Filmemachen als Ich-Erfahrung: Das handlungsorientierte Konzept des reflective film

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von Phil Rieger

Erscheinungsjahr: 2025

Abstract

Dieser Beitrag untersucht den Ansatz des reflective film als Alternative zu herkömmlichen handlungsorientierten Ansätzen in der Filmpädagogik. Basierend auf dem kunstpädagogischen Konzept der Ästhetischen Forschung von Helga Kämpf-Jansen wird ein subjektzentrierter Zugang vorgestellt, der die Kamera als Instrument zur Weltexploration und Selbstreflexion einsetzt. Im Gegensatz zu traditionellen Ansätzen, die technische Fertigkeiten und standardisierte Produktionsabläufe betonen, fokussiert diese Methode auf die persönliche Erfahrung und den Ausdruck der Teilnehmenden. Mit dem Dreischritt Sammeln – Sichten – Sortieren orientiert sich der reflective film eher an einer künstlerischen Suchbewegung und weniger an Produktionsweisen der professionellen Filmpraxis. Nicht der Nachvollzug der herkömmlichen Filmästhetik steht im Mittelpunkt, sondern das Subjekt, das über die Welt staunt, sich wundert oder von ihr irritiert ist. Der Blick durch die Kamera wird zum reflektierenden Moment und der Film zum Ausdruck einer Ich-Erfahrung.

Einmal im Leben den Platz von Steven Spielberg oder Peter Jackson einnehmen und selbst Kino machen: Ein Traum, den sicher viele Jugendliche, Kinder aber auch Erwachsene sich schon einmal erträumt haben. Wenn man dann aber anfängt, sich einmal damit zu beschäftigen was es heißt, einen Film zu machen, baut sich vor einem der Berg an Arbeit auf: Ideen finden, Drehbuch schreiben, Feedback einholen, Drehbuch umschreiben, Storyboard erstellen, Crewmitglieder suchen, Crewmitglieder einweisen, Requisiten und Kostüme vorbereiten, Drehplan machen u.v.m. Und irgendwann fällt dann auch endlich die erste Klappe und es kann losgedreht werden; in einer großen Produktion können dafür gut und gerne auch mal mehrere Jahre veranschlagt werden. Bei dieser, zugegebenermaßen noch verkürzten Liste, wirkt der Zauber Hollywoods gar nicht mehr so zauberhaft, sondern vielmehr nach Schreibtischarbeit und hohem Organisationsaufwand, planungsintensiv und zeitaufwendig.

Handlungsorientierte Filmpädagogik: Ein Berg an Arbeit?

Doch dieser Planungs- und Zeitaufwand hat Akteur*innen in der handlungsorientierten Filmpädagogik nicht davor zurückschrecken lassen, auch Jugendliche, Kinder und Erwachsene Anteil an diesen Prozessen gewähren zu wollen (Spielmann 2011; Weller 2015; Wacker 2017). Dabei folgen die Konzeptionen häufig dem klassischen Produktionsschema von Vorproduktion, Produktion und Postproduktion. Handlungsleitend für diese Prozesse ist immer der Gedanke, dass es zunächst eine theoretische Ausarbeitung des umzusetzenden Films geben muss (Drehbuch, Storyboard, Drehplan), die dann filmpraktisch innerhalb eines vordefinierten Zeitraums über wenige Tage oder Stunden umgesetzt werden soll. Dieser Ansatz erscheint absolut legitim und ermöglicht den Adressat*innen einen Zuwachs an Wissen und Kompetenz, denn die Aneignung der Produktionsprozesse folgen einer eigenen inneren Logik und erfordern in ihrer Ausführung ein nicht unerhebliches technisches Know-How bei den meisten Beteiligten. Das bedeutet wiederum für Praktiker*innen der Kulturellen (Film-)Bildung, die solche Angebote machen: „[Viel] Energie, Stehvermögen, ästhetisches Gespür auf mehreren Ebenen und ein ausgezeichnetes Coaching (Exner 2012:526)“. Das Coaching lässt sich sowohl für die Beziehungsebene der Adressat*innen zu den Praktiker*innen verstehen, aber auch hinsichtlich der Vorbildung der Praktiker*innen, damit sie sich sicher und motiviert fühlen, solche Prozesse anzuleiten und über eine längere Strecke zu begleiten. Auch die institutionellen Rahmenbedingungen spielen bei der Möglichkeit, solche Filmprojekte umzusetzen, eine entscheidende Rolle. Im schulischen Unterricht werden Filmprojekte deshalb gern in Projektwochen realisiert, oder sie werden als Sonderveranstaltung außerhalb der Schulzeit verlegt, wo dann meist die schon bereits interessierten oder auch erfahrenen Schüler*innen teilnehmen. In der außerschulischen Bildungspraxis sind die zeitlichen Bedingungen flexibler, allerdings spielt hier eher die Motivation eine entscheidende Rolle: Wer Lust hat in seiner Freizeit einen Film zu machen, der will ins Tun kommen. Da kann der Berg an Arbeit, vor allem in der Vorproduktion, abschreckend und ermüdend wirken, zu wachsender Unzuverlässigkeit bei einzelnen Teilnehmer*innen führen und letztlich den gesamten Produktionsprozess gefährden.

Es geht im Folgenden nicht darum, das Konzept der handlungsorientierten Filmpädagogik, mit Ausrichtung an den von der Filmwirtschaft etablierten Arbeitsprozessen, abzuwerten. Ich selbst habe bereits mehrere Projekte, vorrangig mit Jugendlichen, realisiert, die genau dieser Idee folgten. Häufig waren sich die Jugendlichen einig: Der Weg war schwer, aber das fertige Produkt am Ende auf der Leinwand zu sehen, entschuldigt alle Entbehrungen. Ein Gefühl, das ich als Filmemacher selbst absolut bestätigen kann.

Andere Praktiker*innen mit mehr und weniger praktischer Filmerfahrung sprechen über ähnliche Erfahrungen, die nicht selten verbunden sind mit der Angst, selbst über zu wenig Wissen über die Produktionsverfahren und technischen Herausforderungen zu verfügen. Manchmal wird auch aufgrund fehlenden Equipments praktische Filmarbeit verneint, in der Annahme, man könne den Adressat*innen nicht die richtigen Bedingungen bieten.

Wo bleibt das Subjekt?

Ein weiterer Aspekt, der mich in den angesprochenen Prozessen immer wieder beschäftigt hat, ist, die Subjektorientierung innerhalb der filmpädagogischen Handlungsorientierung: „Filme werden als wichtiges symbolisches Reservoir für Orientierung, Sinn- und Identitätsbildung betrachtet. Wesentliche Intention ist es, in der Verknüpfung von persönlichkeitsbildenden und filmästhetisch-kulturellen Dimensionen Medien- und Sozialkompetenzen zu fördern (Niestyo 2006:9)“. Dass im Teamprozess der Filmherstellung Sozial- und Kommunikationskompetenzen geschult werden und die Beschäftigung mit Film Medienkompetenz erweitert, ist offenkundig. Doch wie kann man dem Anspruch der Sinn- und Identitätsbildung wirklich gerecht werden? Häufig gehen die Adressat*innen im Ideenfindungsprozess von ihren eigenen Sehgewohnheiten aus und versuchen ihre gemachten Rezeptionserfahrungen nun auch selbst filmisch-kreativ zu reproduzieren. Sehr naheliegend, denn bei der handlungsorientierten Filmpädagogik geht es zumeist auch darum, eine narrative Story zu entwickeln, vielleicht sogar nach bestimmten Genrekonventionen. Warum nicht dann da ansetzen, was mich selbst fasziniert, wenn ich im Kinosessel sitze oder daheim bei Netflix auf der Couch? Dies bietet pädagogisch zwar die Möglichkeit, über eben jene Sehgewohnheiten kritisch nachzudenken, aber ein wirklicher Ausdruck eigener Reflexions- und Suchprozesse ist dies meinem Anspruch nach nicht.

Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger beschreibt den Film als ein „phantomhaftes Medium, ein temporäres ‚Lichtspiel‘ auf der Leinwand oder dem Bildschirm, das sich einem materiellen Zugriff entzieht (Stiglegger 2023:5)“. Er macht damit deutlich, dass der Film immer mehr erzählt, als wir verbal zu erfassen in der Lage sind. So verstanden kann die handlungsorientierte Filmpädagogik auch als eine Arbeit an dem „Mehr“, was wir sprachlich nur schwer fixieren können, begriffen werden. Der Film verfügt über Strategien, die in seiner Anwendung und Montage zu neuen Erfahrungsräumen führen können: Der Film „kombiniert die unterschiedlichsten Disziplinen: Fotografie, Schauspielkunst, Literatur, Musik, Architektur, Performance und Choreografie, Design, Bildhauerei usw. All diese zur Synergie gebrachten künstlerischen Ausdrucksformen verschmelzen zu einem neuen, gesamtheitlichen Ausdruck (Stiglegger 2023:2)“. Wenn der Begriff der Subjektorientierung in diesem Zusammenhang ernst genommen wird, bedeutet dies kein Stehenbleiben bei den Sehgewohnheiten der Adressat*innen, sondern die Möglichkeit, dass diese sich neu und anders ausdrücken können. Um so zu neuen Erfahrungen mit sich, der Welt, aber auch in der Auseinandersetzung mit anderen über sich und ihren Blick auf die Welt zu kommen. Das ist das Anliegen des reflective film.

Der Grundstein für den reflective film: Ästhetische Forschung

Der zwei- bis fünfminütige reflective film ist die persönliche Suchbewegung zu einem selbstgewählten Thema, gestaltet in Bild, Ton und Sprache. Die Konzeptionierung dieses in seinem Anspruch nach niedrigschwelligem und flexiblem Verfahrens für die handlungsorientierte Filmpädagogik geht von den Grundsätzen der Ästhetischen Forschung der Künstlerin und Pädagogin Helga Kämpf-Jansen (Kämpf-Jansen 2021) aus. Bereits 2001 entwickelte sie ihr Konzept als neuen Weg im Bereich Ästhetischer Bildung, vor allem sollte es Impulse für die Neuausrichtung des Kunstunterrichts im schulischen Kontext geben. In der Ästhetischen Forschung, aber auch in ihrer Weiterentwicklung und praktischen Erprobung, standen häufig die bildenden Künste im Vordergrund. Allerdings hat Helga Kämpf-Jansen ihr Konzept bewusst offengehalten und wirbt für die Verbindung der Vielfalt künstlerischer Strategien, die zum Beispiel in Form einer multimedialen Ausstellung am Ende des künstlerischen Prozesses wieder zusammenfinden (Kämpf Jansen 2021:12).

Wer ästhetisch forscht, sucht nach dem eigenen Zugang zum subjektiven Erkenntnisprozess. Dieser Zugang kann vielfältig sein. Es kann „ein Gedanke, eine Befindlichkeit; ein Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier; ein Phänomen, ein künstlerisches Werk, eine Person – fiktiv oder authentisch, ein literarischer Text, ein Begriff, ein Sprichwort“ (Kämpf Jansen 2021:266) sein, das Anlass zur Ästhetischen Forschung gibt. Entscheidend ist das, was beim Subjekt ausgelöst wird: Es sollte die Forschenden, so werden die Adressat*innen innerhalb dieses filmpädagogischen Prozesses genannt, neugierig machen und sie sollen Lust bekommen, dieses Thema zu ‚befragen‘. Sie sollten etwas zu diesem Thema „entdecken, erforschen, erfahren und für andere sichtbar machen wollen (Kämpf-Jansen 2021:266)“. Das Subjekt bekommt die Chance, seine innere Wirklichkeit nach eigenen Ideen und Ansätzen zu erforschen und diesen Prozess äußerlich zu manifestieren, in unserem Fall in der Praxis des Filmemachens. Mit dieser Ausrichtung stellt sich Kämpf-Jansen gegen kunstpädagogische Ansätze, die auf das Nachahmen von Technik aus sind und so ästhetische Qualität durch die Exaktheit in der Erfüllung einer didaktischen Aufgabenstellung qualifizieren.

In der Praxis des Filmemachens liegt die Chance, einem selbstgewählten Thema mit den obengenannten filmischen Strategien in seiner Komplexität zu begegnen. Der reflective film ist dabei in seiner formalästhetischen Gattung (Modus der Darstellung) als quer zu den bekannten Formen Fiktion, Dokumentation und Animation (Hickethier 2012:203) zu betrachten. Er kann sich Elementen und Verfahren fiktionaler, dokumentarischer oder animierter Produktion bedienen, ist aber in seinem subjektzentrierten Ansatz immer ein ‚Außenstehender‘. Folgend soll es um die Skizzierung des Ablaufs eines ästhetischen Forschungsprozesses hin zu einem reflective film gehen.

Sammeln – Sichten – Sortieren

Der gesamte ästhetische Forschungsprozess folgt dem Zyklus ‚Sammeln – Sichten – Sortieren‘. An erster Stelle im Forschungsprozess steht das erregende Moment: „Ästhetische Forschung hat – wie alle Forschung – nur Sinn, wenn die Forschenden eine Frage haben, an einer Sache arbeiten wollen, die sie interessiert, einer Idee folgen oder ein ihnen wichtiges Vorhaben verwirklichen wollen (Kämpf-Jansen 2021:11)“. Ich nenne dies das Sammeln von Themenideen. Dabei kann es sein, dass diese Suche bereits durch die Anleitenden vorgerahmt ist, indem ein Oberthema formuliert ist oder es ist ein offener Prozess, in dem die Forschenden in eine freie Phase der Themensuche gehen können. Das Sammeln ist kein Prozess von einer ‚Suche nach dem korrekten Thema‘, sondern ein Sich-Finden-Lassen von dem, was die Forschenden unmittelbar betrifft, wo sie sich in Euphorie versetzt fühlen, mit Ablehnung oder Irritation reagieren oder wo sie sich schlicht und ergreifend wundern. Mit den Worten Hartmut Rosas ließe sich auch sagen: Das Thema ist dort, wo „die Resonanzachsen vibrieren (Rosa 2016:411)“. Im Sammelprozess sollen die Forschenden erst einmal die Fülle an möglichen Themen entdecken, sie für sich notieren und wieder mit in den Gruppenprozess einbringen. Dabei müssen diese Themen noch nicht ausformuliert sein, es dürfen im besten Sinne Themenfragmente sein. Dieses Sammeln kann in der organisierten Bildungszeit passieren oder auch als Aufgabe mit in den Alltag integriert werden: Vielleicht schnappe ich einen spannenden Gesprächsfetzen im Bus auf, höre ganz bewusst einen meiner Lieblingssongs, erinnere mich an eine Person aus meiner Jugend oder habe eine zufällige Begegnung mit einer fremden Person – all diese Momente könnten zu Themenfragmenten werden. 

Mit meinem Thema bin ich nicht allein

Einen reflective film zu machen, ist eine Teamarbeit von zwei oder drei Personen. Ein wichtiges Kriterium zum Zusammenschluss eines Teams sollte sein: Das Forschendenteam interessiert sich gemeinsam für ein Thema.

Das Wieder-Zusammenkommen der Gruppe mit den Themenfragmenten im Gepäck ist der Moment des Sichtens. Dies könnte zum Beispiel in Form eines Marktplatzes passieren, in welchem ein Teil der Forschenden ihre aufgeschriebenen Themenfragmente (z.B. notiert auf Karteikarten) auf Tischen ausbreiten und die anderen die Möglichkeit haben, diese zu erkunden. Sie kommen mit den ‚Anbieter*innen‘ ins Gespräch und nach einiger Zeit wechseln die Rollen, sodass jede*r die Chance hat, die Themenfragmente der anderen zu sichten. Um die Sichtung etwas zu lenken, könnte man sich an folgenden Fragestellungen orientieren:

  • Was spricht mich an?
  • Was irritiert mich?
  • Wo sehe ich Verbindungen zu meinen Themen?

Als weiteres Kriterium sollten bei der Teamfindung auch die sozial-kommunikativen Aspekte nicht vernachlässigt werden. Kurz: Wer kann gut miteinander arbeiten?

Haben sich die Teams gefunden, geht es ans Sortieren. Die Themenfragmente, die noch lose verbunden sind, müssen zusammengebracht werden. Denn: Thema ist nicht gleich Thema. Es muss von den Forschenden – wie auch in wissenschaftlichen Forschungsprozessen – auf den Punkt gebracht werden. Ich schlage dafür die Orientierung an dem Vorgehen der Themenformulierung in der Themenzentrierten Interaktion (TZI) vor. Ein Thema meint hier ein formuliertes Anliegen. Konkret ist dies ein Satz oder ein Aufhänger plus Nachsatz. Dabei soll die „Themenformulierung nicht nur die Sachebene ansprechen. Die Sprache wird in ihrer ganzen Fülle, das heißt auch in ihrer poetischen, metaphorischen, phantasieanregenden Form genutzt. […] es spricht den Menschen in seiner leib-seelischen Ganzheit an (Schneider-Landolf 2014:157)“. Die Sprache ist hier spielerisches Element, das hilft, Themen anregend zu formulieren, sodass man Lust bekommt, damit zu arbeiten. Das Formulieren sollte vor allem Spaß machen und keine Kopfgeburt sein. Das formulierte Thema ist nicht zu verwechseln mit dem Filmtitel des reflective film. Dieser wird erst ganz am Ende des Prozesses festgelegt und kann durchaus anders lauten.

And again: Sammeln – Sichten – Sortieren

Ist das Team gefunden, das Thema formuliert, betreten die Forschenden erneut die Sammelphase. Sie gehen mit ihrem Thema durch die Welt. Was bedeutet, dass sie mit ihrem Smartphone in der Tasche losziehen und alles filmen, wo sie das Gefühl haben, ihr Thema zu entdecken. Je nach zeitlichen Ressourcen kann dies als Aufgabe über mehrere Wochen fungieren, in der man sein Thema vielleicht ganz plötzlich im Alltag wahrnimmt, schnell das Smartphone zückt und eine kurze Aufnahme macht. Oder es kann bei weniger Zeit auch in der unmittelbaren Umgebung gesucht werden: In der Innenstadt, auf dem Pausenhof, in den Räumen der Tagungsstätte oder sogar im Seminarraum. Hat man mehr Zeit, lohnt es sich, auch Andere Orte aufzusuchen: In der Ästhetischen Forschung meint dies Orte als Heterotopien, im Sinne Michel Foucaults, „welche die kulturelle Bedeutung normaler Orte umkehren (Brohl 2006:145)“. Also Friedhöfe, Museen, Kirchen, Bahnhofshallen, Klöster und viele andere.

Aber manchmal lohnt es sich auch schon, an den bekannten Orten ganz genau hinzusehen: Was entdecke ich zum Beispiel auf meinem Schulweg nach Hause oder was verbirgt sich eigentlich im Keller unseres Mehrfamilienhauses?

Dieses Sammeln ist ein freies Sich-Finden-Lassen ohne Drehbuch und Vorplanung. Der Verwertungsgedanke „Funktioniert diese Aufnahme in unserem späteren Film?“ sollte hier noch keine Rolle spielen – vielmehr geht es um ein Erkunden der Welt mit der Kamera. Und dafür verantwortlich ist vor allem die forschende Person hinter der Kamera: Mit ihrem Blick durch die Kameralinse setzt sie das Gefundene in Szene.

Entweder man lässt die Forschenden selbst ganz frei erkunden oder man gibt ihnen noch Hinweise zur filmästhetischen Praxis mit an die Hand. Hier können die Klassiker der Bildgestaltung wie Bildformate, Einstellungsgrößen, Kameraperspektiven oder auch Kamerabewegungen (siehe Hickethier 2023 oder Strauch/Engelke 2019) einmal beispielhaft in ihrer Anwendung und Wirkung analysiert werden. Diese filmgestalterischen Mittel sollen den Forschenden nun als Werkzeuge dienen, um ihren Blick auf die Dinge mit der Kamera zu inszenieren: „Je nach Erregungsfacette wird auch die filmische Aufnahme des Beobachteten anders ausfallen. Über was ich staune, zeige ich vielleicht perspektivisch von unten, um es erhaben wirken zu lassen. Über was ich empört bin, zeige ich vielleicht ganz nah, um wie mit dem Finger darauf zu zeigen (Rieger 2024:64)“.  

Das Sammeln des Bildmaterials ist zentral, kann aber durch weiteres Material ergänzt werden: Soundeffekte, Musikstücke, Songtexte, selbstgeschriebene Texte, fremde Texte und alles weitere, was denkbar wäre, im Rahmen des Films zu verarbeiten. Die Texte können beispielsweise eingeblendet oder auch später von einzelnen oder mehreren Personen als Voice-Over eingesprochen werden.

Nach dem Sammeln folgt wieder das Sichten. Die Forschenden-Teams kommen zusammen, sammeln ihr gedrehtes Material an einem Ort und sichten als Team die aufgenommenen Clips. Diese Sichtung folgt wieder anhand der bereits genannten Leitfragen: Was spricht mich an? Was irritiert mich? Wo sehe ich Verbindungen zwischen den Aufnahmen?

Die Forschenden sollen die Aufnahmen, die sie verwenden wollen, rausfiltern und zum Beispiel in einem separaten Ordner auf ihrem Rechner oder Tablet speichern.

Nun geht es an das Sortieren. Im herkömmlichen Produktionsprozess wäre das der Moment der Postproduktion. Dabei können die Forschenden auf Schnittprogramme auf ihren Smartphones oder Tablets zurückgreifen. Ein beliebtes, weil relativ leicht zu bedienendes Schnittprogramm ist die App CapCut, die sowohl für mobile Endgeräte als auch als Desktopanwendung genutzt werden kann. Im Netz lassen sich außerdem zahlreiche Tutorials für Einsteiger*innen finden.

Mit dem Sortieren ist sowohl das Erarbeiten einer Struktur gemeint, in welcher die Bilder aufeinander bezogen, also hintereinander geschnitten werden. Dabei soll der Experimentiercharakter aber nicht vernachlässigt werden. Die Forschenden sollen ruhig ausprobieren, wie es wirkt, wenn die gleichen Aufnahmen in unterschiedlicher Reihenfolge aneinandergesetzt werden. Aber Sortieren meint auch die Montage des Films: „In der Filmmontage ist darauf zu achten, wie lang eine Einstellung inhaltlich und ästhetisch mindestens stehen muss und längstens stehen darf (Strauch/Engelke 2019:115)“.

Zur Montage kommt das zusätzliche Material hinzu: Soundeffekte, Musik oder eingesprochene Texte. Das Produzieren von Texten kann für bestimmte Zielgruppen keine leichte Aufgabe sein. Hierfür können sowohl Zugänge über das biografisch-kreative Schreiben (siehe Damaris Nübel „Biografisches Schreiben in der Bildungsarbeit von Jugendfreiwilligendiensten“) ein wichtiger Zugang sein, aber auch die Arbeit mit Textfragmenten wie bedeutsame Worte, kurze Sätze oder auch entsprechend gekennzeichnete fremde Texte wie Gedichte oder Erzählungen. In der Praxis haben Forschendenteams auch eigeninitiativ bereits erprobt, wie man sich bei der Erstellung von Texten von generativen KI-Systemen unterstützen lassen kann. Dabei sollten die Forschendenteams aber nicht aus dem Blick verlieren, was ihr persönliches Anliegen mit dem formulierten Thema ist.

Die meisten reflective films sind in ihrem Endergebnis nicht darauf angelegt, den Zuschauenden die eine Botschaft zu vermitteln oder eine stringente Geschichte zu erzählen. Vielmehr geht es um eine multiperspektivische Betrachtung des formulierten Themas, die mit Kontrastierung, Irritation oder Überraschung arbeitet. Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Der reflective film „Gewonnene Zeit“ (nicht gelistetes Video) der Studierenden (Religionspädagogik und Soziale Arbeit) Rick Beckmann und Juliane Eberhardt geht dem Thema des Wartens auf den Grund. Was machen wir, wenn wir warten? Nutzen wir die Zeit zum Innehalten oder tauchen wir ab in andere (digitale) Welten, haben wir das Warten in dieser beschleunigten Zeit vielleicht sogar verlernt? Diese als Essay angelegten Gedanken werden im Film mit Songtexten von Peter Fox‘ „Haus am See“ und Frank Sinatras „That’s Life“, welche selbst eingesungen wurden, in einen Dialog gestellt. Dieser Dialog gibt keine endgültige Antwort, sondern ist mehr ein Abbild des Such- und Reflexionsprozesses, den die Forschenden selbst in der Erarbeitung des Themas durchgemacht haben. Die Texte korrespondieren dabei mit Alltagssequenzen des Wartens und Nicht-Wartens, wie an einer Bushaltestelle, dem Moment vor Konzertbeginn oder auch dem Treiben auf dem Bahnhof. Im Sinne des „offenen Kunstwerks“ (Eco 1977) wird hier ein Raum zur weiteren Reflexion geöffnet, der die Zuschauenden im besten Fall anregt, erneut über die eigene Bedeutung zu dem dargebotenen Thema zu reflektieren.

Zwischen Prozess und Produkt

Der reflective film ist in erster Linie ein auf den Prozess ausgerichtetes Bildungsarrangement: Im Dreischritt ‚Sammeln – Sichten – Sortieren‘ reflektieren die Forschenden ihre eigenen Erfahrungen, kommen mit anderen darüber ins Gespräch und versuchen dieses Thema zu durchleuchten. Dabei nutzen sie meist auch Verfahren wissenschaftlicher Praxis wie das Recherchieren, Kategorisieren, Dokumentieren, Kommentieren und Analysieren (Kämpf-Jansen 2021: 267). Sie sind Forschende im besten Sinne. Für die begleitenden Praktiker*innen heißt dies: immer wieder Räume zu schaffen, in denen die Forschenden innehalten, auf ihr bereits erarbeitetes Material blicken, aber auch ihren Gruppenprozess besprechen und damit verbundene Herausforderungen klären können. Auch sind die Praktiker*innen der fremde Blick von außen, der den Forschenden nochmal eine neue, vielleicht noch unentdeckte Perspektive auf ihr Thema eröffnen kann.

Dennoch sollte das finale Produkt nicht unterschätzt werden, bietet es doch zweierlei: Auf der einen Seite ist es die Würdigung des Prozesses, in dem der fertiggestellte Film am besten groß über Beamer, Leinwand und mit gutem Sound der gesamten Gruppe vorgeführt wird. Auf der anderen Seite bieten die Filme Anlass, die Gruppe erneut zu befragen, was sie besonders an dem Film angesprochen habe, womit sie nach dem Film thematisch beschäftigt sind und ob sie Fragen an die Forschenden haben. So ist der reflective film im besten Wortsinn ein reflektierendes Moment, in dem er nicht nur die Forschenden zum Reflektieren anregt, sondern diesen Impuls auch reflektierend an die Zuschauenden weitergibt.

Zum Schluss: Der reflective film als niedrigschwellige und flexible Methode?

Anspruch dieses Konzepts ist es, etwas neben die eingangs erwähnten planungs- und zeitintensiven Verfahren der handlungsorientierten Filmpädagogik zu stellen. Ob dies wirklich funktioniert, muss sich weiter in der Praxis beweisen, jedoch sollte mit diesem Beitrag auf zentrale Aspekte hingewiesen werden, die bei diesem Konzept zu berücksichtigen sind:

  • Der Film soll hier als niedrigschwelliges Medium begriffen werden, für das keine Vollausstattung an professionellem Filmequipment nötig ist.
  • Die Vorproduktion ist keine Schreibtischarbeit, kein Ausbrüten von Ideen, sondern ein Entdecken von Themen in der Welt.
  • Das Thema eines reflective film ist subjektbezogen.
  • Das Konzept ist flexibel: Durch Einschränkungen in der Themenvorgabe, der Länge des Films (zum Beispiel maximal 60 Sekunden), der Vorgabe von Orten oder dem Filmen im Alltag, lässt sich der reflective film auch in Strukturen schulischer Bildung einsetzen.
  • Eine filmästhetische Vorbildung ist hilfreich, aber nicht ausschlaggebend, um an der Methode zu partizipieren.
  • Die Praktiker*innen sind in ihren Kompetenzen des Arrangierens, Animierens und Begleitens gefragt, weniger im Unterrichten oder Vermitteln.

Verwendete Literatur

  • Brohl, Christiane (2006): Andere Orte im öffentlichen Raum als Gegenstand ästhetischer Forschung. Ortserforschungen und Ortskonstruktionen (141-149). In: Blohm, Manfred/Heil, Christine/Peters, Maria/Sabisch, Andrea/Seydel, Fritz (Hg.): Über Ästhetische Forschung. Lektüre zu den Texten von Helga Kämpf-Jansen. München: kopaed.
  • Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Exner, Christian (2012): (Jugend-)Film in der Kulturellen Bildung. In: Bockhorst, Hildegard/Reinwand, Vanessa-Isabelle/Zacharias, Wolfgang (Hg.): Handbuch Kulturelle Bildung (524-530). München: kopaed.
  • Hickethier, Knut (2012): Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler.
  • Kämpf-Jansen, Helga (2021): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Baden-Baden: Tectum.
  • Niestyo, Horst (2006): Konzepte und Perspektiven der Filmbildung. In: Niestyo, Horst (Hg.): film kreativ. Aktuelle Beiträge zur Filmbildung (7-17). München: kopaed.
  • Nübel, Damaris (2024): Biografisches Schreiben in der Bildungsarbeit von Jugendfreiwilligendiensten. Didaktische und methodische Perspektiven. Wissensplattform Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/biografisches-schreiben-bildungsarbeit-jugendfreiwilligendiensten-didaktische-methodische (Letzter Zugriff am 29.10.2024)
  • Rieger, Phil (2024): Mit ästhetischer Forschung zum reflective film: Filmpraxis und Hochschule in Annäherung. In: Begemann, Verena/Goral, Anja (Hg.): Denn sie wissen, was sie tun. Sozialarbeitende in der Hospizarbeit und Palliativersorgung (61-75). Stuttgart: Kohlhammer.
  • Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen. Berlin: Suhrkamp.
  • Schneider-Landolf, Mina (2014): Thema. In: Schneider-Landolf/Spielmann, Jochen/Zitterbarth, Walter (Hg.): Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) (157-164). Götttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Spielmann, Raphael (2011): Filmbildung! Traditionen, Modelle, Perspektiven. München: kopaed.
  • Stiglegger, Marcus (2023): Film als Medium der Verführung. Einführung in die Seduktionstheorie des Films. Wiesbaden: Springer VS.
  • Strauch, Thomas/Engelke, Carsten (2019): Filme machen. Denken und produzieren in filmischen Einstellungen. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.
  • Wacker, Kristina (2017): Filmwelten verstehen und vermitteln. Das Praxisbuch für Unterricht und Lehre. Konstanz und München: UVK.
  • Weller, Klaus (2015): Film School. Filme machen mit Kindern und Jugendlichen. Köln: Herbert von Halem Verlag.

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Phil Rieger (2025): Filmemachen als Ich-Erfahrung: Das handlungsorientierte Konzept des reflective film. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/filmemachen-ich-erfahrung-handlungsorientierte-konzept-des-reflective-film (letzter Zugriff am 01.01.2025).

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