Hacken, Remixen, Browsen – digitale Handlungsformen in einer musealen Vermittlungssituation
Abstract
Was tun? Wenn diese – seit der documenta 12 genuin kunstvermittlerische – Frage (vgl. Mörsch 2009:24) in Bezug auf digitale Formate gestellt wird, ergeben sich neue Überlegungen: Was tun Kinder bei einem Ausstellungsbesuch mit einem digitalen Programm? Wie kann etwa nicht eine Führungsperson, sondern ein mobiles Medium Kindern vor Ort eine Ausstellung vermitteln? Welche Interaktionen eröffnen sich dabei zwischen Kind, Kunstwerk und digitalem Medium?
Der Beitrag stellt das Desiderat einer qualitativ-empirischen Forschungsarbeit vor, welche sich ebendieser Fragestellung am besonderen Beispiel einer mobilen Anwendung widmet. Dadurch wird die Spezifität digitaler Kunstvermittlung durch sechs digitale Handlungsformen beleuchtet: Zunächst wird beschrieben, wie die Kinder mobil schweifen und sich gelenkt vom digitalen Medium einer Ausstellung annähern. Bei Sozial, kognitiv und digital browsen steht der Umgang mit Inhalten im Fokus, bei Klickend blicken die Parallelität des fokussierten Sehens und digitalen Handelns. Zudem entwickeln die Kinder persönliche Bedeutungen, was als Konstruieren von Codes beschrieben wird – oder sie kreieren und remixen in gestalterischen Prozessen eigene Bildfindungen. Mit dem Hacken und Herumtreiben werden zuletzt auch subversive Handlungen erfasst. Exemplarische Beispiele skizzieren zentrale Merkmale dieser sechs Interaktionsformen, ohne digital und analog rein diametral gegenüberzustellen. Ausgehend davon werden zuletzt Handlungspraxen und -zusammenhänge der Kulturellen Bildung im Kontext der Digitalisierung reflektiert.
Was tun? Diese – seit der documenta 12 in Kassel genuin kunstvermittlerische – Frage (vgl. Mörsch 2009:24) erhält völlig neue Facetten, wenn sie sich auf speziell digitale Formate Kultureller Bildung bezieht. Denn nicht erst seit der Covid-19-Pandemie bedient sich auch die museale Kunstvermittlung digitaler, non-personaler Methoden und adressiert damit jüngere Zielgruppen. Doch was tun Kinder bei einem Ausstellungsbesuch mit einem digitalen Programm?
Scheinbar selbstverständliche Traditionen und Handlungsformen verändern sich im Kontext der digitalen Transformation. In einer Kultur der Digitalität (vgl. Stalder 2017) finden Lernen und Bildung junger Menschen längst mobil und interaktiv statt. Doch wie kann etwa nicht eine Führungsperson, sondern ein mobiles Medium Kindern vor Ort eine Ausstellung vermitteln? Welche Interaktionen eröffnen sich dabei zwischen Kind, Kunstwerk und digitalem Medium? Was tun Kinder bei einem Ausstellungsbesuch mit einem digitalen Programm?
Der folgende Beitrag stellt das Desiderat einer Forschungsarbeit (vgl. Gebauer 2021) vor, welche sich ebendieser Fragestellung widmet und am Beispiel einer mobilen Tablet-Anwendung die Spezifität digitaler Kunstvermittlung im musealen Kontext beleuchtet. Dabei werden sechs digitale Handlungsformen in einer musealen Vermittlungssituation vorgestellt, Wirkweisen digitaler Kunstvermittlung eingeordnet und zuletzt Handlungspraxen und -zusammenhänge der Kulturellen Bildung im Kontext der Digitalisierung in den Blick genommen.
Digitale Kunstvermittlung per mobiler Anwendung
Zunächst ist grundzulegen, wie der Begriff der digitalen Kunstvermittlung in diesem Kontext verstanden wird. Kunstpädagogische Positionen gehen längst über eine reine Mehrwertdebatte hinaus und verstehen die Digitalisierung als „kulturellen Wandel“ (Meyer 2006:615), der zu gestalten ist. Entsprechend dem Konzept des „Digital Layer“ (Devine/Tarr 2019:295) gilt das Digitale in der Vermittlung nicht als Technologie, sondern als Erfahrung. Dabei wird das Zusammenspiel aus digitalen und physisch-analogen Momenten berücksichtigt, um bedeutsame Erfahrungen im Museum befördern oder gestalten zu können. Als Methode der digitalen Kunstvermittlung im musealen Bereich lassen sich somit Games, soziale Netzwerke, Virtual-Reality-Umgebungen bis hin zu Geocaching und mobilen Anwendungen fassen. Angesichts der steigenden Relevanz und weiten Verbreitung mobiler Anwendungen oder Applikationen (kurz: App) in der Gesellschaft werden diese in der musealen Praxis vermehrt eingesetzt (vgl. Reitstätter 2017:18). In der Forschung findet diese Methodik allerdings noch kaum Berücksichtigung – obwohl Applikationen über die klassischen Audio- und Multimediaguides durch interaktive Nutzungsmöglichkeiten oder Schnittstellen zu Gerätefunktionen wie der Kamera hinausgehen und somit erweiterte Einsatzmöglichkeiten versprechen.
Bisher liegen neben Klassifizierungen bestehender Anwendungen (vgl. Noschka-Roos/Kampschulte 2020), einzelnen Evaluationen (vgl. Eghbal-Azar 2017) oder quantitativen Nutzungsdaten (vgl. Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Institut für Museumsforschung 2017) kaum wissenschaftliche Erkenntnisse dazu vor. Um empirisch fundierte Aussagen an einer digitalen Vermittlungssituation entwickeln zu können, wurde diese zunächst anhand einer mobilen Anwendung gestaltet.
Gestaltung und Erforschung einer digitalen Vermittlungssituation im Museum
Eine der Forschungsfragen widmete sich demnach zunächst der Gestaltung einer mobilen Tablet-Anwendung zur ortsbezogenen, musealen Kunstvermittlung mit der Zielgruppe Kinder (8–12 Jahre). Auch dazu stellte sich somit die Frage: Was tun? Was tun, um ein digitales Vermittlungsangebot per App zu gestalten? Um das Tun gemeinschaftlich mit der Zielgruppe umzusetzen, wurden Kinder ebenso wie kunst- und museumswissenschaftliche Grundlagen in die Entwicklung einbezogen. Der Prozess orientierte sich am Design Thinking (vgl. Simschek/Kaiser 2019) und umfasste die Entwicklung eines pädagogischen Konzepts bis hin zu iterativen, schleifenartigen Testphasen gemeinsam mit der Zielgruppe.
Es wurde die mobile Tablet-Applikation Mit Marion durch den Blauen Reiter (vgl. Abbildung 1) umgesetzt, die sich auf die gleichnamige Ausstellung Blauer Reiter in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München bezieht. Das Angebot richtet sich an Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren in familiärer Begleitung, welche die Kunstausstellung ohne weitere Vermittlungsangebote im Rahmen ihrer Freizeitgestaltung besuchen.
Die mobile Anwendung ist allerdings nicht als optimierter Ersatz traditioneller Vermittlungsmethoden zu verstehen. Vielmehr soll durch die Beschreibung und Fundierung des Designvorgehens ein Beitrag zum Fachdiskurs geleistet werden. Dabei verharrt das Endergebnis eher im Status eines experimentellen und vorläufigen Prototyps, als eine optimale Lösung darstellen zu wollen. Letztlich diente dieser Prototyp der App auch als Gegenstand, um durch die Interaktionen der Kinder innerhalb der digitalen Vermittlungssituation qualitativ-empirisch zu erforschen.
Aufgrund der Offenheit der explorativen Fragestellungen (Welche Interaktionen zeigen die Kinder in der durch die mobile Anwendung geschaffenen digitalen Vermittlungssituation im Kunstmuseum? Welche Zusammenhänge lassen sich für eine Theoriebildung digitaler Kunstvermittlung ableiten?) diente die Grounded Theory als übergreifender Forschungsstil für diese Studie. Die Datenerhebung und -auswertung orientiert sich an den Kodierverfahren nach Strauss und Corbin (vgl. Strauss/Corbin 1996) als methodisch nachvollziehbares Verfahren. Die Datenerhebung basiert auf dem Besuch von insgesamt zehn Gruppen von Kindern (8–12 Jahre) im familiären Kontext bei ihrem Ausstellungsbesuch in der Sammlung Blauer Reiter in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München im Jahr 2019. Da der Fokus der Studie auf der situativen Interaktion zwischen Kind respektive Gruppe, Medium und Kunstwerk lag, wurde die ethnografische Methode der teilnehmenden Beobachtung angewandt. Bei der Begleitung der Familien und Kinder auf deren Ausstellungsrundgang mit der mobilen Anwendung entstanden Feldnotizen sowie distanzierende analytische Memos und Kommentare (vgl. Breidenstein/Hirschauer/Kalthoff/Nieswand 2015:103), welche anhand eines Beobachtungsleitfadens zu Beobachtungsprotokollen verschriftlicht wurden. Um sich den subjektiven Sinnkonstruktionen der Zielgruppe anzunähern, wurden im Anschluss an den Rundgang leitfadengestützte Interviews geführt. Dabei galt es, die Besonderheiten der Kindheitsforschung zu berücksichtigen (vgl. Fuhs 2012:81 ff.).
Den dritten Teil des Datenkorpus bildeten elektronische Daten, welche durch die Interaktion der Teilnehmenden mit dem digitalen Programm produziert wurden. Darunter fielen besonders Screenshots digitaler Kinderzeichnungen oder Texte der Kinder, die durch entsprechende Mal- und Texteingabemodule der mobilen Anwendung ermöglicht wurden. Sie geben Aufschluss über Kommunikations- und Handlungsprozesse im direkten Umgang mit dem Medium (vgl. Bergmann/Meier 2017:431). Somit nähert sich die Studie aus verschiedenen Perspektiven den Handlungen der Kinder in der digitalen Vermittlungssituation an. Diese Datenmenge wurde entlang der Grounded Theory offen, anschließend axial (anhand des Kodierparadigmas) und zuletzt selektiv kodiert, um eine Datenauswertung und Theoriebildung (vgl. Strauss/Corbin 1996) zu erarbeiten. Aus den Beobachtungen, den Interviews und elektronischen Daten wurden ähnlich strukturierte Interaktionen der Kinder als sogenannte Handlungsspektren zusammengefasst und übergreifend geordnet.
Sechs digitale Handlungsspektren in einer musealen Vermittlungssituation
Die Daten zeugen von dynamischen Such- und Wahrnehmungsvorgängen, schöpferischen Prozessen bis hin zu widerständigen Auseinandersetzungen der Kinder mit dem digitalen Programm oder der Vermittlungssituation. All die Handlungen sind stets in Verbindung mit der mobilen Anwendung und den in ihr angebotenen Handlungsoptionen zu verstehen. Daraus konnten sechs digitale Handlungsformen gebildet werden, welche die Kinder in der digitalen Vermittlungssituation zeigen: Mobil schweifen – Sozial, kognitiv und digital browsen – Klickend blicken – Kreieren und remixen sowie Hacken und herumtreiben. Mit exemplarischen Beispielen werden zentrale Merkmale dieser sechs rekonstruierten Handlungsspektren im Folgenden vorgestellt.
Mobil schweifen
Hierzu soll ein Zitat des Mädchens Lisa angeführt werden, welche die mobile Anwendung im anschließenden Interview wie folgt beschreibt: Das ist eine App, wo man „dann halt da immer ab und zu bestimmen kann, welchen Künstler, welchen Maler du haben möchtest und dann da hingehen musst und dann da Aufgaben zu sagen hast“ (I. Lisa und Monika, Z. 55–56). Die Kinder sind somit körperlich und digital mobil, sie gehen hin, bestimmen mit und werden zugleich durch die angegebenen Impulse mobilisiert: Im Rahmen von Suchaufgaben und Wahrnehmungsimpulsen – eine Angabe in der App lautet, eine Minute lang das Werk zu betrachten und über folgende Fragen nachzudenken: Was sehe ich? Was könnte das bedeuten? – schweifen ihre Blicke, sie treten an Gemälde heran, schlendern durch die Ausstellung oder besprechen ausgewählte Fragen mit ihren Begleitpersonen. Das Schweifen selbst beschreibt nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (veröffentlicht 1854–1960) „im schwunge bewegt werden und dahintreiben“ (schweifen). Dies benennt das offene Wahrnehmen, Sehen und Annähern der Kinder auf Ausstellungs- oder Bildebene und umfasst sowohl entdeckende als auch abschweifend-suchende Interaktionen, wird jedoch übergreifend von der digitalen Anregung gelenkt.
Die digitale Vermittlungssituation ist dadurch stark gerahmt, diesen Zwang drücken die Kinder aus, etwa wenn ein Junge zusammenfasst: „Und dann mussten wir immer Bilder suchen.“ (I. Tom, Z. 75–76). Der Ausstellungsbesuch scheint somit von Flexibilität und individueller Entscheidungsmacht einerseits, allerdings auch von vorgegebenen Navigationsstrukturen, Zwang und Aufgaben geprägt zu sein, die den mobil schweifenden Ausstellungsrundgang der Kinder prägen.
Sozial, kognitiv und digital browsen
Das Browsen wiederum beschreibt, wie sich die Kinder erkundend, filternd-suchend und vernetzend mit Wissenseinheiten der mobilen Anwendung auseinandersetzen. Der Begriff des Browsing referiert dabei auf ein spezifisches Verhalten, „the behavior when the user is uncertain about her or his targets and needs to discover areas of interest (exploratory), in which she or he can explore in detail and possibly find some acceptable items“ (Chen 2010: S. 7). In der mobilen Anwendung sind Text- und Videoinhalte zu Werken und den Kunstschaffenden aufbereitet, mit denen die Kinder sozial, kognitiv oder digital browsend umgehen. Das heißt, sie verbalisieren Begriffe in ihrer Gruppe, die Eltern kommentieren verschiedene Themen oder angebotene Inhalte werden im Gespräch verhandelt. Eine solche Situation zeigt sich in der abgebildeten Fotografie, in der die angebotenen Textinhalte gestisch auf ein Kunstwerk übertragen werden (vgl. Abbildung 2).
Die Bandbreite des kognitiven Umgangs mit dem Informationsangebot reicht vom flüchtigen Weiterklicken der Inhalte bis hin zum Vernetzen mit Vorwissen. Letzteres zeigte sich etwa, als sich ein Mädchen laut erinnert, dass sie den Maler Wassily Kandinsky aus der Schule kennt. Auch drücken die Kinder eine bestimmte Erwartung an die Informationsaufbereitung im digitalen Medium aus. Sie versuchen etwa, mit grafischen Elementen digital zu interagieren, während sie durch das Informationsangebot browsen. Außerdem schreiben sie dem Vorgehen einen gewissen Erklärungseffekt zu, bei Printmedien beispielsweise müsse man „halt alles ordentlich lesen und es wird nichts erklärt“ (I. Jana und Daniel, Z. 101–103). Im browsenden Umgang kann sich somit eine Auseinandersetzung mit Inhalten entfalten, was allerdings mit spezifischen digitalen Logiken und Bedürfnissen einhergeht.
Klickend blicken
Wenn die Kinder klickend blicken, zeigt sich besonders die Parallelität des fokussierten Sehens und digitalen Handelns. Dies lässt sich besonders bei interaktiven Elementen der App beobachten: einem Fehlersuchbild oder Multiple-Choice-Antwortmöglichkeiten. Eine Passage aus dem Beobachtungsprotokoll des Mädchens Anna veranschaulicht dieses Handlungsspektrum. Sie beschäftigt sich mit vier Multiple-Choice-Fragen zu einem Werk Gabriele Münters: „Sie wählt eine Aussage, danach geht sie nahe an das Label an der Wand heran. […] Nun spricht sie alle Aussagen in der App laut aus und denkt laut mit: ,Soll das Bild […] echt aussehen?‘ Dann schaut sie auf das Label und bezieht ihre Mutter in die Frage mit ein, wie alt das Bild sein könnte“ (B. Anna, Z. 134–137). Die darin beobachtete digitale Interaktion – das Klicken – geht offensichtlich mit sehenden Blicken auf das Werk einher.
Es gibt allerdings auch andere Beispiele, in denen eher Lust an digitalen Funktionen, das spielerische, klickende und scheinbar inhaltslose Interagieren mit dem Tablet im Vordergrund steht. Die digitalen Funktionen und Handlungsoptionen scheinen dabei so motivierend, dass sie von keinem Kind übersprungen wurden – auch wenn sie etwa nicht im richtigen Raum zur Beantwortung der werkbezogenen Fragen waren. Insgesamt liegt in diesem Handlungsspektrum somit der Fokus auf einem Erarbeiten des digitalen Programms, welches als rahmengebender Impuls Sehprozesse, interaktive Umgangsweisen bis hin zur geschärften Wahrnehmung evozieren kann.
Codes konstruieren
Im Handlungsspektrum Codes konstruieren generieren die Kinder zu vorgegebenen oder selbst ausgewählten Kunstwerken subjektive Blickweisen. In der App wird den Kindern die Möglichkeit geboten, Kommentare und Geschichten zu den Werken einzugeben. Die Bedeutungen, die sie ihnen geben und die als Codes bezeichnet werden, speisen sie somit in das digitale System ein. Dies unterscheidet sich von einem Aufnehmen bestehender, kunsthistorisch festgesetzter Bedeutungskomplexe oder Hintergrundinformationen als „gesellschaftliche Codes“ (Binder 2014:50), die einen etablierten Teil der Kunstgeschichte bilden. Dabei beziehen sich die Kinder auf wahrnehmbare Bildgegenstände sowie auf individuelle Zuschreibungen. Dies nehmen sie zum einen recht gegenstandsnah und beschreibend vor – so verfasst ein Junge zu August Mackes Zoologischer Garten folgende Geschichte: „Das Zoobild, es erzählt, dass Leute in den Zoo gehen, wo manche Tiere frei sind und man sie streicheln kann. In dem Zoo sind viele Papageien, die auf Bänken sitzen“ (I. Jana und Daniel, Z 98–100). Über solch einen beschreibenden Zugang geht ein anderer Junge aber noch hinaus. Er gibt zu Paul Klees Werk Botanisches Theater ein: „Ich höre die Stimme des Erzählers“ (B. Max, Z. 150–151), was als eine fast poetische, deutende Abstraktion angesehen werden kann. Diese beiden Beispiele zeigen die Bandbreite, wie Kinder selbst Bedeutungen als Codes konstruieren und digital manifestieren.
Kreieren und remixen
Das Kreieren und Remixen lässt sich durch einen Handlungsverlauf des Mädchens Jana skizzieren. In der mobilen Anwendung ist ein digitales Mal- und Zeichenprogramm integriert und mit der Aufforderung versehen: Lass dich selbst von Kandinskys Werken anregen! Male und zeichne dein Bild. Daraufhin widmet sich Jana Wassily Kandinskys Kunstwerk Die Kuh. Sie zeichnet den vermuteten Umriss der Kuh mit einer gelben Linie nach. Doch offensichtlich ordnet Jana dem Profil des Tieres Teile des weißen Hintergrunds zu. Nach einem Gespräch mit ihrer Mutter legt Jana die digitale Zeichnung des Tieres erneut an (vgl. Abbildung 3–5).
In der Interaktion mit dem Vermittlungsmedium handelt das Mädchen somit die subjektive Wahrnehmung des Kunstwerks, dessen Bildelemente und Bedeutungseinheiten aus. In der beschriebenen Sequenz bezieht sich das Mädchen klar auf Bildelemente des Kunstwerks, ein solcher referenzierender Bezug lässt sich als Remix bezeichnen (vgl. Stalder 2017:97). Anderseits ergänzt Jana das Bild auf der „Basis gestalterischer Variationsfähigkeit“ (Nyfeler 2019:205), ein Merkmal für eigene Kreationen. Das Kreieren und Remixen umfasst insgesamt ein freies Kreieren unabhängiger Bildideen, ein Nachgestalten eines ausgewählten Kunstwerks sowie ein remixendes Gestalten, wobei erkannte Bedeutungen gezeigt und um eigene Ausdrucksformen angereichert werden. Dieser kunstanaloge Zugang ermöglicht eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Original im Ausstellungsraum, die sich aus der handlungsorientierten Gestaltung schöpft.
Alle bisher aufgeführten fünf Handlungsspektren stehen in Bezug zu den pädagogischen Leitlinien der mobilen Anwendung. Darüber hinaus zeigten sich allerdings ebenso Interaktionen, welche über die vermeintlich vorgegebene Bearbeitung der digitalen Angebote hinausgehen und die digitale Vermittlungssituation erweitern.
Hacken und herumtreiben
Das sechste Handlungsspektrum berücksichtigt hackende und herumtreibende Aktivitäten der Kinder im Kontext der digitalen Vermittlungssituation. Dies geschieht, wenn die Kinder eigenen oder situativen Interessen folgen, die Initiative ergreifen und aus den durch die App vorgegebenen Leitlinien ausbrechen. Dies referiert auf das Verständnis des Cultural Hacking als subversiv-spielerisches „Arbeits- und Handlungsprinzip“, bei dem es um die „Erkundung kultureller Systeme“ (Meyer 2013:15) geht. Das Hacking erfasst somit unterwandernde Interaktionen, so beispielsweise bei dem Jungen Tim zu beobachten. Sobald sich seine Mutter entfernt, verlässt er gezielt die Anwendung Mit Marion durch den Blauen Reiter über den Home Button des Tablets und nimmt suchend-wischende Aktivitäten am Bildschirm vor (vgl. B. Tim, Z. 91–93).
Das Vorgehen lässt sich auf offene Handlungsspielräume innerhalb der Anwendung zurückführen, welche bewusst genutzt werden oder Freiraum zur Ergänzung anderer Aspekte lassen. Dies kann auch dazu führen, dass (sich) die Kinder innerhalb des Museums, Ausstellungsraums oder medialen Spektrums herumtreiben, etwa wenn sie weitere verfügbare Medien oder Kunstwerke der Ausstellung einbeziehen. Dabei lässt sich differenzieren zwischen einem sinnlichen und unsinnlichen Herumtreiben (vgl. Wanner 1987:123 f.). Damit ist einerseits der sinnesbezogene und häufig körperbetonte Umgang erfasst, beispielsweise das Umhergehen oder Innehalten der Kinder im Ausstellungsraum. Zugleich kann sich das Herumtreiben auf die innerliche Beschäftigung mit Personen, Objekten oder gar abstrakten Gegenständen und Gedanken beziehen (etwas treibt jemanden (her-)um). Das zeigt sich etwa, wenn die Kinder nach dem Ausstellungsbesuch noch über Bildbedeutungen rätseln oder auf weitere, nicht in der mobilen Anwendung thematisierte Kunstwerke eingehen.
Doch inwiefern gilt es, solche selbstermächtigten Handlungsräume im Digitalen zu integrieren oder zu nutzen? Diese Beobachtungen stellen relevante Fragen an die Handlungsverantwortung digitaler Kunstvermittlung im Kontext Kultureller Bildung, die über die beobachtete Situation hinausreichen.
Handlungspraxis und -verantwortung der musealen Vermittlung im Kontext der Digitalisierung
Dieser kurze Überblick soll die sehend-erkennenden und handlungsaktiven Anteile umreißen, die zur Spezifität der digitalen Vermittlung beitragen. Die Einordnung der Interaktionen in sechs Handlungsspektren dient der Darstellbarkeit und Systematisierbarkeit der Forschungsergebnisse – zugleich ist klarzustellen, dass sich die Interaktionen in der Realität komplex entfalten, wechselseitig beeinflussen und dynamisch gestalten. Die Handlungsspektren sind demnach schematisch reduziert und können zwar separiert betrachtet, allerdings nicht isoliert voneinander gedacht werden.
Die oben geschilderten sechs Interaktionsmöglichkeiten eröffnen sich, indem die digitale Kunstvermittlung als „Dritter“ (Henschel 2014:96) eintritt in die „Dialogsituation“ (Hofmann 2015:56) zwischen Kunst und Subjekt – und somit vielfältige Zugangs- und Umgangsweisen mit der Kunst schafft. Anhand dieser Erkenntnisse wird die digitale Kunstvermittlung in einem Strukturmodell metaphorisch als Streu- und Sammellinse gedacht. Sie ermöglicht einerseits einen gelenkten (gesammelten) Dialog und andererseits medial erweiterte (gestreute) Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Kunst. Dieses Denkmodell eignet sich auch insofern, als dass Linsen beziehungsweise Refraktionsmedien anhand ihrer Eigenschaften des Sammelns und Streuens in der Wissenschaftshistorie häufig als Metapher für Erkenntnisprozesse verwendet wurden (vgl. Hoffmann 2002:S. 49).
Zwei Zitate sollen diese Spezifik der digitalen Kunstvermittlung weiter umreißen: „Man hat sich halt bestimmte Bilder, genauer angeschaut. Und auch sonst, insgesamt, genauer hingesehen, als wenn man einfach nur so durch geht“ (I. Lena, Z. 17–18). Diese Aussage verdeutlicht die Lenkung oder Fokussierung, welche durch die digitale Kunstvermittlung entstehen kann. Zugleich werden erweiterte Handlungsoptionen, Inhalte und Zugangsweisen zu den Kunstwerken eröffnet, worauf Toms Aussage verweist: „Also man kann beim Tablet halt drauftippen und da halt was machen und beim Papier kann man es nur ablesen“ (I. Tom und Leo, Z. 25–27). Diese erweiternde Funktion digitaler Kunstvermittlung scheint allerdings ebenfalls ein zerstreuendes Potenzial zu beinhalten. Das zeigt sich, wenn die Interaktionen nicht mehr auf eine Beschäftigung mit der Kunst, sondern etwa mit dem digitalen Gerät hinweisen.
In der Referenz auf optische Zusammenhänge des Sehens lassen sich somit die Funktionen und Wirkzusammenhänge digitaler Kunstvermittlung im dynamischen Zusammenspiel der Kunstrezeption beschreiben – zur genaueren Erläuterung des Theoriemodells wird an dieser Stelle vertiefend auf die entsprechende Publikation verwiesen (vgl. Gebauer, 2021). Erwähnung finden sollen allerdings die vier Einflussfaktoren auf die digitale Vermittlungssituation, die durch die Analyse und Theoriebildung als rahmengebend herausgearbeitet werden konnten: die menschliche Gemeinschaft, der persönliche Kunstbezug, der pädagogische Impuls und die digitale Technik.
Im Bereich der digitalen Technik etwa kann ein lenkendes Design des digitalen Programms an betreffenden Stellen die Dynamik der Vermittlungssituation aktivieren. Auch ist die digitale Vermittlungssituation keineswegs individuell isoliert zu verstehen, sondern es zeigen sich vielfache Bezüge zur menschlichen Gemeinschaft. Dabei werden in der Gruppe situativ Inhalte eingebettet, der mediale Input mit Sinn angereichert oder etwa im Online-Community-Prinzip interpersonelle Interpretationen ausgetauscht. In der Praxis bedeutet das, bei der Gestaltung digitaler Vermittlungssituationen nicht alleine etwa die technologische Umsetzung oder die Inhalte eines Programms zu beachten, sondern ein Zusammenspiel aus all den Einflussfaktoren systematisch in den Blick zu nehmen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es bei dieser Betrachtung weniger darum geht, digitale im Vergleich zu analogen Medien als vermeintlich besser oder schlechter, virtuell oder real zu kategorisieren. Die sechs vorgestellten Handlungsspektren beschreiben vielmehr, welche neuen und ganz eigenen Interaktionen in einer digitalen Vermittlungssituation bei einem Ausstellungsrundgang entstehen. Zugleich dienen sie der gezielten Planung, welche Auseinandersetzungsformen zwischen Kunst und Subjekt durch ein Vermittlungsformat eröffnet werden können. Sie beziehen sich zwar auf die konkrete mobile Anwendung, doch lassen sie sich zugleich darüber hinaus rückbeziehen auf die Frage: Was tun?. Welche Tätigkeiten werden im digitalen Raum überhaupt gedacht, gegebenenfalls gezielt eröffnet, wer gestaltet diese, welche werden wahrgenommen? Vor allem zeigen die beschriebenen Handlungsspektren ein Verständnis Kultureller Bildung und Kunstvermittlung, das mehr ist als reine Informationsübertragung, sondern bedeutsame Erfahrungen und die dementsprechenden Umgangsweisen eröffnet.
Diese Überlegungen sind hinsichtlich der Handlungspraxis und -verantwortung in der Kulturellen Bildung in verschiedener Hinsicht relevant: Um Umgangsformen von Kindern als dem „Kulturpublikum der Gegenwart und Zukunft“ (vgl. Prehn 2019) wissenschaftlich zu verhandeln, um orientierungsgebende Theorie- und Praxiserkenntnisse abzuleiten und somit aus kritischer Perspektive Handlungsverantwortungen zu reflektieren. Denn in einer Kultur der Digitalität (vgl. Stalder 2017) ist das menschliche Handeln stets im Zusammenhang mit digitalen Paradigmen zu sehen. Dadurch richtet sich die Frage Was tun? nicht nur auf die Handlungen der Kinder, sondern impliziert zugleich einen Blick auf Kulturelle Bildungspraxen, die gegenwärtige Bedingungen berücksichtigen sowie Zukunftsperspektiven entwerfen müssen. Denn: Virtuelle Museumwelten oder smarte Technologien vor Ort schaffen längst neue Vorstellungen davon, wie zukünftige Generationen heute und in Zukunft Kunstwerken im Museum begegnen. Für die Kulturelle Bildung gilt es, dies zu erforschen und zu gestalten!