Jugend und ihre Bilder der Nachhaltigkeit. Die Forschungsskizze zum Projekt „Expanding Narratives"
Dieser Text erscheint in Ergänzung zu dem auf kubi-online veröffentlichen englischsprachigen Praxis-Wissen-Beitrag „Challenges and opportunities of cultural media education in international contexts"
Abstract
Das partizipative Forschungs- und Bildungsprojekt „Expanding Narratives. Youth and Their Images of Sustainability“ widmet sich der Frage, wie Jugendliche historische und aktuelle Bilder und Narrative von Nachhaltigkeit in den (sozialen) Medien wahrnehmen und verhandeln. Ausgehend von einem medienpädagogischen Standpunkt werden hierzu Ansätze der kulturellen Medienbildung mit jenen der Bildung für nachhaltige Entwicklung und postkolonialen Perspektiven verknüpft. Im Zentrum steht die Konzeption, Durchführung und wissenschaftliche Begleitung eines mehrphasigen Workshops, an dem Jugendliche im Alter von 16 bis 21 Jahren aus Tansania und Deutschland teilnehmen. An beiden Standorten finden lokale sowie verbindende Hybridphasen statt, in deren Verlauf die Teilnehmenden eigene Ideen und Zukunftsvisionen entwickeln und fotografisch umsetzen. Die dabei entstandenen Werke werden anschließend öffentlich ausgestellt. Die vorliegende Forschungsskizze stellt die Ziele des Projekts, die zugrunde liegenden theoretischen Annahmen sowie die methodischen Leitlinien vor. Abschließend wird auf besonders herausfordernde Aspekte eingegangen, die im Projektverlauf berücksichtigt werden.
Über die Projektumsetzung diskutieren in einem englischsprachigen Textformat die Autor*innen Remi Busch, Alyssa Feick, Johanna Fink und Simon Fidelis Luyenga. Das über kubi-online zugängliche Schreibgespräch („Written exchange") entstand im Kontext des kubi-online Anliegens „Im Team Praxiswissen heben und vermitteln" und ist erschienen unter dem Titel „Challenges and opportunities of cultural media education in international contexts".
Im Zuge tiefgreifender gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse kommt gesellschaftlichen Narrativen eine große Bedeutung zu. Sie liefern einerseits Orientierung, indem sie Muster der Wahrnehmung und Interpretation von Selbst und Welt anbieten; ergänzend dazu eröffnen sie dem Individuum die Möglichkeit sich auch selbst "erzählend neu im gesellschaftlichen Gefüge zu verankern" (Schachtner 2016: 13). Die Jugendlichen heute sehen sich aufgefordert, sich individuell und gesellschaftlich mit planetaren Grenzen, Klimakrise und Fragen der Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Sie artikulieren ihre Ansprüche auf eine lebenswerte Zukunft dabei teils deutlich. Sie demonstrieren auf der Straße, kritisieren dominante politische Narrative – etwa die Darstellung der Energiewende als zu teuer – und haben es geschafft, mit der Forderung nach Generationengerechtigkeit ein neues Narrativ in den Diskurs einzubringen. (Soziale) Medien spielen in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle, da sie Möglichkeiten der globalen Vernetzung, der Selbstdarstellung sowie der Information und Kommunikation über die Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung bieten. Gleichzeitig sind digitale Technologien im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsfragen keineswegs als neutral anzusehen. Der enorme Einfluss einiger weniger IT Konzerne steht einer nachhaltigen Entwicklung in vielerlei Hinsicht entgegen, wie es auch unter dem Begriff des digitalen Kapitalismus diskutiert wird (Eckert/Grünberger 2024).
Aus medienpädagogischer Perspektive stellt sich die Frage, wie Jugendliche Narrative der Nachhaltigkeit in ihren alltäglichen Medienpraktiken wahrnehmen, aushandeln und weiterentwickeln. Im Projekt Expanding Narratives. Youth and Their Images of Sustainability (2024-2026, gefördert durch die RheinEnergie Stiftung) konzentrieren wir uns auf das Medium der Fotografie, da fotografische Bilder und visuelle Erfahrungen heute einen zentralen Bestandteil der Wahrnehmung, der Wirklichkeitserfahrung und des kommunikativen Austauschs von Jugendlichen bilden. Das Projekt schließt an Konzepte der kulturellen Medienbildung an, um Jugendliche dazu zu ermutigen, sich im gemeinsamen Austausch, aktiv und kritisch mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen und ihre Perspektiven dann durch eigene fotografische Arbeiten einzubringen. Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für das Projekt, das wir in dieser Forschungsskizze vorstellen.
Fragestellungen und Ziele des Projekts Expanding Narratives
Das Projekt Expanding Narratives nimmt eine kritische, kreative und analytische Perspektive auf Narrative und Bilder zum Thema Nachhaltigkeit ein. Im Rahmen eines partizipativen Forschungs- und Entwicklungsprojekts wird untersucht, wie Jugendliche aus Deutschland und Tansania historische und aktuelle Bilder und Narrative in (sozialen) Medien wahrnehmen und verhandeln. Die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Ländern eröffnet zudem die Möglichkeit, koloniale Beziehungen, postkoloniale Verflechtungen und hegemoniale Abhängigkeiten zwischen dem sog. globalen Norden und globalen Süden - auch in der Medienpädagogik stärker zu reflektieren (vgl. Grünberger 2021). Darüber hinaus eignet sich die Kooperation zwischen Deutschland und Tansania, da davon auszugehen ist, dass viele Jugendliche in beiden Ländern über gute Englischkenntnisse verfügen, wodurch die Kommunikation erleichtert wird.
Das zentrale Element des Projekts bildet ein mehrphasiger Workshop, der in einem hybriden Format konzipiert und realisiert wird. Dieses Format umfasst sowohl lokale als auch virtuelle Kooperationsphasen. Ergänzend zu den gemeinsamen Workshop-Wochenenden wird ein Buddy-Programm implementiert, bei dem jeweils eine Person aus Tansania und eine aus Deutschland kleinere Aufgaben bearbeiten, um den internationalen Austausch zu vertiefen. Im Verlauf von mehreren Monaten begleiten an den beiden Standorten jeweils eine Pädagogin und ein Fotograf die 16 Jugendlichen. Ziel ist es, dass die Teilnehmenden bestehende Bilder und Narrative kritisch analysieren, eigene Ideen mit einem besonderen Fokus auf die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft entwickeln und diese fotografisch umsetzen. Die Rekrutierung der Jugendlichen erfolgt über den Instagram-Account des Projekts sowie über Kooperationen mit Jugendorganisationen, Jugend- und Medienzentren sowie Schulen. Der offene Bewerbungsaufruf (Open Call) richtet sich an Jugendliche im Alter von 16 bis 21 Jahren, die in der Region Köln oder Dar es Salaam wohnen, über gute Englischkenntnisse verfügen und ein Interesse an den Themen Fotografie, Nachhaltigkeit und internationalem Austausch mitbringen. In ihrer Interessensbekundung sollen die Jugendlichen eine kurze schriftliche Darstellung ihrer Motivation einreichen. Die Auswahl der Teilnehmenden zielt auf eine möglichst diverse Gruppenzusammensetzung ab.
Wichtige Kooperationspartner*innen im Projekt sind das Goethe-Institut Tansania (https://www.goethe.de/ins/ts/de/index.html) in Dar es Salaam, die Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen (https://kulturellebildung.de/) in Remscheid sowie das Deutsche Kinder- und Jugendfilmzentrum (KJF) (https://www.kjf.de/), das seit über 60 Jahren den Deutschen Jugendfotopreis vergibt. Sie alle sind in entsprechenden Phasen des Projekts aktiv eingebunden. Ziel der Kooperation ist auch die Entwicklung eines Konzepts, das über das Projekt hinaus genutzt werden kann. Unser Ansatz besteht darin, die Bildungspraxis und Forschung miteinander zu verknüpfen. So werden wir einerseits ein Konzept für die medienpädagogische Praxis entwickeln und dieses im Anschluss an das Projekt als Open Educational Ressource (OER) veröffentlichen. Andererseits werden wir im Verlauf des Workshops in partizipativer Weise Forschungsdaten sammeln, analysieren und interpretieren (siehe unten). Die qualitative Analyse der Daten (Audioaufnahmen von Diskussionen, ethnographische Notizen und Fotografien) wird uns dabei helfen, unsere Forschungsfragen zu beantworten (siehe Abbildung 1).
Methodologische und theoretische Perspektiven
Die folgende Konzeptskizze (siehe Abbildung 2) zeigt die zentralen Eckpfeiler des Projekts, die wir im Folgenden kurz erläutern werden.
Kulturelle Medienbildung
Die Kulturelle Medienbildung als Teil der kulturellen Bildung vereint Medien, Kunst und Erziehung und versteht ästhetische Erfahrungen als sinnlich vermittelte Wahrnehmungserfahrungen, die „im Spannungsfeld zwischen Kunsterfahrungen und Alltagserfahrungen“ angesiedelt sind (Brandstätter 2012:174). Insbesondere bildbasierte soziale Medienplattformen eröffnen Jugendlichen ein faszinierendes Wahrnehmungsspektrum. Medienbildung weist darauf hin, dass zur pädagogischen Einordnung dieses Spektrums die Förderung der Wahrnehmungskompetenz (als Teil der Medienkompetenz) erforderlich ist (vgl. Baacke 1995). In unserem Projekt liegt der Fokus auf der Wahrnehmungsbildung, die sich auf das Bild als Medium bezieht. Diese hat eine lange Tradition in der Medienpädagogik und wurde bereits in internationalen Projekten mit Jugendlichen angewendet (für einen Überblick: Niesyto 2024). Auf Grundlage dieser Überlegungen möchten wir die Jugendlichen, die an unserem Projekt teilnehmen, dazu anregen, sich mit ihren Alltagspraktiken auseinanderzusetzen. Gemeinsam werden sie visuelle Darstellungen von Nachhaltigkeit entschlüsseln, zugrundeliegende Narrative dekonstruieren und kritisieren sowie eigene Ideen in Fotografien übersetzen. Zur Analyse der Bilder wird eine Methode adaptiert und verwendet (Holzbrecher und Tell 2006), die als hermeneutischer Ansatz bezeichnet werden kann. Sie ist explizit darauf ausgelegt, Bilder gemeinsam mit Jugendlichen in medienpädagogischen Kontexten, sowohl innerhalb als auch außerhalb von Schulen, zu interpretieren. Neben der Frage, welche Bedeutungen ein Bild auf den Ebenen der Beziehung, des Appells und der Selbstoffenbarung vermittelt (und auf welche Weise), ist auch die Rolle der Fotografie im Alltag der Jugendlichen von zentraler Bedeutung (ebd.). Reflektiert werden dabei auch die algorithmischen Strukturen sozialer Medienplattformen. Die von den Jugendlichen produzierten Fotografien werden sowohl online als auch im Rahmen verschiedener Veranstaltungen und Publikationen in Europa und Ostafrika präsentiert.
Partizipation
Partizipation nimmt in diesem Projekt eine zentrale Rolle auf mehreren Ebenen ein. So gilt es einerseits als wichtiges Prinzip der kulturellen Bildung (vgl. Braun/Witte 2017). Gleichzeitig orientieren wir uns an dem Konzept der partizipativen Kultur (Jenkins 2005), das sich vor etwa 20 Jahren in Zeiten des „Web 2.0“ zu einem Kernbegriff der englisch- wie deutschsprachigen Medienpädagogik entwickelt hat, heute aber differenzierter betrachtet wird (Barney et al. 2016, Dander et al. 2023). Des Weiteren orientieren wir uns an den Prinzipien der partizipativen Forschung, die die Potenziale kollaborativer Partnerschaften und empirischer Forschung nutzt, um soziale, kulturelle und politische Kontexte kritisch zu reflektieren und aktiv zu beeinflussen (vgl. Reason/Bradbury 2008; Bergold/Thomas 2012). Auf dieser Grundlage werden die Jugendlichen, die am Projekt teilnehmen, als Co-Forschende in den Forschungsprozess integriert. Konkret bedeutet dies, dass sie in die Datenerhebung eingebunden werden, indem sie Audioaufnahmen tätigen, Fotografien anfertigen und während der Workshops kurze Interviews mit den anderen Teilnehmenden führen. Im Hinblick auf die Datenanalyse werden alle Jugendlichen aktiv in die Bildinterpretation einbezogen, die auf die Forschungsfragen 2 und 3 (siehe Abbildung 1) ausgerichtet ist. Zudem erhalten sie die Möglichkeit, die Zwischenergebnisse der Analyse der transkribierten Diskussionen im zweiten Workshop kommunikativ zu validieren (Forschungsfrage 1; siehe Abbildung 1).
Globale und historische Dimensionen
Heutzutage ist es weitgehend anerkannt, dass die Herausforderungen, die durch ökologische Krisen verursacht werden, global betrachtet und angegangen werden müssen. Im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Jugendlichen beabsichtigen wir, transnationale Kommunikation zu fördern und ein Verständnis für kulturell unterschiedliche oder ähnliche Narrative zu entwickeln. Zudem berücksichtigen wir, dass die Klimakrise in den Medien unterschiedlich erzählt wird. In Europa bzw. dem sog. globalen Norden erlangte beispielsweise das Narrativ der „Generationengerechtigkeit“ mit der Fridays for Future-Bewegung mediale Aufmerksamkeit, in Afrika und somit dem sog. globalen Süden gehören die Ausrottung von Armut und die Forderung nach Verantwortung von wohlhabenderen Regionen für die Krisen zu wichtigen narrativen Strängen (vgl. Saleh 2014). Mit den relativen Begriffen Globaler Norden und Globaler Süden beziehen wir uns auf die politisch-sozialen und sozioökonomischen Positionierungen im globalen Kontext, die entweder privilegiert oder benachteiligt sind. Diese Privilegien und Benachteiligungen sind historisch gewachsen und stellen vor allem ein Ergebnis von kolonialer Ausbeutung und Rassismus dar. In Bezug auf den Klimawandel zeigt sich die Ungleichheit zwischen Globalem Norden und Globalem Süden beispielsweise darin, dass der Globale Süden besonders stark von den Folgen der Treibhausgasemissionen betroffen ist, zu denen er nur in geringem Maße beigetragen hat und auch kaum über Ressourcen verfügt, um sich gegen die Konsequenzen zu schützen.
Ziel des zweiten Workshops ist es somit u.a., gemeinsam mit den teilnehmenden Jugendlichen auch die historisch gewachsene Perspektive auf Nachhaltigkeit zu reflektieren. Hierzu werden Archivmaterialien herangezogen. Zusammen mit unseren Kooperationspartner*innen wird eine Kuratierung von Fotografien aus den letzten 60 Jahren des Deutschen Jugendfotopreises und aus Archivbeständen aus Tansania durchgeführt. Diese Fotografien werden gemeinsam mit den Jugendlichen im Vergleich zu ihren aktuellen Bildern diskutiert (Forschungsfrage 3; siehe Abbildung 1).
Ausblick und Reflexionen
In unserer Forschung möchten wir gemeinsam mit Jugendlichen aus Tansania und Deutschland untersuchen, wie sich Heranwachsende in einer visualisierten und digitalisierten Welt im Hinblick auf Nachhaltigkeit orientieren und wie sie das Thema wahrnehmen und verhandeln. Gleichzeitig wollen wir mit Hilfe der Fotografie erforschen, auf welche Weise sie ihre Perspektiven erweitern (können). Dabei setzt die Erweiterung von Narrativen die aktive Partizipation der Jugendlichen voraus. Wir sind uns bewusst, dass die Online-Zusammenarbeit, insbesondere in englischer Sprache, den sozialen und kulturellen Austausch erschweren kann und dass eine Reihe methodischer Herausforderungen zu bewältigen sind. Ebenso gehen wir davon aus, dass die beteiligten Jugendlichen unterschiedliche Interpretationen, Interessen und Erwartungen mitbringen und in ihren jeweiligen Bezugssystemen vor unterschiedlichen Herausforderungen stehen. Die daraus resultierenden Konflikte können – im Sinne der partizipativen Forschung – als Ausdruck dessen interpretiert werden, dass alle Teilnehmenden eine „Stimme“ haben und ihre eigenen Sichtweisen vertreten können. Gleichzeitig eröffnen sie Chancen zur Selbstermächtigung und zur kritischen Auseinandersetzung mit den vielschichtigen Aspekten im Projekt.