Klassismus und Kulturelle Bildung im Kapitalismus. Ansichten eines Critical Friends aus postsozialistischer Perspektive

Artikel-Metadaten

von Antje Winkler

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

Der Text ist eine Re-Lektüre des kubi-online Dossiers Klassismus und Kulturelle Bildung. Aus Perspektive eines Critical Friends ostdeutscher Prägung werden die bis Ende 2023 erschienen Dossiertexte aus postsozialistischer und ostdeutscher Perspektive neu gelesen. Damit wird eine bisherige Leerstelle des Dossiers gefüllt. Zentral ist die Beschäftigung mit den Texten des Segments »Theorie und Diskurs« und die Reflexion der Fragen: Was bedeutet Klassismus in Ostdeutschland? Warum dominiert nach über 30 Jahren sogenannter Wiedervereinigung immer noch ein westdeutsches Paradigma und wie könnte dieses paradigmatische Verhältnis zum neuen Aufgabenfeld einer Kulturellen Bildung für alle werden?

Intro

Klassismus kommt von Klasse. Kapitalistische Klassenverhältnisse gründen sich im Kern auf diejenigen, „[…] die Produktionsmittel besitzen und [auf jenen], die nichts besitzen. Damit ist Armut nicht einfach ein Resultat aus der Unterdrückung oder Diskriminierung der Arbeiter*innenklasse im Kapitalismus, sondern die Voraussetzung dafür, dass die Arbeiter*innenklasse als solche überhaupt existiert“ (Sarbo 2023). In Zeiten, in denen sich Armutsverhältnisse nicht nur weltweit, sondern auch in der BRD virulent verschärfen und mit anderen Diskriminierungskategorien verschränken, – die Reichen in Deutschland noch reicher sind als gedacht (vgl. Friedrich 2024; Ahmed et al. 2024), Etatkürzungen in der kulturellen politischen Bildung angedroht werden (vgl. Bundestag 2023), Kinder im Durchschnitt öfter von Armut betroffen sind (vgl. Seils 2022; Klundt 2023) und Sorgen um Vielfachkrisen (vgl. Demirovic et. al 2011), Klima und gesellschaftlichen Zusammenhalt besonders Einsame, Alleinerziehende, Arme oder Junge beeinträchtigen (vgl. Kunzler et. al 2021) – in diesen Zeiten sollten kapitalistische Klassenverhältnisse, Ungleichverteilung von Reichtum ebenso wie die eigene Haltung und die Gestaltung solidarischer Prozesse in der Kulturellen Bildung kritisch analysiert und reflektiert werden.

Das zur Disposition gestellte kubi-online Dossier Klassismus und Kulturelle Bildung, das ich hier als Critical Friend einer Re-Lektüre unterziehe, verhandelt den Begriff Klassismus mit Seeck (2023) als Diskriminierung ob der „Klassenpositionen und Klassenherkunft“ in der Kulturellen Bildung (vgl. Intro der Herausgeber*innen). Klassismus wird als systemische Analysekategorie von (re-)produzierten Ungleichverhältnissen in Kunst-/Kultur- und Bildungsbetrieben gelesen, die ökonomischen Klassenbeziehungen ebenso wie biografische Auf- und Abstiegserzählungen berücksichtigt (ebd.). Aus Perspektive einer ostdeutsch sozialisierten Person kommt dabei jedoch eine genaue Betrachtung der Klassentheorie von Marx bzw. die kritische Analyse des Sozialismus-Projekts der DDR und anderer Ostblockländer zu kurz.

Böte nicht der potenzialorientierte Blick auf künstlerisch-kulturelle Praktiken und Erfahrungen postsozialistischer Prägung die Möglichkeit, sich einmal mehr auf bekannte – und inspirierende – Beispiele zu beziehen, ihnen eine Renaissance oder Aktualisierung zu gestatten? Der Terminus postsozialistisch verweist zunächst auf die Länder des östlichen Europas, die im 20. Jahrhundert unter kommunistischen Regierungen standen; zu untersuchen gilt, inwiefern was von ihnen zeithistorisch, politisch, kulturell zu lernen wäre.

Critical Friend & Ostdeutsch

Im vorliegenden Text beziehe ich mich verstärkt auf jene Texte des Dossiers, die sich mit dem Diskurs zu Klassismus und Kultureller Bildung beschäftigen. Dies sind im Einzelnen der Text von Stefanie Kiwi Menrath (2023) über Zugang als Problem der Kulturellen Bildung; das von Justine Donner mit Francis Seeck und Yasmina Bellounar geführte Gespräch über Macht und Klassenbewusstsein Seeck/Bellounar (2023) und die kritische Auseinandersetzung mit Kulturellen Bildungskonzepten von Jan Niggemann (2023). Gleichwohl fließen in die Betrachtung bis Ende 2023 erschiene Texte des Dossiers ein, die mit Blick auf meine Lesart und Argumentation hervorstechen.

In gewisser Hinsicht halfen mir alle Dossiertexte, meine kritische Stimme zu entwickeln: Dieser Text ist auch ein erster Versuch, mich selbst als Ostdeutsche ernst zu nehmen. Mit Bezug auf Steffen Mau (2020) sei vorausgeschickt, dass es Frakturen gibt, die ein Leben lang bleiben; sie haben die Wucht, Generationen zu überdauern. Insofern handelt der Beitrag vom Sortieren von Brüchigem, dem Aushalten von Gefühlslagen eines Lost-Seins, das heißt eines Verloren-Seins, aber auch von der Erkenntnissuche ob der eigenen Herkunft. Schlichte Stereotypisierung – der Osten sei braun, dumm, kulturell abgehängt und autoritär – haben mich geprägt und bedingen Gefühle von Scham, Trauer, Verunsicherung und Nicht-Abgeschlossenem. Klischees, die der DDR und Ostdeutschland zugeschrieben werden, verknappen die Gegenwart und dienen hegemonialen Verhältnissen. Somit stellt sich die Frage, inwiefern Klassismus in der Kulturellen Bildung postsozialistisch überwunden werden könnte.

Klassismus und Ostdeutschland

Mittlerweile hat sich Klassismus in Ostdeutschland in den strukturellen Unterschieden intersektional manifestiert, die auch nach 35 Jahren Wiedervereinigung nicht aufgehoben sind. Ostdeutsche erleben sich als Menschen zweiter Klasse (vgl. u.a. infratest dimap 2019; Bundesregierung 2020), erhalten nach wie vor weniger Rente und sind mehrheitlich deutlich öfter von Armut betroffen. Nach Angaben des Paritätischen Armutsberichts (2022) liegt die Armutsquote 2021 in Ostdeutschland bei 18%, im Vergleich dazu liegt die Quote in Westdeutschland bei 16,7%. Finanzielle Armut betrifft Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sowie mit und ohne Erwerbsarbeit, und die Kluft zu einkommensstarken bzw. reichen Menschen wächst unter den Auswirkungen der Inflation zunehmend. Laut eines taz-Artikels trifft sie Menschen in Ostdeutschland besonders (vgl. Wiemann 2023).

Klassistische Kontinuitäten in Ostdeutschland lassen sich aber auch und bereits in der DDR aufzeigen. So konnten Menschen mittels des sog. Asozialenparagraphs §249 des Strafgesetzbuchs der DDR (vgl. Wikipedia-Eintrag §249 StGB der DDR) bis 1988 strafrechtlich verfolgt werden (vgl. Seeck 2012 und nd 2023). Weiterführende Studien liegen noch nicht vor.

Klassismus besteht in Ostdeutschland sowohl auf struktureller Ebene als auch auf kultureller Ebene: sei es in Form von brüchigen Erwerbsbiografien, Langzeitarbeitslosigkeit, fehlenden Erbschaften, geringeren Renten oder der Besetzung von Leitungspositionen mit Westdeutschen – auch und besonders an Hochschulen (vgl. Roessler 2018). Dazu kommen die ausbleibende Anerkennung bestimmter Wissensbestände und deren Erhalt, eine relevante Rezeption von Kunst, Kultur, Film, Ökonomie, Pädagogik sowie kultureller Praktiken oder Institutionen (vgl. u.a. Dieckmann 2023; Mandel/Wolf 2020). Diese Praktiken der Abwertung und Unsichtbarmachung werden auf individueller Ebene in Form von spezifischen Vorurteilen über den Osten und die Ostdeutschen ergänzt.

In Rückgriff auf die Studie „Ost-migrantische Analogien“ (Foroutan et al. 2019) des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM-Institut) lassen sich zudem ähnliche Stereotypisierung gegenüber Ostdeutschen und Muslim*innen beobachten. Die Studie untersuchte Ähnlichkeiten hinsichtlich einer symbolischen Abwertung dieser beiden Gruppen. Im Gesamtfazit der makrosoziologischen Studie, die Daten anhand von 7233 Telefoninterviews empirisch erhoben hat, heißt es: „Ostdeutsche sind mit ähnlichen Abwertungen konfrontiert wie Muslim*innen. Westdeutsche werfen beiden Gruppen vor: sich zum Opfer zu stilisieren, sich nicht genug vom Extremismus zu distanzieren und noch nicht im heutigen Deutschland angekommen zu sein, womit beide Gruppen stereotypisiert und migrantisiert werden“ (Foroutan et al. 2019:37). Naika Foroutan, Leiterin des DeZIM-Instituts, schlussfolgert in einem Deutschlandfunk-Interview (DLF 2019), dass die abwertenden Erklärprämissen in Bezug auf die Stereotypisierenden weiterführend geprüft werden sollten, da es vordergründig westdeutsche Prämissen sind. Nach Foroutan dominiert ein „westdeutsches Normalitätsparadigma“ insofern, als dass die Anderen – z.B. Ostdeutsche, Muslim*innen, Migrant*innen – nur über „Abweichungen“ in gesellschaftliche Beziehungsweisen mitgedacht werden (ebd.).

Demnach braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Perspektiven- und Paradigmenwechsel, um intersektionalen Klassismus in der Kulturellen Bildung sowie im Klassenzimmer zu bearbeiten.

Re-Lektüre des Klassismus-Dossiers

Fluchtlinien und Fährnisse

Im vorliegenden Dossier werden Definitionen, Fluchtlinien und Fährnisse – also Risiken – von Kultureller Bildung besprochen. Um die Thematik zu erweitern, unterstreichen biografie- und kulturspezifische Beschreibungen das Ausmaß von Klassismus in (kulturellen) Bildungskontexten. Klassismus und seine Verhältnismäßigkeiten sind konsequenter Dreh- und Angelpunkt. So schreibt Niggemann (2023): „Kultur ist ein ausgehandelter Prozess, an dem Gruppen ungleich beteiligt sind.” Mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu sieht er feine Unterscheidungen als festgestellte Konstanten sozial konstruiert, eingeübt und somit „verkörpert und gelebt – mit- und gegeneinander” (ebd.). Demnach ist Kultur im Körpergedächtnis eingeschrieben und kann als praktisches Wissen auch über Gesten, die von Unterdrückenden ausgehen, verstanden werden (vgl. dazu auch Buchner/Köpfner 2022). Diese negativen Prägungen gilt es mit Niggemann in ihrer „Tragweite und Komplexität des Othering“ (ebd.) zu verstehen, bearbeitbar zu machen und emanzipatorisch in solidarische Beziehungsweisen aufzuspalten, wie dies an anderen Stellen des Dossiers vollzogen wird (vgl. dazu Praktiken des Schreibens und des Performativen bei Aumair 2023 und Findeisen/Dreßler 2023).

Ähnliches wird auch in den beiden anderen Diskurstexten gefordert. Im Interview mit Yasmina Bellounar und Justine Donner konstatiert Francis Seeck, dass es sich bei Klassismus um „Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder der aktuellen Klassenposition“ handelt (vgl. Seeck/Bellounar 2023). Eine Definition, die für den deutschsprachigen Raum von Menrath um die Definition von Kemper/Weinbach (2007) erweitert wird (vgl. Menrath 2023). Deren Begriffsarbeit beruft sich wiederum auf US-amerikanische Begriffskonzeptionen und geht somit über die soziologische Theorietradition zu Klasse hinaus: Neben der Marx‘schen ökonomischen Definition wird hier auch die kulturelle Dimension fokussiert. Damit verweist Menrath zwar auf die Bedeutung von „ökonomische[r] Stellung im Produktionsprozess“, rückt aber „die kulturellen Ab-/Anerkennungsprozesse“ (ebd.) in den Fokus von Klassenverhältnissen. Es geht ihr um das Konzept des Doing Culture – dem Herstellen und Konstruieren im Sinne von Veränderbarkeit – und darum, dass klassistische Kulturelle Bildungskontexte Ausschlüsse (re)produzieren.

Dominanzverhältnisse progressiv neugestalten bedeutet in dieser Lesart Deutungshoheiten zu hinterfragen. Als Handelnde im kulturellen Bildungsfeld wären zunächst die eigenen Privilegien und die der anderen zu prüfen: Folge ich den eigenen Vorteilen, verharre ich in der Verstrickung struktureller Unterdrückung – wähle ich den sozialen Prozess im Verbund mit anderen, entscheide ich mich womöglich für den Vorteil zugunsten aller. Dies spiegelt sich auch in der Auffassung von Niggemann (2023), der u.a. mit der Kunstvermittlerin und BiIdungsforscherin Carmen Mörsch (2016; 2017) wohlmeinende „paternalistische“ oder „karitative“ Gesten als dem eigenen Vorteil dienend entlarvt (Niggemann 2023).

Insgesamt stellen die Autor*innen fest, dass die Möglichkeit einer kollektiven Aushandlung von Unten fehlt. Bellounar betont hier „Kinder und Jugendliche als Akteur*innen [zu] verstehen und nicht als Teilnehmende” (vgl. Seeck/Bellounar 2023). Sofern ist eine situative, am Bedarf der Menschen orientierte Herangehensweise erstrebenswert, da sie die Chance beinhaltet, „Machtgefälle und Ungleichheiten in Struktur und Alltag“ zu überwinden. Sie resümiert, „daher […] müssten […] Öffnungsprozesse nicht von oben nach unten, sondern gemeinsam von unten nach oben entwickelt werden“ (ebd.). Objektivierte Kultur und vorherrschende Wissensbestände könnten so durch Befragen u.a. über das Prinzip des Unlearnings – dem Verlernen von Gewohnten – nach der Mitbegründerin der postkolonialen Theorie G. Ch. Spivak durchaus revidiert werden (ebd.).

Weiter wird an anderen Stellen des Dossiers eine Unkenntnis und fehlende Sensibilität im Umgang mit Klassismus anhand der programmatischen Dominanz der Fördermittelgeber (u.a. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bundeszentrale für politische Bildung) diagnostiziert (vgl. u.a. Jenni 2023 und Findeisen/Dreßler 2023). Gesellschaftliche Schieflagen, alltägliche Diskriminierungen oder das Befinden von Marginalisierten, so wird kritisiert, scheinen kaum berücksichtigt zu werden. Was sich auch am vorherrschenden klassisch weißen, männlich und westeuropäisch geprägten Kunst-/Kulturkanon analysieren ließe, der ubiquitär in der Kulturellen Bildung wirksam sei. Die Fragen, die sich durch die Beiträge ziehen, sind:

Was ist Wissen und wie kann eine zeitgemäße Wissensbildung ausgehend von Kunst und Kultur aussehen? Welche Themen sollen wie und von wem bearbeitet werden? Wozu wird eigentlich kulturell gebildet? Welche Disparitäten oder Fallstricke werden über den Gestus des Bildens eingeschrieben? Und was kann Kultur in der Kulturellen Bildung für alle bedeutsam machen?

Prinzipiell sollen Menschen (Kulturelle) Bildung erfahren, die, wie in Förderprogrammen formuliert, einen „Nachteil ausgleichen müssen”. Diese klassistischen Ausschlusseffekte werden in den Texten des Dossiers und anhand von verschiedenen Beispielen sowie Praktiken beschrieben, u.a. am Exkurs in die Popmusik (vgl. Engelmannn 2023) und in die Welt der Computerspiele (vgl. Huberts 2023); Funktionsweisen von Klassismus werden in der Vergabe von Aufnahmeplätzen an Kunstakademien oder der Setzung von klassischen Instrumenten – in dem Fall die Geige als Profilangebot in einer Schule – betrachtet (vgl. Bast 2023) oder es werden klassistische Zugangsbarrieren konkret am Beispiel von Raumsituationen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit thematisiert (vgl. Müller 2023). Besonders interessant sind die Textstellen, die sehr konkrete Möglichkeiten der Einflussnahme, des kritisch-reflexiven Praktizierens und Veränderns beisteuern (hier speziell die Texte von Findeisen/Dreßler 2023, Bast 2023, Müller 2023 und Jenni 2023). Auch hier werden Theorie und Praxis zusammengedacht und führen uns, so verdichtet, an Fluchtpunkte heran.

Klassenkanon Ost und West

Ich möchte anschließend den Aspekt der Kanonbildung aufgreifen und vertiefen. Wie Niggemann mit Antonio Gramsci einräumt, steht in der hegemonialen Gesellschaft alles durch alle zur Disposition. Damit auch das, was der Kanon – also die als verbindlich angesehenen Schriften oder Werke – sein soll bzw. ob es überhaupt einen solchen Kanon braucht: Denn jede Stimme zählt, sofern der Diskurs um Kulturelle Bildungsangebote von den Vielen ausgeht und einem breiten Verständnis von Kultur folgt. Was Kunst und Kultur sind, muss eben auch subjektiv und situativ erfahren und erlebt werden können. Eine Arena der Vielstimmigkeit, die das Potenzial hätte, die Vielen einer Gesellschaft mitzudenken, berücksichtigt klassenspezifische Aspekte. Oder anders gewendet, folgt man der Idee des situativen Universalismus (vgl. u.a. Sternfeld 2007; Desért 2010; Adamzcak/Sternfeld 2020), dann gilt es Letztbegründungen und Engführungen machtkritisch zu diskutieren. Dazu gehört auch, dass Begriffen wie Kultur, Nation, Volk oder den Rufen nach Gleichheit für alle der Diskurs einer emanzipatorischen Neubestimmung folgen sollte. Mit Niggemann ist Klassismus als „ein (macht-)politisches Regieren durch Bildung“ zu sehen und innerhalb der Kulturellen Bildung zwingend zu hinterfragen (vgl. Niggemann 2023).

Ein Blick zurück in einen anderen historischen Kanon: Chto Delat? Was tun – um die Kraft des utopischen Denkens zu befeuern? Wie können z.B. (post-)sozialistische Kulturkonzepte in Augenschein genommen werden, die ihren Ursprung auch in den Überlegungen Lenins finden? Moissej Kagan (1974) zitiert Lenin in Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik mit den Worten, dass „die Kunst zum Volke und das Volk zur Kunst“ kommen soll und weiter „die Kunst gehört dem Volke“ (ebd.). Mit Volk ist hier die Klasse der Arbeiter*innen und Bauern gemeint, die Mehrheit der Gesellschaft, und dies bedeutet die Dekonstruktion der bisher gültigen machtpolitischen Verhältnisse. Für die bürgerliche oder kapitalistische Klasse der damaligen Zeit (nach der Oktoberrevolution in der Sowjetunion und den Versuchen nach 1945 bis 1989 in den Ostblockstaaten) ist es nach Kagan zudem wichtig, eine grundlegende Veränderung hinsichtlich der Einflussnahme auf Kultur, eben von der Gesellschaft bzw. vom Volke aus, um kulturelle, künstlerische Entwicklung und Bildung herzustellen (vgl. Kagan 1974:639). Kagans Lehrbuch war fester Bestandteil des Studiums zur Kunstlehrer*in in der DDR (Hinweis von Marie-Luise Lange 2023).

„Die Grundlage des kulturpolitischen Handelns im Sinne einer Kultur für alle sollte deshalb der breite Kulturbegriff bilden“, so Birgit Wolf (2021) im Dossier „Kulturelle Teilhabe in der DDR“ auf kubi-online. Gemeint ist „die gleichwertige Förderung und Anerkennung von Hoch- und Breitenkultur ebenso wie die systematische und mannigfaltige (Kultur-)Vermittlungsarbeit von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter” (Wolf 2021). Gemäß den staatlichen Bildungsplänen fand Kulturvermittlung für Kinder und Jugendliche „zu den produktiven und rezeptiven Künsten außerhalb des familiären und sozialen Umfeldes“ statt. Wolf resümiert in dem Artikel, dass so „[e]ine chancengerechte Teilhabe aller […] durch vielfältige, kontinuierliche Kooperationen zwischen Kitas, Schulen, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, Betrieben sowie Künstler*innen, Kulturschaffenden und Kultureinrichtungen gezielt befördert werden [konnte]“ (ebd.). Dogmatismus und Staatsdoktrin werden in den Ausführungen kritisch bedacht und dennoch scheint eine Förderung von Kunst und Kultur als im DDR-Grundgesetz verankerte Eingabe, sinnstiftendes Potenzial bereit zu halten. Es kommt eben darauf an, dass Macht- und Deutungshoheiten kontinuierlich kritisch bearbeitet werden.

Postsozialistische, ostdeutsche Kontextualisierung: Kultur von Unten oder Der Zirkel Schreibender Arbeiter

Niggemann kontrastiert in seinem Beitrag bürgerliche Ansichten einer alles legitimierenden Setzung von Hochkultur mit einer Definition von Kultur als „Terrain der Auseinandersetzungen um Sinn, Bedeutung, Rituale, Codes, ästhetische Praktiken; des Unterlaufens von Erwartungen und der Zurückweisung machtvoller Identifizierungen“ (Niggemann 2023). Das Verhandeln scheint aus hegemonialer Perspektive besonders wichtig, da es hilft, Kultur breiter und weitreichender zu verstehen und einem objektivierten Verständnis von Kultur und Kunst andere Sichtweisen gegenüberzustellen. Entlang der neo-marxistischen Philosophen Stuart Hall und Antonio Gramsci arbeitet er heraus, dass „das Ziehen symbolischer Grenzen zentral für jede Kultur“ ist (ebd.). Damit einher geht, dass Differenzanrufungen durch hegemoniale Interessenlagen hergestellt und reproduziert werden. Wobei, so Niggemann weiter, sich Klassismus auf „(Macht-)Asymmetrien [gründet, die es bedingen,] soziale Positionen kulturell zu bewerten und soziale Ungleichheit in ein Kultur- und Bildungsproblem einzelner Individuen umzudeuten“. Darin schreibt sich nach Niggemann die (Re)Produktion von Abwertung und Migrantisierung, also von Othering, permanent fort.

Ein Gespür für Aquarien

Die zentrale Stellung der Machtanalyse drängt sich mir aus ostdeutscher Perspektive in Relation zum westdeutschen Normalitätsparadigma auf. Und es begründet für mich eine postsozialistische, ostdeutsche Kontextualisierung. So könnte eine Wertschätzung des postsozialistisch-kulturellen Kapitals oder des kulturellen Erbes der DDR sinnstiftende Effekte einbringen. Eine erweiterte Kulturelle Bildung, die unter Klassismus-Perspektive die Relation zu Ostdeutschland und Postsozialismus ernst nimmt, müsste meiner Meinung nach das westdeutsche Normalitätsparadigma kritisch und in aller Deutlichkeit beforschen und in Weiterbildungsprogrammen mitverhandeln. Gerade mit Blick auf kulturelles Kapital, also dem, „was sich an Geschmack, der gelesenen Auswahl an bedeutender Literatur bzw. an den Zugängen zur Hochkultur [formt] und welches sich über die familiäre Bindung und Verbindung vererbt” (Pierre Bourdieu, zitiert nach Menrath 2023), könnte ein kultureller Aushandlungsprozess evoziert werden, mit dem Zweck, Deutungshoheiten beweglicher zu machen.

Von diesem Dossier ausgehend sehe ich zwei Ansätze: Zum einen sehe ich mit der Metapher von Toni Morrison (2023:38f) – „und plötzlich sah ich das Aquarium, die Struktur, die dem geordneten Leben, das sie enthält, durchsichtig (und unsichtbar) erlaubt, in der größeren Welt zu existieren“– einen Reflexionsanlass, der eine gezielte Förderung emanzipatorischer Praktiken beinhaltet. Inspiriert von Menrath (2023) gilt es, Menschen mit Armutserfahrungen, die „klassistische Abwertung erf[ahren]“ (ebd.) haben, Räume und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um das „Gespür für […] sprachliche und symbolische Differenzierungen“, das „häufig nur nicht be[nannt]” (ebd.) werden kann, zu verstärken.

Eine Kulturelle Bildung für Alle könnte dieses Gespür für das Aquarium insbesondere aus ostdeutscher Perspektive schärfen und Artikulationsmöglichkeiten schaffen. Im Dossier bemühen sich mikroanalytische Herangehensweisen, wie die von Findeisen/Dreßler (2023) oder Aumair (2023), solche kollektiven Ansätze zu etablieren. Hier geht es um das emanzipatorische Verstehen-Wollen, wie sich Klasse ideologisch und über Alltagserfahrungen in das eigene Handeln als Norm und Praxis einschreibt. Ansätze, wie das Biografische Schreiben (vgl. Aumair 2023) können selbstwirksam und solidarisierend wirken, da sie ein ins Sprechen-Kommen und Verhandeln der eigenen klassistischen, rassistischen oder sexistischen Erfahrungen im Zusammenspiel mit anderen ermöglichen und somit helfen, aus der Vereinzelung herauszutreten. Gleichsam kann Klassismus so als Ausbeutungsinstrument erkannt und diskutiert werden.

Weiterführend erscheinen mir Veröffentlichungen von Katharina Warda und Patrice G. Poutrus (2022) zum Thema „Ostdeutsche of Colour. Schwarze Geschichte(n) in der DDR und Erfahrungen nach der deutschen Einheit“ hinsichtlich des intersektionalen Zusammenspiels von Klassismus, Rassismus und Sexismus als ideologische Aufrechterhaltung hegemonialer Verhältnisse aus ostdeutscher Perspektive interessant. All dem liegt der mühevolle Akt der kritischen Selbstarbeit zugrunde, um durchzuarbeiten, wer man wie geworden ist (Anm. der Redaktion: siehe hierzu auch den kürzlich im Dossier Klassismus und Kulturelle Bildung erschienen Text von Aukongo/Damm 2024).

Zum anderen sehe ich mit Menrath (2023) Chancen in der Förderung einer critical cultural literacy. Menrath schlägt vor, dass sich der Adressat*innenkreis Kultureller Bildung verschieben sollte: „Kulturelle Bildung [könnte und müsste] diejenigen bilden, die selbst nicht für kulturelle Abwertungen sensibilisiert sind und wenig oder kaum von Diskriminierung betroffen sind oder waren. […] Kulturelle Bildung würde dann nicht mehr die regelmäßig gewaltvoll titulierten Menschen mit Bildungsdefizit, Migrationshintergrund oder Sozialschwäche in den Blick nehmen, sondern Menschen mit Bildungsprivilegien, Sesshaftigkeitshintergrund [...] oder ökonomischen Privilegien” (ebd.).

Entsprechend könnte ein Weiterbildungsprogramm entwickelt werden, welches explizit einen ostdeutschen Wissensbestand vermittelt, um das (post-)sozialistische kulturelle Kapital zu würdigen. Die in diesem Text eingestreuten Beispiele können dafür Anstoß liefern.

Schreibende Arbeiter: Kulturpolitik der DDR

Mit dem Bitterfelder Weg, den die DDR mit der 1. Bitterfelder Autorenkonferenz 1959 eingeschlagen hatte, sollte eine sozialistische Kulturpolitik etabliert werden. Ziel war es, die „vorhandene Trennung von Kunst und Leben“ und die „Entfremdung zwischen Künstler und Volk“ aufzuheben (vgl. Wikipedia-Eintrag Bitterfelder Weg). Der Sozialismus in der DDR sollte breitenwirksam durch die Beteiligung der Arbeiter*innen ausgestaltet und umgesetzt werden. Auch hier fällt die Geste der Anordnung von Oben auf; und dennoch konnte etwas sehr Besonderes unter der Losung „Greif zur Feder, Kumpel!“ begünstigt werden, wie die Historikerin Anne Sokol über die „Zirkel Schreibender Arbeiter“ festzustellen weiß. Sokol schreibt, „[…] die Bewegung Schreibender Arbeiter ist so besonders, weil sie eine Form von Kultur und Literatur popularisiert hat und letztlich ein Thema in die Mitte der Gesellschaft getragen hat, dass es vielleicht heute gar nicht mehr so präsent gibt, das nicht so präsent gemacht wird. Eine Art von Laienliteratur, der ein doch sehr hoher Stellenwert im Gesamtgefüge zugestanden worden ist – und das ist eine ganz große Besonderheit“ (Sokol 2021). Schreibende Arbeiter*innen gab es auch im Westen (z.B. die Dortmunder Gruppe 61), allerdings ohne staatliche Förderung und kulturelle, literarische Wertschätzung und Anerkennung (vgl. Kother 2021). Die Arbeit in den selbstorganisierten Kunst- und Kulturzirkeln der DDR war divers und funktionierte bis hin zu geschützten Freiräumen. Künstler*innen und Schriftsteller*innen, wie Brigitte Reimann oder Siegfried Pitschmann, arbeiteten in den Betrieben und Kombinaten und begründeten die Bewegung schreibender Arbeiter mit (vgl. Gansel/Braun 2012:117 sowie Rüdiger Bernhardt 2021 im Dossier „Kulturelle Teilhabe in der DDR“).

Die kulturpolitische Besonderheit dessen wird in ersten Ansätzen in aktuellen Theaterproduktionen verhandelt. Das Stück „Und Jetzt?“ (2022) von René Pollesch in Zusammenarbeit mit andcompany&Co., aufgeführt in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Ost, behandelt die sozialistische Kultur- und Theaterproduktion am Beispiel des Arbeiter*innentheaters des Petrolchemischen Kombinats (PCK) in Schwedt bei Berlin als Erfolgsgeschichte. Gerhard Winterlich, der Leiter des Arbeiter*innentheaters Schwedt, schrieb mit den Arbeiter*innen das Theaterstück Horizonte. Mit diesem Stück behaupteten sie sich erfolgreich „beim ökonomisch-kulturellen Leistungsvergleich in Karl-Marx-Stadt“ (vgl. Merck 2020) und gewannen 1968 eine Goldmedaille (ebd.). Heiner Müller nahm sich diesem Stück als Teil eines Stückentwicklungskollektivs „Alle dichten mit!“ an (vgl. Renvert 2020) und arrangierte es als Montage mit Teilen des Sommernachtstraums von Shakespeare für die Eröffnung der Intendanz von Benno Besson an der Berliner Volksbühne 1969 (vgl. Merck 2020). Pollesch adaptierte die Müller-Fassung zeitgemäß im Jahr 2022. Immerzu wird in „Und Jetzt?“ die Utopie imaginiert und gefragt: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn die selbstorganisierte Schreib- und Theaterpraxis wie die des Arbeiter*innentheaters Schwedt Relevanz erfahren würde? Wenn alle Menschen in der BRD aktiv mitwirkender und legitimierter Teil der staatlichen Kulturpolitik und -produktion sein könnten? Wenn also Kultureinrichtungen im Land gefördert werden würden, um gemeinsam Texte zu lesen, zu schreiben, zu inszenieren? Was hätte es für Auswirkungen auf den Kapitalismus?

Ost-Stigmata

Mich führt die Auseinandersetzung mit dem Dossier Klassismus und Kulturelle Bildung zu ostdeutschen Künstler*innen und Kulturschaffenden, die unter dauerhaft prekären Lebenssituationen an dieser Fragestellung arbeiten. Ich möchte diese Frage aufgreifen und an dieser Stelle die künstlerische Arbeit von Elske Rosenfeld vorstellen. In ihren Arbeiten setzt sie sich mit dem Leben im Postsozialismus biografisch, klassismus- und kapitalismuskritisch auseinander; sie beforscht mögliche Perspektiven auf die DDR; was geblieben ist oder nicht; was es braucht, um besser zu verstehen, um eben nicht den binären Logiken anheimzufallen – und auch, um sich selbst zu vergewissern, welche Anteile zur eigenen Identität und Geschichte gehören. Rosenfeld entwickelt ein Narrativ, das über das westdeutsche Normalitätsparadigma hinausweist. Es handelt sich um eine künstlerische Position, die auf vorherrschende Paradigmen rekurriert und eine negative Befähigung für eine kritische Auseinandersetzung beansprucht und einfordert. In „Speaking (Statements for the Future“ (2019/22) aus ihrer Serie „An Archive of Gestures“ (2012–22), das u.a. 2022 auf der Berlin Biennale gezeigt wurde, arrangiert Rosenfeld Video- und Filmaufnahmen von Reden der ersten Zusammenkünfte des Zentralen Runden Tischs der DDR (vgl. Wikipedia-Eintrag Runder Tisch) am 7. Dezember 1989 mit Filmmaterial emanzipatorischer Versuche wie die vom Gezi-Park in Istanbul oder jene vom Tahrir-Platz in Kairo. Dieses Material von Unten wird in Loops wiederholt, um die Gesten der Sprechenden als frakturiert und transhistorisch lesbar zu machen (vgl. Weier 2022). In dieser Arbeit geht es um Körper als Archiv. Rosenfeld isoliert die Gesten durch Wiederholung des Filmmaterials. Über die Bewegungsabläufe hinweg entsteht ein Mehr und ein Diskursfeld bahnt sich an, um die Frage zu diskutieren, wer wie dazu gehört. Formationen, Faltungen und Brüche dokumentieren existenzielle Unsicherheiten und Ängste. Rosenfeld führt das Publikum an diese Kerben der bundesrepublikanischen Geschichte aus ostdeutscher und translokaler Perspektive heran. Was heißt hier Revolution und wie hätte die Gesellschaft (Ost) sich nach 1989 von Unten tatsächlich revolutioniert bzw. von überkommenen Machtverhältnissen emanzipiert?

 „Im Ost-Stigma”, so Juristin Doris Liebscher (2023), „spielen zwei Aspekte eine Rolle: Klassismus und Antikommunismus.” Weiter heißt es in diesem Zitat: „Nehmen wir das Bild des faulen Mecker-Ossis. Anstatt in der Renitenz auch einen berechtigten Grund zu sehen, sich gegen ungleiche Verhältnisse und Zurichtungen des Neoliberalismus aufzulehnen, wird Kritik delegitimiert, indem die Kritiker*innen pauschal als Jammer-Ossis bezeichnet werden. Hinzu kommt die antikommunistische Behauptung, in der DDR sei alles Stasi und Unrechtsstaat gewesen” (Liebscher et.al 2023). Beide, Liebscher und Rosenfeld, verweisen auf die fehlende Debatte in der Bundesrepublik, die das klassisch gewordene Dominanzverhältnis grundlegend kritisiert und analysiert, dass „deutsch [zu] sein, bedeutet westdeutsch [zu] sein” (ebd.).

Ich bin erschöpft von der Art, wie mir das Wort genommen wird, wenn es unter Kolleg*innen auf dieses Thema kommt. Wenn ich höre, dass die sächsisch sprechende Nachwuchskollegin im Rahmen einer Veranstaltung, in der sie ihren aktuellen Forschungsstand zeigt, ob ihres Dialekts beschämt wird.

Es ist an der Zeit für den westdeutschen Privilegien-Check: Für ein Zuhören und Verlernen diskriminierender Wissensbestände, indem historisches und kulturelles Wissen über die DDR, den Sozialismus in den Ostblockländern und über das postsozialistische Leben erlernt wird. In „Die Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud” beschreibt Christa Wolf (2010) die unverhohlene westdeutsche Ignoranz dem Osten gegenüber. Mehr noch: Der autobiografische Roman schildert eine Vielzahl an Szenerien, in denen Wolf sich mit der Frage konfrontiert sah, wie es sich in einer Diktatur lebte. Eine merkwürdige Befremdung auslösend, wird die Protagonistin in eine existenzielle Krise gestürzt. Wolf merkt dazu an, dass die Gleichstellung der Nazi-Diktatur mit dem SED-Regime eine Fehleinschätzung sei. Was geblieben ist, scheint das Ost-Stigma und eine große Leere.

Ausblicke

Abschließend möchte ich hier nochmals mit Niggemann (2023) auf die begriffliche Schwäche des Klassismuskonzepts näher eingehen: Der Klassismusdiskurs im Dossier obliegt einem breiten Verständnis und fasst Klassismus als Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der Klassenzugehörigkeit zusammen. In den meisten Texten berufen sich die Autor*innen auf das Klassenkonzept von Bourdieu und auf angelsächsische Diskurse. Dabei wird der in Deutschland geführte Diskurs um Klasse weit gefasst und scheint einem fraglichen Klassenkonzept zu folgen (ebd.). Um Begriffsschärfe zu erzeugen, wäre die Analyse von vorliegenden Klassenkonzepten hilfreich (z.B. mit Candeias 2021), um diese Erweiterung durch reale Verhältnisse – auch in Rückgriff auf soziologische Befunde und Studien und weitere Befragungen – abzugleichen und zu aktualisieren.

Für die Suche nach klassismuskritischen bzw. kapitalismuskritischen Strategien ist es sinnvoll, „die Analyse des Produktionsprozesses, der Eigentumsverhältnisse, der Ausbeutung und der ungleichen Verteilung von Arbeit innerhalb der Lohnabhängigen [, um] die Ursachen für [die] Klassen[verhältnisse] im Kapitalismus [im] Blick [zu behalten]” (vgl. Sebastin Friedrich in Niggemann 2023). Nur so können Erkenntnisse zum Wohle aller hergestellt werden. Ich empfehle mit dem Autor, einen „materialistisch fundierten Klassenbegriff“ als enge Definition anzulegen, um so eine vielleicht nicht ganz populäre, aber notwendige „klassenkämpferische Perspektive” einzubeziehen, die zugrunde legt, dass „Klassismus als Ideologie zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft“ verstanden werden kann. Dessen Ziel sollte es sein, die „Spaltungen innerhalb der Fraktionen der Klasse der Lohnabhängigen zu überwinden, anstatt sie zu vertiefen” (ebd.).

Gerade die Erweiterung der Klassismus-Debatte in der Kulturellen Bildung sollte nicht an dem Themenverbund Ostdeutschland – Armutsverhältnisse – klassistische Stereotypisierung vorbeiziehen. Vielmehr sollten postsozialistische Potenziale für eine radikal-demokratische Gestaltung von Kultur von Unten bearbeitet werden. Die Debatte, die das „Westdeutsche, in all seiner Dominanz, sichtbar machen“ will (vgl. Foroutan et al. 2019), sollte besonders prüfen, welchen antidemokratischen Einfluss westdeutsche rechtspopulistische Politiker wie Björn Höcke und Alexander Gauland (beide AfD) auf Entwicklungen in Ostdeutschland haben. Auch der Text von Christian Bangel (2020)  wäre hier als Anregung für eine Beschäftigung mit ostdeutschen Perspektiven in der Kulturellen Bildung zu beachten.

Eine weiterführende Debatte um Klassismus und Kulturelle Bildung spekuliert auf Ungewissheiten. Diese gilt es auszuhalten – im Wissen um eine produktive Wendung, die durch Weiterdenken, Reflektieren und kritische Selbst- und Wertanalyse möglich wird. Eine Analyse korreliert mit Affekten, die sich erkenntnisleitend für eine Auseinandersetzung mit Postsozialismus, Ostdeutschland und Klassismuskritik öffnet (vgl. auch Niggemann 2023). Hier kann etwas Neues entstehen, was sich mit G. Ch. Spivak als Unlearning vollzieht und sich als ein kämpfendes, widerstreitendes Tun fortschreibt (vgl. Seeck/Bellounar 2023).

Abschließend möchte ich die von Seeck und Bellounar (ebd.) angeführten kulturellen Projekte in Berlin, die unter prekären Bedingungen bemerkenswerte Kulturelle Bildungsarbeit leisten, um Beispiele vom ostdeutschen Land erweitern. Vor dem Hintergrund, dass ländliche Regionen in Ostdeutschland bei der Verteilung von Ressourcen mehr oder weniger übersehen werden, der Bedarf nach kulturellen Freiräumen nicht minder einzuschätzen ist, sind lokale Kulturvereine doch meist Anlaufstellen für Betroffene von Diskriminierungen. Um kulturelle Initiativen zu unterstützen, die sich für ein offenes demokratisches Miteinander einsetzen und demnach Haltung gegen Rassismus, Menschenverachtung, Sexismus oder Klassismus beziehen, sei folgende Auswahl insbesondere sächsischer Vereine versammelt, wie Land in Sicht e.V., Trafo – Nachhaltigkeit in Bildung e.V., Treibhaus e.V. Döbeln, Kulturbahnhof Leisnig e.V., Lauter Leise e.V., Mitmachgarten „Wirrwuchs“, Colorido e.V. Plauen, Netzwerk für Demokratie und Kultur e.V. in Wurzen. Diese Vereine sind exemplarisch für die ländlichen Regionen Sachsens ausgewählt. Sie leisten wertvolle kulturelle und soziale Arbeit für demokratische Denkweisen und Praxen, sind sie doch unmittelbaren rechtsextremen und rechtspopulistischen Anfeindungen ausgesetzt (vgl. Berliner Zeitung 2020).