Inszenierung von Wahrnehmung. Phänomenologische Perspektiven auf den Gegenstandsbezug im zeitgenössischen Musiktheater für jüngstes Publikum

Artikel-Metadaten

von Christiane Plank-Baldauf, Tamara Schmidt

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

In den vergangenen zehn Jahren haben sich im Musiktheater postdramatische Erzählformate herausgebildet, die das theatrale Erzählen von der Darstellung logisch-kausaler Erzählzusammenhänge auf das Bewusstmachen sinnlicher Wahrnehmungsvorgänge verschoben haben. Die Wahrnehmung als eine besondere Form einer kreativen Handlung wird in das dramaturgische Konzept integriert, bei dem Hör-, Seh- und andere Wahrnehmungsereignisse als körperliche Erfahrungen miteinander verbunden sind. Insbesondere das Musiktheater für jüngstes Publikum zielt nicht auf theatrale Repräsentation oder klassisches Musizieren, sondern auf das Anstoßen ästhetischer Erfahrungsprozesse im Erforschen von (Klang-) Material. Kinder werden dabei zu Forscher*innen, Konstrukteur*innen und aktiv Handelnden. Die Ko-Präsenz von Performer*innen und Zuschauer*innen im Raum lässt ein enges Beziehungsgeflecht zwischen Zuschauen, Zuhören und Interaktion entstehen, das an eine gemeinsame Präsenzerfahrung gekoppelt ist, gleichzeitig aber auch an der Erfahrungswelt des Publikums anknüpft.

Der Beitrag beleuchtet ein besonderes Feld der Musikvermittlung und des Musiktheaters, das sich in der Praxis durch eine hohe Interdisziplinarität auszeichnet und in der Forschung und Wissenschaft vor allem von ästhetischen Zugriffen geprägt ist. Anhand einiger Beispiele aus der aktuellen, postdramatischen Musiktheater-Praxis für jüngstes Publikum werden Umgangsweisen mit Dingen und Material vorgestellt und ihre Bedeutung für eine vertiefte Wahrnehmung herausgearbeitet.

Erscheinen und Erleben – Wahrnehmungsvorgänge im Musiktheater für jüngstes Publikum

Waren bis vor etwa 20 Jahren mit Musiktheater für junges Publikum vornehmlich geschlossene, komponierte Opern-, Operetten- oder Musicalwerke gemeint, die an einzelnen Stadt- und Staatstheatern, in Schulen oder im Amateur*innen-Chorwesen produziert wurden, lässt sich seitdem eine rasante Entwicklung beobachten. Musiktheater für junges Publikum ist zu einem weit verbreiteten, künstlerisch anspruchsvollen Genre geworden, das mit postdramatischen Erzählformen ebenso experimentiert wie mit kollaborativen Stückentwicklungen. Vor dem Hintergrund kulturpolitischer Forderungen nach Zugängen zum Konzert- und Theaterbetrieb, nach kultureller Teilhabe und der gesellschaftlichen Verantwortung von Kulturinstitutionen bemühen sich die Verantwortlichen zudem um eine Erweiterung und Ausdifferenzierung der Zielgruppen. Musiktheaterproduktionen werden gezielt für bestimmte Gruppen entwickelt – häufig anhand der Differenzkategorie Alter –, um mit ihren Inhalten, künstlerischen Formen und Aufführungsformaten die spezifischen Bedürfnisse berücksichtigen zu können (vgl. Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland 2016; Plank-Baldauf 2019; Schaback 2020; Mandel/Nesemann 2021; Plank-Baldauf/Fahrholz 2023).

Eine dieser Ausdifferenzierungen ist das Musiktheater für jüngstes Publikum (auch als Musiktheater für die Jüngsten, Theater von Anfang an, Babyoper oder Ähnliches bezeichnet), eine Musiktheaterform für Kinder in ihren ersten Lebensjahren bis circa fünf Jahren. Dieses noch recht junge Genre zeichnet sich dadurch aus, dass die Erzählstrategien häufig darauf beruhen, die Wahrnehmung des Publikums zu fokussieren, indem musikalische und szenische Vorgänge als musiktheatrale Ereignisse sowohl im Akt ihrer Entstehung als auch während ihres Erscheinens im Bühnengeschehen gezeigt und erfahrbar gemacht werden: Das Ereignishafte einer Aufführung rückt in den Fokus (vgl. Fischer-Lichte 2004:58). Mit dieser Übertragung des Performanz-Begriffs (vgl. Wirth 2002:9) auf das Musiktheater lassen sich akustische und visuelle Ereignisse als materiale Verkörperungen beschreiben, die über die an sich bereits performative Wirkung eines Musik- oder Sprechereignisses hinausreichen. Der Umgang mit dinghaften und nicht-materiellen Gegenständen spielt also eine zentrale Rolle.

Durch seine Transdisziplinarität ist das Musiktheater für junges Publikum Gegenstand mehrerer benachbarter Wissenschaftsdisziplinen, wie zum Beispiel der Theater- und Musikwissenschaft, der Erziehungswissenschaft oder der Elementaren Musikpädagogik (vgl. Widmer 2004; Plank-Baldauf 2017; Erlach et al. 2020; Petry et al. 2022). Musiktheater allerdings, das sich an jüngste Kinder in den ersten Lebensjahren richtet, wird bislang vornehmlich in der künstlerischen Praxis erforscht (vgl. Israel 2019; Theater o. N. 2017). Nur vereinzelt hat auch die wissenschaftliche Forschung in den vergangenen Jahren Erkenntnisse dazu gewonnen (vgl. Gruhn 2017). In diesem Beitrag bringen wir musikpädagogische und theaterwissenschaftliche Forschungsperspektiven zusammen und verbinden sie mit unseren eigenen musiktheaterpraktischen Erfahrungen als Dramaturginnen, Projektleiterinnen, Vermittlerinnen und Jurorinnen, die wir in den vergangenen 15 Jahren in diesem Feld gesammelt haben.

Methodisch folgen wir einer phänomenologischen Perspektive, die nicht nur verlangt, Wahrnehmungsvorgänge genau zu untersuchen und diese als Erkenntnisquelle nutzt. Sondern sie fordert auch dazu auf, sich zwischen dem Erlebnis des Erscheinens und der Erscheinung selbst zu bewegen (vgl. Roselt 2008). Mit diesem Zugang kann die „Rückseite der Semiotik“ (Roselt 2008:249) von Musiktheater betrachtet werden, die „vibrierenden Stimmen, die Leiblichkeit der Darsteller [sic!] und die Dynamiken der Aufführung“ (ebd.:212). Rezeption wird in diesem Beitrag als kreativ-produktive Handlung begriffen, an der die verschiedenen Sinneskanäle Sehen, Hören, Tasten, Schmecken gleichberechtigt beteiligt sind und nicht als rein nachvollziehender, interpretierender Vorgang. Darüber hinaus ist die ästhetische Wahrnehmung an die unmittelbare Erfahrung (vgl. Seel 2003:159) und die Präsenz szenischer Hör- und Sehereignisse gebunden und ereignet sich im dynamischen Wechselspiel zwischen Bühne und Publikum mit jeder Aufführung neu (Waldenfels 2015:244).

Aus diesen Blickrichtungen widmet sich der Artikel zunächst dem Genre Musiktheater für jüngstes Publikum. Anschließend werden anhand einer konkreten Musiktheaterproduktion gegenstandsbezogene Phänomene und Umgangsweisen mit dinghaften und nicht-materiellen Gegenständen untersucht. Abschließend weitet sich der Blick auf machtkritische, transformative Implikationen und Wirkungen des zeitgenössischen Musiktheaters.

Zeitgenössisches Musiktheater für jüngstes Publikum – Entwicklung und Merkmale

Musiktheater für junges Publikum manifestierte sich bis in die 1980er Jahren vor allem an den Stadt- und Staatstheatern in der Bearbeitung großer Opernstoffe, unter anderem um die Theaterillusion, die Klangfülle des Orchesterapparats und große Erzählungen der tradierten Opernform zu wahren – und um junge Menschen an die Kunstform Oper heranzuführen, nicht zuletzt mit dem Hintergedanken des Publikumserhalts (vgl. Regler-Bellinger 1996; Reiß 2006). Seit den 2000er Jahren verschiebt sich der Fokus auf kleinere musikdramatische Formen, in denen mit verschiedenen Ästhetiken, musikalischen Stilrichtungen und postdramatischen Erzählformen experimentiert wird. Diese Entwicklung ist geprägt von zum Beispiel der Theateravantgarde und performativen Wende der 1960er Jahre mit Komponist*innen wie John Cage oder dem Instrumentalen Theater mit Komponist*innen wie Mauricio Kagel: Das musikalisch-theatrale Geschehen ist nicht mehr von einer logisch-kausalen, figuren- und wortbezogenen Handlung bestimmt, deren Sinnzusammenhänge es zu entschlüsseln gilt. Sondern das Ereignishafte des musiktheatralen Geschehens rückt in den Mittelpunkt, ebenso das sinnliche Potenzial, das im Zusammenwirken der verschiedenen musiktheatralen Mittel (wie zum Beispiel Klänge, Stimmen, Körper, Bewegung, Licht und Raum) liegt.

Neben diesen Impulsen prägte von 2006 bis 2008 das Programm Theater von Anfang an! Vernetzung, Modelle, Methoden: Impulse für das Feld frühkindlicher ästhetischer Bildung initiiert vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland zudem maßgeblich das Musiktheater für jüngstes Publikum. Konnten europäische Nachbarländer, wie Frankreich, Italien und die skandinavischen Länder, bereits auf einige Erfahrungen zurückgreifen, begannen 2006 auch hierzulande Künstler*innen, Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen Theaterformen für das jüngste Publikum an verschiedenen Standorten und unter verschiedenen Versuchsanordnungen zu entwickeln.

Seitdem ist eine lebendige Szene der künstlerischen Praxis entstanden, die an verschiedenen Schnittstellen angesiedelt und von unterschiedlichen Einflüssen gekennzeichnet ist sowie sich ästhetisch als äußerst vielfältig erweist: Zeitgenössisches Musiktheater für jüngstes Publikum entsteht an zahlreichen Orten (zum Beispiel Stadt- und Staatstheatern, Festivals), in unterschiedlichen Produktionszusammenhängen (zum Beispiel Freie Szene, Koproduktionen, Musikschule) oder angegliedert an Programme und Netzwerke (zum Beispiel AG Musiktheater für Junges Publikum der ASSITEJ, Netzwerk frühkindliche Kulturelle Bildung, Förderprogramm Kunst und Spiele der Robert Bosch Stiftung). Die Produktionen stehen häufig zwischen Theater und Musiktheater, zwischen darstellenden und bildenden Künsten, zwischen Kunst und Vermittlung, aber auch zwischen musiktheatralem Zeigen und aktivem Mitwirken am musikalisch-szenischen Geschehen.

Analysematerial

Auf Grundlage der bis hierhin dargelegten Überlegungen werden im Folgenden anhand einer konkreten Musiktheaterproduktion gegenstandsbezogene Aspekte und ihr Zusammenhang mit Wahrnehmungsstimulierung herausgearbeitet. Als Analysematerial dient die Musiktheaterproduktion Murmeli (UA 2017) des Theaters Basel für Kinder unter 2 Jahren, die im Folgenden beschrieben wird.

Die Aufführungen spielen im kleinen Saal des Theaters Basel. In dessen Mitte sind Steine, grüne Büsche, Filzmatten und ein Wasserzuber angeordnet; mildes Licht lässt eine behagliche Atmosphäre im Raum entstehen. Dort sitzen die drei Performer*innen zu Beginn der Aufführung, freundlich, einen ersten Kontakt zu den eintretenden Zuschauer*innen aufnehmend. An der Hand oder auf dem Arm ihrer erwachsenen Begleitpersonen nähern sich die Kinder und verbleiben in einem Kreis um die Spielfläche. Manche verhalten sich vorsichtig-schüchtern, andere beginnen allein oder mit ihren Begleiter*innen den Bühnenraum zu erkunden, die Steine zu berühren und zu verschieben, oder die runden Büsche zu befühlen. Situationen kurzen Zusammenspiels entstehen. Die Performer*innen begleiten diese Aktionen, reagieren und interagieren und etablieren auf diese Weise eine offene Spielsituation, in der die Kinder eingeladen sind, auf eine körperliche Weise an der Aufführung teilzuhaben oder aber bei ihren Begleitpersonen dem Geschehen zu folgen.

Die Aufführung lässt anhand der Materialien, Objekte und Klänge Bilder einer Berglandschaft entstehen, wie zum Beispiel summende Bergwiesen, windige Gipfel und stille Täler. Diese kommen durch Geräusche zustande, die durch die unterschiedliche Bespielung der Gegenstände entstehen, sowie durch Vokalklänge und -improvisationen, die trotz ihrer Transparenz und Natürlichkeit nach musikalischen Prinzipien strukturiert sind. Es ergeben sich schlichte melodische Folgen und Rhythmen, Einzelstimmen verdichten sich zur Mehrstimmigkeit, dichte, kontrastreiche musikalische Passagen werden von ruhigen, weniger intensiven abgelöst. Musikalische Interaktionen werden dabei immer wieder für gestische Interaktionen mit dem Publikum genutzt. Immer wieder konkretisieren sie sich zu kleinen Handlungssequenzen, wie kurzen Momenten der Freude, des Traurig- oder des Alleinseins.

Sinnliche Erfahrung und Weltaneignung

Kindliche Weltaneignung ist eng mit der Sinnestätigkeit verknüpft (vgl. zum Beispiel Mattenklott/Rora 2004). Die unmittelbare Begegnung mit der sie umgebenden Welt löst bei jüngsten Kindern Neugier aus. Sie lassen sich affizieren von Dingen und Atmosphären, die sie nicht kennen und die ihr Interesse wecken. Sie sind vor allem damit beschäftigt, die sie umgebende Welt wahrzunehmen, sie zu explorieren sowie Muster und Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. „Es entsteht eine Art Forscherdrang, den Dingen auf den Grund zu gehen und auszuprobieren, was sie hergeben, wie sie funktionieren und wofür sie gut sein könnten.“ (Duncker 2010:15). Dabei ist die aktive Tätigkeit der Sinne entscheidend – jüngste Kinder bevorzugen „eigentätige[n] Formen des Betrachtens, Erkennens und Handelns“ (Duncker 2010:12). Gerd E. Schäfer bezeichnet die sinnliche Wahrnehmung als „Eingangstor der Welterfahrung“ (1995:1), weil das Kind darauf angewiesen ist, aus seinen sinnlichen Erfahrungen zu erschließen, was wichtig für seine Entwicklung und Weltaneignung ist.

Je jünger die Kinder sind, desto mehr ist ihre Wahrnehmung coenästhetisch auf das Erleben mit allen Sinnen gerichtet. Die körperliche, „leibsinnliche“ (Gruhn 2003:33) Wahrnehmung nimmt in jungen Jahren einen wichtigen Stellenwert ein. Kinder reagieren beispielsweise auf Klänge, indem sie sich ihnen zuwenden oder ihre sinnlichen Eindrücke körperlich ausdrücken. Erst später differenziert sich die Wahrnehmung in getrennte Bereiche des Hör-, Sicht-, Fühl-, Riech- und Schmeckbaren aus (vgl. Gruhn 2017:7).

Eine Prämisse des Musiktheaters für jüngstes Publikum ist die Orientierung an ihrer Zielgruppe und ihren entwicklungsspezifischen Rezeptionsbedingungen. Musiktheaterproduktionen knüpfen an diese Formen kindlicher Welterkundung an, greifen Spielformen jüngster Kinder auf und lassen sie in die Inszenierungen einfließen. Murmeli ermöglicht. durch räumliche Anordnungen unmittelbares Interagieren zwischen Darsteller*innen und Publikum und gibt Raum für körperbezogenes Wahrnehmungsverhalten (zum Beispiel Krabbeln, Aufstehen, Zeigen). Die Produktion knüpft an die Bereitschaft der Kinder an, mit allen Sinnen und durch eigenes Handeln die Welt zu entdecken. Die gewählten Spielsettings laden dazu ein, Klänge im Raum zu untersuchen, der sinnlichen Wirkung verschiedener Klangereignisse nachzuspüren und darüber vertraute Klänge neu zu hören (vgl. Gruhn 2017).

Wie im theaterwissenschaftlichen Diskurs hinreichend beschrieben (vgl. Herrmann 1914:118; Fischer-Lichte 2004:58; Rost 2017:12), liegt die Besonderheit theatraler und musikalischer Ereignisse in dieser unmittelbar sinnlichen Erfahrbarkeit. Ihre Einzigartigkeit entsteht für den Moment, sie ist flüchtig und nur als besondere Form der Kommunikation zu erfahren (vgl. Fischer-Lichte 2004). Die Faszination, die im Musiktheater für jüngste Kinder zum Beispiel von live produzierten Klängen oder der körperlichen Präsenz einer Sängerin während einer Aufführung ausgeht, erstreckt sich auf das Zusammenwirken aller theatralen Ausdrucksebenen (unter anderem Raum, Sprache, Musik, Gesang, Bewegung, Licht) und vermag auf diese Weise alle Sinne der Kinder anzusprechen. Wahrnehmung bezieht sich vor diesem Hintergrund nicht einzig darauf, Handlungen und musikalische Ereignisse nachzuvollziehen und auf ihre Aussagen hin zu überprüfen, sondern meint vielmehr eine Erfahrung sinnlicher Präsenz im Hier und Jetzt (vgl. Plank-Baldauf/Fahrholz 2023:25; Roselt 2008).

Der Gesangsstimme kommt hierbei eine herausragende Stellung zu, weil sie es vermag, trotz Distanz einen Nahraum des Hörens zu schaffen und leiblich zu wirken. Nach Clemens Risis phänomenologischer Perspektive, nach der jedes Ereignis nur mit der eigenen leiblichen Erfahrung beschrieben werden kann (vgl. 2014:o. S.), erfüllt die Gesangsstimme nicht mehr eine dramatische Bedeutungsfunktion. Sondern der zuhörende Mensch geht über die Wahrnehmung und Erfahrung der Gesangsstimme „eine Beziehung mit diesem Gegenüber ein“ (ebd.) – es kommt zu einer „Ko-Präsenz beziehungsweise Ko-Vibration“ (ebd.), bei der der „hörende Leib“ zu einem „mitschwingenden Resonanzkörper“ (Waldenfels 2015:170) wird.

Zum Gegenstandsbezug

Oszillierende Funktionen der Objekte

Objekten und Material kommen in diesem Zusammenspiel große Bedeutung zu. Obwohl mit ihnen bestimmte Erfahrungen und Praktiken einhergehen, erhalten sie jedoch erst im Gebrauch und in Interaktion ihren spezifischen Sinn (vgl. Rabenstein 2018:18). Es lässt sich ihnen keine stabile, über das Situative hinausgehende Stofflichkeit zuweisen.

Aus einer musiktheater-ästhetischen Perspektive interessiert dabei vor allem die performative Qualität eines Gegenstands in Hinblick auf dessen Materialität und Klanglichkeit. Nach Bernhard Waldenfels fordern Dinge einen auf, etwas mit ihnen zu tun (vgl. 2000:375). Dies ist an eine spezifische Materialität der Dinge geknüpft: Die vielen Steine, die das Bühnenbild von Murmeli definieren, laden dazu ein, sie zu befühlen, mit ihnen zu bauen oder sie fallen zu lassen. Das Wasser im Zuber hingegen motiviert die Kinder zum Plantschen – die dabei entstehenden Geräusche werden durch unterschiedliches ‚Bespielen‘ der Wasseroberfläche variiert. Im Bühnensetting von Murmeli werden verschiedene Materialitäten präsentiert, um ihre spezifischen Erscheinungen in ihrer performativen Qualität hervorzuheben und für das Bühnengeschehen gezielt zu nutzen.

Die Bühnenobjekte erhalten im Stückverlauf wandelnde Bedeutungs- und Funktionszuweisungen (vgl. Rabenstein 2018:22). Beispielsweise ist der Stein zunächst das, ‚was er ist‘ – er wird im Spiel als Material angefasst, seine Materialität und Klanglichkeit im Kontakt mit anderen Steinen untersucht. Erst im nächsten Schritt verweist er auf eine andere Bedeutungsebene und wird mit Zeichen und Bedeutung aufgeladen. Er wird zu einem Instrument, einem Stabspiel, das ‚gespielt‘, dessen Klang allerdings vokal produziert wird. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass der Stein für die Performer*in eine persönliche Bedeutung zu haben scheint, der Umgang mit ihm wird mit Affekten verknüpft. Dieses Oszillieren verschiedener Bedeutungen und Spielhaltungen im Moment des Erkundens, ist der Zielgruppe im kindlichen Spiel vertraut (vgl. Schäfer 1995; Piaget 2003). Dabei handelt es sich auch um ein Phänomen, das dem Theater ureigen ist: die Behauptung, dass alle Gegenstände des theatralen Geschehens durch ihr ‚Sosein‘ erfahrbar werden und innerhalb des theatralen Spiels unterschiedliche Bedeutungsebenen eröffnen können (vgl. Rabenstein 2018:24). Auch in Murmeli bedient sich das Musiktheater seiner eigenen Mittel: Einige Steine sind reale Steine, andere sind kaschierte Bühnenrequisiten. Manche haben eine andere Farbe, fühlen sich anders an, sind leichter und klingen anders als reale Steine – manche Steine sind beispielsweise Rasseln. Das Musiktheater für jüngstes Publikum expliziert die von Kerstin Rabenstein beschriebene Wandelbarkeit der Gegenstände (vgl. 2018:18) und spielt dezidiert mit den Funktionsübergängen.

Es sind Gegenstände und Klänge, die der Zielgruppe aus ihrem Umfeld bereits vertraut sind. Dennoch erscheinen sie im Bühnenraum anders, sie werden in einer anderen ästhetischen Qualität erlebt als in Alltagssituationen. Durch die Positionierung der Objekte im Raum wird ein Kunstraum etabliert, der jedoch der Zielgruppe Anknüpfungspunkte an eigene Erfahrungen eröffnet. Nach Ellen Dissanayake erfahren die Gegenstände eine „Artifizierung“ (2001:218). Sie verlassen die Bedeutung als Funktionsgegenstand und werden ein eigenständiger Akteur auf der Bühne. Das Material ‚kommuniziert‘ auf diese Weise mit dem Publikum und bringt sich im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie als gleichberechtigter Aktant in das Bühnengeschehen ein (Latour 2007:131). Diese Artifizierung der Gegenstände wird immer wieder durchbrochen und konstituiert sich neu, indem zum Beispiel Zuschauer*innen Teile des Bühnenbilds neu anordnen.

Klangereignis als Gegenstand

Jedes Klangereignis in Murmeli – sei es vokal oder auf (Klang-) Objekten produziert – wird für das Publikum bemerkbar eingeführt, ist transparent hör- und sichtbar und überschneidet sich nicht mit anderen Klangvorgängen. Beispielsweise wird ein dreistimmiger Kanon in Murmeli zunächst mit einem instrumentalen Rhythmus vorbereitet, nach einiger Zeit setzt das Klangereignis ‚Gesangstimme‘ ein und erst im weiteren Verlauf sukzessive die weiteren Stimmen. Die Klangereignisse können auf diese Weise in ihrem Erscheinen vom jungen Publikum bewusst wahrgenommen werden.

Im Beispiel Murmeli werden nicht die verschiedenen Klangeigenschaften, zum Beispiel eines Steins, seziert, sondern es wird einem akustischen Phänomen nachgespürt. Innerhalb der vielen Klangmöglichkeiten wird der Einmaligkeit jedes Klangs – ganz im Sinne John Cages (vgl. 2012:19) – Aufmerksamkeit geschenkt und diese erlebbar gemacht. Die Performer*innen von Murmeli folgen nicht nur selbst den Klängen, sondern untersuchen auch nachvollziehbar für das Publikum, wie die materielle Ursache des Klangs seine Klangeigenschaften beeinflusst. Klang initiiert somit „sensorisches Erleben materieller Art“ (Schulze 2016:413). Der Gegenstand Klang wird als „materielle Dimensionierung sinnlicher Wahrnehmung“ (Schatt 2021:177) verstanden und wird selbst Teil des musiktheatralen Geschehens.

Auch Sprache wird nicht mit Wortsinn und Bedeutungsgehalt verknüpft, sondern als musikalisches Material eingesetzt: Aus Wörtern werden Sprachspiele, Lautmalereien oder perkussive Klänge. Ebenso ist der Gesang nicht mit Wortsinn verbunden, sondern mit der klanglichen Wirkung der menschlichen Stimme. In Murmeli experimentiert bspw. eine Sängerin mit den eigenen Stimmlauten und erzählt darüber eine Situation von Traurigkeit. Die Körpersprache der Sängerin, ihre Gesten und Bewegungen generieren im Zusammenspiel mit der Klanglichkeit ihrer Stimme Bedeutung.

Grundlegend für ein Hörereignis ist, dass jeder Klang aus dem Zusammenwirken mehrerer Stimmen entsteht. Jedes Ding erklingt durch etwas und mit einer bestimmten Klangfarbe. Daniel Schmicking bezeichnet dies aus wahrnehmungsästhetischer Perspektive als „polyphones Hören (2003:286). Dabei geht es nicht bspw. im Sinne Theodor Adornos (vgl. 1984:145) darum, jedem Klang ein verursachendes Ereignis zuzuordnen, sondern alle Ereignisse, die am Klang beteiligt sind, zu erfassen: etwa das Wahrnehmen der Bewegung des Musikers beim Rasseln, das Hören des entstehenden Klangs beim Schütteln des Steins, das Greifen und Spüren der Materialität des Steins. Die verschiedenen Hör- und Sehereignisse aller musiktheatralen Ebenen sind miteinander verbunden und als körperliche Erfahrung wahrnehmbar. In Murmeli wirken Klang, Bewegung und Gesten der Musiker*innen intermedial zusammen. Ein akustischer Vorgang wird zu einem visuellen Ereignis, das sich zu einer szenischen Aktion entwickelt – bzw. in gegenläufiger Reihenfolge.

Das spielerische Ausprobieren in Bühnensituationen findet eine Entsprechung im kindlichen Spiel, das den ständigen Wechsel verschiedener Spielhaltungen kennt. Außerdem ist die Interaktion zwischen Performer*innen und Publikum zentral. Kinder reagieren bei Murmeli mitunter körperlich und aktiv-handelnd auf das Bühnengeschehen, begehen den offenen Bühnenraum ohne Vierte Wand und werden Mit-Spieler*innen – sie erkunden die Steine, experimentieren mit Wasser etc. Die Performer*innen interagieren spielerisch, greifen Spielimpulse der Kinder auf und reagieren dezent auf Stimmungen des Publikums. Dies ermöglicht der Stückablauf, der zwischen festgelegten musiktheatralen Momenten und offenen Improvisationen changiert.

Staunen und ästhetische Erfahrung

Wie bei jeder Auseinandersetzung mit Kunst, können auch bei der Begegnung mit Musiktheater Reibungen und Störungen von bekannten Hör- und Sehgewohnheiten entstehen. Diese „geraten [darüber] in Bewegung“ (Waldenfels 2013:193) und führen im Idealfall zu einem Moment ästhetischer Hingabe, einem ‚Staunen‘. Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess verortet Staunen im Feld von „Erstaunen, Staunen, Verwunderung [und] Bewunderung“ (2019:7) und beschreibt es als einen dauernden Moment, der zugleich ein Innehalten im Moment meint. Staunen als eine Form ästhetischer Hingabe durchbricht die „Kontinuität alltäglicher Wahrnehmung“ (Duncker 2018:74) und benötigt Zeit – für eine eingehende Betrachtung, für bewusstes Hören und körperliche Erfahrung. Bewegt sich ästhetische Erfahrung „im Spannungsfeld zwischen Bestimmbaren und Besonderen, zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen“ (Brandstätter 2008:118) so ist das Staunen Teil einer körperlichen Annäherung an jegliche Kunst, ein Moment größter Nähe zum Hör- und/oder Sehereignis.

Dass jede Erfahrung des Neuen eine Anziehungskraft ausüben kann, zeigt sich bei Murmeli zum Beispiel an den Kindern, die mit dem Erscheinen neuer Klang- oder Sehereignisse, gebannt verweilen, mit Bewegungen innhalten und dem Klang lauschen. Musiktheater bietet einen Anknüpfungspunkt, da es zu genussvollem Auskosten und staunender Hingabe verführen kann, indem es auf visueller, akustischer und körperlicher Ebene Geschichten erzählt und dabei – besonders im Musiktheater für die Jüngsten – auf sprachlich-semantische Ebenen verzichtet.

Die Blickrichtungen und Bewegungen der Performer*innen sind dabei ebenfalls auf bewusstes Wahrnehmen und auf gegenseitiges Zuhören und -schauen ausgerichtet. Sie ‚spielen‘, reproduzieren oder repräsentieren nicht, sondern befinden sich selbst im Modus des Entdeckens. Ihre Hör- und Seh-Aufmerksamkeit ist auf den Klang und seine Veränderungen und Entwicklungen gerichtet, sie entdecken im Moment das jeweilige Klangereignis (neu). Diese bewussten Wahrnehmungsprozesse der Performer*innen werden im Musiktheater für jüngstes Publikum sicht- und hörbar gestaltet – Wahrnehmungsvorgänge werden inszeniert. Diese Spielhaltung und Präsenz der Performer*innen als Wahrnehmende überträgt sich auf das Rezeptionsverhalten des jungen Publikums, das „über den Nachvollzug der Haltung der Akteure [sic!] selbst in eine Hörspannung [gerät]“ (Dalferth 2019:123).

Dennoch verzichtet Musiktheater für jüngstes Publikum keineswegs auf das Generieren von Bedeutung. Vielmehr werden im Vollzug des Wahrnehmens musiktheatrale Ereignisse gelesen, einzelne Elemente wiedererkannt, Assoziationen hervorgerufen oder die Emotionalität bestimmter Klänge erfühlt. Auf diese Weise manifestiert sich ein fließender, meist unbewusster Wechsel zwischen der Hingabe an die musiktheatralen Ereignisse und einem distanzierenden sich-Zurückziehen.

Bedeutung entfaltet sich im Zusammenspiel der Anregungen von der Bühne in Aushandlung mit den individuellen Eindrücken des jeweiligen Kindes im Publikum, die es auf Grundlage von subjektivem Vorwissen, Situationsspezifik, kulturgeschichtlicher Prägung etc. in die musiktheatrale Situation hineinträgt. Es handelt sich somit um einen performativen und konstruktivistischen Akt, der im Vollzug der Rezeption Bedeutung entstehen lässt und nur ein mögliches und unabgeschlossenes Abbild von Welt zeigt.

Klangereignis als Präsenzerfahrung – Chancen und Wirkungsmöglichkeiten

Zeitgenössisches Musiktheater für jüngstes Publikum öffnet ästhetische Räume, in denen Gegenstände und die Mittel des Musiktheaters in ihren oszillierenden Funktionen selbst in den Mittelpunkt gesetzt werden. Aus performativer und aus phänomenologischer Sicht werden die Aufführungen zwischen Publikum und Akteur*innen im Moment des Erlebens gemeinsam gestaltet. Eine in diesem Sinne verstandene Musiktheateraufführung löst den Anspruch auf, dass Bedeutungen, vorgefertigte Interpretationen und Regiekonzepte lediglich nachvollzogen werden. Aufführung wird zum „dialogischen Zwischengeschehen“ (Roselt 2008:17) zwischen Publikum und Performer*innen, welche durch die besonderen Erfahrungen, Imaginationen und Rezeptionsbedingungen des jungen Publikums maßgeblich mitbestimmt wird. Das Publikum vollzieht einen Rollenwechsel vom Nachvollziehenden zum Suchenden und Performenden.

Bei all den ästhetischen und formalen Unterschieden von zeitgenössischen Musiktheaterproduktionen für jüngstes Publikum lassen sich einige überschneidende Merkmale beschreiben: Die Dramaturgien verzichten meist auf eine konkrete Geschichte, sind episodenhaft und assoziativ und rücken stattdessen Klänge, Objekte sowie Körper in den Mittelpunkt. Häufiges Spielprinzip ist das Erforschen von Materialität und Klanglichkeit des Raums, der Objekte, Körper und des Lichts. Bei vielen Produktionen besteht ein enger Bezug zum künstlerischen Forschen – sowohl im Entwicklungsprozess der Produktionen als auch in den ästhetischen Setzungen der Aufführungssituation (vgl. Hinz et al. 2018; Breitig 2020; Lobert 2020).

Co-kreatives Schaffen zwischen Erwachsenen und Kindern im Musiktheater für jüngstes Publikum vollzieht sich allerdings nicht nur in Aufführungssituationen, sondern ist häufig bereits in den Entstehungsprozessen der Produktionen angelegt, die im Austausch mit der Zielgruppe entstehen. Anstatt Werke im klassischen Dreischritt von Libretto-Komposition-Regie zu schreiben und nachzuspielen, entstehen die Produktionen in Laboratorien (vgl. Israel 2019:113), die alle musikalisch-theatralen Bereiche eng verzahnt entwickeln und häufig am Ende nicht in Partituren, sondern Spielabläufen festhalten. Kinder sind hier nicht nur in Form von Testpublikum einbezogen, um Aufmerksamkeitsspannen und dramaturgische Bögen zu überprüfen. Die folgenden drei Beispiele skizzieren, wie künstlerische Forschung, Musiktheaterpraxis und Vermittlung von Anfang an mit Kindern und Erwachsenen zusammengedacht werden.

Im zweitägigen Klanglab im Münchner Hofspielhaus 2021, einem dreitägiges Musiktheater-Labor mit Künstler*innen, Pädagog*innen, Wissenschaftler*innen und Kindern, angeleitet von den beiden Autor*innen und Prof. Andrea Sangiorgio, erkundete eine Kita-Gruppe gemeinsam mit Künstler*innen klanglich Alltagsmaterial an vier Stationen (Papier, Kunststoff, Metall, Naturmaterialien). Die Kinder wurden im Spiel mit dem Material beobachtet und es wurde untersucht, was ihre Neugier weckt, auf welche Klänge sie in welcher Weise reagieren und welche Spielmomente sich zwischen den Kindern und dem Material ergeben. Davon ließen sich die Künstler*innen zu eigenen Spielsettings und -weisen inspirieren, aus denen sie schließlich musikalisch-theatrale Miniaturen für junges Publikum entwickelten.

Die Grundlage jeder Neuproduktion des belgischen Theaters De Spiegel ist der Spielraum Caban. Über viele Wochen laden die Künstler*innen von De Spiegel jüngste Kinder ab dem Krabbelalter und ihre Eltern zu Workshops ein, um mit ihnen gemeinsam Klänge und ihre Wirkungsweisen zu untersuchen. Daraus wiederum leiten die Musiker*innen Material und Instrumente sowie Inhalt und Form der nächsten Produktion für diese Altersgruppe ab. Im Fall der Musiktheaterproduktion Niet drummen, einer Musiktheater-Produktion von Theater De Spiegel (UA 2016) für Kinder zwischen 8 Monaten und 3 Jahren resultierte daraus eine begehbare Klanginstallation – bestehend aus zeltartig angeordneten Trommeln und kindlichen Spielzeugen, wie zum Beispiel Murmelbahnen –, die während der Vorstellung von den Musiker*innen und im Anschluss daran von den Kindern bespielt wird.

In der mobilen Musiktheaterproduktion Expedition TIRILI (UA 2020) der Jungen Deutschen Oper in Kooperation mit TUKI Bühne performen zwar ausschließlich Erwachsene, das Stück entstand aber in einer „koproduzierende[n] Gemeinschaft zwischen Kita-Kindern und Künstler*innen“ (Lobert 2020:33). Dem Probenprozess ging eine mehrmonatige künstlerische Recherchephase mit Kindern in einer Kita voraus. Anschließend wurde das Material von den erwachsenen Künstler*innen sortiert und in eine Bühnenform transferiert. Der Probenprozess wurde wiederum eng von den Kindern begleitet, überprüft und in künstlerischen Arbeitsphasen in der Kita weiterverhandelt, dessen Ergebnisse schließlich wieder in die Proben zurückgespielt wurden. Diese Produktion entstand nicht aus den Ideen eines Regieteams, sondern durch zirkuläre Produktionsprozesse zwischen Kindern und Erwachsenen und generationenübergreifenden thematisch-künstlerischen Suchbewegungen.

Musiktheater für jüngstes Publikum hat nicht nur die Möglichkeit, Orte und Güter kultureller Traditionen zugänglich zu machen. Mit seiner Orientierung an Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit stellt es auch bestehende künstlerische und soziale Deutungshoheiten des Musiktheaters und der Kunstproduktion in Frage: Kollaborative Arbeitsprozesse unter Beteiligung verschiedener künstlerischer Disziplinen, Institutionen und Generationen definieren Autor*innenschaft neu und brechen Hierarchien zwischen Disziplinen, Wissensformen und Gewerken auf. Aufführungen basieren auf offenen Momenten in klaren Strukturen und zielen auf starke Wechselbeziehungen zwischen Publikum und Performer*innen – was nicht nur andere kommunikative und darstellende Anforderungen an die Performer*innen stellt, sondern auch an die begleitenden Erwachsenen der Kinder: Was ist während der Vorstellung erlaubt, was wird als Störung verstanden, welche gesellschaftlichen Codes gelten? Der Vorstellungsbesuch dient nicht in erster Linie der Repräsentation und Gewöhnung an die Kunstform Oper, sondern der aktiven Gestaltung und Einmaligkeit des Erlebens. Der Einfluss und die Steuerung des Bühnenergebnisses und seiner Wirkungen auf das Publikum entziehen sich den Verantwortlichen in stärkerer Weise als in geschlossenen Werkformen. Und nicht zuletzt werden hegemoniale Hörgewohnheiten und -normen unterlaufen und ein Musikbegriff angewandt, der Dichotomien zwischen Hoch- und Alltagskulturen, zwischen Musik und Geräusch, zwischen Musizierendem und Hörendem etc. vernachlässigt.

Zeitgenössisches Musiktheater für jüngstes Publikum setzt Prozesse in Gang, die das Selbstverständnis der Kunstform Musiktheater und der Institutionen machtkritisch hinterfragen und über sich hinaus auf die gesamte Gattung Musiktheater wirken.

Verwendete Literatur

  • Adorno, Theodor W. (1984): Zum Verhältnis von Malerei und Musik heute, in: Ders.: Gesammelte Schriften (Hg. Rolf Tiedemann, Klaus Schultz), Bd. 18., Frankfurt a. M.: Suhrkamp:140-148.
  • Brandstätter, Ursula (2008): Grundfragen der Ästhetik. Bild – Musik – Sprache – Körper, Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag.
  • Breitig, Renate (2020): Funken Flüge. Ein Konzept für das Kindertheater. Aus Theater mit Kindern entsteht Theater für Kinder, Berlin, https://www.tuki-berlin.de/wp-content/uploads/2020/03/200130_TukiBuehne_Einzelseiten_web.pdf vom 10.08.2024.
  • Cage, John (2012): Vortrag über das nichts, in: ders.: Silence. Frankfurt a. M.: Suhrkamp:6-35.
  • Dissanayake, Ellen (2001): Kunst als menschliche Universalie. Eine adaptionistische Betrachtung, in: Peter M. Hejl (Hg.): Universalien und Konstruktivismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp:206-234.
  • Duncker, Ludwig (2018): Wege zur ästhetischen Bildung, München: kopaed Verlag.
  • Duncker, Ludwig (2010): Bildung und Lernen in der Kindheit – Theoretische Grundlagen, in: Ludwig Duncker/Gabriele Lieber/Norbert Neuß/Bettina Uhlig (Hg.): Bildung in der Kindheit. Das Handbuch zum Lernen in Kindergarten und Grundschule, Seelze: Kallmeyer:12-17.
  • Erlach, Thomas/Krettenauer, Thomas/Oehl, Klaus (2020) (Hg.): Wege zur Oper. Musiktheater im Spannungsfeld von Bühne, Pädagogik und Forschung (= Dortmunder Schriften zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Bd. 3), Berlin: LIT:9-57.
  • Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Gess, Nicola (2019): Staunen. Eine Poetik, Göttingen: Wallstein Verlag.
  • Gruhn, Wilfried (2017): Wie Kinder Musik erleben, in: Theater o.N. (Hg.): FRATZ-Reflexionen. Berlin: ohne Verlag:7-10.
  • Gruhn, Wilfried (2003): Kinder brauchen Musik. Musikalität bei kleinen Kindern entfalten und fördern, Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
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Anmerkungen

Der Beitrag orientiert sich an dem gleichnamigen Vortrag, den die Autor*innen im Rahmen der Tagung der Gesellschaft für Musikpädagogik e. V. (GMP) „Doing Things – Zum Gegenstandbezug musikpädagogischer Praxis“ im März 2024 in Potsdam gehalten haben. Die Tagungspublikation ist in Vorbereitung.

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Christiane Plank-Baldauf, Tamara Schmidt (2024): Inszenierung von Wahrnehmung. Phänomenologische Perspektiven auf den Gegenstandsbezug im zeitgenössischen Musiktheater für jüngstes Publikum. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/inszenierung-wahrnehmung-phaenomenologische-perspektiven-den-gegenstandsbezug (letzter Zugriff am 03.01.2025).

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