Gretchenfrage oder Herkulesaufgabe? Ergebnisse des Praxisforschungsprojektes „Lokale Bildungslandschaften im empirischen Blick“

Ein Kommentar aus Sicht der BKJ und in dachverbandlicher Anwaltsrolle für Kinder und Jugendliche

Artikel-Metadaten

von Kerstin Hübner, Tom Braun

Erscheinungsjahr: 2021

Bildungslandschaften waren und sind für die BKJ das Instrument, um eine dezentrale Strategie für das gerechte Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen und entsprechend ein Bildungskonzept umzusetzen, in dem der weite Bildungsbegriff und die außerschulische Trägerlandschaft eine entsprechende Rolle spielen (BKJ 2019). Speziell für die kulturelle Kinder- und Jugendbildung waren damit aber auch Fragen danach verbunden, wie dieses Feld konzeptionell und strukturell Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit konkret unterstützen kann, ob und wie also strukturell und habituell bedingte Benachteiligungen in der und durch die Kulturelle Bildung verringert werden können. Das ist eine doppelte Perspektive, denn Kultureller Bildung wird vielfach ein entsprechendes inklusives Potenzial beigemessen und zugleich handelt es sich dabei um einen noch immer stark selektiven außerschulischen Bildungsbereich, dessen Angebote v. a. durch bildungsorientiere und privilegierte Familien genutzt werden.

Doch wie halten wir es nun mit dem Konzept „Bildungslandschaft“? Es bleibt spannend und spannungsreich für die kulturelle Kinder- und Jugendbildung und ihren Dachverband, die BKJ, bezüglich dieser Frage. Das zeigen nicht nur die Ergebnisse des Praxisforschungsprojektes „Lokale Bildungslandschaften im empirischen Blick“, die wir als Partner der Universität Kassel mit diesem Beitrag kommentieren möchten. Vielmehr haben die Erfahrungen von Trägern und Fachorganisationen der Kulturellen Bildung und der Kinder- und Jugendarbeit ebenso wie die wissenschaftliche Reflexion bereits in den letzten Jahren zu kritischen Perspektiven auf den Ansatz und die Umsetzung von Bildungslandschaften geführt (vgl. Deutscher Verein 2009, Deinet 2010, Pack und Ackermann 2011, Bleckmann und Schmidt 2012, DBJR 2012, Sass 2015). Wie ein Brennglas zeigten zuletzt die Auswirkungen der Corona-Pandemie, wie es um die Wahrung der Rechte von Kindern und Jugendlichen und um die Berücksichtigung ihrer Interessen und Perspektiven einerseits und wie es um die Struktur und die Kultur von Bildungslandschaften andererseits bestellt ist. Und welche Herkulesaufgabe es zu bewältigen gilt, dies zu ändern.

Brennglas Corona

Wenn Bildungslandschaft „nach Hause“ verlagert wird, findet sie dann noch statt? Mit Blick auf die erste Jahreshälfte des Jahres 2020 lässt sich diese Frage klar verneinen. Das wäre zugleich eine sehr einfache Antwort, aus der sich kein Lernprozess für Bildungslandschaften herleitet. Aus diesem Grund lohnt es sich, die Fragestellung auszudifferenzieren und einzelne Aspekte aus dem Diskurs um Bildungslandschaften, wie sie auch im weiteren Verlauf dieses Kommentares dargestellt werden, aufzugreifen:

Welche Bildungsangebote fanden (überhaupt) statt?

Bildungslandschaften proklamieren, dass formale, non-formale und informelle Bildungsräume und -angebote im Sinne eines umfassenden Bildungskonzeptes in großer Vielfalt eröffnet und miteinander verbunden werden. Dabei spielt natürlich der familiäre Kontext, zumeist in seinem informellen Charakter, eine wichtige Rolle. Nun wurde Familie der zentrale Ort aller Bildungsangebote, besonders sichtbar im Homeschooling. Schule fokussierte sich in dieser Zeit auf ihr „Kerngeschäft“, den formalen Unterricht – unter Verlust aller formalen und informellen Räume, die sie im (analogen) Schulalltag bietet. Je nach Altersgruppe, Standort, privater Ausstattung und Engagement der Schule fand dieses Lernangebot auch sehr unterschiedlich statt – vom Umfang, von der Art und Weise, von den Inhalten her. Noch stärker betroffen waren Kinder und Jugendliche von der Schließung aller Freizeitmöglichkeiten und außerschulischen Bildungseinrichtungen (sowie Kindertageseinrichtungen), denn die damit verbundenen Angebote fanden im Vergleich zur Schule weit weniger systematisch Eingang in die eigenen vier Wände. Musik- und Jugendkunstschulen, Sport- und Kulturvereine, Jugendverbände und Bildungshäuser, öffentliche Räume und Spielplätze – sie und viele weitere mehr blieben geschlossen und konnten zwar kreativ, aber nur bedingt in ein digitales Angebot verlagert werden; Freunde zu treffen und mit ihnen gemeinsam Erfahrungen zu sammeln war untersagt. Weggefallen sind damit (fast) alle non-formalen und informellen Bildungsgelegenheiten, gerade auch jene, die durch junge Menschen selbstbestimmt und ohne Erwachsene genutzt bzw. geschaffen werden. Verschärfend kommt hinzu, dass viele dieser Orte erst mittelfristig ihren Normalbetrieb wiederaufnehmen werden bzw. Bildungsangebote in gewohnter Weise unterbreiten können.  

(Wie) ging Bildung individuell, digital und ohne Stress?

Drei weitere Lehren lassen sich mit Blick auf das Bildungskonzept ableiten:

  • Corona warf Kinder und Jugendliche auf die individuelle Bewältigung des Projektes „Bildung“ zurück, auf dessen Selbstoptimierungscharakter. Unter dem Thema der Individualisierung kam es aber zu einer zweiten Herausforderung: Die physische Distanzierung führte zu einer sozialen, was zugleich ein Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse erschwerte, sowohl für Schule, als auch für die Kinder- und Jugendarbeit.
  • Corona ermöglichte einen unerwarteten Schub für digitale Bildung und offenbarte das Potenzial digitaler Schnittstellen für alle Bildungsakteure und für Bildungslandschaften. I. d. R. griffen diese Konzepte auf bereits bestehende Beziehungen zurück und Methoden aus dem analogen Raum auf. Auch hier lohnt ein kritischer Blick auf zwei Tendenzen: den digitalen Overkill, wenn beispielsweise Schule und Jugendarbeit ihr Angebot gleichermaßen digitalisieren und das weitere Freizeitverhalten sich auch darüber hinaus auf digitale Medien, wie erste Untersuchen nahe legen, ausrichten, und die digital Abgehängten, die mangels technischer Ausstattung oder Erfahrung von diesen Angeboten nicht erreicht werden.
  • Corona zeigte auch die enge Verbindung von Bildung und Stress. Es gibt viele, so legen es Studien nahe, welche den Druck Homeschooling Situation – oftmals verbunden mit häuslicher Enge und Existenznöten der Eltern – als belastend wahrgenommen haben. Ebenso gibt es jene, welche von Enlastung berichten, weil die „Organisation“ der Freizeit von Kindern und Jugendlichen wegfiel und mehr Zeit miteinander (und nicht mit Fahrwegen und Wartezeiten) verbracht wurde. Zugegebenermaßen betrifft letzteres Phänomen v. a. privilegierte Kinder und Jugendliche, welche (analoge) Bildungslandschaften rege nutzen. Insgesamt spielte für alle aber auch die Sorge eine Rolle, den (Bildungs-)Anschluss zu verlieren. Ob sich daraus als Spätfolge eine Assoziation von Bildung als Stressfaktor oder eine stärkere Wertschätzung informeller und non-formaler – stressfreier – Bildungsräume ableitet, lässt sich noch nicht einschätzen.

Wie bildungsgerecht waren die Angebote?

Es gibt Kinder und Jugendliche, welche die Bildungsanforderungen gut bewältigen und von der Digitalisierung profitieren konnten. Es gibt aber auch eine bedeutende Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die nicht erreicht oder eben überfordert wurden. Für Kinder und Jugendliche, die weder individuell noch strukturell auf Unterstützung zurückgreifen konnten, verschärften sich Erfahrungen des Abgehängt-Werdens, der Bildungslücken und der Benachteiligung. Dabei konnten weder Schulen noch außerschulische Träger flächendeckend auf Strategien und Ressourcen zurückgreifen, um die Kluft zu verringern. Im Gegenteil: Es ist anzunehmen, dass sie diese durch die Art und Weise der ihnen zu dieser Zeit möglichen Angebote noch verstärkten. Corona macht die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Bildungsgerechtigkeit ebenso deutlich wie die Verantwortung der Kinder- und Jugendarbeit für das Aufwachsen und gute Bildung – als individuelle und gemeinsame Aufgabe.

Inwieweit spielte die Kinder- und Jugendperspektive eine Rolle?

Die befristete Einschränkung der Grundrechte im Zuge der Bekämpfung der Pandemie fand breite Zustimmung in der Bevölkerung und in den gesellschaftlichen Systemen und war gesundheitlich begründet nachzuvollziehen. Dennoch ist zu konstatieren, dass Entscheidungen zu Kindern und Jugendlichen in dieser Zeit vor allem in ihren Rollen als Virus(über)träger*innen, als Schüler*innen oder als Betreuungsproblem getroffen wurden. Ihre Interessen, Bedürfnissen und Lebenslagen fanden lange Zeit keinerlei Berücksichtigung im öffentlichen Diskurs und in der öffentlichen Verantwortung. Teilhabe- und Beteiligungsrechte, in Bildungsangeboten und -landschaften meist mit Partizipation verbunden, erwiesen sich nicht als krisenfest (Andresen u. a. 2020a und 2020b). Gerade die Chance, Kinder und Jugendlichen an Öffnungsprozessen zu beteiligen, wurde verpasst; Stellungnahmen, die kinder- und jugendorientierte Lösungsstrategien unter Pandemiebedingungen für eine neue Bildungsarbeit formulierten, kamen zögerlich und spät.

Wie hat sich die Kinder- und Jugendarbeit „eingemischt“?

Die Systemrelevanz von Bildung reduzierte sich im Zuge des Lockdowns, aber auch in den anschließenden Öffnungsprozessen auf Schule. Ebenso fokussierte sich die Kinder- und Jugendhilfe auf die pflichtigen Bereiche (Mairhofer u. a. 2020) und setzte entsprechend unter systemischer Perspektive keinen Schwerpunkt auf ihre Bildungsverantwortung, auch wenn sich viele Einrichtungen äußerst stark und kreativ engagieren, um Kinder und Jugendliche nicht allein zu lassen. Auffällig leise verhielten sich die Dach- und Fachverbände der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur bezüglich der massiv eingeschränkten Rechte von Kindern und Jugendlichen, sondern auch bezüglich des Themas „Bildung“ (Böllert 2020).

Inwieweit gab es Vernetzung zum Thema Bildung?

Die Corona-Situation hat aufgezeigt, wie fragil die über fast 20 Jahre errungenen Erfolge kooperativer Bildungspraxis sind. Und wie machtvoll die Schulzentrierung in der Bildung ist. Was an Kooperationen etabliert und gefestigt erschien, wurde durch politische, administrative oder strukturell bedingte individuelle Entscheidungen nicht nur sehr kurzfristig umfassend gestoppt, sondern konnte auch noch nicht wieder zurückgewonnen werden. Die Systeme waren zurückgeworfen auf sich selbst und suchten nach systemimmanenten Wegen. Gerade in einer Zeit, wo es unter der Perspektive der Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit hätte darum gehen können (und sollen), begrenzte Ressourcen zu bündeln und unterschiedliche Expertisen zu aktivieren, um Lücken zu identifizieren und zu schließen, kam es zu einer Vereinzelung. Bildungsnetzwerke und -landschaften zeigten keine krisenfeste Struktur und Kultur, d. h., konnten weder auf verlässliche gemeinsame Abstimmungs- und Entscheidungswege zurückgreifen noch auf Beziehungen und Prozesse, die auf Beteiligung und „Augenhöhe“ ausgerichtet sind. Zwar gab es ressortübergreifendes Handeln, vielleicht sogar in einem bis dato nicht bekannten und undenkbaren Ausmaß, dieses reduzierte sich aber auf das Thema „Gesundheit“. Andere Themen konnten davon (noch) nicht profitieren. Ähnliches trifft auf das Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen zu. Hier verschoben sich Entscheidungen deutlich auf die staatliche Ebene, die Beteiligung von Zivilgesellschaft, sogar die kommunalen Gestaltungsräume, wurden eingeschränkt. Es besteht die Aussicht, dass sich diese Verschiebungen weiter fortsetzen werden. Für Bildungslandschaften ist beispielsweise davon auszugehen, dass Schule auch mittelfristig Kooperationshemmnisse aufbaut.

Die Folgen sind in ihrem Ausmaß für Kinder und Jugendliche, ihre Bildungsbiografien und Teilhabe ebenso wie für die (kulturelle) Kinder- und Jugendarbeit noch nicht abzuschätzen. Ob Bildungslandschaften an dieser Stelle Lücken schließen können, jene, die (neu) aufgebrochen sind, jene, die schon im Vorfeld kaum bewältigt wurden, und jene, die Bildungslandschaften selbst geschaffen haben, hängt letztlich von vielen Faktoren ab.

Die BKJ und ihr Weg zur „Bildungslandschaft“

Die BKJ war einer der ersten Dachverbände, der mit seinem fachlichen Profil und jugendpolitischen Orientierung das Konzept von und eine Beteiligung an Bildungslandschaften als zentrale Strategie verfolgte. […] Bildungslandschaften waren und sind für die BKJ und ihre Mitglieder entsprechend Netzwerke, die die drei Diskurslandschaften – Jugendpolitik, Bildungspolitik, Kulturpolitik – reflektieren und integrieren. Dabei gab es zwei Gemeinsamkeiten und Verbindungspunkte: Die zunehmende Bildungsorientierung begründete sich in allen drei Politik- und Praxisbereichen in einer stärkeren gesellschaftspolitischen Ausrichtung, die sich aber weiter im Spannungsfeld einer Gesellschaft bewegte, deren zentrales Leitmotiv Ökonomisierung blieb. Zugleich, und das ist eine zweite Schnittmenge, wurde in allen drei Politikfeldern (und auch im Zuge der Debatte der Bildungslandschaften) Governance als Steuerungsmodell proklamiert, was unter anderem zu einer „neuen“ Verhältnisbestimmung von Staat und Zivilgesellschaft führte. Darauf, dass dieses auf Beteiligung in Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen orientierte Miteinander sich noch nicht bzw. wenig umsetzt, sei hier nur kurz hingewiesen.

Die BKJ und ihr Netzwerk, das bis auf die lokale Ebene reicht, ist in allen drei politischen, fachlichen und strukturellen Feldern verankert, was sie zu einer prädestinierten Plattform macht, die unterschiedlichen politischen (und fachlichen) Diskurs- und Akteursebenen miteinander zu verbinden. Dabei entspricht es nicht dem Leitbild der BKJ, „Bildungslandschaften und kulturelle Kinder- und Jugendbildung“ vorrangig mit politischen Rahmenbedingungen zu begründen. Zentraler Ausgangspunkt ist demnach nicht, politischen bzw. administrativen Programmatiken und Programm-Logiken zu folgen. Er leitet sich vielmehr aus der Anwaltschaft der Träger Kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche her: Ihre Rechte und Lebenslagen, ihre Bedürfnisse und Interessen stehen im Zentrum und sind grundlegend, um pädagogische Konzepte und strukturelle Kooperationen abzuleiten (BKJ 2019).

Halbleere Situationen in halbvolle Perspektiven wandeln

Die Ergebnisse des Praxisforschungsprojektes „Lokale Bildungslandschaften im empirischen Blick“ zeigen eine Fülle von Perspektiven, die es zu diskutieren gilt und aus denen Konsequenzen abzuleiten sind. Wir wagen an dieser Stelle vorrangig eine kritische Bewertung ausgewählter Aspekte, um daraus das konkrete Potenzial abzuleiten.

Bildungslandschaften ohne Bildung

In der Regel müssen Bildungslandschaften für ganz andere – beispielsweise soziale und ökonomische – Problemlagen und Zwecke herhalten (BKJ 2019). Damit werden sie zugleich entkernt und überformt. Paradoxerweise setzen sich Bildungslandschaften oftmals nicht mit genuinen Fragestellungen eines modernen Bildungs- und Pädagogikverständnisses auseinander, sondern beschreiben einen unklaren Bildungsbegriff, der sich stark aus den Institutionen und ihrer Vernetzung ergibt. Kulturelle Kinder- und Jugendarbeit kann und sollte sich – in ihrer kritischen Perspektive gegenüber Vereinnahmungen und in ihrer jugendpolitischen und kulturpädagogischen Expertise – hier für eine fachlich-pädagogische Konturierung von Bildungslandschaften einbringen.

Bildungslandschaften ohne Bildungsgerechtigkeit

Oft sind Bildungslandschaften weiterhin am Leistungsprinzip (Aufstiegsversprechen Bildung), an Effektivität und Effizienz orientiert. Selbstoptimierung und Bildungsaffinität sind hierzu der Resonanzraum. Mit ihrer dem Neoliberalismus und der Ökonomisierung unserer Gesellschaft gegenüber kritischen Haltung können kulturelle Bildungsträger auf diese Situation aufmerksam machen und zugleich eine tatsächliche Ausrichtung auf Gerechtigkeit unterstützen. Bildungslandschaften müssten dabei stärker dem Motto folgen: „Ungleiches nicht gleich behandeln“, d. h., es braucht mehr Differenzierung in Bildungslandschaften und mehr Investition für jene, die benachteiligt werden. Zugleich braucht es den Diskurs und Konzepte, mit welchen Angeboten ein Beitrag geleistet werden kann, jungen Menschen unter dem weiten Bildungsbegriff Empowerment zu ermöglichen und Lebenskompetenz zu vermitteln.

Bildungslandschaften ohne Beitrag zur Lösung struktureller Diskriminierung

Obwohl anders intendiert: Bildungslandschaften individualisieren Risikolagen und deren Lösung, manifestieren Quartiere und Regionen als „Brennpunkte“, weil sie kaum den gesamtgesellschaftlichen, ökonomischen und sozialpolitischen Kontext und die eigene Eingebundenheit in diesen reflektieren. Bildungslandschaften bieten zugleich eine Chance, wenn sie die vielfach proklamierte Verantwortungsgemeinschaft für diese Auseinandersetzung zum Tragen kommen lassen. D. h., sie benötigen einen strukturellen – systemimmanenten und systemübergreifenden – Blick, der also tiefer die eigenen Barrieren beleuchtet und zugleich über die Träger/Institutionen und deren Vernetzung hinausreicht, indem er mit einer sozialräumlichen auch eine sozialpolitische Perspektive einnimmt.

Bildungslandschaften ohne jugendpolitische Perspektive

Das inhaltliche Konzept vieler Bildungslandschaften folgt nicht den Entwicklungsherausforderungen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, sondern vornehmlich anderen Themen bzw. „Bildungsketten“. Entsprechend gering berücksichtigt werden Kinderrechte als leitende Prinzipien, was sich auch in mangelnden Beteiligungs- und Gestaltungsmodellen für Kinder und Jugendliche zeigt. Auch das Thema der Freiräume spiegelt sich nur gering wider. Hier sollte mit Beteiligung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung ein Verbund der Kinder- und Jugendarbeit entstehen, der Zielbestimmungen von Bildungslandschaften neu definiert bzw. ergänzt.

Bildungslandschaften ohne Stabilität

Obwohl gerade Bildungslandschaften hochkomplexe Systeme sind, die auf allen Ebenen – von der Mikro- bis zur Makroebene – Zeit für Implementierungs- und Veränderungsprozesse sowie nachhaltige Perspektiven benötigen, sind sie i. d. R. stark abhängig nicht nur vom persönlichem Engagement (überlasteter) Akteure im Jugend-, Bildungs- und Kulturbereich, sondern auch von finanziellen Konjunkturen in den Kommunen und in der Landes- und Bundespolitik. Nachhaltige Entwicklungsstrategien heißt hier vor allem, die Trägerstrukturen vor Ort zu sichern, der Entwicklung verlässlicher Vernetzungs- und Entscheidungsstrukturen ebenso Raum zu geben wie dem Aufbau eine Kultur des Vertrauens, der Beteiligung und Anerkennung – mit Unterstützung durch Moderationsstellen in den Quartieren, Kommunen bzw. Regionen, wie sie vielfach erprobt sind. 

Bildungslandschaften ohne zeitgemäße Governance-Strategien

In Bildungslandschaften ist die Steuerung über (staatliche) Programme bzw. über die Kommunen weit verbreitet und schafft eine Top-down-Orientierung: „von oben nach unten“. Diese (politische) Verantwortungsübernahme ist einerseits absolut wichtig und notwendig, weil Bildung eine öffentliche Aufgabe ist. Zugleich ist das Subsidiaritätsprinzip in Bildungslandschaften und die systematische Beteiligung der Zivilgesellschaft unerlässlich, um Bildungslandschaften nicht nur mit einem jugendgerechten Bildungskonzept zu fundieren, sondern auch die damit verbundenen vielschichtigen Zieldimensionen zu erreichen. Nur so gelingt die Unterstützung der*des Einzelnen und ein gesellschaftlicher Wandel.

Bildungslandschaften ohne Kulturelle Bildung und Kinder- und Jugendarbeit

Auf den ersten Blick sind die Zahlen ermutigend, finden doch Träger der Kinder- und Jugendarbeit, jugendpolitische Themen (z. B. Beteiligung) oder Kulturelle Bildung – als Thema und Träger – in einem nicht unerheblichen Maß Eingang in Bildungslandschaften (vgl. Praxisforschungsprojekt). Dennoch ist Lücke zu 100% groß und es stellt sich die Frage, warum dies nicht auf alle bzw. nicht zumindest auf die deutliche Mehrheit der Bildungslandschaften zutrifft. Eine fachliche oder strukturelle Begründung gibt es dafür nicht, gibt es doch in allen Kommunen und Regionen Sportvereine, Jugendhäuser, kulturelle Bildungseinrichtungen etc. Hier lohnt es weiter zu forschen und sich im Verbund der Kinder- und Jugendarbeit und der unterschiedlichen Träger Kultureller Bildung für eine entsprechende Repräsentanz stark zu machen – natürlich nur, wenn die (jugendpolitische) Konzeption und die Rahmenbedingungen dafür stimmen.

Bildungslandschaften ohne ein klares Verhältnis zur/von Schule

Weder die Vorbehalte der (kulturellen) Kinder- und Jugendarbeit gegenüber „Schule“ noch der vereinnahmende Blick von Schule auf Bildungslandschaften sind für die Weiterentwicklung hilfreich. Dass sich Ganztag und Schulkooperationen unter einem weiten Bildungsbegriff denken und sich die Eigenständigkeit des außerschulischen Trägerspektrums wahren lassen, wird in zahlreichen Publikationen beschrieben und lässt sich mit Sicherheit auf Bildungslandschaften übertragen. Realistisch ist dies aber in der Breite nur, wenn es einen Wandel sowohl im schulischen System als auch in der Verhältnisbestimmung von Schule und Gesellschaft gibt.

Und nun?

Mit dem Praxisforschungsprojekt „Lokale Bildungslandschaften im empirischen Blick“ sollte und konnte ein wesentlicher Beitrag geleistet werden, Träger der Kinder- und Jugendarbeit untereinander fachlich und politisch zu vernetzen. Es hat sich gezeigt, dass über das Thema „Bildungslandschaft“ ein fachpolitischer Austausch mit der Offenen Jugendarbeit, dem Sport, der Jugendverbandsarbeit, der politischen Bildung unterstützt werden konnte. Dieser mündete in gemeinsame Bewertungen und verdeutlichte, dass auf kommunaler-, Länder- und Bundesebene eine solche Vernetzung der unterschiedlichen Akteure der Kinder- und Jugendarbeit ihre Schlagkraft erhöht. Zugleich wurde auch eine entscheidende Lücke offenkundig: Die (jugend-)politischen Steuerungsebenen in Kommunen, Ländern und im Bund fehlen vielfach in der Debatte um Bildungslandschaften. Es braucht sie aber unbedingt, um eine höhere jugendpolitische Orientierung und Wirksamkeit von Bildungslandschaften zu erreichen. Gewinnbringend wäre hier eine eigenständige Jugendpolitik als ressortübergreifende Aufgabe, die Bildung als ein zentrales Thema setzt und entsprechend Bildungsmaßnahmen – Angebote, Träger und Vernetzung – dahingehend prüft bzw. ausrichtet, dass sie kinder- und jugendgerecht sind. Was Kinder- und Jugendgerechtigkeit sein könnte, zeigt die Universität Kassel gemeinsam mit der BKJ im Rahmen einer Arbeitshilfe auf (BKJ 2019). In dem vielfältigen Zielgefüge von Bildungslandschaften, wie es auch die Ergebnisse des Forschungsprojektes gezeigt haben, und der damit verbundenen Kritik, Bildungslandschaften zu überlasten, muss natürlich gefragt werden, ob Kinder- und Jugendgerechtigkeit oder Kinder- und Jugendorientierung, nicht ein weiterer Anspruch ist, der das ganze Konstrukt überhebt und überformt. Aus unserer Sicht ist das nicht der Fall, sondern fordert „Bildung“ konsequent diese Basis ein. Insofern ist Kinder- und Jugendorientierung kein weiteres Ziel, sondern die Basis.

Eine Idee des Praxisforschungsprojektes war es, aus einer Typisierung von Bildungslandschaften konkrete Modelle abzuleiten, wie sich die (unterschiedlichen) Einrichtungen der (kulturellen) Kinder- und Jugendarbeit an Bildungslandschaften beteiligen können. Gesucht wurden transferierbare Implementierungs- und Handlungsstrategien. Von einem solchen vereinfachenden Input-Output-Modell wird nunmehr bewusst Abstand genommen. Denn es wurde offensichtlich, dass der wesentliche Schritt des Feldes der (kulturellen) Kinder- und Jugendarbeit, um sich an Bildungslandschaften zu beteiligen, ein anderer ist: Die BKJ empfiehlt den Akteur*innen dringend, ein jugendpolitisches und bildungsbezogenes Selbstverständnis zu schärfen und auf dieser Grundlage dessen Passfähigkeit zu den jeweiligen konkret beschriebenen Konzepten von Bildungslandschaften zu analysieren und zu bewerten. Es geht also zunächst um eine inhaltliche und politische Auseinandersetzung mit der Kultur, im Konkreten mit den Profilen und Narrativen be- bzw. entstehender Bildungslandschaften. Eine Handreichung dazu ist als Ergebnis des Projektes entstanden (BKJ 2019). Auf dieser Grundlage können die Träger ihre bereits vorhandenen Handlungsmuster der Vernetzung, politischen Arbeit und Konzeptionierung nutzen, um sich (kritisch) zu beteiligen.

Dem Forschungsdesign gemäß wurden ausschließlich im Internet aufgefundene Bildungslandschaften ausgewertet, die dort vornehmlich nicht nur als öffentlich verantwortete – kommunale, regionale oder lokale – Netzwerke, sondern die alle als analoge Strukturmodelle dargestellt werden. Was der aktuellen Idee von Bildungslandschaften noch vollkommen fehlt, was aber der Realität von jungen Menschen heute viel mehr entspricht, ist ein Konzept, das sich als analog-digitaler Erfahrungs- und Bildungsraum für Kinder und Jugendliche versteht und zeigt. Die Relevanz der analog-digitalen Schnittstellen nimmt, wie bereits oben beschrieben, zu und fordert dazu heraus, Bildung und ihre Landschaften konzeptionell und strukturell weiterzudenken. Das bisherige konventionelle Verständnis von Bildungslandschaften mit seinem an Orte und Träger gebundenen Netzwerk lässt sich auf diese postdigitale Realität nicht unmittelbar übertragen. Daraus ergibt sich ein Reflexions-, Entwicklungs- und Gestaltungsauftrag – bildungs-, jugend- und kulturpolitisch – für die Trägerlandschaft, bei der gerade kulturelle Kinder- und Jugendbildung mit ihren bereits vielfältigen Erfahrungen und Erkenntnissen als Vorreiter wirken kann.

Bei allen Leitbildern und aller Fachlichkeit, die ein solcher Dachverband wie die BKJ mit seinen Mitgliedern repräsentiert: Letztlich wirft die hier vorliegende Forschung auch genuine Fragen auf, von welcher kulturellen Kinder- und Jugendbildung wir eigentlich reden (sollten), wenn sie in Bildungslandschaften nicht nur gut aufgehoben ist, sondern ihre Eigenständigkeit wahren und impulsgebend – jugendgerecht und -politisch – wirken kann (BKJ 2019). Sie muss, so lassen sich die Ergebnisse der Forschung deuten, ein Selbstverständnis weiterverfolgen, das die kritische Anwaltschaft für Kinder und Jugendliche hervorhebt, selbstkritisch partizipative, inklusive und teilhabeorientierte Konzepte realisiert, ihren (kultur)pädagogischen Kern mit einem emanzipatorischen Bildungsbegriff verbindet und auch eine prägende Rolle von Zivilgesellschaft und Bürger*innen-Beteiligung in kommunalen Landschaften einfordert. Nur eine kulturelle Bildungs- und Vernetzungspraxis, die zudem

  • in den kommunalen Kultur- und Bildungseinrichtungen kein Add-on, sondern integraler Bestandteil in Leitbild, Konzept und Umsetzung ist,
  • bei den freien Trägern und Vereinen die Themen und Lebenslagen junger Menschen aufgreift und mittels kultureller Plattformen im kommunalen bzw. Sozialraum spiegelt,
  • sich beweglich hin zu ästhetischen Alltagspraktiken junger Menschen v. a. im postdigitalen Zeitalter zeigt,
  • es ernst meint mit Freiräumen für Kinder und Jugendlichen, d. h. nicht-pädagogisierte und erwachsenenfreie Räume für kulturelle Erfahrungen sichert.

Zwar adressieren diese Punkte die Träger der kulturellen Kinder- und Jugendbildung, aber diese Träger müssen entsprechende Rahmenbedingungen vorfinden, um diese Ziele/Ansprüche einlösen zu können. Hier greift die Debatte um die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen in gleichwertigen Lebensverhältnissen, für (kulturelle) Bildung und Teilhabe. Aber auch jene um die Instrumentalisierung von Bildung, beispielsweise für ökonomische Verwertungszwecke oder als Kompensationen verfehlter Sozialpolitik, ist darin miteingeschlossen. Denn: Viele Legitimationsargumente und Förderbedingungen für Träger der Kulturellen Bildung speisen sich aus diesem Diskurs, wie er auch im Kontext der Bildungslandschaften sichtbar wird. Um kulturelle Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche zu sichern, d. h., ihre Förderstruktur zu erhalten, lassen sie sich darauf ein – und stehen vor der Herausforderung, konzeptionell ihr eigenständiges, jugendpolitisches Profil zu wahren. Verstärkend kommt hinzu, dass viele kulturelle Bildungsträger auf Eigenmittel angewiesen sind, was nicht nur bezüglich der Zugänglichkeit für alle Bevölkerungsteile Fragen aufwirft, sondern auch eine marktförmige Ausrichtung verstärkt. So laufen Kinder- und Jugendarbeit, Kulturelle Bildung und Bildungslandschaften Gefahr, nicht jene Bildung zu fokussieren, die notwendig ist, sondern jene, die nachgefragt wird.

Zu erwarten ist, dass dieses Spannungsfeld, auch mit Blick auf mögliche Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die mittel- und langfristigen finanziellen Grundlagen der Träger, eher noch an Spannung gewinnen und unauflösbar bleiben wird. Das wirft auf die oben bereits aufgeworfene Frage „Wie systemrelevant ist Bildung?“ nochmals zwei Perspektiven, die es diskursiv im politischen Raum auszuhandeln gilt: Von welcher Bildung wird gesprochen? Und: Welches (Bildungs-)System ist gemeint? Ähnlich dem Thema Schulkooperationen, das die BKJ über viele Jahre hin intensiv in Praxis und Theorie reflektiert hat (https://www.bkj.de/ganztagsbildung/), stellt sich bezüglich der Zukunft von Bildungslandschaften demnach politisch sowohl die fachliche und die systemische, die kulturelle und die strukturelle Frage gleichermaßen. Dabei hat das Praxisforschungsprojekt gezeigt, während es durch die Erkenntnisse der Corona-Zeit bestätigt und in Teilen auch überholt wurde: Es besteht kein Mangel an Wissen und Erfahrung, allein folgen die fiskalischen und pragmatischen Entscheidungen von Politik und Trägern (noch) anderen Logiken.