Das Haus und die Sesshaftigkeit. Eine kleine Philosophie des Bauens auf dem Land
Abstract
Das Haus ist eine Immobilie. Dieser Umstand macht es in ländlichen Räumen zur subsistenzwirtschaftlichen Ressource: Menschen binden sich an ihre Häuser, sie bauen an ihnen und bewirtschaften sie und finden dadurch eine Beziehung zur Landschaft und ihrer Geschichte. Ein Engagement für die Baukultur sollte mit dieser Beziehung arbeiten und die Spannung zwischen der privaten Leidenschaft und der professionellen Handwerkskunst fruchtbar machen – was dem Denkmalschutz allerdings oft schwerfällt. Hier kommt die Kulturelle Bildung ins Spiel, als Kommunikation zwischen den Menschen über ihre Häuser, die sich in verschiedenen Medien und Künsten zu einer attraktiven regionalen Selbstbeschreibung entwickeln lässt. Baukultur kann sich als kollektives Vermögen nicht ohne Kommunikation entwickeln.
Wir leben in einer mobilen Gesellschaft. Die Menschen ziehen um, folgen der Arbeit, der Ausbildung oder ihren Sehnsüchten. Die Wohnungsmärkte sind auf dieses Verhalten eingestellt, man mietet, kauft und verkauft. So wird auch die Gestaltung der eigenen Behausung immer mehr zu einer externen Dienstleistung: Man schaut sich eine Wohnung an, prüft den Blick vom Balkon, die Sanitärausstattung und die Miete und entscheidet.
So vertraut dieses Modell ist, es gibt doch unzählige Fälle, in denen es anders läuft. Da sind Menschen in einem Ort auf- und in ein Haus hineingewachsen und kämen nie auf die Idee, es freiwillig zu verlassen. Andere verlieben sich in ein Haus, kaufen es gegen alle scheinbare Vernunft, sanieren es und werden sesshaft. Manche verlieren die Nerven beim Bauen, stürzen sich in Konflikte mit Handwerkern oder Bauämtern und wissen am Ende nicht mehr, wie sie jemals wieder einen ruhigen Schlaf finden sollen. Andere machen alles selbst und gehen darin auf. Und während eine lose Fliese im Mietshaus zum Streit mit dem Vermieter führen kann, wird sie im eigenen Haus meistens einfach hingenommen.
Wie immer die Geschichten im Einzelnen verlaufen, wenn Bindungen zwischen Menschen und ihren Gebäuden entstehen, gehen sie über das Wohnen hinaus. Die gesellschaftliche Grundannahme, dass in der Marktgesellschaft alles ersetzbar ist, steht plötzlich wieder infrage, es baut sich eine Komplexität zwischen Mensch, Haus und Raum auf, die nicht auf andere Orte übertragbar ist. Für das Oderbruch Museum Altranft, das sich als Werkstatt für ländliche Kultur versteht, ist das eine interessante Spur. Wir wollten herausfinden, wie sich die Leute, vermittelt über ihre Häuser, auf die Landschaft des Oderbruchs einlassen. Welche Erfahrungen haben sie beim Ausbau gemacht, was haben sie entdeckt, welches Wissen haben sie sich angeeignet? Was macht die Baukultur einer Region eigentlich aus und wo ist sie zu finden – bei der handwerklichen Kunst des Zimmermanns, beim selbstbewussten Zupacken des Laien oder irgendwo dazwischen? Was geschieht mit den agrarischen Siedlungsstrukturen, mit den Bauernhöfen und ihren Gebäuden, wenn sich die Formen des Lebens und Arbeitens drastisch ändern? Wer kann es sich überhaupt leisten, Gebäude wie die stolzen großen Scheunen des 19. Jahrhunderts zu erhalten, die keinen Ertrag mehr bringen? Und könnte es sein, dass das Bauen eine der wichtigsten Quellen ländlicher Kultur überhaupt ist, weil es mit dem Selbsterhalt der Menschen in einer engen Beziehung steht? Was bedeutet das wiederum für das Verwaltungshandeln, für den Markt, für die gegenseitige Hilfe?
Um diesen Fragen nachzugehen, haben wir knapp 30 Personen in unserer Landschaft nach ihrer Geschichte von Haus und Landschaft gefragt. Dem Prinzip der Landschaftskommunikation folgend, waren es sehr unterschiedliche Menschen. Manche leben in der zehnten Generation im Oderbruch, andere sind gerade erst gekommen. Manche haben nie fremde Handwerker in ihr Haus gelassen, andere haben alles bauen lassen. Manche sind arm, andere kennen keinen Mangel. Es waren Frauen und Männer, Junge und Alte, Architekten und Verwaltungsleute.
Die Gesellschaft des Oderbruchs ist ein Kommen und Gehen. Die Aneignung der Landschaft, vermittelt über ein Haus, einen Ort zum Wohnen und Wirtschaften, wird hier in jeder Generation aufs Neue vollzogen. Einheimisch und zugezogen – das sind im Oderbruch relative Begriffe. Allerdings gibt es erhebliche soziale Unterschiede zwischen den Zuwanderungswellen. Während im 18. Jahrhundert arme und reiche Bauern in die Region kamen, folgten in der industriellen Blütezeit des 19. Jahrhunderts vor allem Gewerbetreibende. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kamen zunächst Kriegsflüchtlinge, die meist als Arbeiter in der sozialistischen Landwirtschaft unterkamen, später aber auch Tierärzte, Ingenieure und dann sogar Künstler. Exemplarisch steht das Schicksal zweier Frauen für diesen Wandel: Während Erdmute Rudolf 1960 als junge Meliorationsingenieurin in das Oderbruch geschickt wurde, suchte sich Anka Goll als Absolventin der Kunsthochschule Weißensee fünfzehn Jahre später freiwillig das Oderbruch als Lebens- und Arbeitslandschaft aus. Nach der Wende wagten sich immer wieder junge Menschen mit offenen beruflichen Perspektiven in die Region, wogegen heute immer wieder ältere Menschen in das Oderbruch kommen, um hier, meist ausgestattet mit den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten, ein Haus für ihren Ruhestand zu finden. Die Unterschiede zwischen all diesen sozialen Gruppen sollte man nicht kleinreden, denn mit ihnen geht auch eine sehr ungleiche Ausstattung mit Bildungs- und Sozialkapital einher. Dennoch haben wir keine soziologische Analyse des ländlichen Bauens unternommen. Die Berichte der Leute sprechen für sich und geben hinreichende Einblicke in die jeweiligen Vorstellungen vom guten Bauen, die sich hier aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen entwickelt haben.
Es gibt aber auch Verbindendes. Das Haus ist eine Immobilie, es schränkt die Mobilität des Menschen ein. Man kann mit viel Geld andere beauftragen, es zu unterhalten, aber sich auf diese Weise freizukaufen, ist Luxus. Die Spuren, die vom Haus in die Landschaft führen, gehen von dieser Tatsache aus. Denn die Immobilität bestimmt zunächst den Ressourcencharakter des Hauses und führt dann, wenn man den Blick über den Gartenzaun erhebt, in die soziale Dimension des Raumes.
Das Haus als Ressource
Was bei Menschen, die im Oderbruch geboren und aufgewachsen sind, fast immer ins Auge sticht, ist die große Bedeutung, die die Häuser für ihre persönliche Entwicklung und Lebensgestaltung haben. Wer ein Haus hat, so sieht es zunächst aus, genießt ein Privileg der Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung. Er muss keine Miete zahlen und hat einen Ort für sich in der Welt. Aber dieses Privileg hat auch eine Kehrseite. Veit Templin beschrieb in seinem autobiografischen Roman „Der Malerlehrling“ (Templin 2013), wie er als junger Mann mit seiner Band ein Musikstudium in Weimar ausschlägt, weil er ja nun ein Haus hat, um das er sich kümmern muss. Wo nicht Eltern das Haus für eine mögliche Rückkehr der Kinder bereithalten, kommen junge Menschen in eine schwierige Lage, wenn ihnen durch die Übertragung des Besitzes oder einfach durch plötzliche Umbrüche in den Generationen die Verantwortung für ein Haus zuwächst. Sie erfahren dann das Glück und Leid der Ressource: Diese schafft einem ein unverwechselbares Vermögen, aber sie bindet auch, macht Scherereien und schränkt den räumlichen Bewegungsradius ein. In einer Gesellschaft, in der beinahe alle Ressourcenbindungen outgesourct werden, ist das eine eigentümliche Erfahrung. Man hat etwas, aber man kann dieses Etwas nicht gesellschaftlich verrechnen, man bleibt mit dem Gewinn an persönlicher Differenzierung und dem Verlust an Freiheit allein.
Hinzu kommt die Tatsache, dass der Marktwert von Häusern in demografisch gestressten Regionen keinen entsprechenden Neuanfang in den Ballungsräumen ermöglichen würde. Dieser besondere Stellenwert des Hauses für viele Bewohner ländlicher Regionen wird in der Wissenschaft gern mit dem Begriff ‚prekär' ausgedrückt. Sieht man davon ab, dass darin natürlich ein Maßstab verborgen ist (nämlich, dass Menschen nicht von einer Ressource abhängig sein sollten), so lässt sich doch jedenfalls sagen, dass diese Bindung vielen anderen Menschen in unserer Gesellschaft fremd ist. Was früher eine massenhafte Erfahrung bei Familienbetrieben im Handwerk oder bei den Bauernhöfen war, bekommt heute bei den Häusern in ländlichen Regionen eine ganz neue, aber wiederum existenzielle Färbung.
Der Wert des Hauses bemisst sich also vor allem nach dem subsistenzwirtschaftlichen Status, den das Haus innerhalb eines gewachsenen Systems einer ganz bestimmten Lebenspraxis hat und der (das kann gar nicht oft genug gesagt werden) nicht mit Geld zu verrechnen ist. Garten, Vieh, Heizung, familiäre Interaktion, hauswirtschaftliche Abläufe, Nachbarschaft – all das bildet einen Komplex an Lösungen, der nicht an anderer Stelle einfach reproduziert werden kann. Es gibt im Oderbruch viele Menschen, die in eine extrem schwierige soziale Situation gerieten, nähme man ihnen ihr Haus weg. Deshalb zeugen die immer wieder erhobenen Forderungen, das Oderbruch zu entsiedeln und „der Natur zurückzugeben“ von einem fehlenden Verständnis für die damit verbundenen biografischen Katastrophen – oder auch von fehlender Empathie.
Aber auch jenseits der existenziellen sozioökonomischen Bedeutung des Hauses für Bewohner ländlicher Regionen können Menschen Erfahrungen mit dem Ressourcencharakter eines Hauses machen, wenn sie sich entsprechend darauf einlassen. So werden Wochenendhäuser unversehens zu Lebensorten, weil sich im Zuge der Sanierung eine Dynamik entfaltet, die die Menschen bindet und verwickelt. Das eigentümliche Spannungsfeld zwischen der Begrenztheit des angeeigneten Raumes und der autopoietischen Entfaltung an Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, erschließt sich auch jenen, die es sich eigentlich leisten könnten, anders zu leben. An dieser Schnittstelle entsteht Bindung, Liebe zum Lokalen, Einvernehmen mit der Welt, Verantwortung für das, was man hat. Man kann und will zudem – auch unabhängig von Generationen- und Erbfolgen – nicht beliebig oft in seinem Leben neu anfangen. Diese latente Trägheit, die in den sesshaften Lebensmodellen steckt, ist für ländliche Regionen sehr wichtig. Denn sie sorgt dafür, dass sich Menschen entscheiden, da zu sein, auch dann, wenn die Region, in der man lebt, gerade nicht besonders angesagt ist.
Das Haus als Teil der Landschaft
Die meisten Aneignungen alter Häuser durch neue Menschen laufen zunächst ohne professionelle Planung und Beratung ab. Allein in einem baufälligen Haus zu stehen, heißt für die meisten Menschen deshalb fast immer, mehr oder weniger überfordert zu sein. Man mag den schönen Blick über den Acker genießen, wirft man ihn aber durch den Riss in der Außenwand, schieben sich Sorgen ins Blickfeld. Hier kommen die Nachbarn ins Spiel, sie sind neugierig, geben gute und gut gemeinte Ratschläge, verweisen dann aber auch auf Handwerker, Alleskönner und Netzwerke. Sie leihen dringend benötigtes Werkzeug und helfen mit fließendem Wasser. So überschreitet man die Grenzen des eigenen Grundstücks, fängt an zu reden und Bekanntschaften zu machen. Diese Vergesellschaftung des eigenen Bauens ist Teil eines Spiels, in dem aus einem privaten Traum vom Haus auf dem Land eine Teilhabe an der ländlichen Gesellschaft wird. Denn jene, die schon da sind, sind längst Teil eines ländlichen Metabolismus, in dem getauscht, geholfen und kommuniziert wird. Diese ländlichen Netzwerke kommen erst durch die Suburbanisierung zum Erliegen. Wo Dörfer zu Wohngebieten werden, aus denen die landwirtschaftlichen oder gewerblichen Nutzungen verschwunden sind, in denen es keine Kirchgemeinden, Feuerwehren oder Kneipen mehr gibt, kommt auch der typische Stoffwechsel der ländlichen Kultur zum Erliegen.
Noch ist das in vielen Dörfern des Oderbruchs anders. Auf dem Land kursieren Baumaterialien, man schmeißt nicht gern etwas weg und stapelt stattdessen Dachziegel, Ziegelsteine oder Balken, denen man noch etwas zutraut, im Hof. Es werden alte Fenster und Türen aufgehoben, die dann darauf warten, ob sie noch einmal gebraucht werden. Über wiederverwertbares Baumaterial kommen Menschen miteinander ins Gespräch. Sie zeigen sich gegenseitig Lösungen, die sie gefunden haben, packen mit an und freuen sich erst einmal, dass sich neue Leute so weit nach draußen vorwagen. Die grundsätzliche Bereitschaft neuer Menschen, sich eines baufälligen Hauses anzunehmen, wird in der Regel von den bereits länger am Ort wohnenden Menschen positiv veranschlagt. Denn in dieser Bereitschaft steckt auch eine Bestätigung für die eigene Entscheidung, am Ort zu sein oder zu bleiben. Diese positive Resonanz wiederum trägt erheblich zum Heimischwerden der neu Hinzuziehenden bei. Während die Landwirtschaft immer wieder Konflikte zwischen „Zugezogenen“ und Einheimischen birgt, ist das Bauen in der Regel ein Prozess des offenen Kennenlernens und des Entdeckens einer neuen Welt.
Viele nutzen diese Phase des Bauens, um sich von hier aus geradezu in die Landschaft hineinzuarbeiten und sich in weit über das Bauliche hinaus gehende Netzwerke einzuweben. In diesem Prozess verändert sich auch das Verhältnis zur Landschaft. Was anfangs romantisch, verwunschen, ruhig oder natürlich wirkte, erhält eine soziale Dimension. Hinter dem Acker weiß man einen Landwirt, die Straße wird zum kommunalpolitischen Ärgernis, das Wetter verhagelt das Dorffest, alles hat eine Bewandtnis. Je tiefer man, ausgehend von seinem Haus, in die ländliche Kultur eintaucht, umso deutlicher prägt sich im eigenen Blick der soziale Charakter der Landschaft aus. Nicht nur das Haus ist von Menschen gemacht, auch alles andere ist menschliches Produkt, erweist sich als veränderlich, arbeitsaufwändig, dem Verfall ausgesetzt. Durch die Aneignung wird alles vertraut und gleichzeitig komplex. Diese Veränderung der Wahrnehmung geht auch mit einem Verlust an unmittelbarer Sinnlichkeit einher. Deshalb haben die meisten Menschen ihre ersten Erfahrungen mit ihren Häusern noch in großer Intensität in Erinnerung und beschreiben sie in den schönsten Farben.
Geschichten von früher
Häuser bergen Geschichten. Sie können mit der Kolonisierung des Oderbruchs beginnen oder sogar noch früher, sie handeln vielleicht von der Separation, als die freistehenden Loose-Gehöfte entstanden. Sie erzählen von stolzen Familien, die als Bauern oder Handwerker, als Dorfschulzen oder Amtsleute zu Ansehen gelangt waren, von unerhörtem Wohlstand, aber auch von Krisen, Leid und Verfall. Die Geschichten handeln von schweren Hochwassern und Kriegen, von der schweren Zeit des landwirtschaftlichen Neuanfangs in der Nachkriegszeit, aber auch von gezielten Ansiedlungsprogrammen in der DDR-Zeit. Häuser sind nicht nur Zweckbauten, in sie sind auch die Glücksvorstellungen der Erbauer und Bewohner eingeschrieben, in Sprüchen und Zeichen, in der ganze Anlage des Hofs oder des Grundstücks. Oft sind es Frauen, die eine intensive Beziehung zu diesen Geschichten pflegen und sie, nicht selten auf sich allein gestellt, in die nächste Generation tragen. Wer ein Haus in einer familiären Kontinuität bewohnt, wird auch in den Geschichten die subsistenzwirtschaftliche Bindekraft des Hauses spüren, als stecke in den Gemäuern eine über Generationen erarbeitetes kulturelles Selbst. Deshalb verkaufen alte Oderbrücher ihre Häuser selten nach Marktwert, sondern suchen sich jemanden, dem sie das Haus mit gutem Gewissen übergeben können – als gäbe es da etwas zu bewahren und zu schützen.
Die Hausgeschichten können in Dokumenten, in Briefen, Formularen und Fotos gespeichert sein, aber die meisten Entdeckungen wird man beim Bauen machen. Man stößt auf Initialen im Hausgiebel, erkennt das zersplitterte Dachgebälk vom Granateinschlag, legt eine Hochwassermarke frei oder stößt auf vermauerte Türöffnungen, alte Wandanstriche und teerschwarze Kamine. Man versteht, wie oft das Haus umgebaut und an andere Lebensformen angepasst wurde, was man ja nun auch selbst wiederum tut. Im Garten findet man alte Brunnen und verwachsene Müllkuten, Munitionsreste und Bauschutt. Die Phantasie tut ihr übriges: Wie mag das Leben in meinem Haus einst gewesen sein? So findet man heraus, dass es einmal als Gasthof genutzt wurde oder dass sich arme Landarbeiterfamilien die schwarze Küche teilen mussten. Fast sitzen die alten Bewohner noch mit am Küchentisch und berichten von den früheren Härten des Landlebens. Auf diese Weise gewinnt man ein Verständnis von der Historizität der Landschaft und von ihrer Eigenart, ihrem Boden und ihren Wasserverhältnissen.
Notbehelf und Handwerkskunst
Ein fehlender Ziegel im Dach verursacht großen Schaden, schnell läuft der Regen ins Haus, die Lehmdecken brechen durch, der Schimmel zieht ein. Man muss den Ziegel also sofort ersetzten. Jeder, der sich eines alten Hauses annimmt, lernt die Notwendigkeit einer geschlossenen Hülle kennen. Eindringendes Wasser ist tabu, eindringender Wind ist unangenehm. Auch brauchen alte Häuser immer wieder statische Hilfestellung, denn nicht selten haben die Vorbesitzer lebenswichtige Stützen und Pfeiler entfernt oder verrotten lassen. Nun kann man aber nicht immer gleich alles richtig machen oder machen lassen – man greift also zu einem Notbehelf, klemmt Bretter dazwischen, hängt Planen darüber. Jedes alte Haus weist solche Behelfslösungen auf, manche sind abenteuerlicher als andere, aber immer wieder staunt man, wie lange auch improvisierte Lösungen halten können. Aus dieser Erfahrung und in der Assimilation des täglichen Gebrauchs erwächst auch eine Toleranz gegenüber dem Hässlichen. Nicht jede Lösung ist schön, aber ein Provisorium ist besser als keine Lösung. Beim Bauen stößt man auch auf Notbehelfe aus früherer Zeit, manche sind pfiffig, manche können nur als Bausünde bezeichnet werden.
Die technologischen Angebote der Baumärkte sind in dieser Gemengelage zu einem wichtigen Faktor des ländlichen Bauens geworden. Materialbewusstsein und sachgerechte Ausführung werden von ihnen nicht unbedingt gefördert, umso mehr gedeiht zwischen den Baumarktregalen der Mut, ein Problem selbst zu lösen und es sich schön zu machen. Die Baumärkte schieben sich mit ihrem Panelholz, mit zweifelhaften Dichtungsmassen und verlockenden Billigwerkzeugen zwischen den Laien und den Handwerksmeister. Sie verändern die Spielregeln und Kriterien, geben wahre und falsche Versprechen und feuern die Leute an. Die professionellen Handwerker sind gut beraten, sich hier auf eine Haltung differenzierter Kooperation einzulassen, denn von den Baumärkten geht nicht nur ein lästiger Preisdruck, sondern auch die Lust am Selbermachen und Ausprobieren aus, die allemal besser ist als die ebenfalls angebotene Fertiglösung. Die vielen improvisierten Schuppen, Hütten und Unterstände auf den ländlichen Grundstücken künden von Selbstvertrauen und tragen, seien sie auch noch so unbeholfen, den Triumph der eigenen Lösung in sich, wogegen die Fertiggartenhäuser schon wenige Monate nach ihrer Errichtung so aussehen, als warteten sie auf ihren Untergang durch Sturm oder Abriss.
Denkmalschutz und Denkmalbewusstsein
Das Oderbruch hat eine sehr hohe Dichte an ausgewiesenen Baudenkmalen. Infolge der preußischen Binnenkolonisation hat es eine selten kompakte Siedlungsgeschichte durchgemacht, die bis heute sehr gut lesbar ist, wenn man sich in und zwischen den Dörfern bewegt. In dieser Lesbarkeit liegt die Schönheit dieser oft auch spröden Landschaft. Man erkennt noch heute die alten Fischerdörfer an den Resten der alten Rundlingsform und an den sternförmig auseinandergehenden Ackerschlägen. Die Kolonistendörfer dagegen zeichnen sich durch ihre planmäßige Anlage aus, in denen nicht nur Erwägungen der zweckmäßigen Verbindung von Hof und Acker eine Rolle spielten, sondern auch die soziale Ideen Preußens von Kooperation und von der Schaffung einer nach Vermögen und Können klug zusammengestellten, möglichst wenig segregierten Dorfgemeinschaft. Die bauliche Vielfalt der Kirchen, in denen sich wiederum ein großer Teil der Landschaftsgeschichte widerspiegelt, ist enorm. Es folgen dann die Loose-Gehöfte, die zu den typischen und herausstechenden Merkmalen dieser Landschaft gehören und die oft von enormem bäuerlichem Selbstbewusstsein zeugen. Obwohl das Oderbruch weitläufig wirkt, ist es doch aufgrund seiner Kolonisierungsgeschichte sehr dezentral besiedelt, oder einfacher gesagt: Hier stehen immer wieder Häuser verstreut in der Landschaft, mal in Einzelgehöften, dann in Vorwerken und Ausbauten und natürlich in großen und kleinen Dörfern (sehr zum Leidwesen der Windenergieproduzenten, die trotz der guten Windhöffigkeit kaum einen Platz zum Aufstellen von Windrädern finden, da sie die harten Abstandsregeln zu beachten haben). Die hervorragende Lesbarkeit der Landschaft hat auch damit zu tun, dass sie nun einmal ein besiedelter Polder ist, also von einem inhärenten Widerspruch geprägt ist, mit dem man heute dadurch umgeht, als man kaum noch weitere Bautätigkeit zulässt. Die massivsten Veränderungen der jüngeren Gegenwart gehen auf die DDR-Zeit mit ihren Plattenbauten und den großen landwirtschaftlichen Anlagen zurück – viele Zeugnisse dieser Zeit befinden sich aber heute im Verfall.
Es ist also kein Wunder, dass das Oderbruch als Denkmalregion schon früh eine besondere Beachtung gefunden hat. Schon in Peter Fritz Mengels Oderbruch-Buch (Mengel 2013) findet sich die profunde und bis heute kanonische denkmalhistorische Darstellung der Baugeschichte des Oderbruchs und von Hans-Joachim Helmigk, an die sich bis heute Fachdebatten anschließen, etwa über die Frage, ob es noch echte Zeugnisse friderizianischen Bauens gibt. Einen vitalen Beitrag zum bereits erwähnten narrativen Reichtum der Oderbruch-Häuser leistet die Denkmaltopografie (vgl. Rohowski 2005), in deren Ausgabe zum nördlichen Oderbruch nicht nur fachinterne Kriterien verhandelt werden, sondern eine Fülle an Informationen zur Geschichte der Gebäude und zu den Menschen, die sie bewohnt oder genutzt haben, bietet. Liest man heute in diesem Werk, werden einem auch Verluste der jüngeren Zeit bewusst und so zeigt sich, dass Denkmalschutz und Denkmalpflege sowohl ein Wettlauf mit der Zeit sind, als auch oft ein Ringen mit den Eigentümern bedeuten.
Das Verhältnis der Oderbrücher zum Denkmalschutz variiert zwischen Kooperation und Misstrauen. Während einige Bewohner durch die denkmalpflegerische Aufmerksamkeit Anerkennung und Wertschätzung erfahren haben und oft erst schrittweise begreifen, welche kulturelle Bedeutung man ihrem Haus beimessen kann und wie sich diese Bedeutung in baulichen Details ausdrückt, sehen andere den Denkmalschutz als eine Bedrohung ihrer Handlungsfreiheit und als Kostenfalle. Der Beitrag der Häuser zur Erinnerungskultur wird dann vollständig vom Bemühen um möglichst reibungslosen Ausbau oder gar Abriss verdrängt. Das Verhältnis ist auch deshalb so kompliziert, weil behördliches, also ordnendes, genehmigendes und beschränkendes Handeln auf der Ebene des Landkreises und die inhaltlich-fachliche Forschung und Beratung auf Landesebene von den Bürgern kaum unterschieden werden. Der mühsam errungene Rechtsstatus so mancher denkmalfachlicher Bewertung wird in dieser Gemengelage leicht zu einem Pyrrhussieg. So wie auch der Naturschutz grundsätzlich aus der generellen Erfahrung des Verlusts und einer latenten Schwäche gegenüber der Gesellschaft heraus agiert und dann umso vehementer auf gesetzlichen Grenzen beharrt, die die Willkür des menschlichen Handelns einhegen sollen, so oszilliert auch das denkmalschützerische Handeln immer wieder zwischen dem Werben um die Anerkennung des Denkmalwerts und dem strikten Verbot, ein Umstand, der durch die personelle Knappheit in den Behörden nicht besser wird. Gemessen am baukulturellen Potenzial der Region kann das Verhältnis zwischen Denkmalschutz und ländlicher Gesellschaft jedenfalls als unbefriedigend bezeichnet werden. Zu selten wird über den Beitrag der historischen Bausubstanz zur Erinnerungskultur der Region gesprochen und zu selten wird die mögliche und gebotene Sorgfalt im Umgang mit dem historischen Bau gemeinsam von Bürger und Amt erkundet. Lässt sich die Kluft zwischen baulichem Alltag und baukultureller Inwertsetzung schließen oder jedenfalls verringern?
Wo ländliche Kultur Kraft und Farbe gewinnt: Im Gespräch
Wer durch die ostbrandenburgischen Dörfer fährt, kann seit Jahren eine hohe Dynamik bei der Neuinstallation von Gartenzäunen beobachten. Es werden z.B. riesige Barrieren aus gegossenem Beton errichtet. Diese Elemente, die ein wenig aussehen wie gedrechselt, führt man meist aus dem benachbarten Polen ein. Andere lassen aufwändige Stahlkolosse installieren, in denen sich das Eisen windet wie bei den Dreharbeiten für Game Of Thrones. Nur wenige haben den Mut, Grundstücksbegrenzungen einfach wegzulassen und selten überzeugen die neuen Gartenzäune mit Schlichtheit und Raumbewusstsein.
Zum Vergleich: Der materielle Mangel der DDR-Zeit hatte einst zu eher korrespondierenden Lösungen bei der Gestaltung dieser immerhin für den Dorfraum sehr wirksamen Elemente geführt. Es gab noch alte Staketentzäune, dann eine beunruhigend wachsende Zahl an so genannten Jägerzäunen (diagonal gekreuzten Holzlatten) und schließlich eine große Vielzahl an Zaunelementen aus Eisen, die in den ländlichen Schlossereien, oft aus Armierstahl oder anderen planwirtschaftlichen Überresten, gefertigt wurden. Noch einmal fünfzig Jahre vorher sahen die Zäune sich noch ähnlicher. Die weitgehend gleiche Wirtschaftsweise der Landbevölkerung bedingte hier auch angenehm standardisierte Lösungen.
Mit den Häusern ist es nicht viel anders. Fenster, Türen, Dachziegel – alles prangt heute in den Farben und den Legierungen der Globalisierung und trägt selten dazu bei, den Dörfern ein Gesicht zu geben. Die völlige Auflösung regionaler Stoff- und Energiekreisläufe führt mancherorts zur bizarren Entfaltung von Marotten auf engstem Raum. Diese etwas kulturpessimistisch anmutende Einschätzung lässt sich leicht auch in vielen Ecken des Oderbruchs demonstrieren. Es ist bereits gesagt worden, dass die gesetzliche oder wenigstens satzungsmäßige Einhegung des von der Industrie als individuelles Ausdrucksbedürfnis verklärten Trends zum Aufhübschen wirklich zum Erfolg führt. Der Denkmalschutz kann nur ein Instrument in einem umfassenden baukulturellen Prozess sein. Fehlt aber dieser kulturelle Prozess oder kommt er zum Erliegen, ist er machtlos.
An dieser Stelle kommt das Gespräch ins Spiel. Ohne eine Sprache, mit der sich Baukultur beschreiben lässt, ist es nicht möglich, in der überbordenden Vielfalt an baulichen Möglichkeiten noch Richtung und Orientierung zu finden. Man kann getrost davon ausgehen, dass die benannten Verluste in der baukulturellen Qualität des Landes mit dem Verstummen der Verständigung über das Bauen zu tun haben. Denn dieser Verständigung ist selbst eine Qualitätsentwicklung eingeschrieben. Wenn jeder allein zum Katalog greift oder in den Baumarkt fährt, kommt heraus, was man allerorten sieht: Eine bunte Welt industrieller Standardlösungen versehen mit Ornamenten des persönlichen Geschmacks.
Das Gespräch kann aber nur Auswirkungen auf die Qualität haben, wenn es rechtzeitig beginnt. Die elementare Frage an den Nachbarn Findest du diesen Zaun eigentlich schön? ist nur dann gut zu stellen, wenn der eigene Zaun noch nicht aufgebaut ist, wenn man sich also noch nicht für seine eigenen Entscheidungen rechtfertigen muss. Den Anderen aber zu einem ästhetischen Urteil aufzufordern, von dem er zunächst noch nicht betroffen ist, zu einem Moment der Betrachtung und Abwägung, ist durchaus möglich. In diesem Moment stecken ungeahnte Möglichkeiten. Gelingt die Entwicklung eines kollektiven Vokabulars, ist dieses eine direkte Investition in die regionale Baukultur. In diesem Vokabular sollten viele Aspekte Platz haben: Schönheit und Witz, Geschichtlichkeit und Handwerkskunst, Sorgfalt und Improvisation, Korrespondenz und Eigenwilligkeit. Am konkreten Beispiel entwickelt, löst sich die abstrakte Sprache auf und wird selbst zu einem schöpferischen Akt, der weder an die baulichen Möglichkeiten der Vergangenheit gefesselt ist, noch vor der Unübersichtlichkeit der Gegenwart verstummen muss.
Aber dieses Gespräch kommt nicht von allein zustande. Nur wenige Glücksfälle führen heute zu einer selbstorganisierten Verständigung über die Baukultur eines Dorfes, einer Stadt oder gar einer ganzen Landschaft. Diese Verständigung zu stiften und zu pflegen ist Aufgabe der öffentlichen Kultur. Gezielt zu beschreiben, zu fotografieren, zu zeigen, herauszuschälen und spielerisch zu wenden – das ist vor allem gezielt organisierte Kommunikation, die sich zudem der Mittel der Kunst und der Wissenschaft versichern muss. Dieser Weg führt auch in die Kulturelle Bildung (siehe: Kenneth Anders „Es geht um Freiheit. Über die ländliche Kultur als Gegenstand öffentlicher Förderung und eine Kulturelle Bildung als Landschaftliche Bildung“), in das Nachdenken über Architektur und nicht zuletzt wieder – in das Bauen.
Bauen und ländliches Leben haben eine große Schnittmenge, das ist ihre Immobilität. In der Baukultur auf dem Land manifestieren sich immer noch die Vorstellungen der Menschen von ihrer Sesshaftigkeit und ihr Vermögen, ihr Leben in einem Landschaftsraum zwischen Natur und Kultur, zwischen Bindung und Freiheit, zwischen Eigensinn und Kooperation sowie zwischen Versorgung und Subsistenz zu gestalten. Wer also die ländliche Kultur fördern will, sollte auch in die Kommunikation über das Bauen investieren.