Kreativer Tanz als „role model“ für inklusive Bildung!?
Abstract
Um Kindern und Jugendlichen in heterogenen Lerngruppen gerecht zu werden, sollte Unterricht so gestaltet sein, dass sich alle gemäß ihrer Voraussetzungen und Stärken in die Gruppe einbringen können, sodass sie gemeinsam lernen können. Dies mag in vielen Unterrichtszusammenhängen eine große Herausforderung sein. Im Rahmen des kreativen Tanzes ist das individualisierte Lernen Methode, ebenso wie das Ansetzen an den unterschiedlichen Wahrnehmungen, Vorstellungen, Empfindungen und Emotionen der Tänzer*innen. Durch die offene Arbeitsweise bietet der kreative Tanz besondere Möglichkeiten, unterschiedliche Bedürfnisse und Fähigkeiten in die pädagogisch-künstlerische Arbeit einzubeziehen (vgl. Quinten et al. 2014). Hierbei kann es auch von Nutzen sein, dass im kreativen Tanz häufig eine besondere Aufmerksamkeit auf Körperwahrnehmung und sensorische Prozesse gerichtet wird. Ausgehend von konkreten Unterrichtssituationen werden in dem Beitrag Potenziale des kreativen Tanzes für fähigkeitsgemischte Gruppen dargestellt und daran anknüpfend aufgezeigt, dass hier durchaus eine „inspiring practice“ (Lütje-Klose et al. 2017:10) für pädagogische Settings auch außerhalb von Tanz liegen kann.
Am Ende des Artikels lädt Verena Freytag dazu ein, in einer Folge ihrer Podcast-Reihe einem Gespräch mit der Choreografin und DanceAbility-Master-Lehrerin Maja Hehlen zu „Tanz und Inklusion“ zu folgen.
Einblick in die tanzpädagogische Praxis
Beispiel 1) Wir sind 25 Personen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlichen Fähigkeiten, die an dem Tanzworkshop teilnehmen. Einige haben schon relativ viel Tanzerfahrung, einige hatten bislang kaum Zugang zu Tanzimprovisation. Einige Teilnehmer*innen können sich nicht lange konzentrieren, zwei Personen haben das Downsyndrom, eine Teilnehmerin eine Autismus-Spektrum-Störung. Wir bewegen uns auf Anleitung des Workshopleiters zu einer Musik und lassen unsere Bewegungen jeweils durch unterschiedliche Körperteile anführen (z.B. Hand, Schulter, Knie, Fuß). Wir bewegen uns durcheinander im Raum, auf unterschiedlichen Ebenen und haben viel Zeit für Exploration. Ich bin auf mich konzentriert und schaue gleichzeitig nach den anderen. Alle sind beschäftigt und haben trotzdem Kontakt zueinander, durch Blicke, Begegnungen oder Berührungen. Jede Person löst die Aufgabe auf ihre Weise, kommt in Bewegung und Begegnung, manchmal zieht sich jemand aus der Gruppenimprovisation etwas heraus und schließt sich später wieder an. Immer wieder unterstützt eine Person eine andere, die Hilfe zu benötigen scheint, indem sie sie mit Berührungen oder auch nur einem gemeinsamen Bewegen begleitet. Alle sind auf ihre Weise bei der Sache.
Beispiel 2) Zwölf Personen haben sich im Raum verteilt. Einige liegen am Boden, einige sitzen auf einem Stuhl oder in einem Rollstuhl. Alle haben die Augen geschlossen. Die Workshopleiterin gibt folgende Impulse: „Richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Körper, auf die Empfindungen deines Körpers. Bewege eine zeitlang sanft einen Teil deines Körpers und komme dann wieder zur Ruhe, was auch immer Ruhe für dich bedeutet. Mit der Aufmerksamkeit auf deinen Körper verändere deine Körperhaltung. Verändere deine Körperhaltung in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Bewege dich nun so, wie du dich gerne bewegen möchtest (...).“ Alle Personen scheinen konzentriert und aufmerksam. Einige bewegen sich eher sanft und von außen kaum sichtbar, andere agieren in ihren Bewegungen kräftiger und raumgreifend. Einige bewegen ausschließlich die oberen Extremitäten, einige arbeiten mit ihrem ganzen Körper. Die Formulierung „was auch immer Ruhe für dich bedeutet“ lässt mich aufhorchen. Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, was Ruhe für mich bedeutet und dass es für eine andere Person vielleicht etwas anderes bedeuten könnte.
Beide Situationen sind Beispiele für kreativen Tanz in fähigkeitsgemischten Gruppen. In dem ersten Beispiel konnten alle Personen an der gemeinsamen Improvisation teilhaben. Personen, die die Aufgabenstellung der Leiterin nicht direkt verstehen und umsetzen konnten, wurden durch die Bewegungen der anderen oder durch begleitende Bewegungen oder taktile Unterstützung mitgenommen. Sie konnten sich an der Gruppe orientieren, sich begleiten lassen. Sie hatten aber auch die Möglichkeit in der Gruppe einzutauchen, sich nach eigenen Bewegungsimpulsen zu bewegen, ohne damit aus der Gruppe zu fallen oder in irgendeiner Weise exponiert zu sein. Hilfreich war dabei ein durch die Aufgabe gesetzter Rahmen und die visuelle oder taktile Unterstützung aller Teilnehmer*innen. Dabei gab es genügend Freiräume, sich nach den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten zu bewegen und auch die Möglichkeit, aus der Improvisation auszusteigen und sich für einige Zeit zurückzuziehen. Diese Aushandlungsprozesse haben sich nonverbal über Körperbewegungen, über Bewegungsimpulse vollzogen, über ein gemeinsames Agieren und Reagieren auf nichtsprachlicher Ebene. Im Sinne von Susanne Quinten (2018) könnte man von gelungenen sozial-interaktionalen Teilhabeformen sprechen. „Das Interesse am Anderen, die gleichwertige Anerkennung des Anderen und vor allem die Bereitschaft, auf Ideen und auf Handlungen der Interaktionspartner*innen Resonanz entstehen zu lassen und für andere wahrnehmbar zu reagieren, sind die Grundlage für soziale Teilhabe“ (ebd.:149). Quinten unterscheidet im Kontext von Inklusion und Tanz drei teils unterschiedliche, teils ineinandergreifende nonverbale Aushandlungsformen:
- eine kreativ-gestalterische,
- eine basale und
- eine emphatische Teilhabemodalität (ebd.:147).
Eine kreativ-gestalterisch Teilhabemodalität ist zum Beispiel dann zu erkennen, wenn nonverbale Aushandlungsprozesse in Improvisationen ablaufen, in dem Tanzende eigene Bewegungsimpulse einbringen oder auf die der anderen reagieren. Unter basaler Teilhabemodalität versteht Quinten Austauschprozesse, die auf „körperlichen, oft multisensorischen Stimulationen, Wahrnehmungen und Dialogen, wie sie im Blickkontakt, in Körperberührungen, Geräuschen und Vibrationen vermittelt werden“ (ebd.:148) bestehen. Drittens meint eine empathisch-verstehende Form der Teilhabe das Verstehen der Mittanzenden über kinästhetische Einfühlung. Alle drei Teilhabemodalitäten sind meiner Ansicht nach in den beschriebenen Beispielen zu beobachten.
Das zweite Beispiel ist ein Auszug aus dem insgesamt über zehn Minuten dauernden Aufwärmrituals im Rahmen der DanceAbility-Methode. Wie in so genannten Körperarbeitstechniken wie Feldenkrais oder Body-Mind-Centering wird die Aufmerksamkeit auf die Empfindungen und Wahrnehmungen des Körpers gelenkt. Einige Personen der Gruppe nutzten einen Rollstuhl. Sie wurden angeregt, sich ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprechend zu bewegen. Durch Formulierungen wie „Verändere deine Körperhaltung in verschiedenen Geschwindigkeiten“ war es allen Personen möglich teilzuhaben, auch wenn sie eine Bewegungshilfe nutzten oder ihre Beine nur eingeschränkt mobilisieren konnten. Jede Person konnte ihre Haltung variieren und sei es auch in einem noch so kleinen und vielleicht äußerlich kaum sichtbaren Rahmen. Gleiches gilt für den Wechsel der Tempi. Die Formulierung „... was immer Ruhe für dich bedeutet“, eröffnete unterschiedliche Interpretationen des Begriffs Ruhe. Für eine Person bedeutet Ruhe vielleicht ein Verweilen in einer liegenden Position, für eine andere Person mit einem starken Tonus vielleicht ein zügiges Gehen durch den Raum. Überzeugend sind an diesem Beispiel unter anderem die präzisen Formulierungen, durch die jederzeit alle Personen einbezogen werden. Es zeigt sich hier die Bedeutung von genauen und inkludierenden Formulierungen sowie die Eröffnung von Interpretationsspielräumen durch Aufgabenstellungen.
Methoden im fähigkeitsgemischten kreativen Tanz
Grundsätzlich unterscheidet sich die Vermittlung des kreativen Tanzes in fähigkeitsgemischten Gruppen kaum von Methoden in weniger diversen Gruppen (vgl. Dinold 2012; Quinten 2014; Zitomer 2016; Albert 2018; Quinten/ Bilitza 2022). Kreativer Tanz, der mit der Methode der Tanzimprovisation arbeitet, ist der Anlage nach inklusiv und integriert Ideen der musisch-rhythmischen Erziehung, der ästhetischen Erziehung und den Ideen des postmodernen Tanzes. In allen Ansätzen geht es darum, über Exploration und Improvisation Menschen anzuregen, ihre individuellen Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln. Wegweisend für den inklusiven Tanz aus tanzkünstlerischer Perspektive waren die Ideen des postmodernen Tanzes und der Kontaktimprovisation der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Novak 1990). In der durch Steve Paxton geprägten Kontaktimprovisation wurde eine Bewegungs- und Tanzform entwickelt, die sich bewusst von den hierarchischen Strukturen in Tanzkompanien und technischer Perfektion abhob. Paxton etablierte Alltagsbewegungen in seine Stücke wie Gehen, Fallen und Stehen. Inhalte und Arbeitsstil eröffneten ein gleichberechtigtes Agieren aller Tänzerinnen und Tänzer. Die hier entwickelten Ideen bilden auch aus der heutigen Perspektive eine Grundlage für den fähigkeitsgemischten, zeitgenössischen Tanz. Zusammengefasst geht es um die einzigartigen Bewegungsmöglichkeiten jedes Individuums, Aufmerksamkeit für körperliche Empfindungen, die Exploration und den kreativen Einsatz von individuellem Bewegungsmaterial durch Improvisation, Tanz als Ausdruck von Persönlichkeit und Einbeziehung von Normalität/ Alltäglichem (vgl. Kaltenbrunner 1998). Auf der Basis der Kontaktimprovisation entwickelten Alito Alessi und andere bereits um 1987 die so genannte DanceAbility-Methode. Die Methode kann damit als erste, explizit auf hoch heterogene Gruppen ausgerichtete Tanzmethodik bezeichnet werden. Mit einer Reihe von festgelegten (aber in Abhängigkeit von den Voraussetzungen der Teilnehmemenden immer modifizierten) Übungen versteht sich DanceAbility als eine Methode, die das gemeinsame Tanzen von allen Menschen ermöglicht und die besondere Bewegungssprache einer jeden Person als Quelle künstlerischer Erfahrung und Gestaltung schätzt (vgl. Alessi/Zolbrod 2003). Die Improvisation gilt als gemeinsames Experimentierfeld, in dem Anfänger und Profis, Menschen mit unterschiedlichen Bewegungsmöglichkeiten mit- und voneinander lernen. Die unterschiedlichen körperlichen, sensomotorischen, kognitiven, emotionalen oder biografischen Fähigkeiten und Zugänge gelten hier als Quelle für kreatives, kollaboratives Arbeiten. Die DanceAbility-Methode arbeitet mit Prinzipien wie Modifikation und Relativität immer unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten der Gruppenmitglieder (ebd.). Ein Schwerpunkt der DanceAbility-Methode liegt beispielsweise darin, die physischen Möglichkeiten einer Gruppe in ihrer Gesamtheit zu identifizieren. Alessi und Zolbrod sprechen von „common demoniators“. Vorgegebene (Improvisations-)Übungen, können entsprechend modifiziert mit jeder fähigkeitsgemischten Gruppe durchgeführt werden: „One example is an exercise for pairs in which they create a movement dialogue. Each person takes turns improvising a movement action, which is followed by a response from the partner - back and forth, listening and making movement statements. Another example is improvising with time in small groups, each person can choose to move either quickly or slowly, or to be still at any given moment” (Alessi/Zolbrod 2003:58).
Forschung zur Anleitung fähigkeitsgemischter, tanzkünstlerischer Gruppen
In einschlägiger Fachliteratur der tänzerisch-inklusiven Kulturarbeit finden sich zahlreiche Gelingensbedingungen für Tanzvermittlung in heterogenen Gruppen (vgl. z.B. Elin/Boswell 2004; Quinten 2014; Seham/Yeo 2015; Zitomer 2016; Chyle-Silvestri/Nestler 2023). Hierzu zählen beispielsweise:
- wertschätzender Umgang mit Fähigkeiten und Besonderheiten der Teilnehmer*innen,
- eine positive Grundhaltung zu Inklusion,
- die Verwendung inkludierender, einfacher Sprache,
- Einbeziehung muli-sensorischer Zugänge,
- sensorischer Unterstützungen (z.B. tastbare Bodenmarkierungen als Orientierungshilfen),
- Unterstützung von Helfer*innen,
- ritualisierte Abläufe.
Susanne Quinten und Mia Bilitza (2022) bestätigen in ihren forschungsbasiert entwickelten Tools für die Anleitung fähigkeitsgemischter, tanzkünstlerisch arbeitenden Gruppen die Befunde und betonen, dass Aufgaben prinzipiell multi-modal und multi-sensorisch vermittelt und entsprechend der Bedürfnisse der Gruppe modifiziert werden sollten.
Michelle R. Zitomer (2016) hat in ihrer qualitativen Studie nach dem Vorgehen von Lehrkräften im Tanz an kanadischen Grundschulen in fähigkeitsgemischten Gruppen gefragt. Als sechs zentrale Kategorien konnte sie die Wertschätzung von Einzigartigkeit, die Herstellung von unterstützenden Beziehungen, pädagogische Aufmerksamkeit, Einbeziehung der Bedürfnisse der Kinder, Verantwortung lernen, keine reduzierten Ansprüche identifizieren. Zitomer stellt heraus, dass die von ihr befragten Tanz unterrichtenden Lehrkräfte Disablity als eine andere Form von Ability betrachten. Der Blick richtet sich hier nicht auf die Defizite nach dem Motto, was geht nicht, was muss ich verändern etc., sondern was gewinne ich, was gewinnt der Unterricht, die Schüler aus der vermeintlichen Disabilität. Auch wenn die Lehrkräfte verschiedene Tanzstile nutzen, sehen sie vor allem in kreativen Ansätzen eine gute Möglichkeit, Inklusion umzusetzen. Kinder erhalten über kreativen Tanz die Möglichkeit, ihren eigenen Ausdruck zu finden und Bewegungsfreiheit zu erfahren: „(...) ask them to move like a leaf across the floor, but they are all moving in different ways, that is creative dance.“ (ebd.:6). Im Gegensatz zu Befunden sportpädagogischer Forschung, in denen Lehrer*innen im inklusiven Sportunterricht von einer größeren Belastung (workload) berichten (Morley et al. 2005), konnte Zitomer dies für ihre Studie nicht bestätigen.
Als ein wichtiger Faktor wird immer wieder die Verwendung von Sprache in inklusiven tanzpädagogischen Settings beschrieben. Beispielsweise schlagen Jane Elin und Boni Boswell (2004) vor, auf Instruktionen wie „gehen“ zu verzichten, sondern Umschreibungen wie „sich in einem entspannten Tempo fortbewegen“ zu wählen. Eine selbstverständlich erscheinende Formulierung wie „stehe gerade“ ändert sich dann in „finde eine Position, die dir das Gefühl von Länge ermöglicht“. Außer auf eher allgemein gehaltenen Prinzipien und den Gebrauch von Sprache werden in der tanzpädagogischen Literatur im Kontext von Inklusion Empfehlungen formuliert, die sich an speziellen Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer orientieren. So ist es beispielsweise für Personen, die weniger gut hören können, hilfreich, klar und eindeutig Bewegungsideen zu demonstrieren oder Zeichen für bestimmte wiederkehrende Formulierungen zu finden. Sehbeeinträchtigten Personen kann es helfen, wenn über taktil fühlbare Fußbodenmarkierungen im Raum Orientierungen gegeben werden.
Hilfreich ist eine Erweiterung der Vermittlungsformen im Hinblick auf taktile und körperliche Begleitung, mündliche Beschreibungen und Partnerarbeit, bei der blinde und nicht-sehbeeinträchtigte Personen zusammenarbeiten (Seham/Yeo 2015). Jenny Seham und Anna J. Yeo beschreiben außerdem den Nutzen von Körperarbeitstechniken wie Feldenkrais, durch die eine besondere Aufmerksamkeit auf Körperempfindungen und sensorische Abläufe gelenkt werde (ebd.). Auf die besonderen Kommunikationsstrukturen verweisen auch Fabian Chyle-Silvestri und Ulrike Nestler (2023) im Rahmen einer qualitativen Studie, in der sie nach kontextuellen Bedingungen von fähigkeitsgemischten Ensembles fragen (siehe: Fabian Chyle-Silvestri und Ulrike Nestler „Move2gether! – Spezifika von fähigkeitsgemischten Tanzensembles in Praxis und Forschung. Eine qualitative Studie"). Auch wenn es hier in erster Linie um die Arbeit von Bühnentanzensembles und nicht um primär pädagogische Kontexte geht, lassen sich die Ergebnisse vergleichen. Als ein Ergebnis ihrer Interviewstudie benennen sie beispielsweise die Kommunikationsstrukturen, die Teilhabe eröffnen oder aber auch verhindern können. Hiernach gelingt Kommunikation in fähigkeitsgemischten Tanzensembles „z.B. in der Einbeziehung von Gebärdendolmetscher*innen, dem aktiven Einbinden von Menschen mit Behinderungen ins Gespräch und dem lebendigen Wechsel zwischen Nachfragen, Aussetzen und Zurücknehmen als prägnante Kommunikationsstrategien. Kommunikationsstrukturen, die Teilhabe ermöglichen, denken die Logik und Zeitlichkeit aller Anwesenden in der Kommunikation mit und sind geprägt durch Übersetzungsprozesse“ (Chyle-Silvestri/Nestler 2023).
Fachdidaktische Impulse
Was heißt das nun konkret? Letztlich sind viele Themen, Inhalte, Aufgaben aus dem kreativen Tanz für fähigkeitsgemischte Gruppen geeignet. Die Aufgaben sollten dabei beispielsweise in den Formulierungen so angepasst werden, dass sie nicht exkludieren. Die folgenden Beispiele akzentuieren vor allem das Prinzip der Relativität und wollen Teilnehmer*innen die Möglichkeit geben, die Aufgaben je nach ihren Voraussetzungen und Bewegungsmöglichkeit zu interpretieren. Die Aufgabenbeispiele (einige davon habe ich im Rahmen eines DanceAbility-Workshops kennengelernt) sind anhand der Parameter Zeit, Raum, Partner/Gruppe strukturiert. Sie sollen an dieser Stelle nur einen beispielhaften Einblick geben.
Zeit
- Bewege dich in einem für dich passenden Tempo durch den Raum.
- Verändere deine Körperhaltung und wähle dafür unterschiedliche Geschwindigkeiten.
- Improvisiert in der Gruppe mit verschiedenen Tempi (langsam, schnell, mittel und Freeze). Bewege dich langsam, wenn sich viele andere in der Gruppe schnell bewegen und umgekehrt. Achtet darauf, dass in eurer Gruppenimprovisation alle Tempi berücksichtigt werden.
Raum
- Geht zu dritt zusammen. Person A bewegt sich zu einer beliebigen Stelle im Raum und nimmt dort eine beliebige Position ein. Person B folgt, sobald A in ihrer Pose ist und bewegt sich auf ihre Weise an den Ort und nimmt eine andere Position ein. Person C folgt ebenfalls mit einer eigenen Fortbewegungsart und einer eigenen Position. Das Gruppenbild wird einen Moment gehalten, bis sich Person A wieder eine neue Stelle im Raum sucht usw.
- Drei Personen bewegen sich durch den Raum und halten (auch wenn sie weit voneinander entfernt sind) Kontakt. Sie bewegen sich dabei auf verschiedenen Ebenen (hoch, mittel, tief). Wenn eine Person die Ebene wechselt, wechseln auch die anderen, sodass alle Ebenen genutzt werden. Dabei ist es wichtig zunächst zu klären, wo die jeweilige Ebene für die Personen liegen. Bewegt sich beispielsweise eine Person im Rollstuhl, bedeutet „hoch“ für sie etwas Anderes als für eine Person, die sich nicht im Rollstuhl bewegt.
Partner/Gruppe
- Partnerarbeit: eine Person gibt eine Bewegung vor (das kann eine sehr kleine Bewegung sein, wie den Arm heben, oder den Kopf zur Seite neigen oder auch eine große Bewegung wie ein Sprung oder eine Drehung). Die andere imitiert diese Bewegung nicht, sondern interpretiert die Bewegung auf ihre Art. Eine Ganzkörperdrehung kann dann zum Beispiel zu einer Drehung im Handgelenk werden. Ein Sprung zu einem Blick nach oben. Es kann sich aber auch umgekehrt aus einer kleinen Ausgangsbewegung (z.B. Blick nach oben) eine längere Aufwärtsbewegung (z.B. vom Boden in den Stand) entwickeln. Als „stille Post“ können die Bewegungen auch in einer Gruppe von Person zu Person weitergegeben werden und sich jeweils verändern.
- s.o. als Aktion und Reaktion: A gibt eine Bewegung/ Pose vor, B reagiert mit einer eigenen Bewegung/ Pose
- Partnerarbeit „Puppe“: eine Person geht in eine ihr angenehme Position (auch z.B. sitzend auf einem Stuhl oder einem Rollstuhl oder liegend), die andere Person verändert die Position nach und nach wie bei einer Puppe (z.B. wird die Stellung der Hand verändert, des Kopfes, des Rumpfes). Die Veränderungen können taktil, verbal oder auch nur durch einen Blick angezeigt werden. Nach einer Zeit wechseln die Rollen.
Potenziale für Schul- und Unterrichtsentwicklung
Kreativer Tanz hat durch die offen angelegten Aufgaben hohes Potential für fähigkeitsgemischte Gruppen. Die häufig angemahnte „Abkehr vom Gleichschritt“ (Geist 2017:277) muss hier nicht erst hergestellt werden, sondern ist bereits Methode (wobei es natürlich in der konkreten Unterrichtspraxis immer darauf ankommt, wie gearbeitet wird). Offene, an den Voraussetzungen, Erfahrungen und Potenzialen der Teilnehmer*innen ansetzende Lernformen und eine Aufgabenkultur, die Einzelne mitnimmt und gleichzeitig partizipative Prozesse eröffnet, kann im kreativen Tanz ermöglicht werden. Eine besondere Berücksichtigung von Differenzierungen und Schülerorientierung ist daher in der kreativen Tanzerziehung eigentlich kaum nötig. Bewegungs- bzw. Improvisationsaufgaben werden in der Regel so formuliert, dass sie für alle zu lösen sind. Grundsätzlich arbeitet man hier mit dem, was die Menschen mitbringen und greift dies in der pädagogischen wie auch tanzkünstlerischen Arbeit auf. Dabei wird in der Literatur immer wieder das Vertrauen der anleitenden Personen in die Fähigkeiten und Potentiale der Teilnehmenden hervorgehoben (vgl. Quinten et al. 2014).
In Bezug auf eine inklusive Schulentwicklung könnte hier eine anschlussfähige Stellschraube liegen. Auch wenn sich Prinzipien einer inklusiven kreativen Tanzvermittlung sicher nicht eins zu eins auf andere Bewegungsfelder oder Schulfächer übertragen lassen, können einige der vorab aufgezeigten Aspekte Impulse für andere Fächer bieten und Passungen zu einer inklusiven Unterrichts- und Schulentwicklung aufzeigen (siehe: Susanne Quinten und Maike Cigelski (2021) „Allgemeine Leitlinien für die Anleitung künstlerisch-kreativer Tools in der inklusiven Kulturarbeit"). „Bewegung als Querschnittsaufgabe“ (Laging 2013:213) könnte sich spezifizieren zum kreativen Tanz als „role model“ für inklusives Lernen. Es kann dabei schon viel gewonnen sein, wenn entsprechende Prinzipien mitgedacht und einbezogen werden. Also wenn beispielsweise Aufgabenstellungen eben nicht grundsätzlich nach Fähigkeiten differenzieren, sondern umgekehrt Aufgaben so formuliert werden, dass sie für alle zu lösen ist. Oder wenn ähnlich dem Prinzip der Relativität aus der DanceAbility-Methode berücksichtigt wird, dass vermeintlich selbstverständliche Begriffe wie Spannung oder Schnelligkeit für Kinder eine unterschiedliche Bedeutung haben können. Wenn ein bewusster und sensibler Umgang mit Sprache dazu führt, dass sie nicht exkludiert, sondern zu jeder Zeit alle Schüler*innen einbezieht. Hierfür bietet die kreative Tanzerziehung – wie dargestellt – vielfältige Beispiele. Auch die im Sport häufig dominierenden Orientierungen an Leistungsstandards und ästhetischen Normen können im kreativen Spiel mit Körper und Bewegung hinterfragt werden und dazu beitragen, Vorurteile wie Hemmschwellen herabzusetzen.
Der kreative Tanz kann zusammengefasst bezogen auf den Unterricht in fähigkeitsgemischten Gruppen ein geeignetes Experimentierfeld bieten, eben weil dort eine differenzierte verbale und nonverbale Kommunikation probiert wird, weil ästhetisch-gestalterische Prozesse in der Gruppen dann funktionieren, wenn alle jederzeit teilhaben können und weil Differenz im Tanz kein Problem von Unterricht, sondern Quelle von Kreativität ist. Aufgrund der hohen Passung des kreativen Tanzes in der Arbeit mit hoch heterogenen Gruppen wäre es aus Perspektive tanzpädagogischer Forschung interessant zu erproben, inwiefern kreativer Tanz z.B. anhand der DanceAbility-Methode, Einfluss auf Kommunikations- und Unterrichtsprozesse in anderen schulischen Feldern haben kann.
Zum Nachhören: „Tanz und Inklusion" (2020)
Verena Freytag im Gespräch mit der Choreografin und DanceAbility-Master-Lehrerin Maja Hehlen in ihrer Podcast-Reihe „Moment - Aufnahme"
In dem Interview gibt die Choreografin und DanceAbility-Master-Lehrerin Maja Hehlen Einblick in die DanceAbility-Methode. Die DanceAbility-Methode wurde Ende der 1980er Jahre u.a. von Alito Alessi auf der Grundlage der Kontaktimprovisation begründet und versteht sich als eine differenzierte und präzise Methode für das Unterrichten in fähigkeitsgemischten Tanzgruppen.
Maja Hehlen ist lic.-phil. Psychologin, Psychotherapeutin, DanceAbility Master Teacherin und Choreografin. Sie ist Leiterin der inklusiven Tanzgruppe "Ensemble BewegGrund Trier". Das Ensemble ist ein offenes und barrierefreies Tanzensemble und besteht seit 2000. Maja Hehlen ist seit 2015 zertifizierte Master Teacherin DanceAbility und gibt zahlreiche Weiterbildung in der DanceAbility-Methode. Sie unterrichtet außerdem als Lehrbeauftragte an der Universität Kassel im Bereich Tanz und Inklusion.