einer wachsenden Migrationsgesellschaft mehr Kulturpädagog*innen mit Migrationshintergrund eingebunden sind, da sie andere kulturelle Perspektiven miteinbringen können und hier auch die Vorbildfunktion eine Rolle spielen kann (Bahouth 2015:103f). So wurde in einer Studie zur Internationalität in der Kulturellen Bildung festgestellt, in der für den Zeitraum 2012 bis 2014 459 nominierte Projekte aus den Datenbanken der Bundeswettbewerbe „Kinder-zum-Olymp“ und „MIXED-UP“ analysiert wurden, dass der Anteil an internationalen Diversitätsbezügen (44%) in den analysierten kulturellen Bildungsprojekten mit beteiligten Vermittler*innen mit Migrationshintergrund fast doppelt so hoch war wie bei den Projekten, in denen keine entsprechenden Vermittler*innen beteiligt gewesen waren (24%) (Keuchel 2015:151). Auch in anderen Studien konnten solche Zusammenhänge beobachtet werden (vgl. Keuchel/Weil 2010). Im Zuge milieuübergreifender kultureller Bildungskonzepte stellt sich damit die Frage nach der Repräsentanz von Kulturpädagog*innen aus verschiedenen Milieus. Hier möglicherweise noch dringlicher als in anderen Kontexten, da Kulturpädagog*innen mit und ohne Migrationshintergrund möglicherweise durchaus das gleiche Milieu repräsentieren können. Sehr spannend wäre eine Untersuchung, wie viele Milieus innerhalb der Multiplikator*innen der Kulturellen Bildung wirklich vertreten sind. Eine Studie zu Studierenden an Kunsthochschulen verdeutlichte, dass es für das Ergreifen dieses Studienfachs vielfach sogar entscheidend war, ob in der Vergangenheit innerhalb der Familie schon eine oder mehrere Personen ebenfalls ein Kunsthochschulstudium absolviert hatten (Hermann 2019), was die Vermutung nahelegt, dass hier die „Milieu-Spannbreite“ möglicherweise weniger groß ist. Dass es durchaus schwierig sein kann, entsprechend formal qualifiziertes Personal aus spezifischen Milieus einzubinden (ARD 2021), zeigten auch Versuche öffentlicher Rundfunkanstalten, Moderator*innen aus diversen Milieus zu gewinnen.
Konzepte einer milieuübergreifenden Zielgruppenansprache
Wie können milieuübergreifende Zielgruppen erreicht werden? Kooperationen mit Schulen, Kindertagesstätten oder Stadtteilen können hier insbesondere in größeren Städten nur bedingt erfolgreich sein, da sich in diesen zunehmend eine stadtteilspezifische Ghettoisierung von spezifischen Milieus abzeichnet (Helbig/Jähnen 2018). Möglicherweise könnte eine Chance die Vernetzung bzw. die Kooperation mit breitenorientierten Vereinen wie Fußballvereinen oder Karnevalsvereinen sein, wo diverse Milieus partizipieren. Ansonsten gilt bei milieuübergreifenden Konzepten vermutlich die Devise, mehrere Orte innerhalb der Zielgruppenakquise anzusprechen: ein breites Spektrum an Schulen, diversen Stadtteilen oder Vereinen. Geeignet sein könnten beispielsweise auch das Stadtzentrum als Ort gemeinsamer Begegnung, Ferien und/oder festliche Anlässe wie Karneval, ein Stadtmarathon oder ein Festival wie beispielsweise „Rhein in Flammen". Das heißt, diverse milieuspezifische Orte müssen entweder miteinander vernetzt werden oder es finden sich Orte/Events, an denen unterschiedliche Milieus partizipieren!
Vorausgehend wurde die Frage aufgeworfen, wie wichtig Repräsentant*innen diverser Milieus auf der pädagogischen Ebene sind, um verschiedene kulturelle Perspektiven einzubinden oder aber auch in ihrer Vorbildfunktion für junge Teilnehmende. Dies lässt sich möglicherweise generell auf die Organisationsebene übertragen, hier also auch auf die Zielgruppenansprache. Möglicherweise bedarf es der Türöffner, beispielsweise Repräsentant*innen verschiedener Milieus in Form spezifischer Medien oder Influencer*innen, um eine grundsätzliche Bereitschaft bzw. Interesse an einer Teilnahme sicherzustellen. Vorstellbar wäre auch die Einbindung unterschiedlicher Plattformen im Internet, die spezifische Gruppen ansprechen. Hieraus ergibt sich die Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung dieser Projekte.
Inhaltliche Konzeption
Welche Inhalte sollten bei einer milieuübergreifenden kulturellen Bildungspraxis im Vordergrund stehen? Vorausgehend wurde in der retroperspektivischen Betrachtung auf ein Leitprinzip der Kulturellen Bildung, die Lebensweltorientierung, referiert (Braun/Schorn 2012:132). Eine Anwendung dieses Prinzips würde innerhalb von milieuübergreifenden kulturellen Bildungskonzepten bedeuten, dass die kulturellen Lebenswelterfahrungen aller beteiligten Milieus innerhalb der Teilnehmenden aufgegriffen werden müssten.
Alternativ könnte auch eine thematische Aufgabe aus einem anderen Handlungsfeld, das auf ein gemeinsames Interesse der Teilnehmenden stößt, Ausgangspunkt für eine künstlerische Auseinandersetzung sein, beispielsweise das Thema Klimaschutz, (gesellschafts-)politische Positionen (Jahn/Roth 2020) oder eine jugendfreundliche Gestaltung des eigenen Lebensraums (El-Qasem 2021).
Denkbar wäre auch eine bewusste Loslösung von dem Aspekt der Lebensweltorientiertheit, vorstellbar in Form des Aufgreifens von künstlerischen Ausdrucksformen, die einem Großteil der beteiligten Milieus fremd sind, wie beispielsweise zeitgenössische Kunst und/oder Kunst aus nichtwestlichen kulturellen Kontexten.
Jenseits der Überlegungen, wie milieuübergreifende kulturelle Bildungskonzepte inhaltlich gestaltet werden können, stellt sich hier grundsätzlich die Frage, ob die Lebensweltorientiertheit in der heutigen stark fragmentierten Gesellschaft nicht kritisch zu hinterfragen ist? Und ob es nicht sinnvoller wäre, jungen Bevölkerungsgruppen alternative Lebensstile und Lebensweltkonzepte zu eröffnen, um ihnen Wahlmöglichkeiten an die Hand zu geben.
Fazit – Zur Notwendigkeit neuer milieuübergeifender Zugänge
Was spricht abschließend für eine Entwicklung und den Ausbau von milieuübergreifenden kulturellen Bildungskonzepten? Was können diese Konzepte leisten? Und was bedeuten sie perspektivisch für die Kulturelle Bildung?
Argumente für milieuübergreifende kulturelle Bildungsangebote
Die vorausgehende Betrachtung legt nahe, dass in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft milieuübergreifende kulturelle Bildungskonzepte eine wichtige Brückenfunktion für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt einnehmen können. Dies u.a. angesichts aktueller Phänomene wie dem Zeitalter des Postfaktischen, zunehmender Polarisierung und einer „Cancel Culture“-Kultur. Sie können im Besonderen dazu beitragen, dass sich einzelne Bevölkerungsgruppen, die sich sozial benachteiligt fühlen, sich aber nicht in der Form wie andere Gruppen im Zuge der Identitätspolitik organisieren und eine Beteiligung öffentlich einfordern, sich wieder stärker als akzeptierter Teil einer Gemeinschaft jenseits des eigenen Milieus erfahren.
Das Kennenlernen vielfältiger kultureller Milieus kann ein Hebel gegen die zunehmende Polarisierung in duale Schubladen wie „rechts-links“, „no-Covid“ versus „Corona-Verweigerer“ etc. sein. Milieuübergreifende Begegnungen können zugleich dazu beitragen bestehende Stereotype einzelner Milieus aufzubrechen und damit ebenfalls eine Grundlage bilden, Zuordnungen in Schubladen zu hinterfragen.
Sie können Verständnis für alternative Lebenswelten schaffen. Die Auseinandersetzung mit anderen Lebenswelten bietet zudem eine alternative Bewertungsgrundlage für die eigene Lebensgestaltung. Denn das Erkennen von Stärken und Schwächen einzelner Lebensweltbedingungen und das Wissen um alternative Lebensformen schaffen Wahloptionen und Gestaltungsfreiräume für die/den Einzelnen. Mit dem Wissen um Alternativen besteht die Chance, eigene Lebensbedingungen im besten Sinne zu gestalten und im Zuge kultureller Diversität weiterzuentwickeln.
Mit dieser Vielzahl an Argumenten für eine milieuübergreifende kulturelle Bildungsarbeit als Ort der Auseinandersetzung mit anderen Lebenswelten, wird das Leitprinzip der Lebensweltorientiertheit, das in der Vergangenheit unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen möglicherweise durchaus seine Berechtigung hatte, grundsätzlich in Frage gestellt. Innerhalb zwei- oder dreigeteilter Schichtmodelle, die Gesellschaftsstrukturen abbilden, kann es sinnvoll sein, die kulturellen Lebenswelten einer spezifischen Gruppe innerhalb der kulturellen Bildungsarbeit aufzugreifen, um so die gleichberechtigte kulturelle Perspektive dieser kulturellen Ausdrucksformen gegenüber anderen zu stärken. In einer Welt, in der es eine Vielfalt an unterschiedlichen Milieus gibt, die sich durch das Fokussieren auf spezifische kulturelle Lebensstile als Milieu manifestieren, sich dadurch auch bewusst von anderen Milieus abgrenzen und in Folge auch kaum mehr Berührungen zu anderen Milieus haben, kann es für eine Weiterentwicklung der/des Einzelnen nahezu unabdingbar sein, Alternativen zum eigenen milieuspezifischen Lebensstil kennenzulernen und so das Wissen um alternative Perspektiven zu erweitern. Dies wird umso wichtiger angesichts weiterer Faktoren, die eine Fragmentierung der Gesellschaft fördern; hier vor allem digitale Plattformen und Suchmaschinen, die mit Algorithmen operieren und so Selbstreferenzialität befördern und Filter Bubbles verstärken. In diesem Sinne könnten auch vorausgehend beschriebene Praktiken, wie Hip-Hop-Musikprojekte für Hauptschüler*innen oder klassische bzw. zeitgenössische Musikprojekte mit Gymnasiast*innen, kritisch als ein Verfestigen von kulturellen Unterschieden bewertet werden. Die künftige Aufgabe der Kulturellen Bildung könnte daher eher in der Umkehrung der Logik von kommerziellen Suchmaschinen liegen: Hier die Umkehrung des Prinzips „das könnte dir auch gefallen“.
Notwendige fachliche und strukturelle Veränderungen
In der Konsequenz bedarf es für einen Ausbau milieuspezifischer kultureller Bildungskonzepte einer intensiven fachlichen Auseinandersetzung mit kulturellen Ästhetiken und Praktiken der unterschiedlichen Milieus. Dabei stellt sich die durchaus kritische Frage: Welche milieuspezifischen kulturellen Ästhetiken und Praktiken werden aktuell innerhalb der Kulturellen Bildung aufgegriffen? Und damit eng verbunden: Aus welchen Milieus setzen sich aktuell schwerpunktmäßig die Pädagog*innen und Multiplikator*innen im Handlungsfeld der Kulturellen Bildung zusammen? Können hier möglicherweise Engführungen beobachtet werden, im Sinne der Über- oder Unterrepräsentanz spezifischer Milieus? Und wenn dies der Fall sein sollte, wie können hier Öffnungen erfolgen, im Sinne einer Weiterentwicklung des Handlungsfelds, einer stärkeren Heterogenität der Zusammensetzung von Multiplikator*innen, wie dies schon im Zuge der Repräsentanz von Menschen mit Migrationserfahrungen diskutiert worden ist? Entscheidend ist dabei auch, wie eine offene Haltung bezüglich der Milieuvielfalt und den damit verbundenen vielfältigen, kulturellen Ästhetiken gewährleistet werden kann? Hier ist insbesondere auch Forschung und Weiterbildung gefragt, entsprechende Grundlagen und didaktische Konzepte zu entwickeln.
Zur Etablierung milieuübergreifender kultureller Bildungsangebote bedarf es auf der formalen Ebene zunächst mehr Förderaktivitäten und Freiräume für nicht zielgruppenspezifische Projekte. Die aktuelle Förderpraxis von Programmen und Projekten ist sehr stark durch eine Zielgruppenkonzentration auf so genannte benachteiligte Gruppen wie z.B. junge Menschen mit formal niedrigen Schulbildungsabschlüssen oder mit Fluchthintergrund geprägt.
Umgekehrt existieren bei den infrastrukturell geförderten kulturellen Bildungsstrukturen diverse Barrieren, wie die Kenntnis über das freiwillige Aufsuchen der Orte oder die finanzielle Mitbeteiligung der Eltern im Zuge der Sicherstellung notwendiger Drittmittel, die in der Vergangenheit dazu führten, dass insbesondere die eben skizzierten benachteiligten Gruppen diese Angebote kaum wahrgenommen haben. Dies war letztlich das Hauptargument dafür, zusätzliche Programme und Projekte für benachteiligte Gruppen zu etablieren. Damit stellt sich eine grundsätzliche systemische Frage: Ist es unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen sinnvoll, unterschiedliche kulturelle Bildungsangebote für diverse Zielgruppen bereitzustellen? Oder wären hier Prinzipien der DDR-spezifischen Umsetzungspraxis von „Kultur für alle“ zielführender: also ein breites kulturelles Bildungsangebot für alle sicherzustellen durch kostenfreie Zugänge und Vernetzung mit Schulen, Betrieben oder beispielsweise stadtteilbezogenen Einrichtungen und unter Verzicht von spezifischen Programmen für spezifische Zielgruppen? In der Vergangenheit wurde dieser Gedanke einer Bürger- bzw. gemeinwohlorientierten Angebotsstruktur kulturpolitisch schon öfters diskutiert, hier in Form von Modellen, wie der kulturellen Grundversorgung (Scheytt 2003:11f.) oder der kulturellen Daseinsvorsorge (Fuchs 2004:3), unter anderem, um Kultur von einer freiwilligen zu einer kommunalen Pflichtaufgabe zu machen. In diesem Sinne stellt sich dann die Frage, ob es für die Sicherung der kulturellen Teilhabe künftig nicht effektiver wäre, flächendeckend infrastrukturell geförderte, kostenfreie kulturelle Bildungsangebote für alle zu implementieren und die Zugänge, beispielsweise durch Vernetzung, so zu gestalten, dass alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig ihres Hintergrunds, milieuübergreifend von diesen Angeboten profitieren und so eine „Kultur für alle mit allen!“ möglich wird.
„Die besten Entdeckungsreisen macht man, indem man die Welt mit anderen Augen betrachtet.“
Marcel Proust