Improvisation und Volxkultur – Offene Haltung und Methodik zur Ermöglichung inklusiver und diverser künstlerischer Praxis
Abstract
Das Konzept der Volxkultur als künstlerischer Ansatz für die offene Gesellschaft impliziert die kulturelle Selbst-Bildung und Teilhabe verschiedenster Menschen. Ohne das Handlungsprinzip der Improvisation wäre deren Selbstermächtigung und -verantwortung in der gemeinsamen ästhetischen Praxis, in ihrem kollektiven Lernen und Entwickeln eigener Ideen, kaum denkbar. Wie in jeder Improvisation dienen hierfür möglichst einfache Regeln als Orientierung. Sie müssen jedoch - ganz gleich ob für die Zusammenkünfte allgemein oder für das Erspielen von Formen und Inhalten - in der Gruppe rückgekoppelt und bestätigt werden. Die Regeln müssen sogar stets verhandelbar bleiben. Nicht selten ist ihre Gestaltung selbst Gegenstand künstlerischer und sozialer Prozesse.
Im Folgenden werden die Erfordernisse improvisatorischer Praxis im Rahmen inklusiver und diverser kultureller Praxis erläutert und anhand der Beschreibung eines Labors im Rahmen der Fachtagung „Improvisieren - Forschende und künstlerische Perspektiven der Kulturellen Bildung“ am 16.9.2022 in Bielefeld verdeutlicht.
Volxkultur – aus der Bevölkerung und für die Bevölkerung
Seit 1983 gehen in der Theaterwerkstatt Bethel in Bielefeld und in ihren mobilen Veranstaltungen verschiedenste Menschen ein und aus. Sie stammen aus allen Lebensfeldern, Altersgruppen, Schichten und Herkünften, bringen unterschiedlichste Perspektiven und Erfahrungen ein. In den Projekten setzen sie sich mit gesellschaftlichen Themen auseinander, lernen voneinander und engagieren sich mit künstlerischen Mitteln für eine offene Gesellschaft. Die künstlerische, soziale und politische Qualität erhält diese Arbeit aus der Vielfalt aller Beteiligten. Möglich ist dies durch das in der Theaterwerkstatt über Jahrzehnte gereifte Konzept der Volxkultur - ein künstlerischer Ansatz für die offene Gesellschaft. Dessen Praxis reicht in vielen Varianten vom Volxtheater, Volxperformance, Volxmusik und Volxkunst über das Jugendvolxtheater bis hin zu Lern- und Diskursräumen der Volxakademie für inklusive Kultur. Das X im Wort steht dabei für die Kreuzung künstlerischer und gesellschaftlicher Anliegen und Perspektiven und markiert zugleich eine Abgrenzung zu Verständnissen, die auf Vorstellungen kultureller Identität (Jullien 2018:46) beruhen. Vielmehr geht es darum, themenzentriert aus der individuellen Bewegung der Beteiligten heraus ästhetische Prozesse zu initiieren und zu entwickeln.
Das Konzept der Volxkultur bietet Möglichkeitsräume und als solches ein Modell für eine kulturelle Praxis, in der sich Menschen aus verschiedensten Lebensfeldern austauschen, von- und miteinander lernen, künstlerisch arbeiten und produzieren, reflektieren, streiten, Visionen entwickeln und feiern. Die hierfür gebotene Flexibilität fordert alle Beteiligten fortwährend zur Improvisation heraus. In für jede*n offenen themenzentrierten Projekten werden in gemeinsamen künstlerischen Prozessen inhaltliche und künstlerische Ideen entwickelt und in darstellende, bildnerische oder musikalische Formen gebracht. Sie werden aufgeführt, ausgestellt oder setzen als intervenierende Aktionen Impulse in öffentlichen Räumen und Veranstaltungen. Die Basis der Arbeit sind der Austausch und die Verhandlung individueller Erfahrungen und Wahrnehmungen, Wissen, Interessen und Ideen.
Improvisation als Voraussetzung kollektiven Handelns
Das Handlungsprinzip der Improvisation ist entscheidend für die Selbstermächtigung bei gleichzeitiger Mitverantwortung der Einzelnen und der Verschiedenen einer Projektgruppe. In der gemeinsamen ästhetischen Praxis, ihrem kollektiven Lernen und Entwickeln von Ideen, ermöglicht sie erst die Entfaltung der eigenen Potentiale und interaktiv hergestellte Gemeinsamkeit (Bertram/Rüsenberg 2021:35).
Improvisation wird im Konzept der Volxkultur im elementaren Wortsinn verstanden als „ein unvorhergesehenes Tun“ (ebd.:11), das Unerwartetes und Unvermutetes bewusst in Kauf nimmt, provoziert und erschließen möchte. Es bedeutet gleichzeitig und ineinandergreifend zu handeln und wahrzunehmen, zu produzieren und zu rezipieren (vgl. ebd.:23).
Damit gemeinsame Vorhaben, Aktivitäten und ihre Ergebnisse auf allen Ebenen und in allen Dimensionen gemeinsam begründet und verfolgt werden können, muss es allen Akteur*innen möglich sein, von Anbeginn eigene Erfahrungen, Fertigkeiten und Anliegen in den Prozess einzubringen. Gleichzeitig müssen sie bereit sein, sich von gewohnten Vorstellungen und Erwartungen zu befreien und offen dafür zu werden, was sich aus den vielfältigen Impulsen aller ergibt. Wie bei Georg Bertram und Michael Rüsenberg beschrieben, manifestiert sich der improvisierende Charakter „… in einer Abfolge von Herausforderungen (…). Es geht um ein stets neues Reagieren. (…) Improvisation lebt vom ständig neuen Vollzug.“ (ebd.:36-37)
All dies geschieht im künstlerischen Tun, aber auch in jeder anderen komplexen Interaktion mit sich und anderen, gleichzeitig oder im rasanten Wechsel. Über das konkrete künstlerische Zusammenspiel hinaus ergeben sich, im Kontakt untereinander, mit dem Publikum und auch in den Wechselwirkungen zum Alltag, verschiedene Wahrnehmungs- und Reflexionsebenen. So wird die Improvisation der Mitwirkenden zu einem gemeinsamen ästhetischen Denken (vgl. Welsch 1990:10).
Offenheit als Grundprinzip
Eines der Grundprinzipien des Volxkultur-Ansatzes ist die Offenheit. Sie ermöglicht den barrierefreien Zugang und das selbstverantwortliche Einbringen aller Interessierten. Sie gilt für die Durchlässigkeit der Grenzen von Gruppengefügen oder Publika und sollte jeden soziokulturellen Prozess – von der Gruppenbildung und der thematischen Entfaltung, über das methodische Vorgehen, die Entwicklung von Arbeitsformen, Experimente, Reflexionen und Organisation bis hin zur Entwicklung von Ergebnissen und deren Präsentationsformen – bestimmen. Ganz im Sinne des Improvisierens ist dabei nie vorher klar, was am Ende herauskommt. Die Devise der Offenheit fordert alle Beteiligten heraus. Es gilt die Sinne zu schärfen und die Neugier zu wecken, über den Horizont zu blicken und über sich hinaus zu wachsen. Offene und vielfältige Prozesse bieten die Chance, sich gemeinschaftlich füreinander zu sensibilisieren, differenziert wahrzunehmen und in fortwährender Interaktion ständig neue Formen der Kommunikation für die Gestaltung des Miteinanders und der Auseinandersetzung mit gemeinsamen Themen zu finden.
Regeln zur Orientierung
Das Zusammenspiel aller Beteiligten, der Initiator*innen oder Gastgeber*innen, Mitwirkenden, Teilnehmenden oder des Publikums fordert also ständig zur Improvisation heraus. Damit dies im Konzept der Volxkultur gelingen kann, dienen möglichst einfache Regeln als Orientierung. Diese müssen, ganz gleich ob für die Zusammenkünfte allgemein, oder für das Erspielen von Formen und Inhalten in der Gruppe, in gemeinsamen Absprachen aufgestellt und regelmäßig rückgekoppelt werden können. Sie müssen sogar stets verhandelbar bleiben. Nicht selten ist die Gestaltung gemeinsamer Regeln selbst Gegenstand künstlerischer und sozialer Prozesse. Bei allem Ernst, der den Regeln im Spiel gebührt (vgl. Huizinga 2009:17ff): Sie gelten nicht mehr, wenn sie von gemeinschaftlich beschlossenen Modifizierungen abgelöst werden, um neuen Ideen, Entwicklungssprüngen oder Handlungsebenen gerechter werden zu können (vgl. Bertram/Rüsenberg 2021:17). Dies bedeutet besondere Herausforderungen für die jeweilige Gruppe und ihre Improvisationsgabe. Während Kollektive diese selbst meistern müssen, können sich geleitete Gruppen von ihren Moderator*innen bei der Neuverhandlung von Regeln unterstützen lassen. Bei all diesen Herausforderungen spielen neben rationalen und logischen Erwägungen intuitive Überlegungen eine Rolle. All diese treffen im konkreten Zusammenspiel zusammen. Es bleibt allen Beteiligten also trotz aller Regeln nichts, als zu improvisieren, auch um jeweils ein gutes Ende zu finden (ebd.:41).
Einige Leitlinien zur Moderation offener Prozesse
Das Leitungsverständnis im Ansatz der Volxkultur ist daran orientiert, der Entfaltung des kreativen Potenzials und der Entwicklung von Ideen der Mitwirkenden Raum zu geben und diese zu unterstützen. Methodische Angebote müssen sich als Vorschläge in diesem Sinne vermitteln. Es geht also nicht darum, vorrangig eigene Vorstellungen zu verwirklichen und vorgegebene Fähigkeiten anzuleiten. Die Qualität eines Angebotes orientiert sich daran, ob es zu eigenen Untersuchungen, Orientierungen und Erfindungen anregt und ob es den gemeinsamen künstlerischen Prozess fördert. Hierzu einige der entwickelten und praxiserprobten Leitlinien:
Wie in jedem Spiel hilft es, wenn vorher klar ist, wann und wo eine gemeinsame Einheit oder ein Projekt beginnen und wann diese enden. Das erleichtert es, alltägliche Bezüge loszulassen und Neues zu wagen, ohne das Vertrauen zu verlieren, in gewohnte und Sicherheit gebende Zusammenhänge zurückkehren zu können.
Wenn alle Beteiligten sich gegenseitig vorstellen und ihr Interesse benennen, kommt dies einem Bekenntnis zur gemeinsamen Unternehmung und der grundsätzlichen Anerkennung aller Anwesenden als Mitwirkende gleich. Sie werden sichtbar mit ihren persönlichen Potenzialen und Anliegen.
Themenzentriertes Arbeiten gibt dem offenen Prozess einen unerlässlichen Ankerpunkt. Es gibt den Aufhänger, um in Improvisationen und Recherchen gesammeltes Material zu clustern und zu strukturieren, sowie ein Vorhaben immer wieder neu auszurichten. Die Beteiligten richten ihren Fokus weniger aufeinander, sondern auf das gemeinsame Motiv aus, die Überschrift, das Sujet der Unternehmung. Es stellt die Verbindung aller dar. Hierauf lässt sich immer wieder zurückkommen.
Prozessoffen zu arbeiten bedeutet in der Volxkultur, in der Moderation nie vorgefertigte Vorstellungen umzusetzen, sondern Ideen als Vorschläge einzubringen und laufend für Impulse aus der Gruppe, der Umgebung, aus Literatur und Zeitläuften offen zu sein, diese wahrzunehmen und einmünden zu lassen. Impulse inspirieren zu weiteren Ideen, indem sie Assoziationen auslösen, Beispiele geben, zu weiterführenden Gedanken und Gesprächen anregen und so neue Handlungsmöglichkeiten erschließen. Sogar aus negativen oder sich abgrenzenden Reaktionen auf bewusste Eingaben und zufällige Entdeckungen entstehen Selbstbewegungen, die den schöpferischen Prozess vorantreiben, indem sie Entscheidungen für etwas anderes oder eine andere Richtung begünstigen. So erweitern sich die Möglichkeiten. Spontane Reaktionen sagen aber auch etwas über erste oder grundsätzliche Bewertungen einer Idee aus. Ob diese weiterführen, zeigt sich erst später. Denn nur durch die Sammlung weiterer Möglichkeiten lässt sich der Blick weiten. Alles, was einem auf- und einfällt, gilt zunächst, auch wenn es in „direkter Zusammenhangslosigkeit“ (Riemer 1999:15f) zum gemeinsamen Vorhaben steht. Hierfür geeignete methodische Formen anzubieten lohnt immer, denn so ergeben sich neue Anschlussmöglichkeiten – thematisch, ästhetisch und in der Kommunikation der Beteiligten.
Zu frühe Entscheidungen können zu weniger weit bringenden Kurzschlüssen führen und so innovative Entwicklungen blockieren. Zu lange zu warten, kann vor allem in Gruppenprozessen bedeuten, dass Mitglieder frustriert aufgeben oder energieraubende soziale Konflikte erzeugen. Idealerweise werden von Zeit zu Zeit die vielzähligen Möglichkeiten ausgebreitet, ausführlich gesichtet und aus der Distanz bewertet, um dann gemeinsam zu einer wegweisenden Struktur zu kommen. Eine andere Möglichkeit ist, die Widersprüche der ausgebreiteten Aspekte ggf. selbst zum Thema und zum Material zu erklären und sie in irgendeinem künstlerischen Medium auszuspielen, sei es als Text, Musik, Tanz, Theater, bildnerisch oder digital.
Und wenn’s mal nicht läuft?
Sich widersprechende Tendenzen, Gedanken, Ideen können ein Spannungsfeld aufbauen, das zum scheinbaren Stillstand führt. Es kann auch sein, dass zunächst alles gesagt, gespielt, getan ist. Dies auszuhalten birgt im Sinne der Improvisation ebenfalls ungeahnte Potenziale. In einer schöpferischen Krise innezuhalten, gibt Zeit zur Besinnung, Sammlung und Orientierung. Nicht ohne Grund ist Nichts tun die zentralste Übung des buddhistischen ZEN. Es braucht Geduld, abzuwarten, bis sich wie von selbst die Entscheidung für eine Richtung oder den nächsten Schritt ergibt. Was für eine Chance!
Improvisation als schöpferischer Umgang mit Zielkonflikten
Hauptanliegen des Volxkultur-Ansatzes ist es, soziale und kulturelle Di- und Trilemmata durch künstlerisches Handeln zugunsten ästhetischer und gesellschaftlicher Entwicklungen aufzulösen. Dies betrifft z.B. die scheinbaren Widersprüche in Konfliktdreiecken in Gruppenprozessen (Ich – Wir – Es) (Cohn 1993:14), oder im Bereich der Inklusion (Empowerment – Normalisierung – Dekonstruktion) (Gerland 2019:35ff). Auch für künstlerisches Arbeiten lassen sich entsprechende Modelle aufstellen: Form - Inhalt – Publikum, Text – Spielende – Regie usw. (Gräßlin 2019:20). Und natürlich trägt auch das Umfeld, der äußere Kontext – von Ruth Cohn „Globe“ genannt – zur Spannung bei. Jede der jeweils drei Ecken fordert zu ihrer Verwirklichung ihr Recht, steht aber in gesellschaftlichen wie künstlerischen Prozessen in Resonanz zueinander. Im Raum zwischen und im Wechselspiel mit den Polen zu improvisieren, erzeugt mehrdimensionale Gestaltungsmöglichkeiten und lässt Verschiedenes zu Gemeinsamem transformieren.
Methoden inklusiver und diverser künstlerischer Praxis
Am Prozessverlauf des im Labors „Improvisation in der Volxkultur“ im Rahmen der Tagung „Improvisieren – Forschende und künstlerische Perspektiven der kulturellen Bildung“ wird die Bedeutung der Improvisation in inklusiver und künstlerischer Praxis deutlich. Auch lassen sich daran grundlegende methodische Elemente benennen und kontextualisieren:
Themenfindung
Ganz im Sinne der themenzentrierten Interaktion (TZI) als hierarchiefreiem Kommunikationskonzept (Gräßlin 2019:19) steht am Anfang eines Volxkultur-Projektes zunächst einmal ein Thema. Es wird von den Initiator*innen gesetzt. Beim genannten Anlass durch mich als Referenten in Abstimmung mit den Ausrichter*innen der Tagung „Improvisieren“.
Vorbereitung
Auch wenn alles Inhaltliche und alle Gestaltungen von den Mitwirkenden bestimmt werden, braucht der*die Moderierende eine allgemeine Vorbereitung in Bezug auf das Thema und eine Sammlung möglicher Methoden und Impulse. Hierzu gehört das Recherchieren und Einlesen in theoretische und geschichtliche Hintergründe, die Auswahl möglicher Texte für die Gruppe, methodische Ideen, zum Thema passende Musik verschiedenen Charakters und die Bereitstellung von Medien und Moderationsmaterial.
Bildung einer heterogenen Gruppe
Je unterschiedlicher eine Gruppe zusammengesetzt ist, desto größer ist ihr kreatives Potenzial und desto komplexer sind die von ihnen repräsentierten gesellschaftlichen Bezüge. (Gräßlin 2019:24) Damit die Einladung einer heterogenen Gruppe gelingt, sollten Menschen aus möglichst verschiedenen Lebensbezügen angesprochen werden. Den Ansatz der Volxkultur im Rahmen einer Tagung von Forschenden zu demonstrieren wäre recht simulativ gewesen, wenn das Labor nur dieser geschlossenen Zielgruppe vorbehalten gewesen wäre. Zwar ist jeder Mensch einzigartig und alle Tagungsteilnehmenden schon deshalb in gewisser Weise als divers anzusehen. Doch konnte die Gruppe durch die öffentliche Einladung über Social-Media-Kanäle und das Netzwerk der Theaterwerkstatt Bethel um Menschen mit noch ganz anderen Interessen, Lebenslagen und Altersgruppen bereichert werden. Anders als die Tagungsteilnehmenden erhielten sie kostenfreien Zugang - Volxkultur basiert auf dem immateriellen Geben und Nehmen aller Beteiligten. Für den Zugang sollte jede denkbare Barriere vermieden oder überbrückt werden. Einzelne wurden auf Wunsch begleitet, denn niemand soll wegen irgendwelchen Unterstützungsbedarfs ausgeschlossen sein – das ist das Prinzip der Volxkultur. Es zählt das Interesse am Zusammenspiel und am Thema.
Raum und Material
Der Raum ist möglichst leer. Das kann reichen, um miteinander „aus dem Nichts“ ins Zusammenspiel zu kommen. Für einfachen Komfort stehen Sitzgelegenheiten, eine möglichst gute Musikanlage, Stifte, Papier und Karten, ggf. Wasser und kleine Snacks für die Pause zur Verfügung. Bei weiterführenden Projekten richtet sich der Material- und Raumbedarf nach dem Prozessverlauf und dem Bedarf der Gruppe.
Begrüßung und Einführung
Die Moderation begrüßt Ankommende persönlich und ist offen für individuelle Fragen und Anliegen, auch in Bezug auf persönliche Bedarfe an Orientierung und Assistenz. Zur Eröffnung bittet die Moderation alle Anwesenden in einen Kreis, so dass sich alle sehen können. Der oder die Gastgeber*in erhält die Möglichkeit etwas über sich, das eigene Anliegen und das Thema zu sagen.
Sich vorstellen
Anschließend stellen sich alle Teilnehmenden mit dem Namen, mit dem sie für die Zeit der Zusammenkunft angesprochen werden möchten, vor. Dieses Angebot unterstreicht, wie elementar jede*r Einzelne für die Zeit der Zusammenkunft ist. Die Möglichkeit einen Namen vorzugeben, markiert zugleich die persönliche Freiheit und die Verbindlichkeit für die Zeit der Zusammenkunft. Unter Umständen eröffnet sie schon ein individuelles Spiel, indem Teilnehmende für sich einen Namen erfinden, um sich bewusst von Alltagsrollen abzusetzen oder zu befreien. Vielleicht ergreift jemand diese Möglichkeit sogar, um inkognito teilzunehmen. Zum Zweiten werden sie eingeladen, ein Stichwort zu ihrem Interesse an der Veranstaltung zu nennen. Alternativ kann dies durch eine Bewegung oder eine Lautmalerei zum Ausdruck gebracht werden. Auf diese Weise können sich alle Anwesenden gleich zu Beginn einmal äußern und blitzlichtartig mit ihren Anliegen erkennbar werden. Die einfachen Benennungen von Namen und Anliegen wecken die Aufmerksamkeit aller und zeigen: Aus diesem Spektrum an Menschen und Andeutungen kann sich heute alles Mögliche ergeben.
Der Kreis als Grundform und Symbol inklusiver und diverser Kultur
Die Erläuterung der Bedeutung des Kreises (Gräßlin 2019:82), in dem wir stehen, bestätigt zusätzlich, dass die gemeinsame Zeit von allen gestaltet und bestimmt wird. Alle können einander wahrnehmen und im Plenum in Austausch treten. Die Mitte bietet die Bühne, den Improvisationsraum zur performativen Verhandlung des Themas. Außerhalb des Kreises, im Rücken der Teilnehmenden sind diverse Kontexte präsent: eigene Erfahrungen und Wissen über die jeweiligen gesellschaftlichen Bezüge und Lebensfelder.
Neue Gesichter
Mit der Aufforderung „Suche Dir einen Fremden“ werden die Teilnehmenden unterstützt, ihre Zurückhaltung zu überwinden und auf bisher unbekannte Menschen zuzugehen. In ihnen liegt die Möglichkeit Neues kennenzulernen und dabei die Eigenregie zu übernehmen: in der Kontaktaufnahme, in der Erkundigung und in der Gestaltung der Interaktion mit möglichst verschiedenen Menschen. Außerdem erhöht sich der Redeanteil der Gruppenmitglieder über für sie wesentliche thematische Aspekte gleich zu Beginn auf 100 Prozent. Alle können gleichzeitig detaillierter ihr Interesse erläutern und sich dessen ggf. im Gespräch selbst bewusster werden. Wenn die Teilnehmenden sich bei jeder Arbeit zu zweit erneut jemanden suchen, mit wem sie bisher noch nie zu tun hatten, machen sich alle Beteiligten mit der Zeit persönlich miteinander bekannt. Würden die Teilnehmenden diese Regel in der Partnerwahl nicht befolgen, würden sie überwiegend ihnen vertraute oder vertraut wirkende Personen wählen und damit ihre „Komfortzone“ stärken. Dies hemmt sie eher darin, sich von gewohnten Haltungs- und Handlungsmustern zu lösen und für eine Zeit frei und offen zu sein für verschiedene und ggf. als fremd empfundene Persönlichkeiten, Perspektiven, Haltungen, Vorstellungen, Erfahrungen und Ideen. Teilnehmende erleben diesen Vorschlag oft als Entlastung und Erleichterung, die Schwellenangst zu überwinden und sich auf als „anders“ wahrgenommene Menschen einzulassen.
Den ästhetischen Dialog aufnehmen
Zwei Personen als Figuren im Raum. Sonst nichts. Zwischen beiden beginnt schon über die Realisierung ihrer einfachen Koexistenz eine komplexe Interaktion: ihre Aufmerksamkeit wird geschärft, ihr Kreislauf und weitere Körperfunktionen angeregt. Beide machen sich jeweils ein Bild voneinander und schaffen gleichzeitig aus der wahrgenommenen Figur assoziierte Variationen. Wahrgenommen zu werden bedeutet, auch sich selbst stärker wahrzunehmen und sich auch von sich selbst ein Bild zu machen. Drittens geraten die Konstellation der Persönlichkeiten und der Figuren, die sie abbilden, in den Blick. Zwischen den Gegenübern tut sich der Freiraum für den Dialog ihrer Verschiedenheit auf (Jullien 2021: 81). Dies eine Weile auszuhalten, ohne etwas Bestimmtes zu tun, kann sehr verunsichern. Schließlich wird es im Alltag als ein Tabu angesehen, fremde Menschen längere Zeit anzuschauen oder angeschaut zu werden. Es doch zu wagen, macht deutlich, worum es hier geht: nämlich um die Bedeutung der eigenen Präsenz, so wie sie ist. Teilnahme und Teilgabe in einem. Ein Gespräch zu zweit über diese Erfahrung gibt Gelegenheit, sich dies bewusst zu machen. Das kann ggf. entlasten.
Choreografisches Zusammenspiel
All dies reicht aus, um miteinander eine weitreichende Improvisation zu beginnen. Es ist möglich, dies nur über Bewegungen zu tun, um zu erleben, wie aus der Wahrnehmung der Koexistenz weitere (Inter-)Aktionen und damit vielfältige Formen entstehen können. Wenn die Paare dies simultan eine Weile probieren und dann innehalten, können sie sich im Gespräch sowohl die gemeinsamen Erfahrungen im Zusammenspiel, als auch die entdeckten Bewegungen bewusst machen: Wie war das? Welche Formen sind gemeinsam entstanden?
Wie es dann weiter geht, hängt von der Interessenlage ab und dem, was bisher in Ansätzen entstanden ist. Im Rahmen des Tagungslabors haben die Teilnehmenden ihre neu entdeckten Bewegungselemente isoliert und in Wiederholungen studiert. Auf diese Weise wurden die Motive wiederholbar und ließen sich im Tanz zu Musik, in ihrem Tempo, ihrer Größe und Richtung vielfältig variieren. Im nächsten Schritt stellen die Paare ihr Tanzen nacheinander in der Mitte des Gruppenkreises vor und können so alle anderen an ihren choreografischen Gestaltungen teilhaben lassen. Die Bewegungsimprovisationen ermöglichen den Tanzenden nicht nur originäre Formen hervorzubringen. Ganz beiläufig entwickeln sie eine eigene Dynamik, lernen ihre körperlichen Möglichkeiten besser kennen und erweitern. Diese Session ist auch mit anderen körperbasierten Ausdrucksformen denkbar, etwa mit Bewegung und Stimme, schauspielerisch oder im bildnerischen Gestalten. Auch lässt sich auf der Basis des hier vorgestellten Prinzips auf unterschiedlichste Weise improvisatorisch weiterarbeiten. So können sich z.B. Paare zu Quartetts oder Sextetts verbinden, wiederum ihr Repertoire teilen und miteinander größere Improvisationsformen entwickeln, probieren und zeigen.
Nach einer kleinen Pause, in der alle verschnaufen, etwas trinken und das bis dahin Erlebte nachklingen lassen können, kann ein Angebot folgen, durch das die Teilnehmenden ihre Gedanken sortieren, in inhaltlichen Austausch treten, gemeinsam nachdenken und Ideen entwickeln können.
Thematische Karten-Spiel-Improvisation
In der Mitte des Kreises liegt ein Stapel blanker Karten und Stifte bereit. Alle schreiben oder malen jeweils auf eine Karte einen Gedanken zum Thema der Veranstaltung auf und legen diese verdeckt auf einen Stapel. Hiervon ziehen alle anschließend eine fremde Karte und nutzen den Text oder die Abbildung als Impuls für ihr Weiterdenken. Allein, zu zweit oder zu mehreren reflektieren sie die Gedanken weiter und entwickeln eine Idee der künstlerischen Darstellung dessen, was ihnen in ihrem Diskurs wichtig wurde und planen eine gemeinsame Improvisation. Diese wird schließlich reihum dem Plenum vorgespielt und dramaturgisch besprochen. Die Präsentation von Kleingruppenergebnissen zeigt, wohin das gemeinsame Experimentieren geführt hat.
In diesem methodischen Bogen wird besonders deutlich, wie eigene Vorstellungen und Ideen der einzelnen Mitwirkenden über die anonyme Weitergabe zum Teil des Materials der Gruppe wird, und dann in Beziehung zu Eingaben anderer gemeinsam spielerisch weiterbearbeitet werden, und zu einer gemeinsamen gestalterischen Form entwickelt werden kann.
Letzte Worte
Die Session wird beendet mit einer ritualisierten Schlussrunde. Jede*r hat die Gelegenheit ein Schlusswort zu sprechen. Diese Reihe der Äußerungen beinhalten in der Regel einen Bogen aus Nachklängen, Feedbacks, Kritik, Freude, Dank und Abschied.
Fazit: Von geteilten Erfahrungen, geteilter Verantwortung und gemeinsamer Inspiration
Die Idee der Volxkultur ist ohne Improvisation nicht denkbar. Dieses freie spielerische Moment ermöglicht den emanzipierten Umgang der Spielenden miteinander, sorgt für Achtsamkeit und regt zur Potenzialentfaltung an. Sie beinhaltet gleichermaßen Inspirationen und Reflexionen über gemeinsame Themen.
Für die Kulturelle Bildung bedeutet der volxkulturelle Ansatz eine maximale Orientierung an den Arbeitsweisen der freien Künste. Volxkultur zeigt nicht, wie es geht. Sie gibt den Rahmen, bei sich und den eigenen Interessen und Möglichkeiten zu beginnen und diese im Zusammenspiel mit anderen zu erweitern. Volxkultur ist weniger Vermittlung als Entdeckung. Indem sehr verschiedene Menschen miteinander ästhetische Projekte entwickeln, werden sie selbst Teil kultureller Prozesse. Als ein solcher Ernstfall hat schon so ein kleiner Workshop zu gelten, wie er hier beschrieben wurde. Führt ein Projekt über mehrere Wochen weiter, indem eine Gruppe aus dem gemeinsamen Probieren eine eigene Position entwickelt, ein komplexeres Kunstwerk gestaltet und einer breiten Öffentlichkeit vorstellt, greift es noch weiteren Raum, hinein in ihre soziokulturellen Netzwerke und darüber hinaus.