Identität, Kreativität und Well-being in Kulturschulen
Abstract
Gerade während der Pandemie wurde deutlich, dass Lernprozesse, die auf das rein Kognitive ausgerichtet sind, zu kurz greifen, um selbstgesteuertes reflektierendes Lernen zu ermöglichen und die Schüler:innen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Ganzheitliche Lernprozesse basieren auf sozial, emotional und physisch engagierten Lernenden: Ein Lernkonzept, das viele Kulturschulen durch kulturell-ästhetische Lernanlässe unterstützen.
Dieser Beitrag bezieht sich auf Kulturschulen in Baden-Württemberg. Er fragt danach, wie Schüler:innen ihre Schule und sich selbst in der Schule abseits von fachlichen Lernprozessen wahrnehmen. Und er geht der Frage nach, ob sich die Wahrnehmung unterscheidet, wenn Schulen das kulturell-ästhetische Lernen in unterschiedlicher Intensität in ihre Schulentwicklung implementiert haben. Die zugrundeliegende Untersuchung basiert auf einem quantitativen Fragebogen, der statistisch ausgewertet wurde. Die wichtigsten Ergebnisse zeigen, dass an allen Schulen Schüler:innen sich wahrgenommen und in ihrer Identität, ihrer Kreativität und ihrem Wohlbefinden gestärkt fühlen. Gleichzeitig ist überraschend, dass Schulen, die aktiv an der Integration kulturell-ästhetischer Ansätze arbeiten, einen großen Teil ihrer Schülerschaft nicht erreichen. Insgesamt scheint innerhalb der Kulturschulen eine Kluft zu bestehen, zwischen der Annahme der Lehrkräfte, einen veränderten Zugang zu Lernprozessen und zu dem Erleben der Welt zu bieten, und zwischen dem Erkennen dieser „veränderten Normalität" durch die Schüler:innen.
Einleitung
Weltweit lässt sich kein Prototyp einer Schule kopieren, der erfolgreiche Bildungsprozesse initiiert und die Lernenden perfekt auf ihr zukünftiges Berufsleben vorbereitet. Dennoch zeigen sich verschiedene internationale Ansätze aussichtsreich bei der Implementierung von Lernprozessen, die dazu beitragen, dass die Lernenden „ihre Talente entfalten und in den Kernbereichen der Bildung ein Bildungsniveau erreichen, das ihnen ein ökonomisch möglichst selbständiges und politisch selbstbestimmtes Leben“ (Sliwka/Klopsch/Yee 2017:116) ermöglichen.
Viele dieser Ansätze erkennen an, dass die Konzentration auf kognitives Lernen allein nicht ausreicht, um einen umfassenden Bildungsprozess anzuregen. Lernen kann nur gelingen, wenn alle Lernenden individuell wahrgenommen und ihre spezifischen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Diese Bedürfnisse sind vielfältig. Sie reichen von einem Frühstück in der Schule über das Gefühl angstfrei lernen zu können bis hin zur Berücksichtigung von Vorerfahrungen und Wissen für Lernprozesse. Gleichzeitig sehen sich Schulen, die ihren Fokus über das kognitive Lernen hinaus auf ganzheitliche Lernangebote legen, oftmals nicht als einzigen Ort des Lernens. Sie nehmen außerschulische Lernorte und Lernerfahrungen ernst und integrieren diese in den schulischen Alltag.
Eine Ausprägung solcher Schulen sind die Kulturschulen. Sie stellen sich der Herausforderung, einen Schwerpunkt zu setzen, der fächerübergreifendes Lernen und nicht-kognitive Aspekte als wertvolle Bereiche des schulischen Lernens einschließt. Ausgangspunkt ihrer Entwicklung sind groß angelegte Studien wie PISA oder TIMMS (Klinge 2017). Diese Studien zeigten, dass das deutsche Bildungssystem sehr selektiv ist. Im Vergleich zu anderen Ländern hängt in Deutschland der Bildungserfolg viel stärker vom sozialen, wirtschaftlichen und intellektuellen Status der Eltern ab. Das individuelle Potential kommt dabei fast nicht zum Tragen (OECD 2019). Folglich scheint die traditionelle Umsetzung schulischer Lehr-Lernformen nicht umfassend dazu in der Lage zu sein, diese Hintergrundfaktoren auszugleichen. Kulturschulen widmen sich explizit der ganzheitlichen Entwicklung. Auch wenn es keine klare Definition dessen gibt, wie solche Schulen ihre spezifische Schulentwicklung betreiben und wie ihre kulturell-ästhetischen Unterrichtsprozesse typischerweise vollzogen werden, lässt sich festhalten, dass eine Kulturschule als kulturell-ästhetischer Erfahrungsraum sowohl für Lehrkräfte als auch für Schüler:innen konzipiert ist (Fuchs 2017). Im Rückgriff auf Immanuel Kant (1790/1974) gehen diese Schulen nicht davon aus, dass die Welt oder das Objektive dazu beitragen, Subjekte zu formen. Vielmehr entwickeln die Subjekte ihre Welten und Wirklichkeiten auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und Kräfte. Auf einer interdisziplinären Ebene umfassen diese Fähigkeiten u. a. Kreativität, Vorstellungskraft, kritisches und divergierendes Denken. Sie werden in der Regel beim Lernen in den Künsten hervorgebracht, sind aber auch für das Denken in anderen Fachbereichen charakteristisch (Burton 1995). Zusammengenommen rahmen sie die Entwicklung der 21st century skills (Trilling/Fadel 2009) und damit diejenigen Fähigkeiten, die benötigt werden, um in der heutigen unsicheren und mehrdeutigen analogen wie digitalen Welt zu bestehen.
Um den Erwerb und die Erfahrung dieser überfachlichen Kompetenzen zu ermöglichen, schaffen Schulen Lernumgebungen, in denen sich die Schüler:innen wohl und unterstützt fühlen. Sie bieten Verbindungen „zwischen dem Kognitiven und dem Affektiven, dem Kurzfristigen und dem Langfristigen, dem Individuellen und dem Sozialen“ (Mehta/Fine 2019:12). Die Integration der Künste in den traditionellen Unterricht kann diese vielschichtigen Ansätze auf vielen Ebenen vorantreiben. Die Schüler:innen lernen, sich auf unterschiedliche Weise auszudrücken, sie lernen, sich unterschiedlichen Wissensdimensionen und ihren Lernprozessen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern, und sie arbeiten ko-konstruktiv zusammen, um gemeinsam (über-)fachlichen Kompetenzen Bedeutung zu verleihen.
Schulentwicklung der Kulturschulen
Im Zusammenhang mit der individuellen Persönlichkeitsentwicklung, mit der damit verbundenen Entwicklung der eigenen Identität und der Kreativität gilt kulturell-ästhetisches Lernen als unabdingbar. Die kulturell-ästhetischen Zugänge zu verschiedenen Themen und Fächern ermöglichen einen Perspektivenwechsel zu rein kognitiven Herangehensweisen und führen damit zu neuen Lernwegen (Burow 2019). Allerdings sind die meisten Texte über die Auswirkungen von kulturell-ästhetischen Ansätzen auf individuelle Bildungswege in Deutschland normativ. Es gibt nur wenige empirische Studien in Schulen, die sich mit Kultureller Bildung befassen – die meisten dieser Studien wurden von Stiftungen zur Netzwerkförderung initiiert. Viele von ihnen konzentrieren sich auf ein bestimmtes Programm, wie Tanzen als Ausdruck von Kreativität, die Entwicklung eigener künstlerischer Ziele als ästhetische Erfahrung oder Musizieren als Ausdruck von Emotionen.
Empirische Forschungen über Schulen, die Kunst als „Bildungskonzept, das sich auf produktive kreative Tätigkeit konzentriert, Menschen mit verschiedenen Künstlern in Verbindung bringt und neue Möglichkeiten der Gestaltung der Realität durch kulturelle Teilhabe schafft" (Reinwand/Speckmann 2012:13), sind weniger verbreitet. Aufgrund von Forschungsergebnissen, die einen Zusammenhang zwischen Leistungsstärke und Kreativität herstellen und zeigen, dass beide in ein positives Lernumfeld eingebettet sind (Burow 2019), haben immer mehr Schulen damit begonnen, kulturell-ästhetische Programme zu integrieren.
In Schulen gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Künste einzubeziehen, die die drei Ebenen der Schulentwicklung widerspiegeln:
- auf organisatorischer Ebene,
- auf der Ebene der Lehrkräfte und
- auf der Ebene des Unterrichts.
Auf organisatorischer Ebene können zusätzliche Unterrichtsstunden am Nachmittag, Schulausflüge zu Museen, Theatern oder Aufführungen klassischer Musik angeboten werden. Einige Schulen integrieren Kunst, indem sie ihre Lehrerschaft mit externen Kunst- und Kulturschaffenden verknüpfen (Burton et al. 1999:37). Auf Klassenebene gibt es Schulen mit Kunstunterricht, Schulen, die die Künste in den Lehrplan integrieren, und Schulen, die die Künste als separate Disziplinen unterrichten (ebd.). Je nach den verschiedenen Zugängen kann eine kulturell-ästhetische Schulentwicklung zu unterschiedlichen Situationen führen:
- die Bereitstellung einer Vielzahl von außerschulischen Aktivitäten.
- die Arbeit an gemeinsamen Projekten und der Integration von künstlerischen Ansätzen in den Unterricht.
- die Umstellung eines Großteils des regulären Unterrichts auf kulturell- ästhetische und künstlerische Ansätze.
Diese drei Vorgehensweisen sind miteinander verknüpft. Sie bilden ein Stufenmodell mit aufeinander aufbauenden Prozessen (vgl. Abb.1), die den Weg zu einer umfassenden Schulentwicklung weisen. Es beginnt mit der Veränderung von Schulen auf organisatorischer Ebene (oben: a. außerschulische Aktivitäten), ergänzt durch die Personalentwicklung (b. Zusammenarbeit und gelegentliche Veränderungen im Unterricht) bis hin zur integrierten Unterrichtsentwicklung (c. Veränderung des Unterrichts in verschiedenen Fächern) (Klopsch 2020:143).
Schulen der ersten Stufe können als „kultur-interessierte Schulen" bezeichnet werden. Die Schüler:innen nähern sich freiwillig verschiedenen Künsten über additive Angebote. Schulen der zweiten Stufe sind „kultur-anwendende Schulen". Die Schüler:innen begegnen kulturell-ästhetischen Ansätzen in der Schule und im Unterricht. Allerdings sind die Künste immer noch mit einzelnen Projekten oder mit einzelnen Lehrkräften und bestimmten Themen verbunden. Schulen auf der dritten Stufe sind „kultur-integrierende Schulen". Lehrkräfte dieser Schulen schließen kulturell-ästhetische Ansätze über das gesamte Schuljahr kontinuierlich in ihren Unterricht mit ein (Klopsch 2020:151).
Forschungsfrage und methodische Herangehensweise
Anschließend an den Blickwinkel der Umsetzung von kulturell-ästhetischer Bildung im Rahmen der Schulentwicklung – und damit primär aus der Sicht von Lehrkräften und Schulleitungen – bezieht sich dieser Text auf die Sichtweise der Schüler:innen. Er thematisiert, wie sie eine Veränderung in der Schule und im Unterricht wahrnahmen, um herauszuarbeiten, inwieweit Schulen, die einen Schwerpunkt entwickeln und etablieren, ihre Schülerschaft erreichen können.
Individuelle Wahrnehmungen beeinflussen und formen Lernprozesse auf fachliche, soziale und persönliche Weise. Schulentwicklung kann nur dann als abgeschlossen betrachtet werden, wenn die Schüler:innen eine veränderte Art des Lehrens und Lernens bewusst erleben. Ein Schwerpunkt der Kulturschulen ist die Persönlichkeitsentwicklung aller Schüler:innen. Dabei reicht es nicht aus, abzuwarten, ob sich bei den Lernenden ein Identitätsgefühl und damit verbundene Einstellungen und Verhaltensweisen entwickeln, bzw. darauf zu hoffen, dass dies geschieht. Schulen müssen ihre Schüler:innen dabei aktiv unterstützen.
Die Forschungsfragen lauteten daher:
- Wie nehmen die Schüler:innen ihre Schule und sich selbst in der Schule wahr?
- Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Schüler:innen und der Ausprägung der schulischen Entwicklung?
Die vorliegende Studie basiert auf einer Stichprobe von sechs Sekundarschulen in Baden-Württemberg. Sie alle waren Teil des Modellprojekts Kulturschule 2020, das vom Kultusministerium Baden-Württemberg und der Karl-Schlecht-Stiftung unterstützt wurde. Ziel des Projekts war, die Schulentwicklung über einen Zeitraum von fünf Jahren, von 2015 bis 2020, auf die Kulturelle Bildung zu konzentrieren – die Art und Weise, wie dies geschehen sollte, und die Festlegung spezifischer Ziele, die verfolgt werden sollten, wurde den Schulen und ihren individuellen Bedürfnissen überlassen. 1084 Schüler:innen nahmen an der Befragung teil. Die Teilnahmequoten innerhalb der Schulen schwankten zwischen 3% und 86%. Die Ergebnisse von Schulen mit sehr niedrigen Teilnahmequoten sind eher vorsichtig zu interpretieren. Es ist wahrscheinlich, dass diese Schulen den Fragebogen nicht breit gestreut haben und nur „Musterschüler:innen" teilnehmen ließen.
Alle Schüler:innen wurden gebeten, einen Online-Fragebogen auszufüllen, in dem unterschiedliche Items vierstufig likert-skaliert eingeschätzt werden mussten. Die Items umfassten die Teilbereiche „ich und die Schule", „mein Lernen" und „meine Lehrkräfte".
Die ersten beiden Teile des Fragebogens wurden mit Hilfe einer Strukturgleichungsmodellierung, d. h. einer explorativen Faktorenanalyse, ausgewertet. Alle Skalen waren reliabel, wie im folgenden Unterkapitel zu sehen ist. Neben der Faktorenanalyse wurde eine Clusteranalyse durchgeführt, um festzustellen, ob verschiedene Schüler:innentypen in verschiedenen Schulen auftreten. Items, die nicht Teil der Faktoren- und Clusteranalysen waren (Teilbereich „meine Lehrer"), wurden zusätzlich im Zusammenspiel mit den Clustern betrachtet.
Die Extraktion unabhängiger Faktoren erfolgte durch eine Hauptkomponentenanalyse. Das Kaiser-Meyer-Olkin-Maß für die Stichprobenadäquanz betrug .937 und auch der Bartlett-Test auf Sphärizität war signifikant (p < .001), was darauf hindeutet, dass die Korrelationen zwischen den Items ausreichend groß für die Durchführung einer Hauptkomponentenanalyse waren. Es wurden nur Faktoren mit Eigenwerten ≥ 1 berücksichtigt (Dodge 2008).
Die Prüfung der Kaiser'schen Kriterien und des Scree-Plots ergab eine empirische Rechtfertigung für die Beibehaltung von vier Faktoren mit Eigenwerten von über 1, die 58% der Gesamtvarianzen ausmachten. Unter den Faktorenlösungen ergab die varimax-rotierte Vier-Faktoren-Lösung die am besten zu interpretierende Lösung, da die meisten Items nur auf einen der vier Faktoren hoch luden.
Ergebnisse
Im Folgenden werden zunächst die vier Faktoren inhaltlich vorgestellt, bevor ihre Ausprägungsmuster an Schulen thematisiert werden.
Der erste Faktor (Cronbachs α=0,874) kann als persönlichkeitsbezogene Identifikation mit der Schule beschrieben werden. Identifikation steht hier für „die Bindungen [...], die zwischen einem Individuum und einer Institution, wie der Schule, entstehen können" (Voelkl 1997:295). Diese Bindung kann zu einem Gefühl der Zugehörigkeit führen, d.h., dass sich die Lernenden als ein wichtiger Teil des schulischen Umfelds erleben und dass die Schule ein wichtiges Element in den eigenen Erfahrungen darstellt (Finn 1989).
Beispiele für Items dieser Skala sind:
- Ich sehe mich als Teil der Schule.
- Ich beteilige mich an schulischen Aktivitäten.
- Meine Persönlichkeitsentwicklung wird im Unterricht gefördert.
Der zweite Faktor (Cronbachs α=0,769) beschreibt das Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein wird hier definiert als die subjektive Einschätzung des eigenen Wertes als Person (MacDonald/Leary 2012). In dieser Skala beschreiben die Schüler:innen ihr Selbstvertrauen und ihre Unabhängigkeit.
Beispiele sind:
- Ich traue mir neue Dinge zu.
- Wenn ich etwas kann, traue ich mich auch an etwas Schwierigeres heran.
Der dritte Faktor (Cronbachs α=0,847) umfasst Items, die sich auf das Wohlbefinden (Well-Being) beziehen. Well-Being kann als ein nachhaltiger Zustand positiver „Stimmung und Einstellung, Widerstandsfähigkeit und Zufriedenheit" (ACU National) mit sich selbst, Beziehungen und Erfahrungen in der Schule beschrieben werden.
Die Items dieser Skala beschreiben ein positives Gefühl gegenüber der Schule und dem Lernen in der Schule:
- Ich gehe gerne zur Schule.
- Ich bin motiviert, neue Dinge zu lernen.
- Ich finde es toll, was wir in der Schule machen.
Der vierte Faktor (Cronbachs α=0,736) bezieht sich auf die Kreativität im Lernprozess. Kreativität bedeutet, dass die Schüler:innen in der Lage sind, in einem bestimmten Bereich zu handeln oder etwas zu erschaffen. Sie nutzen ihre Vorstellungskraft und ihr kritisches Denken, um neue und sinnvolle Ideen zu entwickeln. Sie gehen Risiken ein, sind unabhängig und flexibel in ihrer Herangehensweise an einen Bereich und entwickeln sich auf diese Weise weiter (Gibson 2010).
Diese Skala steht für den positiven Einfluss von Kreativität auf Lernprozesse:
- Ich bin motivierter, wenn ich kreativ sein kann.
- Durch künstlerische Ansätze habe ich einen neuen Lernzugang erhalten.
- Ich bin motivierter zu lernen, wenn ich den Lernprozess selbst gestalten kann.
Allgemein zeigt sich, dass in fünf von sechs Schulen Kreativität, Well-Being und persönlichkeitsbezogene Identifikation mit der Schule von Mädchen intensiver wahrgenommen werden als von Jungen. Lediglich das Selbstbewusstsein ist bei den Jungen stärker ausgeprägt.
In den sechs Schulen sind die Faktoren unterschiedlich stark ausgeprägt (siehe Abb. 2). Das Selbstbewusstsein der Lernenden zeigt sich jedoch immer am stärksten. Die Identifikation mit der Schule ist in vier Schulen am schwächsten ausgeprägt. Die Kreativität ist in vier der sechs Schulen am zweitschwächsten und in einer Schule am schwächsten ausgeprägt.
Zwischen den Skalen bestehen unterschiedliche Korrelationen. Die stärksten und hoch signifikanten Korrelationen sind zwischen der persönlichkeitsbezogenen Identifikation mit der Schule und dem Well-Being (r=0,585**) vorhanden. Die Identifikation mit der Schule korreliert zudem mit dem Selbstbewusstsein der Schüler:innen (r=0,406**). Das Well-Being ist mit der Kreativität verbunden (r=0,338**). Nur zwischen Selbstbewusstsein und Kreativität besteht ein eher geringer Zusammenhang (r=0,263**).
Auf der Grundlage der Faktorenanalyse wurde eine Clusteranalyse durchgeführt. Diese ergab zwei Cluster. Beide sind nahezu gleichmäßig über Schüler:innen und Geschlechter verteilt (Cluster 1: N= 515; 57% weiblich, 43% männlich; Cluster 2: N=569; 48% weiblich, 52% männlich). Es gibt zwei Schulen, die einen klaren Schwerpunkt in Cluster 1 haben, und drei Schulen, die hauptsächlich in Cluster 2 liegen. In Anbetracht der schwachen Teilnahmezahlen zweier Schulen, können deren Ergebnisse nur zurückhaltend berücksichtigt werden. Bei den verbleibenden drei Schulen sind in einer Schule die Schüler:innen eindeutig Cluster 1 zuzurechnen, während sich bei den anderen zwei Schulen eine knappe Mehrheit der Schüler:innen in Cluster 2 befinden.
Das erste Cluster zeigt eine starke Ausprägung in allen vier Faktoren. 87% der Schüler:innen betonen, dass Kreativität für sie wichtig ist, und ebenso viele Schüler:innen geben an, dass sie selbstbewusst sind. 80% der Schüler:innen benennen, dass sie sich in ihrer Schule wohlfühlen, und 79% identifizieren sich mit ihrer Schule.
Das zweite Cluster ist dominiert von dem Teilbereich des Selbstbewusstseins. Allerdings sind alle Faktoren insgesamt eher schwach ausgeprägt. 51% der Schüler:innen in diesem Cluster beschreiben sich als selbstbewusst. Kreativität ist für ein Drittel der Schüler:innen (37%) ein wichtiger Bestandteil des Lernens. Eine allgemeine Identifikation mit der Schule besteht für 20 % und ein Gefühl des Wohlbefindens wird von 18% dieser Schüler:innen beschrieben.
Betrachtet man die Zustimmung der Schüler:innen zu den Aussagen über den Unterricht, so zeigen sich klare Tendenzen (siehe Tabelle 1).
|
Cluster 1 |
Cluster 2 |
Ich spüre die Wertschätzung meiner Lehrer. |
79% |
52% |
Die Lernmethoden sind auf Kreativität ausgerichtet. |
68% |
25% |
Ich darf im Unterricht Entscheidungen treffen. |
57% |
34% |
Die Interessen der Lernenden werden berücksichtigt. |
56% |
27% |
Ich muss aktiv am Unterricht teilnehmen. |
85% |
73% |
Tabelle 1: Lernen und Cluster
Die aktive Beteiligung am Unterricht ist in beiden Clustern jeweils am höchsten, wobei der Unterschied in Prozentpunkten am geringsten ist. Der größte Unterschied besteht in der Wahrnehmung von Kreativität bei den Lernmethoden und der Berücksichtigung der Interessen der Schüler:innen. Die Schüler:innen in Cluster 2 scheinen sich viel passiver am Lernen zu beteiligen als die Schüler:innen in Cluster 1.
Diskussion zu den Erkenntnissen
Die unterschiedlichen Erkenntnisse werden in Folgenden diskutiert, um Handlungsempfehlungen für Schulen generieren zu können. Dabei werden die beiden Forschungsfragen nacheinander thematisiert.
Die erste Forschungsfrage befasste sich damit, wie die Schüler:innen ihre Schule und sich selbst in der Schule wahrnehmen. Insgesamt ließen sich vier verschiedene Faktoren ermitteln: die persönlichkeitsbezogene Identifikation mit der Schule, Selbstbewusstsein, Wohlbefinden und Kreativität.
Die ersten beiden Faktoren umschließen Teilbereiche der Identität. Identität als vielschichtiges Konstrukt, das schwer abschließend zu definieren ist (Côté 2006), wird hier als „die dynamischen Selbstverständnisse und Selbstdefinitionen des Individuums, die dazu dienen, das Selbst zu strukturieren, zu lenken, ihm Bedeutung zu verleihen und es zu präsentieren" (Schachter/Rich 2011:227) verstanden. Eine gesunde Anpassung an die Schule wird wahrscheinlich erfolgreiche Schulerfahrungen wie akademische Leistungen und Ausdauer fördern.
Das Selbstwertgefühl als Teil der Identität ist in allen Schulen am stärksten ausgeprägt. Die Identifikation mit der Schule ist in vier Schulen allerdings am geringsten. Dies könnte zu der Annahme führen, dass sich die Schüler:innen nicht mit der Schule verbunden fühlen und die Schule nicht als einen positiven Teil ihres Lebens wahrnehmen. Die emotionale und die kognitive Dimension des Lernens sind jedoch untrennbar miteinander verwoben (Boerkaerts 2010). Daher ist es wichtig, nicht nur die kognitive Entwicklung der Lernenden zu verstehen, sondern auch ihre Motivationen und emotionalen Eigenschaften. In den beschriebenen Schulen könnte eine schwache Identifikation mit der Schule zu einer schwächeren Bindung an Lernprozesse und einer geringeren Motivation und Anstrengung beim Lernen führen.
In Bezug auf das Geschlecht zeigt sich, dass Jungen ein stärkeres Selbstbewusstsein haben als Mädchen. Dies deckt sich mit anderen Studien, die geschlechtsspezifische Unterschiede im Selbstbewusstsein untersuchten (Orth et al. 2010). Die stärkere Identifikation mit der Schule, das Well-Being und der Kreativität seitens der Mädchen ist ebenfalls nicht sehr überraschend. Vorliegende Erkenntnisse unterschiedlicher Studien bestätigen, dass Mädchen mehr schulangepasste Einstellungen und Verhaltensweisen entwickeln, vor allem auf motivationaler und volitionaler Basis (Kuhn 2008:62). Mädchen betonen häufiger als Jungen, dass sie in der Schule gute soziale Erfahrungen machen, und sie loben stärker die gute Qualität des Unterrichts und die Lernmöglichkeiten in der Schule.
In vier der Schulen ist die Kreativität am zweitschwächsten, in einer sogar am schwächsten ausgeprägt. Die Zustimmungsrate liegt an den verschiedenen Schulen zwischen 46% und 85%. Wenn man alle Schulen mit einer sehr geringen Beteiligung herausnimmt, ändert sich dieses Ergebnis nicht. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass Schulen, die das kulturell-ästhetische Lernen aktiv fördern, theoretisch vielfältige kreative und künstlerische Methoden anwenden. Die Schulen in dieser Stichprobe sollten ihre Schüler:innen dazu anregen, sich aktiver an ihren eigenen Lernprozessen zu beteiligen. Überraschenderweise scheint die Kreativität keinen Einfluss auf das Selbstbewusstsein oder das Wohlbefinden zu haben. Dies könnte einerseits daran liegen, dass die Schulen die Kreativität nicht so stark fördern, dass die Schüler:innen sie als ein Merkmal ihres Lernens erkennen. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass das Selbstbewusstsein und das Well-Being nicht mit der Kreativität zusammen wahrgenommen werden, weil die Schüler:innen andere Wege finden, sich selbstbewusst auszudrücken und sich wohl zu fühlen.
Hinsichtlich der Cluster zeigt sich, dass die Schüler:innen entweder auf alle Faktoren gut reagieren oder sie nicht sehr intensiv wahrnehmen. Dies gilt insbesondere für das Well-Being und die Identifikation mit der Schule. Dies bedeutet, dass die Schulen eine gewisse Anzahl von Schüler:innen verlieren, die keine Verbindung zum Lernumfeld herstellen können. Innerhalb der Stichprobe gibt es nur eine Schule, der es gelingt, drei Viertel aller Schüler:innen zu binden. Diese befindet sich in Cluster 1. Die beiden anderen Schulen, die in unserer Untersuchung gute Teilnahmequoten aufweisen, haben eine eher ausgewogene Anzahl von Schüler:innen in beiden Clustern mit einem leichten Schwerpunkt in Cluster 2.
Um zu sehen, inwieweit es wünschenswert wäre, mehr Schüler:innen in dem Wahrnehmungsmuster von Cluster 1 anzusiedeln und wie – falls dem zugestimmt wird – die Anzahl der Schüler:innen in Cluster 1 erhöht werden könnte, scheint es hilfreich, einen Blick auf den Zusammenhang mit dem Verhalten im Unterricht zu werfen, der in Tabelle 1 dargestellt ist. Fast 80% der Schüler:innen in Cluster 1 fühlen sich im Unterricht geschätzt, mehr als die Hälfte hat das Gefühl, dass sie eigene Entscheidungen treffen können und dass ihre Interessen berücksichtigt werden. In Cluster 2 fühlt sich nur die Hälfte der Schüler:innen geschätzt, und etwa 30% haben das Gefühl, Entscheidungen treffen zu dürfen oder dass ihre Interessen berücksichtigt werden. Der größte Unterschied besteht in der Wahrnehmung von kreativen Lernmethoden. In Cluster 2 nimmt nur ein Viertel der Schüler:innen Kreativität im Unterricht wahr, während in Cluster 1 zwei Drittel der Schüler:innen dies erleben.
Die Handlungskompetenz der Schüler:innen, d. h., die Fähigkeit, sich eigene Ziele zu setzen, zu reflektieren und verantwortungsbewusst zu handeln, um Veränderungen zu bewirken, sollte in allen Schulen gestärkt werden, um die Schüler:innen im zweiten Cluster dazu anzuregen, sich mehr einzubringen und zu engagieren. Dies würde bedeuten, dass die Schüler:innen die Möglichkeit erhalten, die Art und Weise, wie sie unterrichtet werden, zu beeinflussen, den Dingen, die sie lernen sollen, einen Sinn zu geben und ihr Lernen mit der Welt außerhalb der Schule zu verbinden (Zeiser et al. 2018).
Die zweite Forschungsfrage bezog sich auf den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Schüler:innen und der Intensität der Schulentwicklung. Dieser wird im Sample nicht festgestellt.
Unabhängig davon, wie kulturell-ästhetische Bildung definiert oder gelebt wird, lässt sich ein bestimmtes Muster in den Antworten der Schüler:innen erkennen. Alle Schulen haben unterschiedliche Merkmale bei den Faktoren und eine gewisse Streubreite bei den Zustimmungsquoten. Herausragend ist nur die Schule 3 (siehe Abbildung 1), die bei allen Faktoren eine Zustimmung zwischen 81% und 89% erreicht. Diese Schule konnte in einer vorherigen Studie zur Schulentwicklung bereits als „kultur-integrierende Schule" (Stufe 3, siehe oben) eingestuft werden. Sie integriert kulturell-ästhetisches Lernen in vielen verschiedenen Aspekten in ihren Alltag. Die einzige andere Schule, die sich auf derselben Schulentwicklungsstufe befindet, ist Schule 5. Die Schüler:innen dieser Schule sind in ihrer Beurteilung der Schule sehr viel zurückhaltender. Allerdings ist die Kreativität, die an anderen Schulen eher gering ist, an dieser Schule der zweitstärkste Faktor. Schulen, die sich im Bereich ihrer Unterrichts- und Personalentwicklung engagieren, scheinen einen Unterschied in der Kreativität zu machen. Schulen der Stufen 1 („kultur-interessiert") und 2 („kultur-anwendend") weisen hier keine nennenswerten Unterschiede auf. Dies bestätigt, dass die Veränderung des alltäglichen Unterrichts nicht Teil ihrer schulischen Entwicklung ist. Interessant ist jedoch, dass die Schüler:innen die Kreativität und ihren Nutzen für Lernprozesse nicht zu spüren scheinen, wenn sie sie in zusätzlichen Kursen oder einzelnen Projekten erleben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es überraschend ist, dass Schulen, die aktiv an der Integration der Künste in die Lernprozesse der Schüler:innen arbeiten, einen großen Teil ihrer Schüler:innen nicht erreichen. Es scheint eine große Kluft zu bestehen zwischen der schulischen Umsetzung des Schwerpunkts Kulturschule auf der einen Seite und der Wahrnehmung dieser „veränderten Normalität" durch die Schüler:innen auf der anderen Seite.
Einschränkungen der Studie und Vorschläge für künftige Forschungsarbeiten
Die vorliegende Studie ist eine der ersten deutschen Studien zur kulturell-ästhetischen Schulentwicklung, die die Perspektive der Schüler:innen auf die Lernprozesse aufnimmt. Einschränkend für Repräsentativität sei darauf hingewiesen, dass das Sample eher klein war und nur drei der Schulen eine hohe Anzahl von teilnehmenden Schüler:innen erreichten. Erste Erkenntnisse darüber, wie Kulturschulen von den Schüler:innen wahrgenommen werden, lassen sich dennoch feststellen. Zukünftige Untersuchungen sollten das Sample auf eine größere Anzahl von Schulen mit einer insgesamt höheren Teilnahmebereitschaft der Schüler:innen ausweiten, um zu überprüfen, ob die hier vorliegenden Ergebnisse bestätigt werden können. Darüber hinaus scheint es wichtig, qualitative Forschungsstudien über die Wahrnehmung der Schüler:innen durchzuführen, um ein klareres Bild davon zu erhalten, wie sie in ihrem Lernen besser unterstützt werden können und wie sie sich stärker mit der Schule verbunden fühlen. Aus Sicht der Schulentwicklungsforschung erscheint es wichtig, dass eine stete Selbstevaluation des Lernumfelds der Schule stattfindet, die alle Lehrkräfte und Lernende einbezieht. Nur wenn alle Beteiligten gemeinsam an Lernprozessen arbeiten, werden sie in einem gesamtschulischen Umfeld erfolgreich sein.
Fazit
Die Ergebnisse zeigen, dass es auch bei einem gemeinsamen Entwicklungsschwerpunkt nicht den klassischen Weg zu einer flächendeckenden Umsetzung eines bestimmten Schwerpunktes gibt. Das Forschungsprojekt gibt einen ersten Einblick auf Zusammenhänge zwischen der Wahrnehmung der Schüler:innen und den Veränderungen auf organisatorischer Ebene in Bezug auf die Schulentwicklung. Auch wenn es Schüler:innen gibt, die auf die Angebote der jeweiligen Schule eingehen, die ein positives Gefühl gegenüber der Schule und den Lernprozessen haben, gibt es auch Schüler:innen, die sich nicht integriert fühlen. Es gelingt ihnen nicht, in einen gemeinsamen Resonanzraum mit der Schule einzutreten. Diese Schüler:innen fühlen sich eher abgelehnt, ignoriert und gleichgültig gegenüber dem Lernumfeld.
Diese Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, die Schüler:innen in ihr Lernen und gleichzeitig in die Schulentwicklung einzubeziehen, um eine „neue Normalität" zu schaffen, die alle in der Schule einschließt. Die Schulentwicklung in Kulturschulen muss sich der Bedeutung bewusst sein, dass die Schüler:innen nicht nur Lernangebote erhalten, sondern auch aktiv ihr eigenes Lernen gestalten.