Herausforderung der Kulturellen Bildung im Digitalzeitalter

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von Thomas Damberger

Erscheinungsjahr: 2018

Abstract

Die Digitalisierung durchdringt nahezu sämtliche Bereiche der Gesellschaft und sorgt für fundamentale Veränderungen. So ist der Mensch kaum bemerkt zum Objekt eines umfassenden kybernetischen Systems geworden, für das Steuerung und Kontrolle - auch Manipulation - konstitutiv sind. Dieses System zeichnet sich durch eine radikale Gleichheit und Enthumanisierung aus, woraus wiederum Folgen für die der Kultur innewohnende Dialektik erwachsen. Der Beitrag zielt darauf ab, die Herausforderung zu benennen, vor die sich die Kulturelle Bildung angesichts der Potenziale der Digitalisierung gestellt sieht.

Digitalisierung, Krise und Kultur

Bildung und Kultur sind untrennbar miteinander verwoben. Wir führen allein mit Blick auf den Menschen das Wort Bildung im Munde. Bildung ist demzufolge immer Menschenbildung. Nun sind Menschen soziale Wesen. Sie sind zunächst existenziell aufeinander angewiesen, und bei aller Emanzipation, die mit Bildung immerzu (wenn auch in unterschiedlichem Maße) einhergeht, bleibt sie stets auf ein Gemeinsames hin ausgerichtet. Wolfgang Klafki charakterisiert daher den Bildungsbegriff als einen mehrdimensionalen. Eine Dimension von Bildung ist für ihn die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, eine zweite die Mitbestimmungsfähigkeit und zuletzt die Fähigkeit zur Solidarität (vgl. Klafki 2007:52).

Sowohl das Vermögen zur Mitbestimmung als auch das zum solidarischen Empfinden und Handeln sind für Klafki notwendige Voraussetzungen für die Gestaltung einer gemeinsamen Kultur (ebd.). Eine solche gemeinsame Kultur muss uns als eine dynamische, sich immerzu in Bewegung befindende erscheinen, und zwar deshalb, weil die Menschen, die die Kultur schaffen, sie ausmachen, sie prägen, immer andere und dabei sich selbst verändernde sind. Veränderung bedeutet jedoch auch Gefahr, insofern trägt Kultur die Möglichkeit ihrer Zerstörung in sich.

Nun sind im Zusammenhang mit der Moderne, man könnte auch sagen: unserer gegenwärtigen Kultur, Krisen zu erkennen, die Wilhelm Heitmeyer als Struktur-, Regulations- und Kohäsionskrise bezeichnet (vgl. Heitmeyer 1997:633ff.). Wir erleben beispielsweise aktuell im Zusammenhang mit der Digitalisierung, dass sich alte Ordnungen und Strukturen verändern, teilweise auflösen und neue an ihre Stelle treten. So spielen Raum und Zeit in der Kommunikation durch und mithilfe der Neuen (Digitalen) Medien eine völlig andere Rolle, woraus u.a. das Phänomen einer umfassenden technischen, aber auch sozialen Beschleunigung erwächst. Sich fundamental verändernde Strukturen bedeutet indessen, dass bisher bestehende Regeln einer Überarbeitung bedürfen und nicht zuletzt, dass Zusammenhänge, seien es partnerschaftliche, familiäre, berufliche etc. in Gefahr stehen, sich aufzulösen. In eben dieser Krisensituation befindet sich nun die Kulturelle Bildung.

Bildung - und damit auch Kulturelle Bildung - ist Gegenstand der Pädagogik. Dieser wiederum sind Krisen alles andere als fremd, liegt doch die Geburtsstunde der Pädagogik als eigenständige Disziplin im Übergang vom alten System (dem Feudalismus) hin zu einer neuen Ordnung (der Industrialisierung). In diesen unsicheren Zeiten entstanden, trägt die Pädagogik seither dazu bei, Menschen auf fundamentale gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Veränderungen vorzubereiten. Zugleich zeichnet sie sich bis heute notwendigerweise durch eine innere Unsicherheit und Zerrissenheit aus. Sie steht nämlich einerseits im Auftrag, für die Reproduktion der Gesellschaft Sorge zu tragen und befindet sich andererseits immer auch in der Rolle, in Anwaltschaft des Kindes dessen bestmögliche Potenzialentfaltung innerhalb der gegebenen Strukturen zu ermöglichen. Beide an sie herangetragenen Ansprüche miteinander zu vermitteln, ist die ihr immanente große Herausforderung. 

Mit der Auflösung feudaler Strukturen ging die Tatsache einher, dass der ehemals Leibeigene, an die Scholle Gebundene, von nun an frei war; und damit auch frei von Schutz und frei von Arbeit. Diese Freiheit war existenzbedrohend – das Wenden der Bedrohung konnte dadurch gelingen, indem der Freie auf dem sich etablierenden Arbeitsmarkt seine Arbeitskraft zum Verkauf angeboten hat, um so an die monetären Mittel zur Lebenssicherung zu gelangen. Da der Einzelne sich aber in Konkurrenz zu etlichen weiteren Marktteilnehmern vorfinden musste, war es erforderlich, die eigenen Fähig- und Fertigkeiten der Nachfrage entsprechend auszubilden und zu präsentieren. Kurzum: Bildung war nötig, um die eigene Wertgenerierung, den Werterhalt und die Wertsteigerung zu realisieren. Damit steht Bildung jedoch stets in der Gefahr, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Anders formuliert: Wenn Bildung Menschenbildung ist, sich aber vorwiegend auf Anpassung und Optimierung an fremde Erwartungen hin ausrichtet, bedeutet dies faktisch, dass sie daran mitwirkt, Menschen zum bloßen Mittel für fremde Zwecke zu machen und damit den Menschen als solchen zu verdinglichen. Bildung in diesem Sinne ist Enthumanisierung. Was sich nicht monetär bemessen lässt, ist wertlos. Die mit der Krise im Übergang zur Industriegesellschaft einhergehende Entwertung betrifft zugleich auch das Selbstverständnis des Menschen. Im Wesentlichen erscheint er als Zahl (auf dem Lohnzettel bzw. dem Girokonto). Je höher die Zahl, desto höher sein Wert.

Die Industriegesellschaft hat seit ihrer Entstehung mehrere Transformationen erlebt und ist nun zur Digitalgesellschaft avanciert, deren wesentliches Charakteristikum die Durchdringung durch Digitalisierung ist. Konkret handelt es sich dabei zum einen um den breiten Einsatz Neuer (Digitaler) Medien, aber auch um sowohl mit diesen Medien als auch mit der Digitalisierung einhergehender wirkmächtiger Phänomene (z.B. Datafizierung, Quantified Self, maschinelles Lernen, Künstliche Intelligenz, Augmented/Virtual Reality, Robotik, Cyborgisierung usw.). Im Alltag begegnen uns die Neuen (Digitalen) Medien in Form von Smartphones, Laptops, Tablet-PCs, kurzum: als Computer. Es scheint dabei zunächst so zu sein, dass Computer immer smarter werdende Instrumente sind, die uns helfen, effizienter, kreativer und auch effektiver zu arbeiten. Mehr noch können Computer als Ausdruck von Kultur und die Produkte, die mit Computer geschaffen werden, als kulturelle Artefakte bezeichnet werden. Diese Sichtweise ist ebenso naheliegend wie falsch: und das Resultat (auch einer Kulturellen) Bildung, die vor den Erscheinungen bzw. der reinen Anschauung halt macht und der es bisher nicht hinreichend gelungen ist, das Wesentliche der Digitalen Transformation zu erfassen.

We are machine!

Computer sind Räume. Dies wurde in den 1940er Jahren mit der Entstehung der ersten Computer ersichtlich. ENIAC (Electronic Numerical Integrator and Computer) war der erste elektronische digitale Rechner und wurde 1946 fertiggestellt. Das tonnenschwere Gerät erforderte etliche Quadratmeter Platz. Die Programmierung war zu dieser Zeit vorwiegend ein körperlicher Akt; Komponenten wurden entnommen, durch neue ersetzt und neu verkabelt. Als in den 1970 Jahren die PC´s auf den Markt kamen, veränderte sich das Verhältnis von Mensch und Computer in mindestens zweifacher Weise. Erstens war es nicht mehr erforderlich, dass man einen Computerraum betrat, um ihn zu programmieren, vielmehr saß der Programmierer vor einem damals noch ausgesprochen kleinen Bildschirm. Zweitens wurden mithilfe einer Tastatur, auf der Symbole angebracht waren, Befehle eingegeben. Der Computer nahm den Charakter einer symbolverarbeitenden Maschine an: und das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine wurde in eben dieser Hinsicht zu einem symbolischen.

Es scheint heute so zu sein, dass sich an diesem Verhältnis nichts Grundlegendes geändert hat. Computer sind zwar über die Jahre hinweg deutlich kleiner und leistungsfähiger geworden, aber noch immer geben Menschen etwas in den Computer ein, sei es eine WhatsApp-Nachricht, die verfasst, oder ein Videoclip, der aufgezeichnet wird. Viel entscheidender und zugleich noch wenig beachtet ist dabei die Tatsache, dass Computer längst schon in die Lage versetzt wurden, mithilfe zahlreicher unterschiedlicher Sensoren Daten eigenständig und für uns in nicht wahrnehmbarer Weise zu erfassen, über immer schneller werdende Internetverbindungen weiterzuleiten, auf Server, von denen wir nicht wissen, wo sie stehen, noch welcher Rechtsprechung sie unterliegen, zu „parken”, um dort jederzeit ausgewertet und prinzipiell auch weiterverkauft werden zu können.

Da Smartphones mittlerweile ausreichend günstig und zudem zum Universalwerkzeug geworden sind, tragen wir sie nahezu ständig bei uns und geben ihnen die Möglichkeit, permanent Daten von uns zu erfassen. Es sind aber nicht nur Smartphones, die sich ungefragt über integrierte Bewegungsmesser, Kamera, Mikrophon, Gyroskop, Barometer und einige weitere Sensoren Daten einholen. Vielmehr werden darüber hinaus ganz alltägliche, physische Gegenstände, auch Kleidungsstücke, Fahrzeuge etc. mit Chips und Sensoren ausgestattet, die es ihnen ermöglichen, miteinander zu kommunizieren. Wir haben die Welt um uns herum nicht nur zu einem Computer gemacht (vgl. Floridi 2017:265), sondern zugleich einen völlig neuen Raum geschaffen, der nicht mehr nur physisch und nicht mehr nur virtuell ist:

„Indem Computer heute nicht mehr in den Büros und hinter den Bildschirmen eingesperrt sind, sondern die Welt durchstreifen, als [...] Roboter, in der Kleidung vernäht, im 3D-Druck oder in der sog. Industrie 4.0, wird offensichtlich, dass im Zwischenraum zwischen Zeichen und Stofflichkeit, zwischen Geist und Körper, zwischen Virtualität und Realität etwas Neues entstanden ist.“ (Schelhowe 2016:46).

Wir Menschen befinden uns in diesem Raum, aber wir befinden uns darin nicht als Menschen. Um diesen Gedanken nachvollziehen zu können, macht es Sinn, ein wesentliches Charakteristikum des Computers hervorzuheben, auf das der Philosoph Gotthard Günther schon in den 1960er Jahren verweist (Günther 1963). Günther beschreibt den Computer als eine transklassische Maschine, die im Unterschied zur klassischen Maschine nichts produziert, sondern steuert und vorschreibt. Die transklassische Maschine geht dabei folgendermaßen vor: Zunächst einmal wird die Außenwelt (beispielsweise) über Sensoren erfasst. Mit dem Erfassten kann sie jedoch so noch nichts anfangen, es muss erst in einen Zustand transformiert bzw. in eine Sprache übersetzt werden, mit der ein Computer arbeiten kann. Hierfür ein Beispiel: Der bloße Sprachbefehl „Hey Siri, welche Termine habe ich morgen Nachmittag?“ ist für einen Computer nicht verstehbar. Weder weiß er, was ein Termin ist, noch hat er eine Vorstellung von einem Nachmittag oder was das Heute und das Morgen bedeuten. Die vom Mikrophon erfasste Stimme wird indessen registriert und sogleich in eine mathematisch verarbeitbare Form gebracht, mit der das Gerät anschließend Berechnungen anstellen kann. Dieser als Formalisierung zu bezeichnende Vorgang bedeutet immer und notwendigerweise eine Reduktion, denn von allem, was nicht in eine mathematisch verarbeitbare Form gebracht werden kann, muss abgesehen (abstrahiert) werden. Anders formuliert: Aus dem lebensweltlich Gegebenen (datum est) werden maschinenverarbeitbare Daten. Diese erzeugen im Computer einen internen Zustand, der die Außenwelt repräsentiert. Wie gut die Repräsentation gelingt, hängt mit der Anzahl der Sensoren und der Leistungsfähigkeit des Geräts, d.h. mit der jeweiligen technischen Entwicklung, zusammen (vgl. Sesink 2004:12).

Nun kommt ein weiteres bedeutsames Merkmal hinzu: Für die transklassische Maschine ist die Außenwelt eine vollkommene Maschine. Es existiert für sie nur das, was erfasst wurde. Alles andere ist nicht. Kurzum: Für diese Maschine gibt es nur 1 oder 0, Sein oder Nichts. Es gibt kein Dazwischen, kein inter-esse. Die Welt ist damit für einen Computer im wahrsten Sinne des Wortes uninteressant. Das betrifft folglich auch den Menschen, und mehr noch: Es ist aus bildungsphilosophischer Perspektive gerade der Raum zwischen Sein und Nichts, aus dem das Mögliche in die Welt hereinbrechen und damit wirklich werden kann. Jede zwischenmenschliche Beziehung – und für eine pädagogische Beziehung gilt das in besonderem Maße – muss dasjenige im Anderen im Blick haben, was nicht ist und dennoch nicht nicht ist. Sie darf nie auf das bloß Vorhandene, Messbare reduziert werden, denn eine solche Reduktion verfehlt den Anderen in der Möglichkeit seines Werdens.

Nun hat die transklassische Maschine zwar auf Grundlage der über Sensoren eingeholten Daten einen internen Zustand von der Außenwelt abgebildet und ggf. einen neuen Zustand entworfen, aber da sie rein virtuell ist und keinen Bezug zur realen Realität hat, bleibt das, was in ihr von statten geht, ohne Wirkung auf die Außenwelt. Um bei dem angeführten Beispiel mit der Sprachassistenz Siri zu bleiben: Siri kann zwar berechnen, was für Termine in meinem Kalender stehen, aber das Ergebnis der Berechnung nicht ohne weiteres mitteilen. Hierzu bedarf es Peripheriegeräte, z.B. das mit einem Lautsprecher versehene Smartphone. Die transklassische, virtuelle Maschine steuert, schreibt vor, treibt an, und das Ergebnis wirkt durch die Peripherie, d.h. durch die klassische Maschine, auf die Welt ein.

Der neue Raum, von dem oben die Rede war, kann durch eine radikale Gleichheit charakterisiert werden. Diese Gleichheit findet ihren Grund in der Datafizierung, d.h. in der aus technischer Sicht notwendigen Reduktion von allem auf Daten bzw. auf das, was diese Daten im Kern sind: Nullen und Einsen. Der Historiker Yuval Noah Harari schreibt dazu: „Glaubt man dem Dataismus, so sind Beethovens Fünfte Symphonie, König Lear und das Grippevirus nur drei Muster des Datenstroms, die sich mit den gleichen Grundbegriffen und Instrumenten analysieren lassen“ (Harari 2017:498; Hervorh. im Original). Es geht dabei aber nicht nur um das Analysieren, sondern vor allem um das Steuern und Kontrollieren.

Steuerung und Kontrolle

Marx und Engels haben in ihrer Kapitalismusanalyse herausgearbeitet, dass die Klasse, die über die materielle Produktion verfügt – man könnte auch vereinfacht sagen: die Herrschenden – auch über die Mittel der geistigen Produktion verfügt. Sie bestimmt, was als Kultur gilt und geben den Orientierungsrahmen vor. Nun gibt es aber nichtsdestotrotz immer auch dasjenige, was als subjektive Kultur bezeichnet werden darf. Diese Form der Kultur drückt sich nicht nur in Wissenschaft und Kunst aus, sondern gleichsam im Umgang mit den Dingen des alltäglichen Lebens (vgl. Hellinger 2018:526). Wenn aber der Umgang mit den alltäglichen Dingen – und Smartphones, Smartwatches, Laptops etc. gehören ausdrücklich dazu – durch bestimmte steuernde Eingriffe beeinflusst wird, ggf. auch ohne das Wissen der User, steht die Entwicklung einer nicht-normierten subjektiven Kultur in Gefahr.

Im Folgenden soll dies am Beispiel der Möglichkeit einer neuen Lernkultur verdeutlicht werden. In seinem Ende 2016 veröffentlichten Strategiepapier zur „Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft“ hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Bedeutung der Etablierung sogenannter learning analytics hervorgehoben und unterstreicht, die „Erhebung und statistische Auswertung lehr- und lernbezogener Daten (learning analytics) [vermittelt] [...] neue Erkenntnisse über Lehr- und Lernprozesse [und können] [...] zur Verbesserung der Lehrqualität beitragen“ (BMBF 2016:8). Grundsätzlich ist es möglich, mithilfe schon vorhandener Sensoren, entsprechender Programme und einer hinreichend schnellen Internetverbindung das Lern- und Arbeitsverhalten von Schüler*innen nahezu permanent und umfassend zu überwachen. Die auf diese Weise gewonnenen Daten können anschließend verwendet werden, um individuell angepasste Aufgaben, Texte, Erklärvideos zu präsentieren. Da schon heute Programme existieren, die auf Basis von Zahlen und Statistiken Texte generieren können, ist es letztlich nur eine Frage der Zeit, bis die in Lehr-Lernkontexten erhobenen Daten genutzt werden, um Texte automatisiert und in Echtzeit von einem Programm in einer Weise verfassen zu lassen, die dem Leistungsstand, dem Vorwissen, dem kulturellen Background der jeweiligen Adressat*innen entsprechen. Befürworter*innen dieser Entwicklung argumentieren, dass solche adaptive Lernsysteme die technische Umsetzung eines pädagogischen Traumes sind, nämlich jeden Menschen nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen individuell fördern zu können (vgl. Dräger & Müller-Eiselt 2015:28f.).

Bei allen Vorteilen, die eine solche individuelle Förderung mit sich bringen mag, geht ein entscheidendes für gelingende Bildung konstitutives Moment verloren: Das gemeinsame Entwerfen und Entwickeln einer humaneren Welt als regulative Idee. Regulativ, ja sogar utopisch, ist diese Idee deswegen, weil sie kein erreichbares Ziel, sondern immer nur einen Anspruch darstellt. Das alle Menschen einschließende Gemeinsame wird es nie geben, immer stellt die Begegnung mit dem Fremden im Anderen, auch die damit einhergehende Erschütterung und Überforderung, ein Moment dar, das sich als nicht vollständig überbrückbare Differenz abzeichnen. Doch eben diese Differenz ist notwendig. Das bisher Unbekannte in uns selbst scheint nur in der Begegnung mit dem Anderen und dessen Fremdheit auf. Die Auseinandersetzung mit diesem Anderen ist gleichsam Bildung. Learning analytics und adaptive Lernsysteme sind hingegen genau das, was ihr Name verrät – Bezeichnungen, die das Lernen betreffen. Doch Lernen, das nicht auf Bildung abzielt bzw. nicht im Horizont von Bildung gedacht wird, ist im günstigsten Falle oberflächlich und unbedeutend, im schlimmsten Falle Dressur.

Das Erfassen, Speichern und Auswerten von lehr- und lernbezogenen Daten bedeutet nicht zuletzt auch Kontrollverlust. Dass Daten schnell vervielfältigt und verteilt, dass Server gehackt werden können, ist hinreichend bekannt. Ebenso bekannt ist, dass ein großes Unwissen vorherrscht über die technologischen Prinzipien, die der Digitalisierung zugrunde liegen, das gemeinhin wenig bekannt ist, was überhaupt Daten sind, wie man aus Daten Geld macht oder mithilfe von Daten steuernd in das Leben der Menschen eingreifen kann. Es ist, um mit Simanowski zu sprechen, offenbar eine politische Entscheidung getroffen worden, Medienbildung als Vermittlung von Mediennutzungskompetenz, kaum aber als Medienreflexionskompetenz zu betreiben (vgl. Simanowski 2018:198). Angesichts der Bedeutung, die Neue (Digitale) Medien im alltäglichen Leben haben, ist diese Einseitigkeit und Unwissenheit bemerkenswert. Im Wesentlichen bedeutet diese Unaufgeklärtheit Unmündigkeit und damit das, was Bildung doch traditionell ihrem Anspruch nach zu beheben suchen sollte.

Die Unmündigkeit korrespondiert nun mit dem weiter oben erwähnten Phänomen der permanenten Beschleunigung. Höhere Rechenleistung und ein immer leistungsfähigeres und mobiles Internet sorgen für eine schnelle Kommunikation sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Menschen und Maschinen und zwischen Maschinen untereinander. Das allumfassende Netz verdichtet sich, die Repräsentation der Welt, die der Computer als transklassische Maschine vornimmt, wird immer genauer, das Wissen um die Fähigkeiten, Interessen, Präferenzen, auch die Geheimnisse derjenigen Menschen, die sich in diesem Netz, dem neu entstandenen Raum, der Welt als Computer, befinden, wird immer umfangreicher. Damit einher geht auch die Möglichkeit der gezielten Steuerung sowohl einzelner Menschen als auch ganzer Gesellschaften. Auch das Auseinanderdividieren von Nationen und das Aufeinanderhetzen von Menschengruppen kann gezielt herbeigeführt werden.

Die weltweit führenden Unternehmen mit dem größten Marktwert sind Apple, Amazon, Alphabet (Google), Microsoft und Facebook. Ihr Börsenwert liegt aktuell zwischen über 500 Milliarden (bei Facebook) und fast einer Billion US-Dollar (im Falle von Apple). Diese Unternehmen stehen nicht nur in Konkurrenz zueinander, sondern haben allesamt eher wenig Interesse, die digitale Mündigkeit im Sinne der nicht nur von Simanowski geforderten Medienreflexionskompetenz zu fördern. Vielmehr wird eine Kultur der umfassenden Mediennutzung präferiert. Die Devise lautet: Nicht denken, sondern machen.

Es ist nicht nötig, auf Karl Marx und Friedrich Engels zurückzugreifen, um die subtilen Methoden des Machterhalts und Machtausbaus der Herrschenden zu Ungunsten der Beherrschten zu erhellen. Vielmehr reicht bereits die Auseinandersetzung mit aktuellen Publikationen zur Elite- und Neoliberalismusforschung, um die Soft Power-Strategien im Kontext der digitalen Transformation zu erkennen. Ziel solcher Strategien ist die Verhinderung der Auseinandersetzung mit den Bedingungen existierender Herrschaftsverhältnisse und den Möglichkeiten ihrer Veränderung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die mächtigsten Unternehmen der Welt ihr Geld vorwiegend mit den Daten ihrer User verdienen, die weder den Wert ihrer Daten kennen noch eine Chance haben, sich vor dem Abschöpfen ihrer Daten zu schützen – höchstens um den Preis der sozialen Isolation. Bildung auch und gerade im Rahmen einer von Digitalität durchdrungenen Kultur wird, sofern sie auf Mündigkeit und Humanisierung abzielt, nicht umhinkommen, sich sowohl mit den Potenzialen und Gefahren der Digitalisierung als auch mit neoliberalen Machterhaltungsstrategien zu befassen.

Inwiefern ist nun aber die Auffassung falsch, dass Computer als Ausdruck von Kultur und die Produkte, die mit Computern geschaffen werden, als kulturelle Artefakte bezeichnet werden können? Theodor W. Adorno lehrt uns, dass Kultur etwas Gewalttätiges, um nicht zu sagen: ein Herrschaftsmoment in sich trägt (vgl. Adorno 1966:358). Kultur zielt darauf ab, die Natur zu unterwerfen, sie verfügbar zu machen. Das betrifft im Übrigen auch die eigene Natur, deren Unberechenbarkeit zumindest potenziell als Gefahr aufscheint. Zugleich ist es aber gerade die Unberechenbarkeit bzw. Spontaneität, die den Grund für jede Form der Kultur darstellt. Kultur, die zu ihrem eigenen Grund keinen Bezug mehr hat, ist keine Kultur.

Um nun Computer bzw. die Digitalisierung und deren Produkte als Kultur bezeichnen zu können, müssten Strukturen vorhanden sein, die Menschen die Möglichkeit zuteil werden lassen, sich ihrer eigenen Bedürfnisse, Wünsche, auch ihrer Ängste bewusst zu werden, ferner in eine Beziehung zu diesem Eigenen treten zu können und diesem (gerne auch mit den Möglichkeiten der Neuen (Digitalen) Medien) zum Ausdruck zu verhelfen. Das so Erzeugte wäre dann die Artikulation eines kulturellen Bedürfnisses und in diesem Sinne durchaus Kultur. Jedoch findet gegenwärtig das genaue Gegenteil statt: Die veloziferischen Strukturen, innerhalb derer die Digitalisierung nicht nur stattfindet, sondern deren Ausdruck sie zugleich ist, verunmöglichen einen solchen Bezug. Was dann tatsächlich zum Ausdruck kommt, ist bei aller scheinbaren Kreativität nur wenig mehr als ein Reflex auf äußere (fremde) Impulse, die insbesondere in ihrer internalisierten Form nicht mehr als fremd erscheinen und damit Ausdruck einer umfassenden und durchdringenden Macht sind, die eine Kulturelle Bildung im Digitalzeitalter zu erhellen hätte. Und mehr noch: Kulturelle Bildung im Digitalzeitalter ist neben dem Erhellen der Strukturen, die den Bezug zum je Eigenen, Individuellen, Spontanen und Schöpferischen verstellen, herausgefordert, dem Schöpferischen auch durch die mit der Digitalisierung einhergehenden Möglichkeiten sein ihm eigenes Beherrschen-wollen zu bedeutet. Das Aufzeigen der dialektischen Figur jeglichen kulturellen Ausdrucks, dass im Sich-Befreien- und Sich-Zeigen- und zugleich im Unterwerfen-wollen liegt, erweist sich dann als eine Aufgabe, die an Bildung und Kultur gemeinsam gestellt und durch eine auf diese Gemeinsamkeit hin rekurrierende Kulturelle Bildung angegangen werden kann.

Verwendete Literatur

  • Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • BMBF (2016): Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft. https://www.bmbf.de/files/Bildungsoffensive_fuer_die_digitale_Wissensgesellschaft.pdf
  • Dräger, Jörg/Müller-Eiselt, Ralph (2015): Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
  • Floridi, Luciano (2017): Die Mangroven-Gesellschaft. Die Infosphäre mit künstlichen Akteuren teilen. In: Otto P./Gräf E. (Hrsg.): 3TH1CS - Die Ethik der digitalen Zeit (253-435). Berlin: iRights.Media.
  • Günther, Gotthard (1963): Das Bewußtsein der Maschine. Eine Metaphysik der Kybernetik. Baden-Baden, Krefeld: Agis.
  • Harari, Yuval Noah (2017): Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München: C.H. Beck.
  • Heitmeyer, Wilhelm (1997): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Hellinger, Alf (2018): Kulturpädagogik/ Kulturarbeit. In: Bernhard A./Rothermel, L. & Rühle M. (Hrsg.): Handbuch Kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft (518-534). Weinheim, Basel: Betz Juventa.
  • Klafki, Wolfgang (2007): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (6. neu ausgestattete Aufl.). Weinheim und Basel: Beltz.
  • Schelhowe, Heidi (2016): ‹Through the Interface›. Medienbildung in der digitalisierten Kultur. MedienPädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 25, 40-48.
  • Sesink, Werner (2004): In-formatio. Die Einbildung des Computers. Beiträge zur Theorie der Bildung in der Informationsgesellschaft. Münster: Lit.
  • Simanowski, Roberto (2018): Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.

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Thomas Damberger (2018): Herausforderung der Kulturellen Bildung im Digitalzeitalter. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/herausforderung-kulturellen-bildung-digitalzeitalter (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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