Kindermusiktheater und Kulturelle Bildung

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von Joscha Schaback

Erscheinungsjahr: 2022

Peer Reviewed

Abstract

Dieser Beitrag beleuchtet zunächst das partizipative Musiktheater im pädagogischen Bereich (Schuloper), das vom Humanismus bis heute die unterschiedlichsten Formen angenommen hat und von divergierenden Bildungsdiskursen geprägt wurde. Der anschließende Blick auf die professionellen Bühnen in der deutschen Theaterlandschaft soll zeigen, wie ästhetische Bildung und künstlerische Teilhabe institutionalisiert wurden und sich mit der Musiktheaterpädagogik ein eigenständiges Vermittlungsangebot aufgebaut hat: Ab den 1990er Jahren entwickelt sich das Kindermusiktheater durch seine rezeptiven und partizipativen Angebote zu einem besonderen Feld Kultureller Bildung.

Historischer Abriss: Schuloper

Eine der frühesten Formen partizipativen Musiktheaters stellt die Schuloper dar, die im 16. und 17. Jahrhundert zu einer ersten Blüte kommt. Sie hatte in der Regel mythologische oder biblische Begebenheiten zur szenischen Grundlage und diente neben der musikalischen Ausbildung auch der Geläufigkeit in der lateinischen Sprache. Das frühe Schuldrama steht in der Tradition humanistischer Wertevermittlung: Charakterstärke, Beredsamkeit und Frömmigkeit sind ihre Ideale, die sich nicht nur den darstellenden Schülern, sondern auch dem Publikum vermitteln sollten. Überliefert sind von den frühen Spielen fast nur die Vorlagen mit Dialogen und Szenenanweisungen. Die Musik suchte man sich nach dem Vorbild der frühen professionellen Opernformen anlassbezogen und nach Verfügbarkeit von Musikern zusammen.

Kamen Schulopern zuvor in evangelischen Lateinschulen und in katholischen Klosterschulen auf die Bühne, wird im 19. Jahrhundert auch die private Aufführung zu einer gattungstypischen Konstante. Im Salon wurde oft am Flügel oder in kammermusikalischer Besetzung begleitet. Engelbert Humperdincks Liederspiel Hänsel und Gretel, das die Vorlage für seine spätere Märchenoper bildete, gehört zu den typischen Beispielen häuslichen Musiktheaters. Die Aufführung fand im familiären Kreis statt, Humperdincks Nichte sang die Hauptpartien. Aus dem Liederspiel entwickelten Humperdinck und sein Schwager Hermann Wette zunächst eine Singspielfassung, aus der unmittelbar die durchkomponierte Märchenoper entstand. Humperdinck nannte sie sein Kinderstubenweihfestspiel (Irmen 1989). Der Titel ist nicht nur eine selbstironische Referenz an Richard Wagners Parsifal, sondern gibt auch eine ernstgemeinte Wirkungsintention wieder, nämlich eine „weihevolle“ Märchenhandlung zu schreiben, die noch im Geiste der intimen häuslichen Aufführung steht. Zwei der volksliedhaften in einem kindlich-direkten Stil geschriebenen Lieder fanden unmittelbar Eingang in die Oper. Übernommen wurde auch die Mitwirkung von Kindern als pantomimische Engel, die Hänsel und Gretel im Schlaf bewachen, und als Kuchenkinder, die aus dem Bann der Hexe befreit werden. Der Weg des Stückes vom Salon auf die Bühne führte auch zurück, denn der Klavierauszug der Erfolgsoper ermöglichte wiederum Aufführungen zu Hause. In beiden Sphären tragen Kinder mit ihren hellen, gleichsam ungebrochenen Stimmen und ihrer authentisch-kindlichen Darstellungsweise dazu bei, die transzendenten Momente und die innige Atmosphäre des Stücks glaubhaft zu machen. Die Partizipation hat hier also auch wirkungsästhetische Hintergründe, bei denen der Komponist auf ein erwachsenes Publikum reflektierte und der Mitwirkungsgedanke in den Hintergrund rückte (zur „Doppeltadressiertheit“ von Kinderoper vgl. Reiß 2004).

Eine neue Belebung erfährt die Schuloper als partizipative Darstellungsform in der Weimarer Republik. Mit dem Rückenwind reformpädagogischer Erneuerung galt es, wieder den Prozess der Erarbeitung eines Stücks in den Fokus zu nehmen und dabei Kindern und Jugendlichen möglichst alle Theatermittel – Bühne, Kostüme, Licht – in die Hände zu legen. Schulopern der 20er und 30er Jahre waren dabei auch eine ausdrückliche Abkehr vom großbürgerlichen Ausstattungsstück. Komponisten wie Paul Hindemith oder Kurt Weill versuchten bei dieser neuen Schulopernform zu einem Gebrauchswert von Musik zurückzufinden, der sich von der Idee einer absoluten Musik, die nur für sich selbst steht, abwendet. Die Idee einer neuen Nützlichkeit schlug sich auch darin nieder, dass man versuchte, neue Aufführungsorte, Verbreitungsformen und künstlerische Formate zu finden. Ob durch Aufführungen in Schulaulen, Radio-Übertragungen oder durch das Komponieren von Arbeiterchören ging es nicht zuletzt darum, ein anderes als das Bildungsbürgertum zu erreichen und insbesondere junge Menschen direkt anzusprechen. Die Haltung des Musizierens sollte damit von jener Innerlichkeit und „Verheiligung“ wegführen, die in den Stücken der Wilhelminischen Epoche noch vorherrschend gewesen waren (zusammenfassend Kim 2000).

Durch die Libretti von Bertolt Brecht gewinnt die neue Schuloper an politischer Brisanz. Brecht selbst verwendete die Gattungsbezeichnung Lehrstück, was auch damit zusammenhing, dass Werke wie zum Beispiel Die Maßnahme (UA 1930, Hanns Eisler) nicht nur für den Gebrauch in Schulen gedacht waren, sondern auch von Schauspielern auf professionellen Bühnen gespielt wurden. Als erstes und gattungsprägendes Lehrstück gilt Lehrstück / Das Badener Lehrstück vom Einverständnis (UA 1929, Paul Hindemith), das beim Festival „Deutsche Kammermusik“ mit professionellen Darstellern zum Skandal wurde. Der Jasager (UA 1930) mit Musik von Kurt Weill trägt dagegen den Untertitel Schuloper und war von vorneherein für die Aufführung im schulischen Milieu und für Laien gedacht. In der Handlung erweist sich ein Knabe als zu schwach, um die Reise zu den „großen Ärzten“ weiter fortzuführen. Weil er den Auftrag der Gruppe, die Besorgung von Medizin, gefährdet, wird er von seinen Begleitern – die vorher sein Einverständnis eingeholt haben – in eine Schlucht gestoßen. Der auf die Spitze getriebene Konflikt fordert provozierend die Darsteller zum Beziehen einer Haltung heraus, ob dieses Opfer gerechtfertigt sei, und wie es zu der Katastrophe kommen konnte, die kein göttlicher Schicksalsschlag, sondern die Folge von menschlichen Entscheidungen gewesen ist. Die Musik von Kurt Weill fungiert dabei als ein Medium, das nicht affirmativ, sondern verfremdend eingesetzt wird und die Distanzierung der Ausführenden zum Gegenstand der Handlung unterstützt. Musikalische Partizipation bezieht sich in diesem formal strengen Werk auf Erkenntnisgewinn und Urteilsvermögen, die Musik soll die gesellschaftlichen Widersprüche nicht verschleiern, sondern klarstellen. Geschult wird dadurch also nicht das selbstvergessene, emotionale Musikmachen, sondern ein sachliches, mehr kommentierendes Singen und Konzertieren.  

Nachdem die reformierte Schuloper nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zum Erliegen kommt und ihre Autoren emigrieren müssen, gelingt es nach dem Krieg dem Kindermusiktheater in der DDR, an die Lehrstück-Konzeption anzuknüpfen. Als eine Gattung, die durch Schulbesuche und Abendveranstaltungen die Jugend erreichte, war Kindermusiktheater dort eine grundsätzlich stärker beachtete und geförderte Kunstform als in der Bundesrepublik. Insbesondere stand der pädagogische Nutzen von musikalischem Schultheater unter besonderer Aufmerksamkeit (Brock, 1960). Wichtig für die Entwicklung des musikalischen Lehrstücks war, dass Brecht 1955 sein altes Lehrstück Die Horatier und die Kuriatier von Kurt Schwaen neu vertonen ließ. Schwaen, für den die kurze Zusammenarbeit ein prägendes künstlerisches Erlebnis war, wurde mit zahlreichen weiteren Werken zu einem der wichtigsten Vertreter einer zeitgenössischen Schul- und Kinderoper des Landes, einige seiner Stücke gehörten zum Lehrplan der DDR. Seine spätere neunjährige musikpädagogische Tätigkeit mit der Arbeitsgemeinschaft Kindermusiktheater in Leipzig in den 1970er Jahren war ein überregional wahrgenommenes Beispiel von künstlerisch-pädagogischem Interesse. Dass bei Schulopern der DDR genau wie beim humanistischen Singspiel oder bei der wilheminischen Kleinform ideelle Wirkungsabsichten erkennbar sind, verwundert nicht. Das Brechtsche Lehrstück fortführend vermittelt die Schuloper in der DDR ein kritisches Geschichtsbewusstsein mit besonderer Strenge für kriegerische und kapitalistische Tendenzen (Schoenebeck 1978). Eine kritische Aufarbeitung des Kindermusiktheaters in der DDR und seiner Schulopern, die nach 1989 lautlos verschwanden, bleibt eines der dringenden Desiderate der Musiktheaterforschung.

Die Produktion von Schulopern in der BRD kam nach dem Krieg nicht zum Erliegen, knüpfte aber nicht an die Schärfe Brechtscher Vorlagen an. Verstärkt wurden Märchen und Fabeln vertont, deren Moral weniger gesellschaftlich-politisches als allgemein menschliches Verhalten beleuchtete. Erfolgreich waren beispielsweise die Schulopern von Cesar Bresgen Der Igel als Bräutigam (UA 1951, revidiert 1980) oder Der Mann im Mond (UA 1960) sowie seine szenischen Kantaten, die gesungen oder mit einfachsten Mitteln szenisch aufgeführt werden können. Deutlich wird in dieser Phase der Schuloper das professionelle Musiktheater als Bildungsziel benannt, das zu diesem Zeitpunkt noch eine zentrale Position im Bildungskanon einnimmt. Zur Typologie der zeitgenössischen Schul- und Jugendoper gehörte, dass … „Der Schüler, … zum Selbsttun veranlasst (wird), … (sein) allgemein … künstlerisches Urteil (schärft) und … ein auf der Anschauung beruhendes Verhältnis zur künstlerischen Arbeit der Bühnenoper (gewinnt). (…) Das spätere Bühnenpublikum wird in ihm vorgebildet“ (Braun 1963:247).

Einen Neuansatz bei der Produktion partizipativen Musiktheaters schuf der Komponist Hans Werner Henze mit Pollicino. Das Stück ist für kindliche Protagonisten geschrieben, auch die Orchesterinstrumente sollen von Kindern und Jugendlichen gespielt werden. Zwar führt der Komposition seine jungen Musiker durch 400 Jahre Musikgeschichte und stabilisiert ihr Wissen um die Tradition, doch hat seine Form der Teilhabe eine klar sozial orientierte Absicht, die sie von früheren Schuloperntheorien abgrenzt. Der Komponist eröffnete mit dem Werk 1980 die Cantieri internazionale d’Arte im toskanischen Montepulciano, ein Musik-Festival, bei dem die Bevölkerung aus der Region auftrat. Es kam dem Komponisten darauf an, nicht nur Kindern aus armen (Arbeiter-)Familien eine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe zu geben, sondern auch die „geistig und wirtschaftlich ausgetrocknete Gegend“ um Montepulciano gesellschaftlich aufzuwerten (Bräuer 1990:17). Mit Pollicino gelang es Henze, die Kluft zwischen avantgardistischem Kunstanspruch und erzieherisch-sozialer Intention zu schließen und ein Beispiel teilhabeorientierten Musiktheaters jenseits der Hochkulturinstitutionen zu geben. Das Stück lässt sich als Brückenschlag zwischen Schulaula und Opernbühne verstehen, da es heute in beiden Bereichen zum Repertoirewerk geworden ist.

Seit den 1970er Jahren hat die populäre Musik die partizipativen Formate in der Schule bereichert. Ein Trend an Schulen wird die Musik-AG, die zu verschiedensten, oft selbst geschriebenen Stücken führt und damit ein wesentliches Gestaltungsmittel an Kinder- und Jugendliche zurückgibt. In den 1980er und 1990er Jahren lässt sich ein verstärktes Interesse an Musicals beobachten (Reiß/von Schoenebeck/Helms 1996:5). Ab den 1980er Jahren steigt auch die Bereitschaft in den Schulen, sich mit klassischem Musiktheater auseinanderzusetzen (Kruse 2001:6). Offenbar wird die neue Offenheit durch einen sich verändernden kulturpädagogischen Diskurs begünstigt, bei dem individuelles Lernen und Praxisorientierung in den Vordergrund rücken (Benthaus 2001). Die Gattung Schuloper weicht Bezeichnungen wie Singspiel, Minioper oder Grusical mit einer Vielzahl unterschiedlicher Formen der populären oder klassischen Instrumentierung und des Playbacks (vgl. auch Regler-Bellinger 1996:43). Häufig wird nicht nur solistisch und im Chor gesungen, sondern auch gesprochen oder sich eines Erzählers bedient. Musiktheater zum Mitmachen behält eine sozialkritische und emanzipatorische Ausrichtung und schließt aktuelle Themen wie zum Beispiel Umweltschutz ein.

Partizipatives Musiktheater in der Schule wird heute mit größerer Selbstverständlichkeit praktiziert und ist auf Stückvorlagen nicht mehr zwingend angewiesen. Das Repertoire ist stark angewachsen und wegen vieler nichtverlegter Eigenkompositionen nicht vollständig rekonstruierbar. Die Grenzen zwischen Konzert, Schauspiel, Oper oder Revue verlaufen fließend. Eine gewachsene Grundausstattung an Schulen, zum Beispiel bei Orff-Instrumenten, geben bereits Grundschülern die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Musizierens, auf dem sich szenisches Geschehen aufbauen lässt. Das Verwischen der Genregrenzen und die gewachsene Zugänglichkeit von partizipativen Musiktheaterformen erleichtert es Lehrkräften ohne klassische Theater-, Gesangs oder Dirigierausbildung sich an musiktheatralen Projekten zu versuchen. Der Bereich ist offener für freie und performative Formen geworden, in denen nicht mehr zwingend Handlung und Figuren, sondern Klänge, Musik, aber auch Tanz- und Bewegungsformen im Mittelpunkt stehen. Oft steht ein hoher künstlerischer Anspruch hinter der partizipatorischen Arbeit. Der Komponist Dieter Schnebel schrieb in den 1970er Jahren und zuletzt 2015 für die Neue-Musik-AG des Leininger Gymnasiums in Grünstadt mehrere Schulmusik-Werke für Laien. Ein Klassiker der musikalisch-szenischen Erprobung Zahlen für (mit) Münzen entstand am Oskar-von-Miller-Gymnasium in München (UA 1985). Zuletzt hat die Welle der Bodypercussion und der Rhythmusspiele den musikalischen Darstellungsformen neue Impulse verliehen.

Kinderoper an professionellen Bühnen ab 1990

Im Jahr 2002 entdeckte die Zeitschrift Theater der Zeit ein „kleines Wunder“. In einem Themenschwerpunkt versammelte das Magazin Rezensionen, Hintergrundartikel und Interviews zu einer neu aufgekommenen Bewegung: dem Musiktheater für Kinder im deutschsprachigen Stadt- und Staatstheater. Manfred Jahnke sprach vom „Boom der Kinderoper“ (Jahnke 2002:10). Binnen weniger Jahre gründeten die Intendanten der großen Opernhäuser in Köln, Wien und Stuttgart eigene Abteilungen, in denen sie ihre Arbeit für Kinder und Jugendliche professionalisierten. In Köln erfand Günter Krämer 1996 die Junge Oper in der Yakulthalle, ein ins Foyer gebautes Barocktheater im Miniaturformat. Wenige Jahre danach ließ Ioan Holender in Wien die Kinderoper auf dem Dach der Staatsoper installieren. Schon früh setzte sich der Intendant für Uraufführungen ein. In der neuen Institution wurden aber auch die partizipativen Angebote der Staatsoper, vor allem die Kinder- und Jugendchöre, gebündelt. Klaus Zehelein begann in Stuttgart 1995 zunächst mit einem Vermittlungsprogramm für den Abendspielplan. Die drei Säulen der 1997 gegründeten Jungen Oper – Vermittlung des Abendspielplans, Partizipation und zielgruppengerechte Produktion – beeinflussten weitere Gründungen in Mannheim, Hannover oder Berlin (Israel 2013).

„Das kleine Wunder“ ist zu einem großen geworden. Die Kinderopernproduktion hat sich bundesweit gesteigert. Wurden in der Spielzeit 1992/93 lediglich sieben Musiktheaterwerke für Kinder und Jugendliche gespielt, sind es in der Spielzeit 2012/13 genau einhundert (Deutscher Bühnenverein 1993 bis 2013). Jedes der etwa achtzig deutschen Opernhäuser bringt damit mindestens eine Produktion für junges Publikum pro Spielzeit heraus. Dabei kommen auch unterhaltende Werke und Musicals zur Aufführung. Das Kindermusiktheater hat sich auch zu einer neuen Konstante bei den Aufführungszahlen entwickelt. Knapp ein Sechstel aller Vorstellungen im Stadttheater entfallen auf das Musiktheater für Kinder. (Seit der Deutsche Bühnenverein Musiktheater- und Schauspielstücke für junges Publikum in der Kategorie Kinder- und Jugendtheater zusammenfasst, ist die spartenspezifische Analyse nicht mehr in vergleichbarerer Weise möglich. Man kann aber davon ausgehen, dass die Produktion bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie eher gestiegen ist.)

Das Repertoire von Kinderopern für die professionelle Bühne ist seit den 1980er Jahren in einem ähnlichen Maße angewachsen wie die Formate im schulischen Bereich (vgl. auch Regler-Bellinger 1990). Oft durchmischen sich die Sphären beispielsweise durch die Integration von Kinderchören oder Kindersolisten in einem Stück für professionelle Hauptdarsteller und Orchester. Dabei führen nicht nur eigenständige oder integrierte Abteilungen an Opernhäusern, sondern auch Konzerthäuser szenische Stücke auf. Die oft sehr unterschiedlichen personellen Möglichkeiten spiegeln sich in divergierenden Kindermusiktheaterwerken, was oft ein Nachspielen an anderen Häusern erschwert. Verlage wie Boosey und Hawkes oder Schott Music haben die Dynamik des kleinen neuen Marktes erkannt und mit Akquisitionen neuer Stücke sowie mit Katalogen reagiert. Stand der Komponist Wilfried Hiller in den 1990er Jahren mit seinem Arbeitsschwerpunkt von Kindermusikformaten mit hohem künstlerischem Anspruch für eine Sondererscheinung der Branche, gibt es heute eine gestiegene Zahl von E-Musik-Komponisten, die regelmäßig für das Kindermusiktheater schreiben (vgl. Plank 2021 zum zeitgenössischen Kindermusiktheater). Dies hat nicht nur mit der Aufwertung der Kunstform, sondern auch damit zu tun, dass das künstlerische und publikumsbedingte Risiko bei einer Kinderoper auf einer kleinen Spielstätte berechenbarer ist als im Großen Haus und sich das Bedürfnis der Theaterleitungen, auch neue Musik zu ermöglichen, also idealerweise im Kindermusiktheater realisieren lässt. Das Kindermusiktheater profitiert von diesem Umstand, indem zeitgenössische Musik zunehmend selbstverständlich wird und neue Werke zu Publikumserfolgen avancieren. Beispielsweise wurde das zeitgenössische Zweipersonenstück Gold (UA 2012) von Leonard Evers in der Spielzeit 2015/2016 in zwölf verschiedenen Inszenierungen aufgeführt (Deutscher Bühnenverein 2016).

Trotz vieler Neukompositionen kommt das Kindermusiktheater auch noch heute auf kompilierte Fassungen von Repertoirewerken zurück. Oft werden dabei berühmte und zugkräftige Titel umgeschrieben. Eines der bekanntesten Bearbeitungen stellt Eberhard Streuls Papageno spielt auf der Zauberflöte dar (UA 1981). Die Einrichtung eines Repertoirewerks spiegelt eine zentrale Motivation wider, die das Kindermusiktheater schon zu Zeiten der Märchenoper im 19. Jahrhundert begleitet hat, hundert Jahre später aber eine neue Dynamik entfaltet. Ging es bei Märchenoperntiteln darum, einem erwachsenen Publikum einen Anreiz zu geben, die Oper auch an (üblicherweise schlecht verkauften) Sonntagnachmittagen zu besuchen und dabei ihre Kinder mitzubringen, muss die Institution in den 1980er Jahren grundsätzlich um ihren Nachwuchs bangen. Die Oper verliert in den 1970er und 1980er Jahren besonders viele Besucher*innen. Kinderfassungen im großen Haus waren daher ein Mittel, möglichst viele junge Leute zu erreichen, von denen man hoffte, dass sie im Erwachsenenalter zu regelmäßigen Opernbesucher*innen werden könnten (zusammenfassend Schaback, 2019:19-20). Hintergrund des Besucherschwunds und der „Überalterung“ des Publikums liegen unter anderem im Wandel des Musikgeschmacks. Die populäre Musik, mit der die Jugend der 1960er Jahre groß wurde, avancierte zur prägenden Konstante, deren Implikationen von Jugend, Zugänglichkeit und Auflehnung sich vom traditionellen Opernbetrieb absetzte. Die Oper musste sich seit den 1980er Jahren nicht nur gegen schwindende Zuschauer, sondern auch gegen ein negatives Image von elitärer und teurer Hochkultur behaupten. Die Entwicklung des Kindermusiktheaters als Handlungsfeld der Kulturellen Bildung – im Folgenden dargelegt durch musikalische Partizipation, ästhetische Bildung und Interkultur – wird dabei auch zu einem wichtigen Gegenstand im Legitimationsdiskurs des Musiktheaters im Stadt- und Staatstheater.

  • Musikalische Partizipation:

Frühe Impulse der musikalischen Partizipation erhielt das Kindermusiktheater durch das Konzertleben und die Educationabteilungen der Orchester. Der Dirigent Gerd Albrecht hatte bereits 1966 Erklärkonzerte in Kassel veranstaltet. Als er 1988 Intendant der Hamburger Staatsoper wurde, führte er musikalische Komponistenportraits für junges Publikum ein sowie die interaktive Veranstaltung Musikinstrumente zum Anfassen. Die kindgerechte Strategie übertrug die Hamburger Staatsoper auch auf das Musiktheater. In den Klassiker-Adaptionen von Die Zauberflöte und Il barbiere di Siviglia ließ die Regisseurin Nicola Panzer bereits Ende der 1980er-Jahre Kinder mitwirken und bereitete die Tradition der Opera Piccola vor, die ab 2002 regelmäßig partizipative Opern produziert.

Der spätere Gründer der Jungen Oper in Stuttgart, Klaus Zehelein, schrieb bereits 1976 im Rahmen einer Konzertreihe in Oldenburg, bei der er Jugendliche zu Programmchefs machte, dass „kulturelle Arbeit für Jugendliche als notwendige Komponente der Legitimation öffentlich subventionierter Musikpflege ausgewiesen werden musste.“ In Auswertungsgesprächen stellte sich heraus, dass „vor allem das Mitbestimmungsverfahren, die Möglichkeit zu direkter Teilhabe und Einflussnahme als grundlegende Motivation zum Konzertbesuch und zu möglicher weiterer Beteiligung unterstrich“ (Ritzel/Zehelein 1976:917-918). Das Beispiel zeigt, dass Zeheleins primäres Interesse an Teilhabe nicht der Vermehrung und Verjüngung des Publikums zugunsten der Hochkultur-Zukunft galt, sondern auf das jugendliche Publikum der Gegenwart zielte. Kulturelle Bildung wird damit nicht aus der Perspektive einer bedürftigen Institution mit schwindendem Publikum, sondern aus der Sicht zu beteiligender Jugendlicher ermöglicht. Zehelein ging es nicht darum, die Elemente des Hochkulturereignisses für die Bedürfnisse der Zielgruppe aufzubereiten, sondern ihr selbst die Produktionsmittel in die Hand zu geben.

In der 21 Jahre später gegründeten Jungen Oper institutionalisierte Zehelein das Prinzip der Teilhabe auf theaterpraktischer Ebene. Über viele Jahre entstanden in jeder Spielzeit zwei Inszenierungen, in denen Kinder und Jugendliche obligatorisch singend und spielend mitwirkten. Möglich war auch eine Beteiligung hinter der Bühne (Kosuch 2004). Alle nachfolgenden Leiter*innen der Jungen Oper setzten das partizipative Programm fort, so entstanden beispielsweise musikalische Formate mit sehbehinderten und sehenden Kindern oder der Spielclub 50+.

Die Idee der musikalischen Beteiligung wurde mittlerweile deutschlandweit in verschiedene Richtungen weiterentwickelt. Ähnlich wie in Formaten der Schule sind die Grenzen zwischen Tanz, Konzert, Oper und Schauspiel fließend geworden. Während der Corona-Pandemie wurden sie häufig ins Netz verlegt und dort zu neuen medialen Formaten verarbeitet. Mit Horaison 2.0Wenn das Glück nach Hause kommt beispielsweise versammelte die Semperoper in einem Workshop Dresdner*innen von 10-75 Jahren, die aus ihren Wohnzimmern spielten, tanzten und sangen.

Einen wiederentdeckten Schwerpunkt bildet das Komponieren mit Kindern und Jugendlichen. Am Anfang einer Arbeitsphase steht die Sensibilisierung für Klänge und Geräusche. Komponiert wird dabei nicht nur mit Tönen, sondern vor allem mit Geräuschen und akustischen Tätigkeiten. Für die Notation der Aktionen auf einer Zeitachse reichen präzise Beschreibungen in Textform. Auf diese Weise wird der Kompositionsprozess auch für diejenigen Kinder zugänglich, die keine Noten lesen können (Gaudet 2019).

  • Ethische und ästhetische Bildung:

Ein weiterer Beweggrund der Neugründungen in den 1990er Jahren geht aus dem Bedürfnis hervor, ästhetische und Kulturelle Bildung für Kinder und Jugendliche zu ermöglichen. In einer Ansprache „auf Augenhöhe“, das heißt ohne trennenden Orchestergraben, werden dafür besonders kleinere Spielstätten genutzt. Die Herausforderungen des Großen Hauses, wie große Abstände zwischen Publikum und Bühne, Unsichtbarkeit des Orchesters und Dominanz des Optischen durch üppige Dekorationen, lassen sich hier auf natürliche Weise umgehen. Die Junge Oper in Stuttgart beispielsweise spielte nach ihrer Gründung im Kammertheater, auch die Junge Oper Dortmund und die Semperoper Dresden eröffneten ihr Musiktheater für junges Publikum auf kleinen Spielstätten.

Zunehmend thematisieren besonders die kleinformatigen Stücke Konflikte aus dem Lebensbereich von Kindern und Jugendlichen wie zum Beispiel Scheidung (Juliane Kleins Der unsichtbare Vater, UA 2009), kindliche Depression (Richard Ayres‘ Die Grille, UA 2005) oder Geschlechterkonstruktionen (Zad Moultakas Hamed und Sherifa, UA 2015). Durchgängig bietet es dabei Lösungsmöglichkeiten und Wertmodelle an, wie zum Beispiel, dass eine Familie aus mehreren Vätern bestehen kann, dass man durch Freundschaft Traurigkeit überwindet oder dass wahre Menschlichkeit geschlechtsunabhängig ist. Kindermusiktheater steht damit für eine doppelte Bildungsfunktion. Die eine erfüllt es als Reflexionsebene sozialer Wirklichkeit mit ethischer Orientierung. Die andere erfüllt sich durch die musikalisierte Form. Kindermusiktheater stellt oftmals eine erste Konfrontation mit zeitgenössischer Musik dar. Da – anders als im Konzert – die Musik im Kindermusiktheater meistens narrativ an die Darsteller gebunden bleibt, eröffnet sich in der Regel ein direktes Verständnis auditiver Informationen. Stärker als im Film oder bei Schauspielproduktionen vermittelt sich so eine zentrale Funktion des Musiktheaters, nämlich mit Musik Vorgänge gestisch ausdrücken zu können. Im Gegensatz zu einer durch realistische Film- und Computerspiele geprägten Medienerfahrung bietet das Kindermusiktheater ein Verständnis für abstrahierte Transformationsprozesse an und in der Mehrdeutigkeit von Musik liegt das Potenzial, Ambiguitäten lesen zu lernen. Einer Welt zu begegnen, die aus musikalischen Zeichen besteht, vermittelt dabei einen starken Eindruck davon, was Kunst im Allgemeinen sein kann, nämlich ein Verwandlungs- und ein Übertragungsprozess von einer Wirklichkeit in eine andere.

Ein weiteres Spezifikum des Kindermusiktheaters liegt in der Schulung des Hörens. Die Co-Leiterin der Jungen Oper in Mannheim, Andrea Gronemeyer, sagte in einem Interview: Bei Kindern sei „das Hörvermögen noch nicht ausgebildet, das geschulte Hineinhören in eine Musik. Kinder hören in dem Sinne noch gar nicht Musik. Das heißt, sie brauchen ein Musiktheater, das sie zum Hören verführt“ (Gronemeyer 2015:9). Besonders in Mannheim ist viel zur Hörsensibilisierung experimentiert worden. In der mobilen Produktion Lauschangriff. Eine Klassenzimmeruntersuchung des Lauschgiftdezernats (UA 2016) wurden Klänge im Klassenzimmer untersucht. Der Komponist Gerhard Stäbler machte mit Riech mal, wie das klingt die Bezüge zwischen optischen, akustischen und sogar olfaktorischen Reizen zum spielerischen Gegenstand des Bühnengeschehens (UA 2009). Besonders bei performativen Inszenierungen, bei denen kaum mehr klassisch erzählt wird, sondern Klänge und Geräusche für sich stehen, kann eine Rezeptionsbereitschaft glücken, die tradierte Hörgewohnheiten, wie zum Beispiel in Melodien oder klassischer Funktionsharmonik, hinter sich lässt. Mit musikalischen Performances, die sich oft an die allerkleinsten Zuschauer richten, schließt das Kindermusiktheater an postdramatische Theaterformen an. Wirkungsästhetisch kommt es dabei auf Positionen zurück, die bereits Komponisten wie Mauricio Kagel oder John Cage für den klassikdominierten Theater- und Konzertbetrieb forderten: Eine voraussetzungslose Haltung des Zuhörens, die nicht wertet und sich jedes Geräuschs annimmt – ein Spiegel einer Weltsicht, die sich nicht von Klischees und vorgegebenen Meinungen treiben lässt und sich die Freiheit bewahrt, selbst die scheinbar unbedeutsamsten Dinge neu zu entdecken (zum Kindermusiktheater als „Schule der Wahrnehmung“ vgl. auch Plank-Baldauf 2017).

  • Interkultur:

Abteilungen des Musiktheaters für Kinder und Jugendliche sind mit ihren Kontakten in die Schulen oder zu städtischen Chören oft auch eine erste Anlaufstelle für Bevölkerungsgruppen, die nicht zum Stammpublikum gehören. Besonders eindrücklich zeigt sich der Zusammenhang von Jugendarbeit und kultureller Öffnung bei der Komischen Oper Berlin. Die deutsche Hauptstadt versammelt die meisten Menschen mit türkischer Herkunft jenseits der Türkei. Dies lässt sich weniger in den abendlichen Vorstellungen im historischen Saal als in Schüleraufführungen und Workshops feststellen. Aus den Erfahrungen mit verschiedenen Gruppen der Stadtbevölkerung entstand die Idee, türkische Übertitel im Haupthaus anzubieten (Ostrop 2014:38). Heute unterhält die Komische Oper ein umfangreiches Workshop-Programm, bei dem türkische Mädchen mit ihren Müttern angesprochen wurden oder die „Türkisch-arabische Vätergruppe“ über Musiktheater diskutiert. Ein motorisierter „Operndolmuş“ bringt Musiker und Sänger zu pädagogischen oder kulturellen Institutionen in die Stadtteile. Musik und ihre transzendente Wirkung erweisen sich dabei als erkenntnisreiche Bezugspunkte im interkulturellen Austausch. Interkulturalität ist nicht nur eine Frage der sozialen Interaktion, sondern auch ein Gegenstand der Kunst. Oft ist sie verschlüsselt in Repertoirewerken zu entdecken. In zeitgenössischen Opern und insbesondere bei Formaten für Kinder und für Kinder und Jugendliche betrifft sie direkt die Themen der Stücke, die Zusammensetzung der Regieteams oder die Wahl der Darsteller*innen – etwa bei den interkulturellen Stückentwicklungen der Deutschen Oper Berlin mit Geflüchteten und Berliner Jugendlichen (Neuland / Der Schrei des Pfauen in der Nacht, UA 2018, Schmidt 2019).

Musiktheaterpädagogik

Heute sind die Interaktionen zwischen Schule und Oper vielfältig. Zur Vermittlung des Abendspielplans gehört die Einführungsveranstaltung in den Schulen, die Materialmappe für Lehrer oder das Gespräch nach der Vorstellung mit Sängern oder Musikern. In Mehrspartenhäusern kommt dem Kindermusiktheater die Verbindung zur Theaterpädagogik und der Jugendarbeit der Orchester zugute. Das Kindermusiktheater kümmert sich um Schulbesuche und um bereits bestehende Abkommen zwischen Schulen und Theatern mit Programmen wie „Enter!“ oder Theaterpatenschaften. Es werden nicht nur Workshops für Schüler*innen, sondern genauso für Lehrer*innen angeboten. Stärker als zuvor versucht das Musiktheater auf spezifische Altersgruppen (Babys, Kinder im Krabbelalter, Grundschüler*innen, Jugendliche usw.) und mit mobilen Produktionen auf besondere Spielorte einzugehen (Kita, Schulaula, Klassenzimmer, Altersheim und sogar Gefängnis).

Musiktheaterpädagog*innen bilden einen starken, aber kleinen Berufszweig. Es ist nicht eindeutig zu ermitteln, wie viele Menschen bundesweit in diesem Bereich arbeiten. In der freien Szene sind wahrscheinlich wesentlich mehr Menschen in diesem Bereich tätig als im Stadttheater. Die Künstlersozialkasse zählte 1.138 freiberufliche Theaterpädagog*innen im Jahr 2019. Wahrscheinlich sind etliche darunter, die auch musiktheaterpädagogisch tätig sind. Viele Pädagog*innen arbeiten ohnehin für mehrere Sparten, nicht nur für Oper und Schauspiel, sondern auch für Ballett und Konzert.

Ein gutes Beispiel für die positiven Interaktionen zwischen Schule und Oper ist die Szenische Interpretation von Musiktheater. Im Handbuch zu den Grundlagen wird die Herkunft der Vermittlungsmethode aus Wolfgang Martin Strohs Tätigkeitstheorie und dem handlungs- und erfahrungsorientierten Unterrichtskonzept erklärt (Brinkmann/Kosuch/Stroh 2013). Schüler*innen bekommen die Möglichkeit, sich ein Stück durch persönliche Rollenerfahrung anzueignen. Durch die Szenische Interpretation gelingt es, einen selbst erfahrenen Zugang zum Stück, zur vorgegebenen eigenen Rolle und zur Beziehung zu den anderen Figuren zu gewinnen, der den (meist späteren) Besuch der Inszenierung entscheidend bestimmt. Wer einen Stoff szenisch interpretiert hat, blickt kritischer auf die Interpretationen des Regieteams und ist in einer Rolle des aktiven Experten, der den inszenatorischen Entscheidungen nicht zwingend folgen muss. Die Szenische Interpretation lässt sich als Ausdruck eines Paradigmenwechsels in der Operndidaktik verstehen, die einen Wechsel von der passiven Aufnahme fremder Stücke zur aktiven Hinterfragung sich angeeigneter Stoffe führt. Das Grundlagenbuch der Szenischen Interpretation ist mittlerweile um über dreißig Teilbände zu einzelnen Werken erweitert worden, die nicht nur im Theater, sondern auch in der Schule zum Einsatz kommen. Die Szenische Interpretation gilt als das am weitesten verbreitete Arbeitsmittel deutschsprachiger Musiktheaterpädagog*innen (Clodi 2009:71).

Ausblick: Kinderoper als Kunstform der Zukunft?

Die Forschung zum Kindermusiktheater ist im Vergleich zum Kindertheater noch in den Anfängen. Insbesondere fehlen Studien zum Spezifikum szenisch-musikalischer Theatererfahrung. Die für die Theaterpraxis wichtige Monografie über den persönlichkeitsbildenden Aspekt, über Sprach- und Singkompetenz, Fremd- und Differenzerfahrung im Prozess musikalischen Theaters wurde noch nicht geschrieben. Auch die Wirkung von Kindermusiktheater auf seine Rezipienten stellt einen noch nicht gänzlich ausgeleuchteten Raum dar. Der heutige Diskurs ist noch immer stark von Zweckrelevanz geprägt, die von neurologischen bis hin zu sozialen Lernprozessen reicht (zusammenfassend Greandjean-Gremminger 2008). Die Theaterpraxis, aber auch die Kindermusiktheaterforschung ist dabei nicht frei von Zuschreibungen, zum Beispiel, dass Kinder besonders offen für neue Musik sein sollen, weil sich in ihnen noch kein kanonisches Wissen gebildet hat. Grundsätzlich bleibt eine Herausforderung, dass rezeptive Wirkungsweisen des Kindermusiktheaters immer polyvalent sind und sich kaum voneinander isolieren lassen. Mit anderen Worten wird der Höreindruck permanent durch einen optischen Eindruck beeinflusst und umgekehrt. Erst nach und nach verknüpfen Forscher*innen verwandte musikpädagogische, theaterwissenschaftliche und wirkungsästhetische Forschungsfelder (vgl. Schmid 2014).

Besonders vielfältig ist das Angebot von Kindermusiktheater in der freien Szene, obwohl das Musiktheater ressourcenbedingt vor allem an größeren, stärker geförderten freien Theatern beheimatet ist (Renz 2017:20). Die ästhetische Spanne reicht vom Singspiel mit Schauspielern und Musikensemble bis zu experimentellen, performativen Formaten, die auch Teile des Objekt-Theaters in sich aufnehmen. In freien Arbeitsformen begünstigen unhierarchische Arbeitsweisen, längere Probenzeiten und gewachsene Arbeitsbeziehungen die Kunstform. Stückentwicklungen sind zugleich Musik- und Klangentwicklungen. Im freien Theater entstehen eigenwillige Varianten des Kindermusiktheaters, bei denen nicht klassisch geschulter Gesang und ein Symphonieorchester, sondern Klänge, Geräusche, Materialsounds und (selbst) auf der Bühne hergestellte Musik im Zentrum stehen. Im chorischen Sprechen, im Wechselspiel von musikalischer Begleitung und Text und in der Rhythmisierung aller Bühnenvorgänge ergeben sich neue Formen (Das Kind der Seehundfrau vom freien Kindertheater Pfütze, UA 2010). Das freie Theater kann zu einem musikalisch agierenden Universalisten ausbilden und ist auf den klassisch ausgebildeten Musiker und Sänger nicht mehr zwingend angewiesen. Freie künstlerische Organisationsformen stellen ein Gegengewicht zur Arbeit im Stadttheater dar, wo überwiegend nach Partitur und in spezialisierten Berufen gearbeitet wird.

Zwischen freien (Kinder-) und Stadttheatern wird viel kooperiert. Die Musiktheatersparte des freien Kindertheaters Pfütze in Nürnberg, die jungeMET, ist eine Kooperation mit dem Stadttheater Fürth, das als sogenanntes Bespielhaus im Kern eine Gastspielstruktur praktiziert. Das freie Theater o.N. im Prenzlauer Berg kooperierte mehrfach mit der Deutschen Oper. Das aus der Caritas hervorgegangene Kinderopernhaus Lichtenberg arbeitete mit der Staatsoper Unter den Linden zusammen und gehört seit 2019 zum festen Bestandteil des Outreachprogramms der Lindenoper, das sich auf weitere Berliner Stadtteile ausgedehnt hat. Indem Kinder in den Jugendzentren ihrer Stadtteile proben, die wiederum von Horten und Schulen unterstützt werden, erreicht die Staatsoper auch solche Schüler*innen, die nicht durch ihren Wohnort oder durch die Kulturaffinität ihrer Eltern begünstigt sind. Akteure des freien Kindertheaters, der Bespielhäuser, der sozialpädagogischen Organisationsformen oder Stadttheater können durch die gemeinsame Arbeit voneinander lernen. Dies betrifft nicht nur die künstlerischen Prozesse und Expertisen, sondern auch die unterschiedlichen Erfahrungen aus divergierenden Organisationsformen. Kindermusiktheater ist damit auch zu einer Kunstform geworden, die die Grenzen innerhalb der Theaterlandschaft durchbricht und den Austausch fördert. Mit den meist kleinen, praktikablen Formen lässt sich gut auf „Abstecher“ gehen – nicht nur an andere Theater, sondern auch an Schulen. Durch den direkten Kontakt mit seinem Publikum stellt das Kindermusiktheater eine Kunstform dar, die eng mit der Stadtgesellschaft verbunden bleibt. Die lange Tradition partizipativer Formate in den Schulen begünstigt das Interesse für professionelles Kindermusiktheater und die partizipativen Angebote an den Häusern. Umgekehrt wecken partizipative Stücke, die im professionellen Bereich uraufgeführt werden, die Motivation für entsprechende Schultheaterprojekte. Als künstlerischer Bereich, der hinsichtlich seiner Produktionsformen und Zuschauerzahlen wächst und als künstlerische Gattung, die kulturell bildet, steht dem Kindermusiktheater eine aussichtsreiche Zukunft bevor.

Verwendete Literatur

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Joscha Schaback (2022): Kindermusiktheater und Kulturelle Bildung . In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/kindermusiktheater-kulturelle-bildung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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