Facetten der Kooperation zwischen allgemein bildenden Schulen und Musikschulen
Wo chiemte mer hi // wenn alli seite // wo chiemte mer hi // und niemer giengti // fur einisch z'luege // wohi dass me chiem // we me gieng. (Marti 1984:23)
(Wo kämen wir hin, // wenn alle sagten, // wo kämen wir hin, // und niemand ginge, // um einmal zu schauen, // wohin man käme, // wenn man ginge)
Der Blick zurück
Kooperationen zwischen allgemein bildenden Schulen und Musikschulen hat es immer schon gegeben. Bereits Leo Kestenberg propagierte seine Vision einer umfassenden musikalischen Gesamtbildung für alle gesellschaftlichen Schichten: „In Schule und Leben bietet sich ein Bild der Zerklüftung, des Eigennutzes, der inneren und äußeren Desorganisation, ein unbeherrschtes Treiben und Sich-Treiben-lassen, das einer planvollen Zusammenfassung der Kräfte bedarf."(Kestenberg 2009:10) Der Begründer des Schulfachs Musik und Schöpfer des Musikstudienrates setzte sich also gleichsam für öffentlich-kommunale Musikschulen ein, um den Wildwuchs privater „Winkelschulen“ mit „Pfuschern und Scharlatanen“ (ebd.:60) einzudämmen und die unterschiedlichen Institutionen zu einem musikpädagogischen „Gesamtkonzept“ (Ehrenforth 2005:459) zusammenzuführen. Es sind „utopische und idealistische Energien“ (Richter 2008:159), die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein „Gesamtgebäude des Musiklebens“(ebd. :160) formten, an deren Umsetzung wir uns bis heute abarbeiten.
Auf der Kultusministerkonferenz wurden bereits 1967 „sachverständige Berater“ eingesetzt, die eine „Verbindung zwischen allgemeinbildenden Schulen und Musikschulen herstellen“ (Meyer-Clemens 2006:55) sollten. Eine inhaltliche Ausgestaltung erfolgte in einer ersten gemeinsamen Erklärung der musikpädagogischen Verbände VDS und VdM. Mit Nachdruck wurden „angesichts der schwieriger gewordenen Situation der Musikalischen Bildung“ weitere „Perspektiven gemeinsamen Handelns“ (Verband deutscher Musikschulen und Verband deutscher Schulmusiker 2001:28 und 1979:361 ff.) entwickelt, wie sie sich längst in den staatlich verordneten Landesmusikplänen der einzelnen Bundesländer widerspiegeln (Meyer-Clemens 2006:60). „Den Dialog suchen und gemeinsam handeln“ lautet es im Berliner Appell des Deutschen Musikrats. Leo Kestenbergs Anliegen sind es, die inzwischen in den unterschiedlichsten Schattierungen weiter ausdifferenziert und bis heute beständig reformuliert werden:
„Jeder Mensch muss, unabhängig von seiner sozialen und ethnischen Herkunft, die Chance auf ein qualifiziertes und breit angelegtes Angebot musikalischer Bildung erhalten." (Deutscher Musikrat 2012:5)
Klar scheint, dass einzelne Institutionen dieser Forderung nach einem nicht verhandelbaren Grundrecht auf eine umfassende musikalische Bildung nur begrenzt nachkommen können. Dieses Ansinnen „ist angewiesen auf außengestützte Maßnahmen, die mit der politischen Förderung der Familie und einem guten Angebot musikalischer Früherziehung in Musikschule und Kindergarten beginnen, sich dann in einer planvoll koordinierten Zusammenarbeit mit den Musikschulen fortsetzt und in der Erwachsenenbildung bis ins hohe Alter hinein endet." (Ehrenforth 2005:526) Deutlich wird, wie sich aus einer Vision inzwischen ein gemeinsames Anliegen aller Beteiligten herauskristallisiert hat, das sich nur ermöglichen lässt, wenn es gelingt, das „musikpädagogische Ressortdenken“ (ebd.) aufzubrechen: „Eine Intensivierung wird möglich durch ein verstärktes Zusammenwirken von schulischen und anderen Bildungsträgern nach dem Konzept der neuen Bildungslandschaften. Es geht um Kooperationen bzw. Zusammenarbeitsstrukturen zwischen allen Musikakteuren. Auch Kindertagesstätten, Orchester, Opern- und Konzerthäuser, Profibands, die Kirchen und Musikakademien wirken mit ihren Angeboten an dieser Aufgabe mit.“ (Deutscher Musikrat 2012:7)
Für und Wider
Ein Blick auf die bestehenden Kooperationen (wie sie beispielhaft als Sammlung von „Best-Practice-Modellen“ in Form einer Posterpräsentation von AfS, VDS und VdM unter: http://www.musikschulen.de/kooperationen/allgemeinbildende-schulen/index.html und http://www.afs-musik.de/projekte/ vorgestellt werden) bestätigt, dass diese im Alltag von Schulen seit vielen Jahren in den unterschiedlichsten Schattierungen fest etabliert sind. Längst verbietet es sich hier, von Einzelinitiativen mit Modellcharakter zu sprechen, feste Strukturen mit abgestimmten Organisationsmodellen in stabilen Beziehungen sind längst erarbeitet. Das Feld scheint bestellt und doch tauchen immer wieder Fragen nach der inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung sowie der schulrechtlichen Rahmung auf. Es sind Vermessungsaufgaben, hinter denen aber auch immer grundsätzliche Erwägungen, Konfliktpotentiale und Verlustängste hervor treten, die es erforderlich erscheinen lassen, sich den Chancen und Problemen der Kooperation immer wieder anzunähern:
- Die Verschiebung vom qualifizierten Instrumentalunterricht hin zum Klassenmusizieren wird ebenso wie die Verkürzung des Musikunterrichts auf das reine Musizieren mit Sorge betrachtet. Gängige Praxis ist, dass eine Chor- oder Orchesterklasse den Musikunterricht ohne Einbindung der curricularen Vorgaben ersetzt und auf eine Kompensation dieser Lehrplanamputation durch das Musizieren vertraut wird.
- Häufig entstehen Abgrenzungsbestrebungen aus Legitimationsdebatten: Ängste entstehen, dass Regelunterricht an den allgemein bildenden Schulen durch instrumentales Gruppenmusizieren durch (kostengünstigere) Musikschullehrkräfte ersetzt und gleichzeitig der instrumentale Einzelunterricht durch einen Gruppenunterricht im schulischen Rahmenprogramm ausgedünnt wird.
- Schulmusiker befürchten eine Übernahme ihrer individuellen Freiräume durch Musikschullehrer, gerade im AG-Bereich, in dem sie häufig ihre eigene vordringliche Bestimmung mit einer starken persönlichen Bindung zur Schülerschaft sehen.
- Ein Musikschulprogramm im Rahmen des Pflichtunterrichts des Ganztagsbereichs löst sich von der Freiwilligkeit des Bildungsangebots, mit seinen heterogenen Lerngruppen und dem befürchteten Desinteresse kann dieses in eine konsumorientierte Unverbindlichkeit münden. Wenn instrumental- und vokalpraktische Arbeit personelle Engpässe an Schulen überbrückt, wird im Rahmen einer solchen Mangelverwaltung das Fehlen der Fachlehrer erst gar nicht augenfällig.
Blickt man in die Praxis, so zeigt sich, dass es sich immer um komplementäre Angebote zweier gleichberechtigter Partner handeln muss, wenn Kooperation gelingen soll. Musikschulangebote können keine kompensatorischen Funktionen im Krisenmanagement des Fachlehrermangels übernehmen. Eine Intensivierung der musisch-künstlerischen Angebote findet nur ihren Niederschlag, wenn sie organisatorisch, institutionell und didaktisch methodisch in einem regulären Musikunterricht aufgefangen wird. Gerade im Zuge der bildungsbeschleunigten Ganztagsschulen, die bereits zu existenziellen Bedrohungen der öffentlichen Musikschulen und damit der musisch-kulturellen Bildung insgesamt führen, bieten Drehtürmodelle mit einem instrumentalen Unterricht im Vormittagsbereich, die im angelsächsischen Bereich schon weit verbreitet sind, auch den gebotenen Raum für eine instrumentale Spitzenförderung. „Spitze braucht Breite und Breite braucht Spitze. Oben und unten sind wechselseitig verbunden, ‚zirkulär abhängig‘. Und in diesem integrierten Fördersystem muß die Zeit institutionaler Eigenbrötlerei, muß der Eigensinn der ‚Jeder-für-sich‘-Attitüde vorbei sein, wollen wir die Herausforderungen unserer Zukunft meistern." (Bastian 1997:154)
Die befürchteten Konkurrenzsituationen entstehen gerade dann, wenn keine Kooperation erfolgt. Die von Heinz Antholz bereits geforderte „Abstimmung konkurrierender Bildungseinrichtungen“ (Antholz 1970:118) wird heute umso notwendiger, wenn man sich in die Situation eines leidgeprüften jugendlichen Instrumentalisten versetzt, dem man neben den erhöhten schulischen Anforderungen auch abverlangt, in sämtlichen Instrumentalgruppen seiner verschiedenen Bildungsanbieter mitzuwirken.
Schule und Musikschule: Gefangen in ihren selbstbezüglichen Systemen?
Woran liegt es, dass dieses „musikpädagogische Ressortdenken“ immer wieder aufs Neue aufgebrochen werden muss? In seinen Anweisungen Du mußt dein Leben ändern beschreibt Peter Sloterdijk ‚Kunst‘ und ‚Schule‘ als egoistische selfish systems, als selbstreferenzielle Systeme, die nur scheinbar (und wenn, dann eine institutionalisierte und daher unglückliche) eine Symbiose mit der ihnen umgebenden Welt eingehen:
"[Schule] verwandelte sich in ein selfish system, das sich ausschließlich an den Normen des eigenen Betriebs orientiert. Sie produziert Lehrer, die nur noch an Lehrer erinnern, Schulfächer, die nur noch an Schulfächer erinnern, Schüler, die nur noch an Schüler erinnern. […] Die Folge davon ist, daß in der zweiten, dritten Generation fast ausschließlich Lehrerinnen und Lehrer auftreten, die bloß noch die Selbstbezüglichkeit des Unterrichts zelebrieren. Selbstbezüglich ist der Unterricht, der stattfindet, weil es in der Natur des Systems liegt, ihn stattfinden zu lassen. Mit der Ausdifferenzierung des Schulsystems ist ein Zustand eingetreten, in dem die Schule ein einziges Hauptfach kennt, das ‚Schule’ heißt. Dem entspricht das einzige externe Unterrichtsziel: der Schulabschluß." (Sloterdijk 2011:684).
Als zweites selbstreferenzielles System macht Sloterdijk dann die „Kunst“ aus:
"Das Kunstsystem hat inzwischen unangefochten den besten Platz an der Selfishness-Sonne. Zwar hat Martin Heidegger in den dreißiger Jahren doziert, das Kunstwerk stelle eine Welt auf – zu ebener Zeit, als der Absturz der Kunst in pure Selbstreferentialität einsetzte: In Wahrheit denkt das Kunstwerk im selfish system der postmodernisierten Kunst nicht daran, eine Welt aufzustellen. Es präsentiert sich vielmehr als Zeichen dessen, daß es etwas vorstellt, was nicht auf eine Welt verweist: sein eigenes Ausgestelltsein. Das Kunstwerk in der dritten Generation der blinden Selfishness-Imitation hat alles, nur keinen expliziten Weltbezug. Was es aufstellt, ist seine manifeste Abgeschnittenheit von allem, was außerhalb seiner eigenen Sphäre liegt." (ebd:688)
Schule bildet einen in sich abgeschlossenen, sakralen Bezirk, in dem Schüler zwar für das Leben danach lernen sollen, Lehrerinnen und Lehrer aber oft nur auf die begrenzte, ihnen anvertraute Lebensphase der Lernenden blicken. Das trifft auch auf musikalische Bildung zu, wenn Lehrerinnen und Lehrer (nicht zuletzt zwecks eigener Profilierung) es versäumen dafür Sorge zu tragen, dass sich Schülerinnen und Schüler in einem Leben jenseits der Schule verwurzeln. (Siehe hierzu auch: Illich, Ivan (1972). Schulen helfen nicht – Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft: „Es gibt keinen Grund, aus dem wir die mittelalterliche Tradition fortsetzen sollten, derzufolge die Menschen für das ‚weltliche Leben‘ dadurch vorbereitet wurden, daß man sie in einem sakralen Bezirk einsperrte, mochte das nun Kloster, Synagoge oder Schule sein.") Der geneigte Leser mag nun prüfen, inwieweit die behauptete Selbstbezüglichkeit nicht nur das System Schule, sondern auch die Inhalte seines Unterrichts und sein Handeln als Musiklehrer innerhalb dieses Systems trifft. Wie findet sich sein Wirken in die Gesamtkonzeption von Schulentwicklung eingebunden und vernetzt? Können seine Anliegen zu gemeinsamen Anliegen aller gemacht werden oder bedient er ausschließlich das Rahmenprogramm im ästhetischen Separee für bildungsbeschleunigt-empfindsame Seelen und fungiert als schmückender Zeremonienmeister bei Schulfeiern? Ist er ein Teil des Ganzen oder bewegt er sich neben dem Trainingscamp des eingeschliffenen Fächersystems? Ist der musisch-verwandte Kooperationspartner womöglich deshalb ein gern gesehener Gast, weil einzig er seine Metiergeheimnisse teilt? Gilt es etwa, die defensive Position des eigenen Fachs durch gemeinsam verhandelte Kooperation in einer gesucht-selbstreferentiellen Isolation zu stärken?
Doch auch so manch ein künstlerisch wirkender Kollege muss sich fragen lassen, ob er in angemessener Weise wahrnimmt, was außerhalb seiner eigenen ‚Selfishness-Sonne‘ liegt. (In Erinnerung ist dem Verfasser hier das Radiointerview mit einem Cellisten, der über die offene, uneingeschränkte Berufswahl seiner Kinder spricht und ihnen nicht etwa nahelegt, Cellist zu werden, sondern für sie auch gänzlich andere Berufsfelder, wie den des Kirchenmusikers, des Komponisten oder gar den Werdegang eines Musikwissenschaftlers oder Schulmusikers in den Bereich des Möglichen zieht.) Der bei jeder Kooperation notwendige Sprung vom eigenen Selfishsystem ins andere ist für manchen schon mit Ernüchterung und Bedrohung, bis hin zur empfundenen Selbstaufgabe der hehren künstlerischen Ideale verbunden. Auch heute noch sind zahlreiche Bestrebungen kultureller Bildung der sozialromantischen Perspektive Kestenbergs anhängig, demnach kulturelle Teilhabe einzig eine vom Staat zu lösende finanzielle Frage darstellt: „Dem entspricht die Vorstellung einer ‚musikempfänglichen Masse‘, die danach zu lechzen scheint, eine ‚zeitgenössische‘ Oper zu hören." (Ehrenforth 2005:463) Bereits Kestenberg forderte eine „stärkere Nähe von Musik und (alltäglichem) Lebensvollzug" (ebd.:464). Wer heute in Projekte Kultureller Bildung hineinschaut, fragt sich so manches Mal, wie sich hier das Alltägliche spürt, wie eine verordnete Kunst sich in den gesellschaftlichen Lebensbezügen widerspiegelt, wenn sie etwa ohne Rücksicht auf kulturelle Identitäten Jedem Kind ein Instrument aus dem engen Repertoire der (west)europäischen Kunstmusik verleiht oder sich mit punktuellen Event-Begegnungen im Rahmen kultureller Bildungsprojekte zufriedengibt. Es sind gerade jene von Sloterdijk beschworene leere „selfish systems“ von Schule, die die ständigen Reform- und Innovationsbestrebungen ins Leere laufen lassen, weil sie einzig den eigenen Kräften vertrauen. Hilbert Meyer erinnert in diesem Zusammenhang an Münchhausen (vgl.: Meyer 1987:93), der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen mochte: „Schulen haben über Jahrhunderte, zum Teil über mehr als tausend Jahre eine curriculare und unterrichtsmethodische Kontinuität gewahrt." (ebd.:91) Bezüglich unserer Musikkultur ist es Karl Heinrich Ehrenforth, der einer hier gebotenen Öffnung mit seiner Frage, „ob unsere ganze Musikkultur nicht erheblich mehr Bodenberührung braucht, um nicht im esoterischen Nebel einer überholten Autonomieidee ganz zu verdampfen“ (Ehrenforth 2005:463f.) immer wieder aufs Neue Nachdruck verleiht.
Ohne Ziel gibt es keinen ‚richtigen‘ Weg
Ein bekanntes Sprichwort sagt sinngemäß: Wenn du nicht weißt, wohin du willst, ist jeder Weg der falsche. Um gemäß dem einleitenden Motto zu schauen, wie weit man käme, wenn man ginge, bedarf es gemeinsamer Strategien, um einzelne Maßnahmen zielführend aufeinander abzustimmen. „Schule“ und „Kunst“ haben hier längst den Weg aus der „Selfishness-Sonne“ gesucht, gerade das erfolgreiche Zusammenwirken zwischen den Systemen hat dazu beigetragen, die hier behauptete Selbstreferentialität aufzulösen.
Kooperationsprojekte sind dabei nicht einzig den Notwendigkeiten soziokultureller Veränderungen geschuldet, die sich aus der Kompensation unserer neuen Ganztagskulturen, einem Legitimationsdruck durch leere öffentliche Kassen und der damit in Frage gestellten „Freiwilligkeitsleistung“ der Kommunen oder aus dem Mangel an ausgebildeten (Schul-)Musiklehrern ergeben. Ihre Legitimation ergibt sich vielmehr aus inhaltlich begründeten Paradigmenwechseln, die sich bereits innerhalb der bestehenden Systeme gebildet haben und die zu grundsätzlichen Neuorientierungen herausfordern:
- Im schulischen Musikunterricht wird dem Musizieren ein breiterer Raum eingeräumt, das Gefälle von praktischem Musizieren und dem Kreideunterricht in der allgemein bildenden Schule scheint aufgehoben: Auch hier sind es die eigenen, sinnlichen Begegnungen im Hören und Musikmachen, die theoretisch überfrachtete Papieranalysen verdrängt haben und den Ausgangspunkt für die vielfältigen musikalischen Handlungsformen im Unterricht bilden.
- Eine verstärkte Schulautonomie gebietet es, die erweiterten Handlungsspielräume im Sinne einer Öffnung nach außen zu nutzen. Dies trägt jener Entwicklung Rechnung, dass sich unser Bildungswesen mehr und mehr dezentral gestaltet und die Situation der Einzelschule in den Blick nimmt (Lehmann-Wermser/Naacke/Nonte/Ritter 2010:80). Die entstehenden Freiräume – etwa auch durch verschiedene Modelle der Personalbudgetierung und speziellen Förderprogrammen einzelner Bundesländer – können im Sinne einer Profilierung genutzt werden. Auch innerhalb ihres eigenen Systems löst Schule die starren Strukturen des reinen Klassenunterrichts mehr und mehr auf. Es entstehen durchlässigere Modelle mit flexibleren Stundentafeln mit größeren Entscheidungsspielräumen für individualisiertes Lernen: Das Erstellen von Förderkonzepten wie Drehtürmodelle, Begabtenförderung und Förderunterricht steht auf jeder Agenda der eigenen Schulentwicklung und öffnet auch in den musischen Fächern Räume für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten.
- Längst haben sich die Musikschulen mit ihren offenen Bildungsansätzen den Zielsetzungen allgemein bildender Schulen angenähert: Sie definieren sich nicht mehr vornehmlich durch einen instrumentalen Einzelunterricht für die gutsituierte bildungsbürgerliche Mittelschicht, sondern übernehmen durch ihre musikalische Breitenarbeit verstärkt eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Diese in den VdM-Musikschulen schon immer verankerten Zielsetzungen öffnen sich damit gerade auch jener Klientel, die bisher ausnahmslos über die allgemein bildenden Schulen zu erreichen war.
Kooperationen und Zusammenarbeitsstrukturen
Insgesamt fehlt es jedoch noch an einer theoretischen Fundierung und begrifflichen Bestimmung, was unter Kooperationen und Zusammenarbeitsstrukturen genau verstanden werden soll. Unterrichtskonzepte (hierzu etwa Arendt 2009), organisatorische Hilfen (Verband deutscher Musikschulen 2005), eine umfassende empirische Forschung (vgl. Meyer-Clemens 2006 sowie exemplarisch für die inzwischen reichhaltig dokumentierte JeKi-Forschung: http://www.jeki-forschungsprogramm.de/publikationen/) und ausdifferenzierte Best-Practice-Beispiele (vgl. Naacke 2011 sowie Jäger 2012) liegen hier zwar bereits vor, häufig ist jedoch von einem besonderen, geheimnisvollen Schlüssel die Rede, der auf lokale Besonderheiten abhebt. Die vorgestellten Beispiele verstehen sich als individuelle Lösungen von unten, die sich aus personellen Ressourcen, regionale Besonderheiten und schulorganisatorischen Rahmenbedingungen der einzelnen Partner bedingen und die in einem hohen Maße vom persönlichen Engagement der jeweiligen Protagonisten und deren Individualkonzepten getragen werden. Es sind gerade diese starken Bindungen an Personen und Persönlichkeiten, die sich unter dem Mantel der passgenauen Schulentwicklung verstecken. Die Tragfähigkeit dieser Strukturen kann sich hier immer erst erweisen, wenn personelle Zuständigkeiten wechseln, wenn ein gründungsenthusiastischer Flow dem Blick auf die eigene Mehrbelastung weicht und sich die institutionellen Rahmungen ihrer Standfestigkeit erweisen müssen.
Hilfreich ist hier auch ein Blick von oben, der die institutionellen Bedingungen, das womöglich (noch) differierende Berufsverständnis der verschiedenen musikpädagogischen Professionen und all jenes in den Blick nimmt, was unter dem schillernden aber noch wenig ausdifferenzierten Begriff Kooperation verstanden werden kann. Letzteres gilt im Besonderen, wenn Kooperation in Abgrenzung von Koordination, Integration und Harmonisation betrachtet wird (vgl. Lilge 1981). Im Bereich der kommunalen Jugendarbeit scheint der Begriff zwar weitaus gründlicher ausgearbeitet (vgl. Schlippe/Schweitzer 2009, Schweitzer 2002, Schweitzer 1998), die Schwierigkeit, ein allgemein akzeptiertes theoretisches Begriffsverständnis zu entwickeln, wird jedoch auch hier beklagt (Grunwald 1981:72ff.). Oft wird der Begriff in den Pleonasmus „kooperative Zusammenarbeit“ gekleidet, etwa zur Bezeichnung gemeinsamer sozial-ethischer Normen, internalisierten Einstellungs- oder Erwartungshaltungen, Strukturprinzipien zur Gruppenorganisation oder zur allgemeinen Kennzeichnung von Interaktionsformen verwendet. Diese Mehrdeutigkeit zieht sich auch durch musikpädagogische Veröffentlichungen, sie trägt einerseits zur Vielfalt der Strukturen des Zusammenwirkens bei, andererseits führt dieses zu Unübersichtlichkeiten und Missverständnissen, die sich auch durch eine inhaltliche Argumentation tragen. Umso wichtiger erscheint es daher, den Kooperationsbegriff in seinen verschiedenen Modellierungen exakter zu bestimmen und vor diesem Hintergrund sein Potential genauer zu entfalten.
Additive Kooperationen: Ein vermessenes Feld mit marginalem Grenzverkehr
Im weitesten Sinne wird der Begriff „Kooperation“ zur Zeichnung gemeinsamer sozial-ethischer Normen und einer damit verbundenen generellen internalisierten Einstellung- bzw. Erwartungshaltung benutzt (ebd.). Unterschiedliche Institutionen verfolgen demnach ein gemeinsames Ziel, ohne dass sie unmittelbar in Interaktion treten müssen. Es sind additive Prozesse, die in einem freundlich gestimmten Nebeneinander oder auch in konkurrierend ablehnender Distanz passieren können. Letztere beruht womöglich auf Feindbildkonstruktionen und Mystifizierungen, die sich oft in der eigenen Biographie begründet finden. Wechselseitig verzerrende Wahrnehmungen mit gegenseitigen Inkompetenzunterstellungen erleichtern es, die Gründe für eine misslingende Arbeit in den Schwächen des Partners zu suchen. Zudem sind beide musikpädagogischen Professionen von einem hohen Individualismus geprägt: Zur Berufskultur des Lehrers gehört geradezu das „gezielte Nebeneinanderherarbeiten sowie Nichteinmischung in die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen" (Terhart 1996:463), für Instrumentalpädagogen gehört eine besondere Kultur der Nähe und zu individuellen, einmaligen Lernprozessen zum ausgemachten Berufsethos des instrumentalen Einzelunterrichts. Was sich im Lehreralltag – etwa im Zusammenhang mit Kooperationen im Rahmen der Jugendhilfe und Sozialarbeit – als Problem erweisen kann, verstärkt sich, wenn sich hier Protagonisten aus dem gleichen fachlichen Feld begegnen. Für Schulmusiker und Instrumentalpädagogen gilt, dass immer auch ein erhebliches Risiko des Scheiterns besteht. Gerade aufgrund der hohen persönlichen Eingebundenheit in die Sache und vor dem Hintergrund der Unwägbarkeiten von Unterrichtsprozessen ist jede Kooperation riskant und stellt auch eine potentielle Bedrohung dar. Die Folge sind Abschottungsstrategien, die sich nur auflösen lassen, wenn sich beide Berufsgruppen offen begegnen und direkt miteinander interagieren.
Additive Kooperationen zwischen Schule und Musikschule hat es immer schon gegeben: Es wäre keine Arbeit im Schulorchester möglich, wenn Schülerinnen und Schüler nicht eine qualifizierte Ausbildung jenseits ihres schulischen Musikunterrichts erhielten und Instrumentallehrer darauf vertrauen dürften, dass Schülerinnen und Schüler im allgemein bildenden Schulunterricht für das Erlernen eines Instruments interessiert würden. Hier greifen spieltheoretische Konzepte der Kooperation, die beschreiben, wie der Erfolg des Einzelnen nicht nur von eigenem Handeln, sondern auch von Aktionen anderer abhängt (vgl. Axelrod 2000). Die Spieltheorie versucht auch jenes rationale Entscheidungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen zu beschreiben, die in der Literatur auch als „Gefangenen-Paradigma“ (Reber 1981) bezeichnet werden, es gilt die unausgesprochene Strategie „tit for tat“, grob mit „Wie du mir, so ich dir“ zu übersetzen; Schädigungen wie Wohltaten sollen mit gleichem vergolten werden. Dieses „Leben und leben lassen“ funktioniert so lange, wie wohlwollendes Entgegenkommen mit einem ebensolchen beantwortet wird, ohne sich dabei mit dem gegenseitigen Bedingungsgefüge des Anderen auseinanderzusetzen oder direkt in Interaktion treten zu müssen. Wird eine gebotene Nachsichtigkeit nach opportunistischem Verhalten allzu strapaziert und das Zutrauen in das Gegenüber gemindert, führt dies zu Handlungen, die letztlich zu gegenseitigen Beeinträchtigungen führen.
Es sind hier unterschiedliche Aufgaben mit einer gemeinsamen Zielgruppe, die durch ergänzende Angebote in getrennten Institutionen mit selbstständigen, unterschiedlichen Handlungsfeldern wahrgenommen werden, ohne dass die Partner dabei in eine direkte Interaktion und in ein neues System eintreten müssen. Dabei ist es nicht von Belang, ob dieser Unterricht nun in den Räumen der Schule oder der Musikschule stattfindet. Auch ein Instrumentalunterricht, der eine vom Musiklehrer geführte Orchesterklasse flankiert, kann in diesem Sinne als additives Angebot ohne personalkooperatives Tun verstanden werden, bei dem die institutionell gegebenen Rahmenbedingungen nicht verlassen werden müssen. Der Instrumentalpädagoge versteht sich hier lediglich als zuarbeitendes Fachpersonal, der die Voraussetzung für die eigentliche Bestimmung einer Orchesterklasse herstellt. Durch dieses Nebeneinander, das immer noch von gegenseitigen Abgrenzungen, die in vermutet unterschiedlichen Zielvorgaben angelegt sind, geprägt wird, ergeben sich dann leicht Konfliktpotentiale, wenn auf beiden Seiten standardisierte Handlungsabläufe und didaktische Konzepte in starren Ritualen und festgefahrenen Routinen aufeinander treffen und die Wirksamkeit des eigenen Handelns für das fremde System nicht unmittelbar spürbar ist.
Zu den in der Spieltheorie nicht beachteten Voraussetzungen gehört der von Georg Friedrich Wilhelm Hegel verhandelte Aspekt der Anerkennung: Kooperation ist nur in einem Raum von wechselseitiger Anerkennung in gemeinsam geteilten sozialen Beziehungen wirksam möglich, wenn es gelingt, die Perspektiven des anderen zu den eigenen zu machen: „Die Anerkennung des Selbstbewußtseins besteht darin, daß jedes dem anderen dasselbe ist, was es selbst [ist], ebendies, für das andere zu sein, weiß und somit in dem von ihm verschiedenen sich selbst anschaut." (Hegel 1970:79) Aus diesem Grund sind es gerade die personellen Bindungen und persönlichen Kontakte, die den Ausgangspunkt für gelingende Projekte bilden.
Synergetische Kooperation: Eins und eins macht drei
Kooperation im engeren Sinne liegt vor, „wenn zwei Personen unterschiedliche individuelle Handlungsziele haben, sie diese Handlungsziele bzw. die damit verbundenen Planungen und Ausführungen aber partiell oder phasenweise aktiv miteinander koordinieren müssen. Es gibt also neben den individuellen Handlungszielen der Kooperationspartner ein übergeordnetes Kooperationsziel." (Pleiss 2003:78) Synergetische Kooperationen führen im Gegensatz zu einem sich additiv ergänzenden Zusammenwirken der einzelnen Protagonisten zu einer gänzlich anderen Systembildung. Etwas Neues wird geschaffen, welches durch die einzelnen Partner nicht möglich wäre. Hierzu gehört etwa ein gemeinsamer, gleichberechtigt und gemeinsam geführter Unterricht in einer Orchesterklasse, die Einbindung des Instrumentalunterrichts in die gemeinsame Orchesterstunde (etwa nach der Rolland-Methode) und das Tandem-Modell im Jeki-Kontext. In der Praxis zeigt sich jedoch oft, dass auch hier Routinen des instrumentalen Einzelunterrichts – wie etwa ein auf künstlerische Individualität abgerichtetes Meister-Schülerprinzip – bereits im Anfangsunterricht auf Gruppenkontexte übertragen werden, ohne dass Schüler hier die Möglichkeit erhalten, aufeinander zu hören, sich gegenseitig zu verbessern und damit untereinander in Interaktion zu treten. Das Ergebnis ist dann häufig ein Einzelunterricht in der Gruppe, der letztlich zum Scheitern verurteilt ist.
Spätestens diese gemeinsame Systembildung, die in ihrer wesentlichen Bestimmung über den instrumentalen Einzel- oder Gruppenunterricht hinaustritt, fordert eine gemeinsame Aus- und Fortbildungsstruktur. Doch wie kann hier an gemeinsamen, tragfähigen Konzepten gearbeitet werden, wenn bereits die Ausbildung in getrennten Systemen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten verläuft? An Musikhochschulen begegnen sich Instrumentalpädagogen und zukünftige (Schul-)Musiklehrer zwar unter einem Dach, die Ausbildung findet häufig noch in separierten Systemen statt. Mögliche Berührungspunkte und Synergien werden dabei kaum genutzt, Doppelqualifizierungen bilden unter den Studierenden eher die Ausnahme als die Regel. (Einen möglichen Weg, instrumentalpädagogische Aspekte an die pluralen Handlungsformen des allgemein bildenden Musikunterrichts anzubinden, bietet sich den Detmolder Studierenden im „Studienfeld Klassenmusizieren“; vgl. hierzu Nimczik 2005) An universitären Standorten finden derartige Begegnungen häufig gar nicht statt, selbst wenn hier im Einzelfall eine Zusammenarbeit mit (Fach-)Hochschulen, die aus Konservatorien hervorgegangen sind, durchaus möglich wäre und auch ihre Relation zueinander – unbeirrt des herkömmlichen Zielsystems, des Ausbildungs- und Berufsverständnisses – neu diskutiert werden müsste. Das Berufsbild des Musikschullehrers ändert sich gravierend. Während sich aus der Ausbildung im Bereich der Rhythmik und Elentaren Musikpädagogik bereits gute Voraussetzungen ergeben, stellt sich die Situation im instrumentalpädagogischen Bereich – der ohnehin für viele Studierende als in Kauf zu nehmende Notlösung für eine gescheiterte Orchesterkarriere angesehen wird – noch anders dar: „Im Bereich der Instrumentalpädagogik unterrichten von ihrer beruflichen Sozialisation immer noch im Wesentlichen Künstler mit der Befähigung zum Einzelunterricht." (Jäger 2012:198f.) Hier zeigt sich, „dass es hier größere Lücken in der pädagogischen Ausbildung gibt (ebd.:13) Bedarf es, um Kestenbergs Visionen weiter zu verfolgen, eines „integrierten Musikpädagogen“, der Musik „als Musiker verkörpert, diese mit ihnen aktiv betreibt und sie zuletzt aber auch zusammen mit den Kindern intellektuell reflektiert und durchdringt?" (ebd.:200) Wie unterscheidet sich dieser vom bisherigen Musikstudienrat? Wie können sich die institutionellen Eigenlogiken und Handlungsrealitäten der verschiedenen Institutionen gegenseitig befruchten? Für einen integrierten konzeptionellen Ansatz bedarf es mehr als ein einträchtliches Zusammenwirken der Musikpädagogen verschiedener Professionen. Für eine bewusste Ausgestaltung bedarf es einer Kooperationskultur, die das ganze System ‚Schule‘ einbezieht, diese nicht als unveränderbaren eisernen Käfig, sondern als eine gestaltungsfähige aber auch gestaltungsbedürftige und daher als ‚lernende‘ Institution betrachtet.