Everything is connected - Wissen verbinden durch transnationales Lesen lernen
Abstract
In ihrem digitalen Austauschprojekt Everything is Connected haben sich junge Künstler:innen aus Windhoek und Hamburg digital vernetzt, um sich - ausgehend von ihrem gemeinsamen kolonialen Erbe - darüber auszutauschen, was sie heute verbindet. Sie mussten erkennen, dass das kolonial fortgeführte, global-eurozentristische Wissen ein abgründiges und beschränktes ist (Sousa Santos), welches auf einer gestatteten Ignoranz (Gayatri Chakravorty Spivak) beruht. Zudem saugt das World Wide Web wie ein Parasit die menschliche Vorstellungskraft aus. Denn: Das Web nährt sich auch von diesem dominierenden Wissen, welches Zugänge verwehrt und ‚anderes‘ Wissen vereinnahmt. Ferner suchen diese jungen Menschen des Projekts eine andere Positionalität in der Welt, in der alles miteinander verbunden und vernetzt ist. Innerhalb dieser wird es möglich, situiertes Wissen (Haraway) und Praktiken zu reaktivieren, um damit Wissen zu pluralisieren (Ndikung). Das bedeutet auch nicht-koloniale/ nicht-globale/ ‚andere‘ Wissenspraktiken in das globale Wissen zu transferieren. Dafür gilt es ein Denken in Verbindung zu üben.
Mit dem Konzept der transnational literacy von der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Spivak begibt sich die Autorin des Artikels auf die Suche nach der Möglichkeit eines machtkritischen Umgangs mit Wissen: Ein Wissen, das verbindet. Unsere Vorstellungskraft kann lernen, im Erkenntnishorizont eines ‚Anderen‘ mitzuspielen. Eine Lesart, die weder ignoriert, noch vergleicht oder vereinnahmt, sondern die lernt der Pluralität von Stimmen und Texten zuzuhören. Eine Lesart, die sowohl in unübersetzbaren Unterschieden einen Wert findet als auch lernt, von ‚unten zu lernen‘.
Mein Beitrag beschreibt eine (weitere) Möglichkeit eines machtkritischen Umgangs mit Wissen als Wissen, das verbinden kann. Zu diesen Möglichkeiten möchte ich ein paar Überlegungen im Verlauf des Beitrags zusammentragen.c Ich möchte damit insbesondere Theoretiker:innen und Praktiker:innen Kultureller Bildung adressieren, die Wissen und Macht in Bildungsprozessen infrage stellen wollen. Meine Überlegungen kontextualisiere ich mit aktuellen Diskursen um postkoloniale Ansätze in Kultureller Bildung (vgl. u.a. Castro Varela/Haghighat 2023; Spivak 2012).
Knowledge metaphor: Globale Maiskolben
Zum Einstieg möchte ich die Leser:innen auffordern mitzudenken: Zuerst möchte ich Sie bitten eine Notiz aufzuschreiben: Nehmen Sie einen kleinen Zettel und schreiben Sie auf der einen Seite ein Wort, mit dem Sie ‚begrenztes‘, ‚kolonial fortgeführtes‘, ‚global-eurozentristisches‘ Wissen assoziieren. Dann drehen Sie den Zettel um und schreiben auf der anderen Seite ein Wort, mit dem Sie ein ‚verbindendes‘, ‚vernetztes‘, ‚verknüpftes‘ Wissen verbinden. Bewahren Sie den Zettel auf, Sie können ihr Denken am Ende dieses Artikels in einen Wissenspool einspeisen.
Weiter möchte ich Sie einladen, eine Metapher mit mir herzustellen (auf die mich Vanessa Andreotti (2011) gebracht hat). Lassen Sie dazu vor Ihrem inneren Auge folgende Bilder erscheinen (oder lesen Sie erst den Text und schließen dann die Augen zum Vorstellen): Stellen Sie sich ein reifes Maiskolben-Feld vor; Ernten Sie diese Maiskolben in Ihrem Feld; Entfernen Sie dann die Blätter um die Kolben herum und legen Sie alle Maiskolben vor sich auf den Boden; Dann machen Sie ein Foto von Ihren Maiskolben; Jetzt (erst nachdem Sie sich dies vorgestellt haben!) vergleichen Sie die Maiskolben auf dem Bild in Ihrem Kopf mit dem Foto am Ende dieses Artikels. Die multi-farbenen Maiskolben wachsen und sind erwerbbar in vielen Teilen Lateinamerikas. In Ihrem Kopf waren diese jedoch höchst wahrscheinlich gelb und uniform. Was wissen Sie über Maiskolben? Welches Wissen ist das?
Diese Maiskolben-Metapher kann dazu dienen, die Kolonialisierung unserer Vorstellungswelt zu veranschaulichen. Sie zeigt recht eindeutig die Institutionalisierung des globalen hegemonialen Eurozentrismus des westlichen Denkens und Erkennens. Selbst wenn Sie vielfarbige Maiskolben schon einmal gesehen haben, oder sogar öfter sehen, stellen Sie sich den Maiskolben in der Regel einheitlich gelb, also normiert vor. Es ist angelerntes, historisch tradiertes Wissen.
Was es im übertragenen Sinne bedeutet, sich hauptsächlich gelbe und uniforme Maiskolben vorzustellen (vorstellen zu können), möchte ich mit einer Erweiterung der Metapher verdeutlichen, in der die Maiskolben zu handelnden Subjekten werden. Mit Bezug zu Andreotti (2011) lassen sich mit dieser Metapher mehrere Handlungsaspekte benennen:
- Sie zeigt erstens die Tendenz gelber Maiskolben sich als Norm zu sehen und somit vielfarbige Maiskolben als mangelhaft (Defizit der Differenz). Dies kann das Begehren gelber Maiskolben hervorrufen, den vielfarbigen zu helfen auch gelb zu werden (Bevormundung).
- Sie zeigt zweitens die Tendenz gelber Maiskolben, die Farben anderer Maiskolben als oberflächlich anzusehen, nach dem Motto ‚im Kern sind wir doch alle gleich‘ (Entpolitisierung und Ahistorisierung). Dies erlaubt den gelben Maiskolben ihre eigenen kulturellen Wurzeln zu vergessen und ihre Substanz als geltend für alle anderen zu projizieren (Universalisierung und Überlegenheitsvorstellungen).
- Sie zeigt drittens die Tendenz zahlreicher vielfarbiger Maiskolben, aufgrund einer kontinuierlichen Behandlung als mangelhaft, sich selbst auch als solches wahrzunehmen und gelb werden zu wollen (verinnerlichte Unterdrückung).
- Sie zeigt viertens die Tendenz einiger vielfarbiger Maiskolben ihre Farbe zu bekräftigen und sich den Dominanzbestrebungen gelber Maiskolben zu widersetzen. Dominanzkritik kann durchaus erfolgreich sein, zeigt aber als reine Kritik keine wirklichen Alternativen zu Ethnozentrismus und Hegemonie auf. (Vgl. Andreotti 2011:4f)
- Sie zeigt darüber hinaus die Tendenz einiger gelber Maiskolben die vielfarbigen Maiskolben interessant zu finden, sich ihre Eigenschaften und ihr Wissen anzueignen, um sich selbst zu bereichern (kulturelle Aneignung). Oder sie idealisieren die Art der vielfarbigen Maiskolben, in dem Sinne, dass sie alles besser machen und wissen würden (Romantisierung), jedoch lediglich mit dem Ziel durch Alternativen das Eigene zu kritisieren (Vereinnahmung).
Diese hier aufgeführten Aspekte sind u.a. die potenziellen Ursachen für die Schwierigkeiten, die eurozentrisch Wissende beim Aufbau ethischer Solidaritäten mit ‚Anderen‘ und ‚anderem‘ Wissen haben. Es gilt diese kolonial tradierten und seit Jahrhunderten gefestigten Denk-Tendenzen immer wieder in eigenen Denkprozessen des Wissensaustausches zu überprüfen und zu durchbrechen. Erst dann lohnt es sich für Wissenstransfer in globalisierten Verhältnissen zu arbeiten. Erst dann lässt sich in globalisierten Verhältnissen an einem machkritischen und gleichberechtigenden Wissenstransfer arbeiten.
Sie fragen sich vielleicht: Vielfarbige Maiskolben aus Mexiko? Im Abstract zum Artikel stand doch, die Autorin veranschaulicht ihre Überlegungen an einem kulturellen Jugend-Austauschprojekt zwischen Windhoek und Hamburg!
Auch wenn Mexiko und Namibia geographisch weit entfernt voneinander liegen, so lässt sich aus globaler historischer Perspektive schnell der Bogen spannen: Bleiben wir bei dem gelben, uniformierten Mais, der als er die gedankliche Diversität in Menschenköpfen verdrängte, auch die pflanzliche in den Erdböden als Monokulturen implantierte. Die Ökologie und ländliche Ökonomie vieler Staaten Afrikas, auch Namibia, wurde monopolisiert mit gelbem Mais, der heute tatsächlich die weltweit meistproduzierte Getreidesorte ist. Die meist benutze Begründung, nämlich Hunger zu beseitigen, war kontraproduktiv, weil sie besonders für diese Regionen ökologie- und klimazerstörend waren und sind (vgl. Sodi e.V.:1). In der Kolonialzeit wurde der vorkoloniale Getreideanbau von sehr nahrhafter und dürreresistenter Hirse vom Maisanbau abgelöst, denn die Kolonialverwaltung kaufte die Maisernte ab, so dass dieses Getreide bevorzugt von der Landbevölkerung angebaut wurde - auch um koloniale Steuerforderungen erfüllen zu können. Hirseanbau hingegen wird bis heute oft als rückständig abgetan. Die Nachteile von Maisanbau sind jedoch offensichtlich, denn Mais enthält nur wenige Nährstoffe und laugt die Böden aus (vgl. Schäfer 2002:33). Heute werden diese Hinterlassenschaften zusätzlich von Global Playern wie Monsanto fortgesetzt. Sie exportieren inzwischen gentechnisch manipuliertes Saatgut in allerlei Länder, was bedeutet, dass andere Maissorten weltweit effektiv reduziert werden (vgl. Arbino 2018). Das ist das Erbe der Kolonialzeit.
Aus postkolonialer Theorieperspektive lässt sich deswegen die Globalisierung als Fortschreibung der Kolonialisierung charakterisieren (vgl. Spivak 1999:1). Aníbal Quijano (2016) hat dieses Phänomen unter dem Begriff der ‚Kolonialität‘ begreifbar gemacht. Die ‚Kolonialität des Wissens‘ ist mitnichten Vergangenheit, sie ist kontemporär und beeinflusst unsere Wahrnehmung, Affekte und unser Denken (vgl. Castro Varela 2017:9). Die epistemische Gewalt, die sie vollzieht, produziert und verbreitet universalisiertes und hegemoniales Wissen, wobei sie gleichzeitig ‚anderes‘ Wissen (in Europa nicht-begrüßtes Wissen) löscht (vgl. Heinemann 2020:207). Bis heute wertet hegemoniales Wissen „bestimmtes Wissen als ‚wissenschaftlich, legitim, wahr, notwendig, wissenswert‘ […] andere [sic] als ‚unwissenschaftlich, spekulativ, spirituell/Aberglaube, nice-to-have‘“ (ebd.). Boaventura de Sousa Santos nennt dieses Phänomen ‚Epistemizid’ (vgl. Sousa Santos 2014) - die Zerstörung von Wissen, die in der kolonialen Vorherrschaft mit den grausamen Genoziden an indigenen Völkern begonnen hat: „the destruction of the knowledge and cultures of these populations, of their memories and ancestral links and their manner of relating to others and to nature.“ (Sousa Santos 2016:18)
Santos analysiert ein ‚abgrundtiefes Denken‘ (vgl. Sousa Santos 2014:118) und eine ‚epistemische Blindheit‘ (ebd.:136) modern westlicher Wissensproduktion, die gewaltvoll zahlreiche Sprachen und damit verbundene Vorstellungen von Welt und Praktiken des Lebens vernichtet (hat) (vgl. Castro Varela 2017:9). Dies geschah mit rationalem Wissen der Aufklärung, weshalb postkoloniale Theoretiker:innen, wie Spivak, ein ambivalentes Verhältnis zur Aufklärung haben (vgl. Spivak 2012:3f). Die humanistische Bildungstradition, in der sich auch Kulturelle Bildung verortet (vgl. Castro Varela/Haghighat 2023:16), eignet(e) sich paradoxerweise zur Legitimierung der Auslöschung ‚anderen‘ Wissens. Ngũgĩ wa Thiong’o veranschaulicht diese Prozesse anhand seiner eigenen Schulbildung, wobei er seine eigene Sprache Gĩkũyũ (in der er später publizierte) ab Eintritt in die Kolonialschule nicht mehr sprechen durfte: „The language of my education was no longer the language of my culture.“ (1986:11) Die Kolonialpädagogik war ‚sanft‘ gewaltvoll (im Vergleich mit brutaler physischer Gewalt der Gewehrkugeln), d.h. das Sprechen der eigenen Sprachen wurde mit Rohrschlägen bestraft, während das Schreiben und Sprechen der Kolonialsprachen mit Preisen, Prestige und Applaus belohnt wurde. Sprache war das Mittel der spirituellen Unterwerfung, wie Thiong’o folgerichtig vermerkt und deshalb dafür plädiert, dass es wichtig sei, in den afrikanischen Vernakularsprachen zu schreiben, die eben auch andere Imaginationsmöglichkeiten enthalten (vgl. ebd.:9ff). Obwohl Thiong’o und andere afrikanische Literat:innen schon in den 1980er Jahren im Zuge anti-/dekolonialer Bewegungen immer wieder dazu ermahnten, bestehen bis heute in vielen afrikanischen Staaten die ehemaligen Kolonialsprachen als offizielle Landessprachen. Zusätzlich erobert Englisch als ökonomisches globales Kapital den Sprachduktus der jüngeren afrikanischen Generationen. Das koloniale Erbe wirkt nach und ist Teil der gegenwärtigen Globalisierung.
Connected heritage: Das eigene Nicht-Wissen erfahren
Das koloniale Erbe war Ausgangsthema des Austauschprojekts Everything is Connected (EiC) von vier Namibischen jungen Künstler:innen und fünf Hamburger jungen Künstler:innen unter Leitung von den Tänzer:innen Sarah Lasaki aus Hamburg und Gift Uzera aus Windhoek. Dieses dreimonatige Jugendprojekt wurde von Claude Jansen kuratiert und fand im Rahmen des queerfeministischen Ateliers COME IN TENT statt, das in transnationalen künstlerischen Zusammenhängen prekoloniale Praktiken und Raubkunstgegenstände zusammenbringt. Die in diesem Artikel eingebrachten Erkenntnisse und Aussagen basieren auf Interviews, die ich als forschende Begleitung mit den Projektmitwirkenden geführt habe. In der Gemengelage vermehrter postkolonialer Projekte im Kunstbetrieb und in der Kulturellen Bildung (vgl. Castro Varela/Haghighat 2023:13f) widmet sich EiC der geteilten kolonialen Geschichte zwischen Deutschland und Namibia: „The goal is to display our connected history, what connects us today and how a decolonial future could look like.“ (Projektwebseite EiC) Die jungen Künstler:innen mussten dabei (teilweise schockierend) feststellen, dass die Auswirkungen der Kolonialzeit noch bis heute in die Gesellschaften und auch in das individuelle alltägliche Leben hineinwirken.
Einer der deutschen Jugendlichen erzählt im Gespräch seine Erfahrung mit dem Austausch und der Recherche zur Kolonialzeit: „Mein ganzes Leben war nur fake news, weil ich nicht gewusst habe, dass es so etwas [Kolonialität und Rassismus in ehemaligen Kolonien wie Namibia] noch gibt, ich dachte, so etwas gibt es nicht mehr“, und dann weiter: „Wenn ich nicht den Kontakt [zu ‚echten‘ Menschen nach Namibia] gehabt hätte, vielleicht hätte ich das meinen Kindern auch so weiter erzählt, Lüge halt“ (Auszug aus Gruppendiskussion, 09.01.23). Er beschreibt dabei den Schock, den er erlebt hat, als er seinem eigenen ‚Nicht-Wissen‘ - also systematisch ausgegrenztem Wissen - begegnet. Das Wissen, welches viele von der Kolonialzeit und der fortgeführten Kolonialität haben, ist sporadisch und geprägt von einer „asymmetrischen Ignoranz“ (Castro Varela/Heinemann 2016:19).
Die Menschen des Globalen Nordens kultivieren ein Unwissen gegenüber dem Globalen Süden, das nicht nur gestattet, sondern sogar belohnt wird, da es „die eigene Position der Macht stabilisiert“ (Castro Varela 2007). (Die Bezeichnungen ‚Globaler Norden‘ und ‚Globaler Süden‘ beziehen sich dabei nicht auf geographische Markierungen, sondern, angelehnt an Stuart Hall, geht es um ein diskursiv erzeugtes Konstrukt des Westens, dass sich überlegen und abgrenzend zum ‚Rest der Welt‘ präsentiert und darin wirkmächtig ist (vgl. Heinemann 2020:208)). Es ist nicht einfach ein Nicht-Wissen, sondern systematisch geschaffenes Nicht-Wissen, eine Einfalt und Verharmlosung, die die Überlegenheit des Globalen Nordens sichert (vgl. Castro Varela 2016:62). Gerade, wenn Monumente und Erinnerungsorte der Kolonialzeit in Windhoek und in Hamburg kritisch angeschaut werden (die selten als ‚problematisch‘ gekennzeichnet sind), wird klar, dass Menschen beider Orte auf diese Art und Weise des Nicht-Wissens miteinander verbunden sind.
In der konkreten Projektpraxis von EiC begann die künstlerische Recherche zu historischen Verbindungen der beiden Orte über eine kurze Internetrecherche zu Kolonialdenkmälern der jeweiligen Stadt (die Jugendlichen in Namibia befragten auch ältere Menschen aus ihrer Umgebung). Anschließend machten beide Gruppen je einen Stadtrundgang zu ausgewählten Orten und dokumentierten die gemachten Erfahrungen mit Video, Foto und Audioaufnahmen. Die Recherche fand ohne thematische Vorbereitung und Begleitung seitens der künstlerischen Leitung statt, damit die Jugendlichen ihre eigenen Erfahrungen mit dem oben beschriebenen Nicht-Wissen machen konnten. In der nächsten wöchentlichen Zoom-Konferenz zeigten sich die beiden Gruppen ihre Rechercheergebnisse und kamen dabei in einen intensiven Erfahrungsaustausch. Sie stellten über die Recherchematerialien Verbindungen her - sowohl zwischen konkreten Orten als auch zwischen ihren Erfahrungen. Beispielsweise bemerkten sie, dass sich Straßennamen zwischen Windhoek und Hamburg decken (u.a. Goethestraße, Feldstraße, Moltkestraße). Außerdem beschrieben beide Gruppen einen jeweiligen Kirchenbesuch als nachwirkend:
Die Hamburger Jugendlichen besuchten die St. Michaelis-Kirche (Michel) und untersuchten die dort vorhandene Gedenktafel für alle gefallenen deutschen Kolonialsoldaten in Namibia und Tansania. Sie fanden dort keinen Hinweis der deutschen Verantwortung für den Genozid an den Herero und Nama. Trotz großer Kritik gibt es an diesem Denkmal heute keine deutliche Abgrenzung der von Kaiser Wilhelm errichteten Gedenktafel zum Gedenken an die Opfer des deutschen Kolonialismus. An diesem Beispiel erlebten die Jugendlichen die bis heute fortwirkende einseitige Erinnerungspraxis. Die Namibischen Jugendlichen besuchten die Christuskirche im Zentrum von Windhoek, zu der ihnen (als Schwarze Jugendliche) jedoch ein anwesender Kirchenwärter den Zutritt verwehrte, mit dem Argument, er wisse nicht, was sie in der Kirche wollen würden. Zudem weigerte er sich ebenfalls auf Fragen der Jugendlichen zur Geschichte der Kirche zu antworten. An diesem Beispiel erlebten die Hamburger Jugendlichen ihr eigenes Nicht-Wissen über alltägliche Rassismuserfahrungen Schwarzer Jugendlicher in ihrem eigenen Land. Die Konfrontation mit den zum Alltag der Namibischen Jugendlichen gehörenden Diskriminierungen war für sie ein erhellender Moment, denn „sie haben das erste Mal eine Kausalität zwischen Rassismus und Kolonialgeschichte herstellen können“ (Interview Jansen), so die Beobachtung der Kuratorin Jansen.
Ein erster Schritt zur Veränderung dieses Nicht-Wissens in den vorhandenen Verbindungen des kolonialen Erbes können kulturelle Austauschprojekte wie EiC sein, die sich auf eine gemeinsame Reise begeben und sich den ‚Gespenstern der Vergangenheit’ stellen, „die unser Denken [bis heute] umlagern“ (Castro Varela 2017:10), wie María do Mar Castro Varela in Bezug auf Avery Gordon (2008) empfiehlt. Es ginge dabei um eine methodologische Praxis der „[t]ransformative[n] Anerkennung […] im Gegensatz zu einem ‚kalten Wissen‘“ (ebd.). Ähnlich formuliert es Gift Uzera des EiC-Projekts im Interview: „I think it takes a while to unpack the aftermath of colonialism especially with our history. It’s everyday, it’s still here, people are still oppressed… colonized […] and it’s very hard to unpack. But I think it’s possible through projects like this where you become aware to things like racism and […] inequalities in our communities and society […]. So I guess, it starts there with the individual, educating and becoming aware of what effects them and […] how do you flip the script.“ (Interview Uzera, 06.02.23).
Für Kulturelle Bildung bedeutet diese ‚Umschreibung des Drehbuchs’ ihren Wissenstransfer postkolonial zu gestalten. Konkret bedeutet dies vermehrt Projekte umzusetzen, in denen sich Menschen des Globalen Nordens und Globalen Südens persönlich und an konkret erlebten Beispielen zur gemeinsamen Vergangenheit und dann einer gemeinsamen veränderten Zukunft austauschen können - in denen sie über die Vorstellungen übereinander nachdenken und zu einer Welt miteinander finden können, indem sie mehr nachhaltige Verbindungen schaffen.
Digital connection: Haben Sie sich (schon) zugeschaltet?
‚Connect‘ heißt ja nicht nur ‚verbinden‘, sondern auch ‚vernetzen‘ und ‚zuschalten‘. Die Möglichkeiten der technologischen Vernetzung wurden, wie viele seit dem regelrechten Digital-Boom seit der Pandemie erleben, auch von den jungen Everything is Connected-Künstler:innen als „Fluch und Segen“ und als „Sein und Schein“ (Auszug aus Gruppendiskussion, 09.01.23) beschrieben. Die Zoom-Video-Konferenz bot für das EiC-Projekt die bevorzugte Plattform mit der Möglichkeit der Verbindung mit Menschen von unterschiedlichen Orten der Welt: „We are sitting on different spaces on world, but we can be in one space using this tool, it’s immediate, now-now“ (Interview Uzera, 06.02.23). Der zeitgleiche Videocall als direktes Austauschformat ohne sichtbare Speicherung von Daten wurde von den Jugendlichen als ein Raum erlebt, in dem sie sich relativ authentisch bewegten. Der dadurch ermöglichte Kontakt mit ‚echten‘ Menschen begünstige, ihrer Meinung nach, ‚anderes‘ Wissen und ‚andere' Erfahrungen zu erlangen, als wenn sie z.B. eine Fernseh-Reportage angeschaut hätten. Teilweise wurde der digitale gemeinsame Raum sogar als immersiv erlebt: „you forget that there is a screen because there is a person speaking to you and somehow you become connected“ (Interview Uzera, 06.02.23). Diese digitale Verbindung braucht also den Menschen und real erlebte Erfahrung als Basis, die mit einem digitalen Werkzeug hergestellt und fortgeführt wird. Die Ambivalenz zwischen Distanz und Nähe die in der Art der Verbindung mitschwingt, zeigt sich in einem Moment des Austauschs, bei dem die Jugendlichen in Erfahrungsberichten sehr emotional (mitfühlend) wurden und der Computerscreen den Wunsch nach körperlicher Nähe arg begrenzte: „Es war total besonders zu beobachten, dass die Jugendlichen in dem Moment des emotionalen Austausches total nah an den Computer ran gerückt sind, sie haben die nächstmögliche Nähe gesucht, aber da gemerkt, wie begrenzt der Raum war“ (Interview Jansen).
Hinzu kommen in Kauf zu nehmende technische Störungen - ‚are you there?‘, ‚do you hear me?‘ (das klingt beinahe nach Gespenster heraufbeschwören). Insbesondere sollte sich ein digitales Vermittlungsformat den ‚Gespenstern‘ der globalen digitalen Vernetzung aus einer postkolonialen Betrachtung herausstellen. Den jugendlichen EiC-Künstler:innen ist es durchaus bewusst, dass das Internet oft genug ausgenutzt wird, um Menschen zu schaden und wird deshalb auch als „Angst einflößend“ (Auszug aus Gruppendiskussion, 09.01.23) bezeichnet. Nanjira Sambuli ist Kritikerin der Digitalisierung aus einer postkolonialen Perspektive und prangert immer wieder an, dass es ein Effekt des Internets ist, die bestehenden Ungleichheiten zu verschärfen. Es bestünden nicht nur ungleiche Zugänge zum Wissen im Internet durch unterschiedliche Infrastruktur, sondern auch Ungleichheiten in Bezug zur Ausbildung digitaler Kompetenzen. Gerade in der in diesem Artikel betrachteten Verbindung von Globalem Norden und Globalem Süden sind Möglichkeiten nicht nur anders, sondern oft ungleichheits- und ungerechtigkeitsproduzierend. Im EiC-Projekt wurden Ungleichheiten im Bezug zu materiellen Möglichkeiten bestätigt und versucht, durch Umverteilung von Ressourcen auszugleichen (z.B. Finanzierung von Datenvolumen). Digitale Kompetenzen waren hingegen gleich verteilt, wenn nicht sogar auf namibischer Seite besser ausgebildet durch erhöhte Nutzung des Internets. Wie dies in der konkreten Praxis auch sei, sind weltumspannende Machtverhältnisse und problematische Arbeitsbedingungen der Technologieherstellung bei den Argumenten für eine digitale Nutzung einer postkolonialen Kulturellen Bildung grundlegend mitzudenken. (Vgl. Sambuli 2021:98)
Für den hier besprochenen digitalen Wissenstransfer aus postkolonialer Perspektive gilt es über die Frage nach technologisch bedingten Ungleichheiten hinaus auch die Substanz des dort gespeicherten Wissens über andere Menschen in der Welt zu betrachten. Denn als Wissensspeicher befragen heute bereits Kleinkinder das Internet, wenn Erwachsene es ihnen nicht gleich erklären können (‚Mama, dann google das doch‘). So auch ein Jugendlicher aus dem EiC-Projekt: „Ohne google hätte ich auch gar nicht gewusst wo ich denn hingehen soll, um mir selber neues Wissen über Namibia anzueignen, weil es ist ja auch nicht gerade ausgeschildert in Hamburg, was ist jetzt Kolonialzeit, wo kann ich mir Dinge darüber angucken, wo kann ich mir Wissen darüber aneignen; das mussten wir halt alles googeln“ (Auszug aus Gruppendiskussion, 09.01.23).
Was alles ‚weiß‘ das Internet? Was alles weiß es nicht? Was soll es nicht wissen? Was wollen Privilegierte (nicht), dass es weiß? (Neuerdings auch zu fragen: Was weiß die KI (nicht)?).
Das Wissen im Internet ist gespeichertes Informationswissen, das von der dort vorhandenen Informationssteuerung und den gespeicherten elektronischen Daten abhängt. Der Effekt dieses Wissen ist nach Nina Grünberger (2021:214f) die Reproduktion von einseitigem Wissen, von Vorurteilen in Such-Algorithmen sowie rassistischen und Gender Bias. Diese Weiterführung epistemischer Gewalt sollte, so Grünberger, medienpädagogisch mitbedacht werden (vgl. ebd.:219). Denn Bildung, schreiben Castro Varela und Alisha M.B. Heinemann, sollte nicht nur Informationslücken schließen, sondern als postkolonial informierte Pädagogik die erwähnte Ignoranz, das Nicht-Wissen, fokussieren (vgl. Castro Varela/Heinemann 2016:19). Die Möglichkeiten des World Wide Web scheinen, unter dieser postkolonialen Perspektive, eher schädlich für ein neu zu verbindendes Wissen zu sein. Denn das Internet bleibt ein Parasit für die menschliche Vorstellungskraft, die darin ein faustisches Versprechen sieht, wie Spivak sagt (vgl. Spivak 2012:25). „Information command has ruined knowing and reading. Therefore we don't really know what to do with information. Unanalyzed projects come into existence simply because information is there” (ebd.:1). Dieses Informationswissen nährt sich von einem eurozentristischen, sprich begrenzten Denken. Eine ästhetische Erziehung, wie sie Spivak versteht, sollte die Vorstellungskraft - mitsamt Wahrnehmung, Affekten und Intuition - darauf vorbereiten nicht-binär zu denken. Insofern eignet sich das Digitale nur bedingt für einen komplementierenden Wissensaustausch, der „das Ästhetische [benötigt], auch weil es sich nicht digitalisieren lässt, insoweit es einer binären Logik widerspricht.“ (Castro Varela/Haghighat 2023:16)
Um Wissen zu verbinden, um digitalisiertes und globalisiertes Wissen umzuformen, ist das Internet also begrenzt, auch wenn es gleichzeitig für internationale kulturelle Bildungsprojekte die Chance bietet, sich über einen längeren Zeitraum immer wieder zu verbinden. Aus den Erfahrungen des EiC-Projekts lässt sich unterstreichen, dass es erstens ‚echte‘ Menschen sein sollten, die sich virtuell vernetzen und persönlich austauschen, und zweitens dass sich bestenfalls diese Personen zuvor auch real treffen (welches bisher in dem Projektbeispiel nicht möglich, aber erwünscht, war): „So for me it was also very interesting creating that connection through technology and feeling like that you are in the same space […] [but] there is a different energy when you meet somebody in person […] but when you created a bonding you can empathize with them when they tell their story“ (Interview Uzera, 06.02.23).
Was für eine spezifische Lesart wird gebraucht, um sich Lebensgeschichten zu erzählen und dafür die (er)möglichen(den) globalen und digitalen Verbindungen zu nutzen? Wie lässt sich die darin stattfindende Wissensproduktion verändern, und wie lässt sich der Wissenstransfer post-/dekolonial gestalten?
Spivaks Formel für eine ästhetische Bildung im Zeitalter der Globalisierung lautet: „aesthetic education as training the imagination for epistemological performance“ (Spivak 2012:197). Kulturelle Bildung in globalisierten und digitalisierten Verhältnissen sollte aufgrund der Begrenztheit der Verbindung mit anderen Menschen darauf achten, die Imaginationskraft zu erweitern. Kulturelle Bildung sollte ein Training sein für die Vorstellungskraft, um das Epistemische zu verändern. Die globalen und digitalen technischen Möglichkeiten sollten als Aufforderung verstanden werden, neue Wege des Denkens und der Erkenntnisgenerierung zu performen, anstatt sie nur als Möglichkeit zu sehen sich zuschalten zu können und über sie nachzudenken: „Epistemological performance is to construct objects of knowledge differently“ (Spivak im Interview mit Rafaty 2014), „as a demand of new ways of thinking [...] not just new things to think about“ (Spivak 2010). Der Wissenstransfer Kultureller Bildung wird aus einer postkolonialen Perspektive dezidiert nach den eingeschriebenen Herrschafts- und Machtstrukturen befragt. Kulturelle Bildung verliert nicht einfach durch die (bloße) Hinwendung zu ‚anderem‘ Wissen und Postkolonialismus ihren vorherrschenden eurozentristisch-begrenzten Impetus. Es bedarf nicht nur einer Erweiterung „um postkoloniale Blicke und Stimmen“ (Castro Varela/Haghighat 2023:15), die scheinbar neuerdings im Kunstbetrieb und in Kultureller Bildung nicht mehr herauszuhalten sind, wie Castro Varela und Haghighat feststellen. Die hierbei meist stattfindende kulturelle Aneignung ‚anderer‘ Wissensformen und Lebenspraxen sind diesem Impetus sogar eingeschrieben. Liebe Leser:innen, denken Sie an die gelben Maiskolben, die sich für die vielfarbigen nur aus dem Grund interessieren, da sie ihr monotones Gelb bereichern. Derzeitige Debatten um Kolonialismus in der Kunst bleiben unter der kritischen Perspektive von Castro Varela und Haghighat „non-performativ“ (ebd.), d.h. solange sie nicht die Begehren der Kolonialisierenden in den Blick rücken, sind postkoloniale Stimmen nur instrumentalisiert. „Bekenntnisse bleiben Bekenntnisse, sie zeitigen keine transformativen Effekte“ (ebd.:23).
Um wirkliche Transformationen zu bewirken, wurde auch das dreimonatige (Pilot-) Projekt EiC als zu kurzweilig erlebt. Kulturelle Bildungsprozesse sollten also längerfristig angelegt werden, die leider in den typischerweise oft kurzen Projektcharaktern vieler derzeitiger Förderstrukturen gerade keine Kontinuität erleben. Dennoch gab es im EiC-Projekt mindestens drei Aspekte, die hinsichtlich transformativer Effekte und eines Trainings der Vorstellungskraft zur Veränderung der Verhältnisse - im Sinne Spivaks - hervorzuheben sind: Erstens wurde die Reflexion von tradiertem kolonialen Wissen in der inhaltlichen Ausrichtung bekräftigt; Zweitens lag der spezifisch künstlerische Zugang zum Austausch auf dem Schwerpunkt Tanz/ Körperarbeit, womit auch Körperwissen in der Vermittlung eine wichtige Rolle spielte (s. nächster Abschnitt); Und drittens sollte ein kollaboratives Arbeiten der Tendenz der Instrumentalisierung entgegenwirken. Die Vorstellungskraft wurde durch Denkexperimente verbindenden Wissens herausgefordert, die in einem künstlerischen Entwurf einer kollaborativen Internetplattform skizziert wurden (zurzeit wird für eine Veröffentlichung noch nach Finanzierung gesucht). Es erwuchsen Ideen für eine utopische Stadt aus Windhoek und Hamburg, dessen koloniales gemeinsames Erbe langsam von der Natur und einer sehr freien Gesellschaft überwuchert wird. Dafür wurde ein Oberflächendesign für eine interaktive, digitale Plattform konzipiert. Der digitale Raum diente hier als Werkzeug für eine künstlerische Veranschaulichung einer gemeinsam entworfenen Utopie in der alles connected ist: Wie würde eine Welt, ein Ort auf dieser Welt, aussehen, in der/dem diverse Praktiken und Wissen gleichberechtigt miteinander verbunden sind? Ein Ort, der es schafft, die Verbindungen des historisch gemeinsamen Erbes der Kolonialzeit sowie die heutigen digitalen Verbindungen neu, gleichberechtigt, solidarisch, ethisch verantwortlich miteinander zu verknüpfen. Eine neue Realität in einer verbundenen Traumstadt ‚Win-Ham‘: „It’s a dream city where you would like to live.“ „It’s a mixture of all our cultures together, all our different backgrounds come together and all of us come to this nice green space, a lot of trees, a lot of animals, more natural, making it more human, […] So we try to design this city as a world more inclusive for everyone, no gender bias, you’re just free to be a human being, you know, like, all of us are equal, there is no hierarchy […] here is nice utopia“ (Interview Uzera, 06.02.23).
Intention und Ziel dieser Plattform war, dass die einzelnen Skizzierungen der Oberfläche angeklickt werden können und sich dahinter Beispiele in Form von Videomitschnitten, Bildern, Textausschnitten etc. ansammeln, die einen Beitrag zu einer transformativen Austauschpraxis für eine gemeinsame Veränderung der kolonialen Verbindungen leisten. Eine solche Plattform könnte nachhaltig genutzt werden zur Anregung und Unterstützung von kulturellen Bildungsprozessen in verschiedenen (außer-) schulischen Projekten, die sich dadurch ebenfalls miteinander vernetzen können.
Everything is connected: Wie sich verbinden?
Um ein kolonial geprägtes, global universalisiertes und dichotomes Denken, ein Denken in Differenzen und Trennungen zu überwinden, schlägt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung vor Epistemologien zu pluralisieren. Er greift damit auf Sousa Santos Postulat der ‚globalen kognitiven Gerechtigkeit‘ (vgl. Sousa Santos 2014:133) zurück, bei der es dann Ndikung darum geht, „nicht nur die Diversität von Epistemologien anzuerkennen, sondern sich auch allen Bestrebungen zu ihrer Vereinnahmung zu widersetzen.“ (2018:32) Nach dem Künstler und Kurator können Wissensformen in allen möglichen Medien diese Epistemologien erweitern und vervielfältigen. Gerade diese Vielfalt an medial-künstlerischen Vermittlern ermögliche dem rationalen - zur Auslöschung ‚anderen‘ Wissens tendierenden - Denken der Aufklärung etwas entgegenzusetzen: „den menschlichen Körper, Musik, Formen des Geschichtenerzählens, gemeinsam essen, unterschiedliche performative Formen, z.B. Tanz, Theater, darstellende Kunst und Performance“ (ebd.).
Die jungen Künstler:innen des EiC-Projekts suchen innerhalb solcher künstlerischer Ausdrucksformen den Austausch, wobei sie sich über verschiedene künstlerische Praktiken verbinden. Schwerpunkt des Austausches war Tanz und das dazugehörige Körperwissen. So war auch schon in den anfänglichen Vorstellungsrunden die Musik- und Tanzvorlieben Thema möglicher Verbindungen, wobei hier unterschiedliches Praxiswissen mitgebracht wurde (Hamburg: Urban/Hip-Hop und Voguing; Windhoek: Pantsula), welches auch immer gleich (mit dem Körper) gezeigt wurde. Technisch wurde dieser auf ‚den ganzen Körper‘ konzentrierte Austausch per Videokonferenz durch einen an den Laptop an geschlossenen Beamer unterstützt, so dass die gemeinsame Tanzpraxis mit lebensgroßer Videoprojektion erlebt werden konnte.
Die Gruppen gaben sich gegenseitig im Wechsel regelmäßig einmal die Woche vierstündige Tanzworkshops per Videobeamer und lernten so jeweilige Tanzpraktiken mit den dahinterstehenden Wissens- und Lebensformen. Am Ende eines jeden Workshops stand ein gemeinsamer Abschluss mit dem Tanz einer gleichen Choreografie. Die zeitgleiche Tanzpraxis stellte ein Gruppengefühl trotz digitalem Interface her. Die Tanzformen waren darüber hinaus Embodiment- und Empowermentpraktiken, die bestimmte Lebensgefühle und -einstellungen vermittelten. So wurde beispielsweise die queer-maskuline Tanzart Voguing getanzt und darüber entstand zwischen einigen queeren Gruppenmitgliedern ein Austausch zum Thema von gelebter Queerness in beiden Ländern. Oder es wurde der urbane Widerstandstanz im südlichen Afrika Pantsula vermittelt, über den geschichtliches und kulturelles Körperwissen leiblich erfahren wurde.
Zusätzlich nahmen die Jugendlichen ihren Alltag per Video auf (‚A Day in my life’), die sie sich gegenseitig zuschickten. So knüpften sie persönliche Verbindungen über Messenger und den wöchentlichen Videokonferenzen, bei denen sie in den Pausen teilweise auch gemeinsam aßen. Verbindungen wurden nicht nur über Themen gesucht, sondern immer wieder und gerade auch durch gemeinsame körperliche Erfahrung. Unter dem Motto ‚Everything is connected‘ suchen sie dabei nach einer anderen Positionalität in der Welt, in der alles miteinander verbunden und vernetzt ist, trotz vermeintlicher Trennung: „Also wir haben ja quasi einen Einfluss auf alles und deswegen sind wir auch mit allem verbunden, denn egal was wir tun, wir bringen also… wir haben einen Einfluss auf diese Welt.“ (Auszug aus Gruppendiskussion, 09.01.23) Innerhalb dieser Sichtweise wird es möglich, ‚situiertes Wissen‘ (vgl. Haraway 1988) und Praktiken zu reaktivieren, um damit Wissen zu pluralisieren. Donna Haraway entwickelte das Konzept des ‚situierten Wissens‘ aus der Perspektive einer feministischen Erkenntnistheorie, die Wissen als immer historisch und kulturell spezifisch sowie stets an Subjekte gebunden und in ihnen verkörpert definiert. Situiertes Wissen kritisiert damit die herkömmliche Annahme wissenschaftlicher Objektivität als neutrales, standort- bzw. körperloses und universales Wissen. Situiertes Wissen hingegen ist dadurch nicht einfach relativistisch, sondern standpunkttheoretisch immer konstruiert und kontingent (vgl. ebd.:578f). Damit situiertes Wissen nun nicht einfach singular bleibt, braucht es eine Verbindung zu weiteren situierten Kontexten und Erfahrungen (vgl. Kolb 2022:41). Die Grundlagen für eine Unterhaltung und Übersetzung solle nach Haraway jedoch nicht einfach pluralistisch sein, sondern auch und gerade machtsensibel (vgl. Haraway 1988:589).
Haraways Bestimmung eines situierten Wissens ist insofern für Überlegungen zum verbindenden Wissen wertvoll, als dass dieses als unvollständiges, widersprüchliches Wissen in der Lage ist, partielle Verbindungen herzustellen (vgl. ebd.:589,586). Diese „webs of connection“ (ebd.:584) bezeichnet Haraway als Solidarität und geteilte Unterhaltung, „tuned to resonance“ (ebd.:588) und nicht auf Dichotomien eingestimmt. Partielles Wissen, nicht als Relativismus, sondern zugunsten von Verbindungen, um diese überhaupt möglich zu machen (vgl. ebd.:590). Die Verbindung zu situiertem Wissen ist also geradezu Voraussetzung für die Art von feministischer Objektivität, die Haraway formuliert: „to learn how to see faithfully from another’s point of view“ (Haraway 1988:583) mit dafür benötigten spezifischen Seh- und Lebensweisen. Um Wissensproduktion gleichberechtigter zu gestalten, ist es offensichtlich sinnvoll, Sichtweisen unterhalb der ‚brillanten Weltraumplattformen der Mächtigen‘ (vgl. ebd.) einzunehmen. Allerdings sei zu beachten, so Haraway, dass ‚von unten‘ zu sehen (und zu leben) nicht so einfach und unproblematisch möglich ist, noch, dass die Positionierungen der Unterworfenen ‚unschuldig‘ seien. Hingegen bedürfen diese auch einer kritischen Überprüfung und Dekonstruktion (ebd.:584) - wie ich zu Anfang dieses Artikels mit den Tendenzen von Romantisierung, Aneignung und Vereinnahmung als Unterwerfungspraktik des kolonialen Wissens schon erläutert habe.
Situiertes Wissen kann sich außerdem öffnen für Wissen, das sich aus einer miteinander verknüpften materiell-semiotischen Welt entfalten kann (vgl. ebd.:585). Dazu müssen die wissenden Subjekte sich mitten zwischen die Objekte des Wissens begeben, da alle aktiv am Wissensproduktionsprozess beteiligt sind (vgl. ebd.:593f). Um allerdings überhaupt in der Lage zu sein, ein solches Wissen zu produzieren, ist es, nach Spivak, erforderlich, sich als Mensch in einer anderen Position auf dem Planeten einzufühlen. Den Planeten bewohnen die Menschen nur auf Kredit. Er ist etwas völlig anderes, als der Globus mit den Daten auf den Computern und Servern, die die Menschen zu kontrollieren meinen. Der Mensch muss seine Beziehung zur planetischen Alterität überdenken. Das kann auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden, aber schließlich, so führt es Spivak an, bedeute es sich auf den ‚Anderen’ zu beziehen, Mensch zu sein und somit gehört Alterität zum Menschsein dazu. Indem wir uns jedoch als planetische Subjekte anstatt als globale Akteur:innen vorstellen, ließe sich der:die ‚Andere‘ nicht mehr als dialektisch negativer Gegensatz zu einem selbst fassen, sondern wir sind umfangen vom planetischen ‚Anderen‘. Wir Menschen können uns die Erde selbst z.B. als eine Spezies der Alterität vorstellen, sprich als ein (Lebe-)Wesen, dass auch wir sind. Dies ist eine Fürsprache für eine geteilte, kollektive Verantwortung gegenüber dem Planeten-Anderen, dafür ethische Verbindungen zu erfinden, trotz mannigfaltiger und widersprüchlicher Positionierungen innerhalb. Wichtig dabei ist, dass diese Form von Erfahrung immer eine geheimnisvolle und diskontinuierliche bleibt, eine Erfahrung des Unmöglichen, so Spivak (vgl. 2013:45ff).
„Ich schlage deshalb vor, daß sich sowohl der dominante als auch der untergeordnete Teil der Menschheit gemeinsam als von einer planetischen Alterität intendiert und sich als von ihr gleichsam aufgerufen neu denkt, obwohl dieses Denken und Handeln sich von unterschiedlichen ‚kulturellen’ Perspektiven her artikuliert. Was hier neu ist, ist, daß der dominante Teil sich neu definiert, um von ‚unten’ her Lernen zu lernen“ (ebd.:79).
Das Gefühl zu haben, ein aktiver Bestandteil des gesamten Planeten zu sein, ist für Spivak die Voraussetzung für ein ‚Lernen von unten‘ und damit ein „Prinzip der Haltungsänderung“ (Heinemann 2020:209). Spivaks Konzeptmetapher „zu lernen, von unten zu lernen“ (Spivak 2008:50) ist eine ihrer Variationen des zurzeit in Debatten um Kunst und Postkolonialismus geläufigeren Konzepts des ‚Ver-Lernens‘ (siehe Jocelyne Stahl: Wessen Wissen zählt? Ausstellungen als Orte von Wissenstransfer und Praktiken des Verlernens.) Bei beiden geht es darum, Abstand zu nehmen von (eigenen) Überlegenheitskonstruktionen (vgl. Heinemann 2020:210) und der Vorstellung von „AktivistInnen der Metropole, die glauben, dass sie alles aufs Genaueste wissen können, wenn sie nur ausreichend Informationen gesammelt haben“ (Spivak 2008:51). Heinemann interpretiert Spivaks Konzept des ‚learning from below’ dahingehend, die eigenen Überzeugungen loszulassen, „Sich-selbst-in-Frage-Stellen“ (2020:214) und „sich bewusst darauf auszurichten, von der Praxis des/der Anderen zu lernen“ (ebd.:209). ‚Lernen, von unten zu lernen‘ sind „Praxen des ‚Sich-selbst-Zurücknehmens‘, des ‚Zuhörens‘, des ‚zwanglosen Teilens‘ und der ‚Übernahme von Verantwortung‘ und dies alles gerahmt von dem Ziel einer gerechteren Moderne“ (ebd.). Spivak könnte mit ‚von unten lernen‘ durchaus die unterdrückte, kolonialisierte und subalterne Position meinen - zumindest eine Position, die sich unter dem Niveau der Aufklärung befindet (vgl. 2012:4), wobei sie dieses ‚below‘ teilweise auch unzureichend empfindet und es z.B. mit dem Präfix ‚ab‘ von ‚ab-use‘ und des darin enthaltenen Handlungsvermögens erweitert (vgl. ebd.:11).
Im Zuge meiner Überlegungen lässt sich dieses ‚unten‘ auch darauf beziehen, die durch das Vernunftdenken tradierte Kopf-Körper-Trennung zu überwinden. Den Körper als Ganzes in unser Denken und Wissen einzubeziehen, heißt auch, die Vielfalt von Mimik und Gesten sprechen zu lassen, das Bauchgefühl nicht zu übergehen und den inneren Kompass zu kennen.
Wie schwer dies gerade akademisch denkenden Menschen fallen mag, erprobten wir auf der 14. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung 2023 „Experiment Wissen. Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung gemeinsam gestalten“ in dem Transferlabor von Anja Salzer „Multisensorische transdisziplinäre (Wissens-)Kommunikation menschlicher und nicht-menschlicher Entitäten in planetarischen Verflechtungen“. Dort versuchten die Teilnehmenden sich innerhalb von zwei Stunden auf eine Reise nach ‚unten‘ zu begeben: Aufgabe war erst unsere Aufmerksamkeit dem Hören zu widmen, dann ganz leise zu gehen, und schließlich ‚unsere Füße zu Ohren werden lassen‘. Eine Übung, die häufiger praktiziert vielleicht weniger verrenkt aussehen könnte.
Nach Spivak müsste für ein wirkliches ‚Lernen, von unten zu lernen‘ Geduld und Ausdauer mitgebracht werden. Denn für sie ist hier nicht einfach eine Bewusstseinsbildung notwendig, sondern eine „patient epistemological care“ (2012:519). Dieser Transferprozess des Sich-Veränderns kann in der Regel aufgrund der historisch gewachsenen sozialen Grenzziehungen nicht so einfach gelingen. Gemeinsam kochen und essen wäre (s.o. Ndikung 2018:32) ein Anfang, oder wie Spivak ihre Formel ‚cooking the soul with slow learning’ passend formuliert: „What we have to do is that real knowledge [against pure knowledge management] depends on cooking your soul with slow learning, not the instant soup of a one sized fit soul tool kit“ (Spivak 2017).
Das ‚Lernen, von unten zu lernen', hat auch viel zu tun mit dem, was Spivak unter dem Begriff der „transnational literacy“ (Spivak 1992:16, Herv.i.O.) bespricht. Diese transnationale Lesart, die es zu erlernen gilt, bedeutet mit Diana Brydons (2004) Interpretationen von Spivaks Idee, global zu denken, aber weg von der eurozentristisch-hegemonialen Weise oder der US-amerikanischen melting-pot Idee. Es sei ein Denken gegen den Strich, von dem, was wir denken zu wissen und nicht zu wissen (2004:83). Eine transnationale Lese- und Imaginationspraxis, die nicht einfach zu Relativismus führt, sondern eine ‚doppelte Anerkennung‘ übt, so wie es Andreotti wiederum mit Maiskolben veranschaulicht: Erstens, die Anerkennung des ‚Anderen‘ als gleichberechtigt. Dies wirkt als Schutz gegen den historisch und sozial geprägten Wunsch eines gelben Maiskolbens, sich selbst als Norm zu sehen und andere Maiskolben aufzuklären, zu erziehen, zu kennen, zu studieren und/oder zu zivilisieren. Zweitens die Anerkennung des ‚Anderen' als ‚anders‘. Dies bewahrt die gelben Maiskolben davor, ihre Begehren und Bestrebungen als natürlich für alle Maiskolben zu projizieren. Diese doppelte Anerkennung bedeutet eine Pädagogik zu praktizieren als eine provisorische paradoxe Konstruktion einer generellen Epistemologie, die zugleich ihre eigene Unmöglichkeit ankündigt (vgl. Andreotti 2011:6).
Neben einer solchen Anerkennung paradoxer Konstruktionen, um eine Form ethischer Solidarität mit ‚anderem‘ Wissen zu ermöglichen, gehört zum transnationalen Lesen lernen auch ganz pragmatisch nicht-globale Sprachen zu lernen. Wenn Thiong’o das Recht hat auf Gĩkũyũ zu veröffentlichen und damit Imaginationen und Lebensformen auch in ein transnational-globales Wissen transferieren vermag, dann können Menschen, die nur Sprachkompetenzen in Globalsprachen besitzen, sich damit nur verbinden, wenn sie geduldig diese Sprache lernen. Natürlich können wir nie alle Sprachen der Welt lernen, aber wie Spivak fordert, gibt es eine Aufgabe für Leser:innen des Globalen Nordens: „eine der Sprachen [...] im globalen Süden richtig“ (Spivak 2008:55) zu lernen, mindestens eben „[e]ine der Sprachen“ (ebd., Herv.i.O.), wie Spivak hervorhebt, denn es gibt ca. 7.000 auf der ganzen Welt und davon weitaus mehr aus dem Globalen Süden (in Asien ca. 2.000, in Afrika ca. 2.000, in Europa ca. 200).
Zur transnationalen Bildung gehört also die Sprachlichkeit als Mündigkeit des/der ‚Anderen‘ überhaupt erkennen und anerkennen zu können und/oder die Unzulänglichkeit des eigenen Nicht-Verstehens auszuhalten (so wie Türkân Deniz-Roggenbuck auf der Tagung ‚Experiment Wissen’ 2023 mit ihrem anfänglichen Vortrag auf Türkisch das Publikum herausgefordert hat). Menschen des Globalen Nordens sollten nicht (mehr) davon ausgehen, dass alles in Globalsprachen übersetzt wird. Die einfache Übersetzbarkeit von Sprachen ist überhaupt infrage zu stellen. Denn transnational Lesen zu lernen, bedeutet, weder zu ignorieren noch zu vergleichen oder zu vereinnahmen, sondern der Pluralität von Stimmen und Texten gleichberechtigt zuhören zu lernen. Es wird eine Lesart gebraucht, die in unübersetzbaren Unterschieden einen Wert findet, die es zulässt, dass die Deutsche Sprache verändert wird. Für Ndikung sind synkretische Sprachen und Lebensweisen, wie Pidgin, Patois, und Kreol, Sinnbild für die Pluralisierung von Epistemologien, da er darin das „Bedürfnis nach dem Netzwerken, nach Beziehungen, das Bedürfnis zusammenzukommen, sich umeinander zu kümmern, zusammen zu sein“ (2018:35) formuliert sieht. Es ist eine verbindende Lesart, durch die unsere Vorstellungskraft lernt, im Erkenntnishorizont eines ‚Anderen‘ mitzuspielen, so wie Spivak sagt: „At all costs, enter another’s text“ (Spivak 2012:6) - wobei sie ‚Text‘ als jegliche Formen von (Körper-) Sprache, Texturen und/oder auch die gesamte Welt (-sichten, -gefüge) versteht.
Sich auf die:den ‚Anderen‘ einzulassen, als ‚Andere:r‘ in den Erzählungen der Austauschpartner:innen aufzutauchen, hat mehr Dimensionen als nur die kognitive und die des Verstandes oder das Sprechen/Verstehen einer Sprache. Kolonialgeschichte zu vermitteln bedeutet nicht nur Fakten zu lernen, sondern zu erkennen, dass diese Geschichte das Denken und die Verhältnisse mitbegründet haben und noch mitbegründen. Dazu sagt die Kuratorin von EiC: „Selbst wenn wir uns darüber freuen, dass Kolonialgeschichte zunehmend in Lehrbüchern einfließt, so zeigt doch die Erfahrung, dass ausschließlich kognitives Wissen nicht immer zielführend ist, sondern dass emotionale, physische und reale Erfahrung viel wichtiger sind, um Wissenstransfer herzustellen - und um eine Beziehung herzustellen, weil es darum geht Beziehungen herzustellen zwischen Fakten, Menschen und Körpern und Emotionen.“ (Interview: Jansen)
Connected knowledge: Transnationales Lesen-lernen in Kultureller Bildung
Um Wissen und Macht in Kultureller Bildung in globalisierten Kontexten infrage zu stellen, ist es ratsam transnational lesen zu lernen und dies auch vermitteln zu können. Theoretiker:innen und Praktiker:innen Kultureller Bildung, die in solchen Kontexten Vermittlungsarbeit leisten, tun gut daran, sich mit postkolonialen Diskursen und Praktiken in Kultureller Bildung auseinanderzusetzen. Spivak bietet mit ihren Überlegungen zu einer ästhetischen Bildung im Zeitalter der Globalisierung hierfür eine - wie ich finde - sehr anregende Grundlage, die in die eigenen Zusammenhänge ‚übersetzt‘ werden kann und sollte.
Kulturelle Bildungsprojekte, in denen Menschen aus Globalem Süden und Globalem Norden (auch) im digitalen Raum in den Austausch treten, können für einen postkolonial gestalteten Wissenstransfer ein wertvoller Ausgangspunkt sein. Dabei gilt es sich den ‚Geistern der Vergangenheit‘ des Kolonialismus gemeinsam zu stellen, die die Verhältnisse auch heute noch prägen. Um wirklich transformative Effekte zu erzielen, zählt es dabei nicht nur ‚postkoloniale Stimmen‘ zu hören, sondern auch den kolonialen Blick zu dekonstruieren. Es zählen konkret erlebte Beispiele und ‚echte‘ Erfahrungen bzw. Lebensgeschichten von Menschen, die sich miteinander austauschen. Dabei können wirkliche Beziehungen, ergänzend zu den recherchierten Fakten, aufgebaut und Geschichte wie Gegenwart durch situiertes Wissen konkret erfahrbar werden. Erst von da aus kann eine gemeinsame Zukunft imaginiert werden.
Um den Wissenstransfer mit performativen und körperlichen - eben nicht nur ‚rationalen‘ - Wissensformen zu erweitern, kann die künstlerische Vermittlung auf solchen Ausdrucksformen liegen. Trotz der Begrenztheit eines digitalen Raums, lassen sich durch die grundlegende Mitnahme des Körpers in den Vermittlungspraktiken affektive Verbindungen und Beziehungen schaffen. Werden darüber hinaus digitale Plattformen und das Informationswissen des Internets genutzt, so sollten darüber die weltumspannenden Machtverhältnisse und Ungleichheiten der Herstellung und Verbreitung von Wissen und Technologie mitgedacht, hinterfragt und ausgeglichen werden. Sich nicht nur digital zuschalten, sondern gemeinsame, kollaborative Imaginationsräume eröffnen, ist die Devise. Hierbei können Vorstellungskräfte erweitert werden, denn Ziel ist es nicht einfach über den ‚Anderen‘ Bescheid zu wissen, sondern sich zu einem neuen Denken anregen zu lassen und dabei ‚Eigenes‘ infrage zu stellen.
Abschließend möchte ich eine lose Zusammenstellung dessen versuchen, was ‚Wissen verbinden‘ oder ‚verbindendes Wissen‘ sein kann. Meine Überlegungen dazu werden nicht abgeschlossen sein, sondern ich möchte diese im Sinne einer unvollendeten Unterhaltung verstehen, zu der ich die Leser:innen dieses Artikels anregen möchte, beizutragen.
Connected knowledge ist das, was im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung durch eine transnationale Lesart entstehen kann. Folgend ein paar Aspekte, die in der Gestaltung von kulturellen Bildungsprozessen berücksichtigt werden können:
- Machtsensibel Wissensinhalte und Wissensformen pluralisieren, indem z.B. alltägliche, situierte und körperliche Wissenspraktiken künstlerisch eingesetzt werden;
- Verschiedene Sprachen lernen, sie verändern und nur teilweise verstehend bzw. unübersetzbar belassen, indem z.B. vermittelt wird, dass es mehr als die europäischen Globalsprachen gibt, dass zahlreiche postkoloniale Sprachen und Vernakularsprachen gelernt werden oder aber ‚ausgehalten‘ wird, dass nicht alles verstanden wird;
- Eine Vorstellungskraft üben, um alternative Erkenntnisgenerierung zu ermöglichen, indem z.B. gemeinsame Utopien entworfen, veranschaulicht und kollaborativ gestaltet werden;
- Kopf und Körper verbinden, Wissensproduktion in und durch verschiedene Medien auch performativ hervorbringen, indem in der konkreten Vermittlungsarbeit der Körper eingesetzt und als Vermittlungsträger in Erscheinung tritt sowie diese Erfahrung wiederum kognitiv reflektiert wird;
- Geduldig und langsam lernen, die Energie herunterfahren, ruhig werden und ethisch verantwortlich zuhören, indem z.B. kulturellen Bildungsprozessen Zeit gegeben wird sich zu entwickeln und auf eine gewisse Kontinuität der Beziehungen geachtet wird; Außerdem können auch konkrete energetische und körperlich-sinnliche Übungen praktiziert werden, die darauf zielen Resonanz zu erleben;
- Überzeugungen hinterfragen, vorhandene Bedeutungen zwanglos zerteilen und teilen können, neu verknüpfen, indem z.B. durch künstlerische Herangehensweisen die gängigen oft eurozentristischen Blickweisen aufgebrochen werden und Platz gemacht wird, für neue und ‚andere‘ Erzähl- oder Erlebensweisen;
- Die Möglichkeiten der global-digitalen Vernetzung nutzen und mitgestalten, auf analoge Begegnungen deshalb gerade nicht verzichten, indem das Digitale genutzt wird, aber die Erfahrung und die körperliche Begegnung - auch im digitalen Raum - betont wird, damit diese dennoch ein sozial-emotionales Lernen ermöglicht.
Was bedeutet ‚begrenztes‘, ‚kolonial fortgeführtes‘, ‚global-eurozentristisches‘ Wissen? Was bedeutet ‚verbindendes‘, ‚vernetztes‘, ‚verknüpftes‘ Wissen? Liebe Leser:innen, tragen Sie auf diesem Padlet Ihre Wörter in der kollaborativen Wortsammlung ein und lesen Sie, was viele andere sich notiert haben, ein kleiner Versuch das Projekt Wissen zu verbinden und zu pluralisieren umzusetzen: https://padlet.com/sofieolbers/wissen-verbinden-durch-transnationales-lesen-lernen-qw5dzqzrmdrgjf2h
Es gibt feuerroten Tomatenmais, Mais mit Leopardenmuster, leuchtend pinken Zuckermais, Mais in Regenbogenfarben, wohlschmeckende blaue Maiskolben oder schwarzen Popcornmais.