Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen. Eine glokal kulturreflexive Prozess-Produkt-Didaktik
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Abstract
Das hier beschriebene Modell stellt eine Lösungsmöglichkeit für grundsätzliche Probleme Interkultureller Musikpädagogik (IMP) dar, die der IMP bei ihrer Entstehung eingeschrieben wurden. Vermutlich teilt sie diese Probleme mit anderen Feldern der Kulturellen Bildung. Das Modell Musikpraxen erfahren und vergleichen (kurz: Mev) ist eine musikpädagogische Konzeption. Das heißt, es schlägt einen Bogen von der erkenntnistheoretischen Gründung seiner Grundbegriffe in einer Praxistheorie bis zu zeitdiagnostisch begründeten Empfehlungen für die Gestaltung von Transformationsprozessen oder -praxen. Der vorliegende Text beschreibt bestimmte Aspekte des Modells mit dem Konzept des Dritten Raumes nach Homi K. Bhabha, die früher mit Begriffen der ästhetischen Theorie beschrieben wurden. Dritte Räume spielen in Verbindung mit einem praxeologischen (oder praxistheoretischen) Kulturbegriff eine Schlüsselrolle zur Beschreibung von kulturell gemischten und offenen Situationen, die das Modell Mev auf verschiedenen Ebenen musikpädagogischer Praxis zu generieren verspricht. Der Text beginnt mit einer Kurzdarstellung des Modells und seiner Genese anhand kultureller Bildungs- oder Subjektivierungspraktiken des Verfasser-Ichs. Von dort schreitet er von der praxeologischen Darstellung einer kulturgeschichtlichen Makro-Perspektive über die Beschreibung zentraler Merkmale Dritter Räume bis zur exemplarischen Darstellung von Mikropraktiken einer ‚auditiven Wissenskultur Jazz‘, um schließlich einen Vorschlag für einen kulturreflexiven Musikunterricht abzuleiten. Das Fazit endet mit einem Blick auf die kurze Rezeptionsgeschichte des Modells.
Das musikpädagogische Modell Mev (Musikpraxen erfahren und vergleichen)
Dieses musikpädagogische Modell kann insofern als allgemein kulturpädagogisches Modell gelesen werden, als es sowohl Pädagogiken als auch Musiken praxeologisch als Kulturen auffasst. Nachdem in früheren Überlegungen zum Modell Musikpraxen erfahren und vergleichen (Mev) neben der kulturellen stets auch die ästhetische Dimension von Musikpraxen eine wesentliche Rolle gespielt hat, was vielfach zu einer ausschließlichen Rezeption des Modells im Kontext ästhetischer Bildung führte, werden im vorliegenden Text diejenigen Aspekte, die in früheren Darstellungen mit Begriffen ästhetischer Theorie beschrieben wurden, mit dem postkolonial kulturbezogenen Begriff des Dritten Raums nach Homi K. Bhabha dargestellt. Mit dem Dritten Raum ist im Prinzip ein sozialer Raum und damit verknüpft ein Denk- und Erfahrungsraum gemeint, der entsteht, wenn zwei oder mehr verschiedene Kulturräume einander überlagern bzw. durchdringen, zum Beispiel, weil eine Kolonial- oder Besatzungsmacht sich zurückzieht, ihren Machtanspruch aufgibt und zunächst ein Machtvakuum hinterlässt; ein Raum, in dem Praktiken bzw. Kulturtechniken oder Regeln aus verschiedenen Kulturen gleichzeitig praktiziert werden, ohne dass irgendjemand sagen könnte, welche gilt.
Die Idee des Modells Musikpraxen erfahren und vergleichen (Mev, siehe Abb.1) besteht darin, dass Schüler*innenwesen (ich nenne sie ab jetzt kurz Schül, Singular das Schül) in der Schule mit musikalischen und musikbezogenen Praktiken, Artefakten, Narrativen und Verkörperungen aus verwandten Kulturen musikalisch Dritte Räume (Musikpraxen) gestalten oder komponieren, deren mögliche Qualitäten probieren und erfahren und dass sie dann im Lauf der Schulzeit verschiedene solcher dritten (Musik-) Räume vergleichen, ohne dass ein Tertium Comparationis normativ von außen an die Vergleichsgegenstände herangetragen würde. Die Praxis des Vergleichens verschiedener, selbst gestalteter Musikpraxen lässt sich erneut als Dritter Raum beschreiben. Durch das Praktizieren gewinnen die Schül Erfahrung mit grundverschiedenen Möglichkeiten musikalischer Praxis und durch das distanzierende Vergleichen Orientierungswissen, das ihnen bei der Entscheidung für oder gegen Musiken in der eigenen Lebensführung sowie bei Begegnungen mit unbekannten Musikpraxen oder -kulturen außerhalb der Schule nützen kann (vgl. Wallbaum 1998a, 2005, 2013, Kaiser 2010).
In der Diskussion des Modells tun sich viele Fragen auf, von denen ich einzelne etwas ausführlicher beleuchten möchte: (1) Zur Geschichte von Mev (2) Der Job der Musikdidaktik (3) Kulturen unterscheiden und doch nicht fixieren (4) Dritte Räume (5) Musikpraxen – auditive Wissenskulturen (6) Probleme der Auswahl für allgemeinbildenden Musikunterricht und das Herstellen und Vergleichen verschiedener dritter Räume als Lösung für einen gleichermaßen global, lokal und schülbezogenen kulturreflexiven Musikunterricht.
Zur Geschichte von Mev
Mev steht seit seinen Anfängen um 1990 (auch) im Kontext Interkultureller Musikpädagogik, die Musiken ebenso wie Schül als verwoben in soziokulturelle Zusammenhänge versteht. Das Modell stellt eine mögliche Lösung für Probleme dar, die sich in einer zunehmend globalisierten und zugleich lokal gelebten Welt für Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen ergeben. Dass die bisherigen Darstellungen des Modells (Wallbaum 2011, 2016, 2018d sowie metaphernorientiert Oberschmidt/Wallbaum 2014 und an hochschuldidaktischen Fallbeispielen Krämer/Wallbaum 2014) kaum als Beiträge zur Interkulturellen Musikpädagogik (IMP) rezipiert wurden, könnte verschiedene Gründe haben. Zum einen war die Diskussion nach Irmgard Merkt (1983) primär an Migrant*innenkindern und den musikalisch-kulturellen Hintergründen ihrer Eltern interessiert – vgl. Thomas Ott, 2012: „Linie 1“ –, zum anderen war IMP in „Linie 2“ an den Musiken ferner, anfangs sogenannter „außereuropäischer“ Länder in Asien und Afrika interessiert. Im Unterschied dazu sind die Überlegungen zu Mev, nach dem Studium bei dem international vergleichenden Musikwissenschaftler Jens-Peter Reiche (zu dessen Rolle zwischen Musikethnologie und Musikpädagogik vgl. Clausen 2018:71), von Unterrichtserfahrungen in einem Schul-Modellversuch zur Profiloberstufe angeregt worden, in dem es konkret um das Fach Musik in einem Profil „SPUK: Sprachen- und Kulturenvielfalt“ ging (vgl. Wallbaum 1997). Die Schül dieser gymnasialen Oberstufe an der Max-Brauer-Schule in Hamburg brachten über 30 verschiedene Migrationshintergründe ein, dazu verschiedene Milieus und Schulbiografien. Der kulturreflexive Blick auf die diversen wenig und wenigen vertrauteren Musikpraxen war für diese Lehr-Lern-Situationen doppelt konstitutiv, nämlich als Bedingung und als Gegenstand von Unterricht. Thematisiert wurden vorrangig die musikalischen Kulturen der meisten Schül, also Jugendkulturen und Filmmusik, und ‚fremde‘ musikalische Kulturen, die ich als deutscher Musikhochschulabsolvent einbringen konnte und je nach Situation auch einbrachte: Alte Musik, Bach/Barock, Klassik-Romantik, Neue Musik und Jazz, dazu Geräuschkunst/Futurismus/Cage, Samba-Trommeln und populäre Musik, jeweils ebenfalls in kulturreflexiver Perspektive. (Vgl. grundsätzliche Überlegungen von Bruno Nettl 1989 und reflektierende Unterrichtsbeschreibungen in Wallbaum 1993, 1994, 1997, 1998a, 2005, 2010)
Der Kulturbegriff von Mev entstand einerseits aus der linguistischen Sprachtheorie (vgl. Saussure 1967; Bühler 1934; Wittgenstein/PU 1953; Whorf 1956; Savigny 1969; Beutin 1976; Habermas 1983 u.a.) und andererseits aus der soziologischen Erforschung von Jugendkulturen (vgl. Shell-Studien, 1985, 1991, 1993; als Vertreter der Birmingham School Willis 1991; Baacke 1993; Otte 2007) sowie der Lektüre des Praxistheoretikers Bourdieu 1982 und des Musiksoziologen Blaukopf 1982). Wenn Jürgen Vogt (2018:15) schreibt, dass David Elliott (1995) „die Vorlage für alle ‚praxialen‘ Ansätze der Folgezeit“ gewesen sei, dann stellt Musikpraxen erfahren und vergleichen eine Ausnahme dar. Einige dieser Theoriehintergründe wurden von Theodore Schatzki (1996, fußend auf Ludwig Wittgenstein) und Andreas Reckwitz (2003) zu einer Praxistheorie oder Praxeologie entwickelt und sind seit einiger Zeit auch in der allgemeinen Unterrichtsforschung (vgl. Proske & Rabenstein 2017) und Philosophie des Musikunterrichts bzw. der Musikpädagogik geläufig (vgl. Barth 2018). Sie entsprechen ohne weiteres den Grundlagen von Mev.
Der Job der Musikdidaktik
Zunächst eine kurze Selbstvergewisserung: Was ist eigentlich der Job der Musikdidaktik? Mir hilft für die Antwort ein kurzer Blick zurück. Aus dem Urknall entstand unser Universum, irgendwie auch die Erde, auf der Erde die Atmosphäre und Leben, schließlich Menschen. Die haben anfangs in Horden gelebt und dabei auch musiziert, also gesungen, getrommelt und mit Klängen gespielt (vgl. Kaden 1993 u. 2004; Suppan 1984; Blaukopf 1982). Die Kinder haben die verschiedenen Praktiken durch Mitmachen und Darüber-Reden gelernt. Praxistheoretisch mit Schatzki (1996, 2001) gesprochen, durch einen nexus of doings and sayings. Jede Horde hat im Laufe der Zeit ihren nexus of doings und sayings praktiziert, nicht selten verknüpft mit Tanz und Drogen und Narrativen von Ahnen, Göttern und aller Dinge Anfang, sozusagen vom Urknall. Und dann kam irgendwann die Massengesellschaft, in der es verschiedene Lebensformen („Kulturen“ oder auch Teilkulturen, Hochkulturen, Subkulturen, Jugendkulturen usw.) und mit ihnen verknüpfte Musikpraxen („Musikkulturen“) gab und Menschen, die gleichzeitig an verschiedenen Kulturen partizipierten. Und es wurden Staaten gebildet, die Institutionen wie die allgemeinbildende Schule einrichteten, und darin sollte und soll Musik unterrichtet werden. In der Musikdidaktik haben wir es daher mit zwei verschiedenen Praktikenkomplexen zu tun: einerseits der Institution Schule und ihrem Träger, dem Staat einschließlich der jeweiligen Regierung und ihrer politischen Normen und Curricula, andererseits mit Musik, die wissenschaftlich bestimmt sein soll, das heißt gültig für alle Musikkulturen, die in der Gesellschaft praktiziert wurden und werden und werden werden (Siehe Abb. 2: Würfel zu Dimensionen der Musikdidaktik).
Den Job der Musikdidaktik sehe ich darin, das Gefüge aus staatlich-politisch bedingten Vorgaben (Abb.2 AXIS B) und solchen, die sich aus dem Begriff von Musik ergeben (AXIS A), zu verstehen und zu kommunizieren. Zusätzlich zu den Praktiken, die über allgemein pädagogische Methoden und verschiedene Musiken in die Unterrichtspraxis gelangen, gibt es noch einen dritten relevanten Faktor im Unterrichtsgeschehen (AXIS C). Dazu gehört alles, was die jeweilige konkrete Situation mit sich bringt, von der räumlichen Verortung auf dem Globus bis zum Einzugsgebiet der Schule, der Einrichtung und Ausstattung der Räume und – meistens werden sie zuerst genannt – jeweils konkret beteiligten Individuen.
Der Würfel aus Abb.2 ist das Ergebnis einer Sichtung zahlreicher komparativ musikpädagogischer Erforschungen von internationalen Gegenständen. Er erwies sich darüber hinaus auch bei dem Versuch, die Insider-Beschreibungen von gefilmten Musikstunden aus sieben Staaten in Bezug auf ihre Normen zu vergleichen, als geeignet, um die verschiedenen sozialen Felder, mit deren Praktiken Musikunterricht verwoben ist, in den Blick zu nehmen. Dieser Blick ergab, dass jede der Beschreibungen musikdidaktischer Wertungszusammenhänge, die ihren Ausgangspunkt in jeweils einer Stunde nahmen (siehe den kleinen dunklen Würfel im Großen), zunehmend allgemeiner werdende Bezüge zu Wissen bzw. Diskurspraktiken aus anderen sozialen Feldern herstellte. Diese reichten von lokalen Lehrplänen über Ländergrenzen hinweg bis zu Theorien und Ideologien. Z.B. landet Andreas Lehmann-Wermser (2018) bei dem Versuch, zwei in sich stimmige, aber unvereinbar verschiedene Musikunterrichtsstunden (aus Schottland und Niedersachsen) zu vergleichen, bei der Ideologie des Neoliberalismus als Tertium Comparationis: Indem die Praxen beider Stunden einschließlich ihrer zugrundeliegenden Philosophien (=Didaktiken) als Positionierungen zum Neoliberalismus interpretiert werden, wird erklärbar, warum beide unvereinbar und doch in ihrer jeweiligen Logik ‚gut‘ sind.
Was wie ein Nacheinander auf dem Weg zur Interpretation einer Stunde erscheint, das mag an verschiedenen Orten – Schule, Ministerien, Universitäten – erarbeitet werden, aber ontologisch liegen alle Erarbeitungspraktiken auf derselben „flachen“ Ebene (Schatzki 2016); dieselben einzelnen Praktiken oder Praktikenbündel sind „multilokal“ (Petra Herzmann/Kerstin Rabenstein 2022:175); d.h. sie können gleichzeitig in verschiedenen Praktikenkonstellationen auftauchen und liegen dabei nicht auf hierarchisch unterschiedlichen Ebenen. Praktiken bleiben daher grundsätzlich dem Verstehen zugänglich. Dementsprechend ist es für uns und unsere Kinder heute ganz normal, zwischen der lokal erfahrenden Teilnehmer*innenperspektive – z.B. beim Singen eines Liedes – und der global vergleichenden Perspektive – z.B. beim Anhören einer eigenen Aufnahme oder bei Gesängen auf YouTube – hin und her zu switchen (vgl. ebd.:175 mit Davide Nicolini 2009: „Zooming In and Out“). Dass damit jeweils verschiedene Praktiken, Praktikenbündel, -konstellationen oder Kulturen in ihrer ganzen Komplexität begriffen würden, soll damit nicht gesagt werden.
Kulturen unterscheiden und doch nicht fixieren
Es gibt zurzeit starke Vorbehalte gegen jede Form von Benennungen zum Beispiel einer Kultur, weil damit zwei Sorgen verbunden werden: Einerseits wird die Gefahr gesehen, dass eine Kultur als „selbstidentisches“ unveränderliches System verstanden werden könnte, andererseits besteht die Sorge, dass an einer Kultur Teilhabende essentialisierend auf die Merkmale dieser Kultur reduziert werden können. Beide Gefahren bestehen im vorliegenden, praxeologisch oder praxistheoretisch grundierten Ansatz nicht, weil es hier ausschließlich um das Verstehen und Beschreiben von Praktiken und Praktikenkonstellationen geht, die sich per se in einem steten, manchmal schnelleren, manchmal langsameren Wandel befinden.
Der Praxisbegriff wird in der Musikpädagogik verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen entsprechend unterschiedlich verwendet (ausführlicher siehe Wallbaum/Rolle 2018). Während der Begriff in einer philosophischen, auf Aristoteles zurückgehenden Tradition mit ethischem Fokus verwendet wird (z.B. bei Elliott, Thomas Regelski, Herrmann J. Kaiser und Vogt), wird er im vorliegenden Text aus einer kultursoziologisch geprägten Praxeologie heraus rein formal verwendet. Prominent vertreten wird er von Theodore Schatzki (1996, 2002 u.a.) und in Deutschland wurde er populär gemacht von Andreas Reckwitz (2003 u.a.). Durch den rein formalen Begriff können verschiedene Arten von Praxis unterschieden werden, wie ethisch-moralische, aber auch wissenschaftliche, ästhetische, auditive oder pädagogische Praxisformen. Letztlich ist so alles auf Praxis zurückführbar. Auch Theorie wird als eine Art von Praxis begriffen: als eine oder die Praxis des Theoretisierens.
In der soziologischen Praxeologie sind Praktiken die kleinsten Einheiten. Hillebrandt nennt sie auch „elementare Ereignisse“ (2014:109), in denen wir soziale Praxis fassen können. Zum Beispiel wird aus einem In-die-Hände-Klatschen als bloßer Bewegung von Gliedmaßen erst durch die soziale Eingebundenheit eine sinnvolle Praktik wie zum Beispiel das Herbeirufen eines Bediensteten, eine medizinische Bewegungsdiagnose, ein Applaudieren oder eine Musizierpraktik. Die Konstellation mit weiteren Praktiken lässt dann zunehmend Sinn oder Bedeutung entstehen.
„Die einzelne Praktik oder ein ganzer ´Praktikenkomplex´ – etwa der miteinander verknüpfte Komplex von Techniken, die eine fordistische oder eine postfordistische Wirtschaftsorganisation oder die Lebensform des Bürgertums des 19. Jahrhunderts ausmachen – ist [...] über eine implizite, in der Regel nicht verbalisierte Wissensordnung strukturiert und tendiert zur Wiederholung. In der Praxis, d.h. der Serie von temporalen Ereignissen, die eine Aktualisierung der sozial-kulturellen Praktiken durch einzelne Körper, mit bestimmten Artefakten, in präzisen raum-zeitlichen Situationen betreiben, ergibt sich dabei jedoch immer wieder ein Potential für überraschende Verschiebungen, Modifizierungen und Eigensinnigkeiten.” (Reckwitz, 2016, S. 35)
Die praxistheoretische Auffassung der Welt macht den Begriff von Kultur deutlich, der meinen Überlegungen zugrunde liegt. Eine Kultur ist ein Komplex von Praktiken, deren Konstellation durch Wiederholung – Konvention oder Tradition – eine gewisse Stabilität gewonnen hat. Man kann in demselben Sinn auch von Firmen- und Schulkulturen, von Jugend- und Musik- und Erziehungskulturen sprechen. Gemeint sind jeweils Konstellationen von Praktiken (doings and sayings) sowie durch vorgängige Praktiken geformte Narrative/Diskurse, Artefakte und Subjektivierungen.
Es ist selbsterklärend, dass ein solch sozialkonstruktivistischer Begriff von Kultur diese nicht als starres und unveränderliches Gebilde auffassen kann, sondern nur als in lebendiger Veränderung befindlich (vgl. auch Kim, 2018:57). Ebenso ergibt sich, dass Praktiken aus der einen Kultur mit Praktiken aus einer anderen neue, hybride Konstellationen eingehen können, die dann Einzelfall bleiben oder erneut zu Kultur werden können. Und wo wir nicht sicher sind, ob bei einer einzeln sich ereignenden Musikpraxis ein Irrtum oder ein Geniestreich, eine Mode oder eine kulturspezifische Konstellation von Praktiken vorliegt, da können wir den Kulturbegriff weglassen und neutral von Musikpraxis sprechen. Oder wir begrüßen ein ambivalentes Dazwischen als Dritten Raum.
Dritte Räume
Ein anglisierte[r] postkolonialer[r] Migrant, der zufällig ein Literaturwissenschaftler mit leicht französischem Einfluss ist“ (Bhabha, 2011, Buchrücken) – lautet die Selbstcharakterisierung des Inders Homi K. Bhabha, auf dessen Konzept des Dritten Raums unsere Modellkonzeption Mev Bezug nimmt. „Der Begriff des Dritten Raums zielt nicht auf „identitäre Belange“ (Bhabha, 2016:62) ab. Vielmehr gilt Bhabhas Interesse den Aushandlungsprozeduren und -kriterien bei wirklich tief gehenden Unvereinbarkeiten in den durch Ambivalenz geprägten Dritten Räumen. Dieser Punkt scheint mir auch für die schulischen Räume relevant, in denen Musikpraxen gestaltet und erfahren werden.
„Die Ambivalenz führt einen performativen Sinn für […] die Aktivitäten der Reflexion und des Urteilens, der Wahl und der Entscheidung [ein]. (Bhabha, 2016:43)
Zwar widersprechen die verschiedensten Spielarten des Fundamentalismus, der Orthodoxie oder der Erweckungsbewegungen häufig den heutigen verfassungsmäßigen Rechten, […] und oftmals verletzen sie unseren Sinn für soziale Gleichheit […] und die Freiheit des Individuums. Doch wenn wir sie [die verschiedenen Spielarten des Fundamentalismus, CW] nur als die ›andere‹ Seite der Moderne, Demokratie oder Aufklärung betrachten, ›eignen‹ wir sie uns in einer Art Aufhebung an, die versucht, ihre [der Spielarten] ›Singularität‹ einer bestimmten ›dialektischen‹ Denkmethode unterzuordnen, der kein umfassender Universalismus zugesprochen werden kann. Die asynchronen Glaubensüberzeugungen und asymmetrischen Bräuche, die unsere globale Gleichzeitigkeit (contemporaneity) – national, regional oder territorial verstreut, im Westen wie im Osten, Norden oder Süden – ausmachen, müssen deshalb aus der Perspektive einer ›Gleichheit-in-Differenz‹ begriffen und kritisiert werden.“ (Bhabha, 2016:27)
Bhabha ist vorgeworfen worden, er nehme hinter den Entscheidungsprozeduren, die er für ambivalente Situationen in Dritten Räumen geltend macht, universale, d.h. kulturunabhängig gültige Werte und Verfahren an und strebe letztlich eine globale Einheitskultur an (vgl. Müller-Funk, 2016:81 und 86.). Das obige Zitat dürfte solchen Vorwürfen weitgehend widersprechen, allerdings steckt im kursiven „unsere globale Gleichzeitigkeit“ und in der „Gleichheit-in-Differenz“ ein Rest von Gemeinschaftlichkeit der Menschheit, der wiederum als Grundlage für einen kulturunabhängigen Wert verstanden werden kann. Unter Berufung auf Habermas (2004) fordert er eine „Ethik der Tolerierung“, sofern „die öffentliche Vernunft Wirkung entfalten soll“ (Bhabha, 2016:44). Über die Tolerierung hinaus plädiert Bhabha sogar dafür, dass es kulturelle Unterscheidungen geben soll (vgl. Bronfen, 2011:XIV; Müller-Funk, 2016:81-83, 87. Zum komplementären Problem vorauseilender ‚Veranderung‘ vgl. Rolle, 2018:308 am Beispiel eines internationalen Gesprächs über die Rolle eines Teppichs in einer Musikunterrichtsstunde aus Estland.).
Die Absicht hier ist es nun, Bhabhas Idee der Dritten Räume für die Beschreibung der Ver- und Neumischung von Praktiken aus verschiedenen Musikkulturen nutzbar zu machen. Der Raumbegriff umfasst ebenso wie der Praxisbegriff sowohl die spatiale als auch die zeitliche Dimension von Tätigkeiten und deren Spuren. Die zentralen Merkmale Dritter Räume sind:
- Raum für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie (vgl. Bhabha, 2011:5);
- „eine gewisse Art von Langsamkeit, es gibt ein Festhalten am Moment des Übergangs“ (Bhabha, 2016:69); siehe auch oben: Mit Sinn für Performativität;
- bei Handlungsbedarf kommt es zu „Figurationen“ bzw. Konstellationen, in denen anstelle des Konflikts andere Fragen zentral werden. Welche Fragen das sind, bleibt situationsabhängig (ebd.:72);
- sie eröffnen „Räume, die zu Veränderungen aller beteiligten AkteurInnen auf allen Seiten führen können. Im Zuge von Kulturkontakten erfolgen Transformationen, die ein Dazwischen oder eben einen Dritten Raum eröffnen“ (Babka & Posselt, 2016:12).
Obwohl oder weil es im vorliegenden Text darum geht, das Modell Musikpraxen erfahren und vergleichen (Mev) aus der Schublade ästhetischer Bildung herauszuholen und seinen Kulturbezug herauszustellen, sei der Hinweis erlaubt, dass die Merkmale der hierarchie-entlasteten Symmetrie, der Vollzugsorientierung (bzw. Performativität) und Offenheit für Differenz auch grundlegende Merkmale ästhetischer Praxis sind, mit dem einzigen Unterschied zu „postkolonialen“ gesellschaftlichen Situationen, dass ästhetische Praxis nicht selten absichtsvoll als solche ermöglicht und aufgesucht wird. Handlungsbedarf (vorletzter Spiegelstrich) entsteht durch die prozess-produkt-didaktische Aufgabe, aus vorliegendem Material eine erfüllende Musikpraxis oder Situation mit Klängen zu gestalten und diese dann so lange probierend zu praktizieren, bis sie als erfüllt erfahren wird.
Mev kann als ein Ansatz beschrieben werden, der unter Berücksichtigung der Pluralität von sowohl pädagogisch-kulturellen als auch musikkulturellen Normen einen Musikunterricht modelliert, der einem praxis- und kulturreflexiven Begriff von Musiken und Musikenlernen gerecht wird, ohne einzelne Musikpraxen einschließlich ihrer Lehr-Lernpraxen als statische Kulturen erscheinen zu lassen.
Musikpraxen – auditive Wissenskulturen
In diesem Abschnitt geht es zunächst darum, den praxeologischen Begriff von Musik zu differenzieren und die entsprechende Stoßrichtung von Mev im Vergleich mit Patricia Campbells Modell „Teaching Music Globally“ (2004) zu verdeutlichen. Anschließend wird an einem Beispiel des Jazz eine spezifische Qualität veranschaulicht, die in erfüllter Jazzpraxis erfahrbar wird bzw. erscheint. Derartige Qualitäten halte ich – anstatt sogenannter ‚rein musikalischer‘ Formen – für vielversprechendere „Label“ sowohl zur ungefähren Ausrichtung der Gestaltungs- und Erfahrungsprozesse als auch für die Unterscheidung von Musikpraxen.
Unstrittig aus praxeologischer Sicht ist, dass Musik kein Ding ist, sondern eine Praxis, eine Konstellation von Praktiken, Artefakten, Narrativen, Verkörperungen oder Subjektivierungen. (Zur Rolle von Erzählungen vgl. Alexander Cvetko 2014 und Lars Oberhaus 2016). In jüngeren praxistheoretischen Veröffentlichungen zu „auditiven Wissenskulturen“ klingt das so:
„Unterschiedliche soziale Prozesse verknüpfen Schall mit Bedeutungen, machen ihn zu Lärm, Sprache, Geräusch, Signal oder Musik.“ (Brabec de Mori/ Martin Winter 2018:5)
„Musik ist – in Anlehnung an neuere Theorien der Soziologie der Praxis (Reckwitz 2003) – als ein prozessuales Produkt zu betrachten, das aus Interaktionen von Akteuren mittels bestimmter sozialer Praktiken (Praktikenzusammenhänge und -elemente) resultiert. Sie ist erst dadurch konstruierbar, dass unterschiedliche Praktiken zueinander in Beziehung gesetzt und ausgehandelt werden.“ (Kim 2018:55)
Für das Unterrichten von Musik ergibt sich daraus, dass nicht allein Werke oder Stücke, sondern mit ihnen ganze Praktikenkonstellationen – Praxen – zu unterrichten sind, und zwar einschließlich je spezifischer Lehr-Lern-Praktiken. (Zur Verwobenheit von Musikpraktiken mit spezifischen Lernpraktiken vgl. Ott 2017, Wallbaum/Stich 2016 und Wallbaum 2022a und b). Das Singen von Mozarts Königin der Nacht in der Oper artikuliert etwas anderes als der Gesang bei einem Punkauftritt auf dem autonomen Wagenplatz, auch wenn in beiden Fällen Wut ausgedrückt wird, und ein experimentelles Konzert von Laptop-Spielern stellt wiederum eine andere Konstellation dar, deren Qualität durch eine bloße Darstellung und Analyse akustischer Parameter wie Zeitgestaltung, Stimmung (Pitch), vertikaler und horizontaler Formen nicht annähernd fassbar wird (vgl. zum Beispiel Anna Daniels (2018): Die Do-it-yourself-Kultur im Punk. Subkultur, Counterculture oder alternative Ökonomie?).
Mev unterscheidet sich insofern von Campbells Modell „Teaching Music Globally“ (2004), als Campbell den Musikunterricht am Leitfaden von – von Bonny Wade (2004) durchaus schlüssig entwickelten – akustischen Strukturen entfaltet, die sie „music-as-music“ (Campbell 2004:215) oder auch „pure music“ (ebd.:210) nennt. Solche „rein musikalischen“ Muster werden in Campbells Teaching Music Globally zur Grundlage ihres Modells gemacht und systematisch entfaltet. Dagegen werden Bedeutung generierende Praktiken oder Aktivitäten wie Aufmerksamkeitsrichtungen, innere Vorstellungen, körperliche Bewegungsmuster, soziale Formen und Anlässe, Narrative von der Entstehung der Musik und von dem, was „in ihr“ erfahren werden kann (etwa der Zustand des Embryos im Mutterbauch, die Weltharmonik oder ein Gefühlsdrama) oder was „durch sie hindurch“ spricht (z.B. die Ahnen, ein Gott oder Komponisten), zwar als dazugehörend angesprochen, aber wesentlich undifferenzierter und auf deutlich weniger Lehrbuchseiten. Implizit wird so ein europäischer Begriff von absoluter, reiner oder purer Musik als einer Entität fortgeschrieben, die unabhängig von ihrem Gebrauch und den Praktiken ihrer Herstellung existieren würde und der dann Bedeutung ‚zugewiesen‘ werden könnte (vgl. dazu Blanchard 2020, Bonds 2014:1-16, Buchborn et al. 2021, Grüny 2021, Kaden 2004, Wallbaum 1998). Solche Schwerpunktsetzung auf „rein musikalische“ Muster mag für Musiker plausibel sein, für die Bildung eines Begriffs von Musik als Praxis und als Kultur in einem Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen erscheint der Fokus auf „pure music“ (Campbell 2004:210) verkürzend. Da die Verwendung des Wortes Musik in zwei verschiedenen Bedeutungen – nämlich Musik als Kultur und Musik als reine Musik – leicht zu Unschärfen führt, würde ich, wie oben Brabec de Mori/Winter 2018 (ebenso Wallbaum 2000:248-271), Schall oder Klang von Musik (als Praxis) unterscheiden.
Auch der Schnittstellenansatz nach Irmgard Merkt setzte beim Vergleich scheinbar interkulturell gleicher ‚rein musikalischer‘ Elemente an. Insofern liegen die Ansätze von Campbell und Merkt, die Alexandra Kertz-Welzel (2018:91) einander als inter- und multikulturell gegenüberstellt, eher nah beieinander. Einen konzeptuell den Annahmen einer „reinen Musik“ entgegenstehenden Ansatz sehe ich in Wolfgang Martin Strohs Modell Eine Welt Musik (Stroh 2000), in dem er musikalische Archetypen als kleinste Elemente von Musik konzipiert. Dieses Konzept ähnelt dem praxistheoretischen von Praktiken als kleinsten Einheiten von Musikpraxen. Allerdings ist es verknüpft mit dem bestreitbaren Anspruch, dass solche rhythmischen, melodischen, u.a. Archetypen kulturübergreifend gleich konstruiert werden (vgl. Stroh 1997; kritisch zur Annahme von diesen und anderen „Urphänomenen“ Wallbaum 2013). Ebenfalls auf die sozial generierte Bedeutungsebene von Musik zielt Strohs Konzept der Szenischen Interpretation, das er in Verbindung mit der Tätigkeitstheorie entfaltet (vgl. Stroh, 2010:261). Der Musikbegriff dieser „Tätigkeitstheoretische[n] Perspektive“ (ebd.:261) hat große Ähnlichkeit mit dem von Mev, ist allerdings aus der Mev-Perspektive insofern problematisch, als zum einen musikalische Archetypen angenommen werden und zum anderen alle ‚Zutaten‘ für die Inszenierungen von Musikpraxen mit dem Tertium Comparationis der Marx-Brille ausgewählt werden, das sich damit als hidden curriculum in jede Inszenierung flicht.
Zum Schluss dieses Abschnitts ein Beispiel für eine musikalische Sinndimension bzw. Qualität, die erst in „gelungenen Konstellationen“ (Müller 2018a) diverser Praktiken entsteht. Christian Müller rekonstruiert in Jazz happens oder: Interpretation improvisierter Interaktionen die mikrosozialen Prozesse während Jazzkonzerten anhand von Gruppen- und Einzelinterviews mit Jazzmusikern.
„Der entscheidende Affekt der Spannung speist sich also aus dem Prozess der Bearbeitung der Frage danach, was man eigentlich gerade miteinander tut, und die ›Antwort‹ ist in Form der gespielten Musik hörbar.
Eine weitere Parallele zur Arbeit der Naturwissenschaftler [Physiker des CERN, C.W.] liegt zudem darin, dass auch in den eher impulsiv ablaufenden Interaktionsdynamiken der Jazzmusiker das Subjekt als Träger eines autonomen Handlungsentwurfes verloren geht. Nicht zuletzt besteht das beschriebene Potential der Überraschung auch aus dem Erleben, das nicht nur unklar ist, was man miteinander tut, sondern auch, wer oder was dabei überhaupt handelt. Und so wie es sich bei den Physikern um eine Forschergruppe im Zusammenwirken mit der Eigendynamik des Detektors handelt, so lässt sich auch bei den Jazzmusikern behaupten, dass improvisierte Musik letztlich der Effekt eines Zusammenwirkens aus interagierenden Musikern, klingenden Instrumenten und der räumlichen und sozialen Kontingenz einer Konzertsituation ist.“ (Müller 2018b: 50)
Über diese Beschreibung der Qualität einer erfüllten Jazzpraxis anhand von Narrativen hinaus beschreibt Müller auch Aufmerksamkeits-, Körper- bzw. Leib- und Klangpraktiken, die an einer erfüllten Praxis beteiligt sind (vgl. Müller 2018a:327-338). Beträchtlicher Aufwand gilt dabei der Beschreibung von Zuständen, in denen die Musizierenden sich nicht als autonom Handelnde verstehen, sondern als „synchronisierte“ Teile eines „Passierens“ (ebd.:336). Vergleichbare Beschreibungen finden sich auch in einer videographierten Musikstunde (Bavaria-Lesson und dazu Wallbaum 2018c in cooperation with Kinoshita), bei der Gruppenimprovisation mit dem Ziel praktiziert wird, eine sprachferne Atmosphäre namens RED zu erzeugen. Entgegen der Aussage von Müller zu nicht „pädagogisch vermittelbaren Komponenten“ (Müller 2018b:49) gelingt es diesem Lehrer, mittels einer Konstellation von Praktiken eine Atmosphäre zu generieren, die sowohl Komponente einer erfüllten (nicht nur Erfüllung suchenden) Musikpraxis ist als auch ‚Beweis’ für deren Vorliegen.
Noch zu klären bleibt, inwiefern die in Bezug auf beide Musikpraxen gefundene Erfüllungsqualität (RED) allein für musikalische Improvisation gilt oder möglicherweise für viele oder gar alle Musikpraxen. Ein direkter Vergleich allein dieser beiden Beispiele wirft zum Beispiel die Frage auf, inwiefern das Beherrschen von stiltypischen Skills eine „Bedingung der Möglichkeit“ (Müller, 2018b:49) erfüllter Jazzimprovisation ist und ob der Ausdruck dieser Skills in einer Weise in die Jazzqualität eingeht, die Müller in seiner Forschung lediglich ausgeblendet hat. In diesem Fall könnte die Qualität RED eine Ingredienz beider Improvisationspraxen sein, ohne diese allerdings vollständig zu bestimmen. Kinoshita zufolge soll RED nicht allein bestimmten Musiken vorbehalten sein, sondern sogar jenseits musikalischer Praxis erscheinen können, zum Beispiel in Gesprächen.
Andere musikbezogene Erfüllungs- oder Gelingensbedingungen könnte die von Daniel (2018) beschriebene Punk-Kultur haben, für die das Do-it-yourself-Prinzip bestimmend sein soll, oder eine klassische Symphonie, indem sie ein Gefühlsdrama erleben lässt. Für solche musikbezogenen Fragen ist hier nicht der Platz. Festzuhalten bleibt lediglich, dass es bei der Gestaltung von Musikpraxen nicht ausreicht, beliebige Elementpraktiken, Artefakte, Narrative und Subjektivierungen bzw. Phänomene „zusammenzuwerfen“, sondern dass die Qualität einer Musik – also das, worauf es in der Praxis letztlich ankommt – erst in einer gelingenden Konstellation von Praktiken erscheint. Diese wiederum können die Beteiligten, also hier: Schül, nur durch wiederholtes Probieren prüfen und durch das Ersetzen von Elementen und das Feilen an Details zur Erfüllung hintreiben. Eine gewisse Langsamkeit in diesen Dritten Räumen ergibt sich von selbst.
Das Problem der Auswahl für allgemeinbildenden Musikunterricht
Sofern zukünftiger Musikunterricht nicht alles individuelle und wissenschaftliche Wissen über Musiken der Welt ausblenden und ausschließlich in eine als lokal oder national (Bhabha 1990) erzählte Musikkultur enkulturieren soll, stellt sich die Frage nach dem Wie und Was. Eine grundlegende Antwort auf die Frage nach dem Wie liegt in der Praxistheorie selbst: Man lernt Praktiken in der Praxis (Schatzki 2017). Dasselbe gilt dann auch für musikalisch-kulturelle Teilhabe (vgl. Krupp-Schleußner 2018:104). Aber wie ermöglichen oder inszenieren wir eine Musikpraxis im schulischen Rahmen und welche – zudem, ohne eine Kultur festzuschreiben, aber wiederum auch unterscheidbar, um daraus Orientierung in der Vielfalt zu gewinnen? Einen Lösungsvorschlag stellt das vorliegende Modell Mev dar, das in kontrollierter Weise Dritte Räume generiert, und zwar in zwei oder – in einem abgeleiteten Sinne – drei Zonen:
1. Die Zone der Körbe generiert nur in einem abgeleiteten Sinne Dritte Räume aus verwandten Musikkulturen, zusammengestellt von Fachleuten (vgl. die gestrichelte Linie in Abb.1). Abgeleitet insofern, als die Körbe selbst eher mit einem Theaterfundus als einer Bühnenperformance verglichen werden können. Ein Raum, in dem diverse Kostüme, Requisiten und im Musikfall Instrumente, Spielanleitungen, Klangbeispiele, gegebenenfalls Noten etc. herumliegen, ist selbst noch keine Praxis, also kein Dritter Raum. In den Abbildungen 1 und 3 wird das gesamte Material zur Gestaltung von Praxen nach dem Vorbild von „Fächerkörben“ in der gymnasialen Oberstufe in „Körben“ gesammelt. Statt Körben wären auch nebeneinander liegende Materialhaufen denkbar, um die durchlässigen Grenzen zwischen den verschiedenen Musikfamilien zu veranschaulichen. Jeder Haufen setzt durch seine Bestückung einen Spiel-Raum. Ein solcher Spiel-Raum könnte möglicherweise das Label Experimentiergemeinschaft bekommen, andere Spielräume bzw. Körbe könnten mit Meine Musik – unsere Musik, mit Gefühle und Gefühlsdramen, Absolute Musik, Groove & Move oder Rauschen gelabelt werden. Diese Label können auch ganz anders lauten, sie sollen lediglich Qualitäten für Konstellationen von Praktiken anzeigen und dafür sorgen, dass die Musikpraxen, die die Schül mit Material aus wechselnden Körben gestalten, möglichst charakteristisch verschieden sind.
2. Die Zone der Musikpraxis: Dritte Räume, von Schül kom-poniert (zusammengesetzt) aus einer selbst getroffenen Auswahl an Praktiken, Narrativen, Artefakten und Subjektivierungen aus einem der Körbe. Der Gestaltungsprozess wird von schulischer Seite unterstützt durch Räume, Ausstattung für verschiedene „Körbe“ (zum Beispiel in Form unterschiedlich eingerichteter Musikräume und außerschulischer Kooperationen) und Menschen mit musikalischer und pädagogischer Expertise. Dieser Dritte Raum soll bestimmt sein durch: das probierende Gestalten und Anstreben einer Erfüllungsqualität entsprechend dem jeweiligen Korb mit darin angebotenen Praktiken, Instrumenten, Gestaltungstechniken, Organisationsformen, Klangbeispielen, Noten (sofern das der Praxis entspricht), Erzählungen, ethischen Idealen, entsprechenden Lehr- und Lernformen wie z.B. lehrerzentrierte Instruktion, notenbasiertes Üben oder „autodidaktisches“ Heraushören und Covern usw. Die Gestaltung einer Praxis kann auch im vorbereiteten, rezeptiven oder aktionistischen Aufsuchen von außerschulischen Erfahrungsräumen bestehen. Letztlich steht das Erfahren einer erfüllten Praxis im Vordergrund, weil ohne diese keine Qualität von Musik emergiert. Ein Beispiel dafür, dass letztlich die Wahrnehmung der komponierenden Schülgruppe über die Auswahl der Mittel entscheiden sollte, wird in Neue SchulMusik: Ästhetische Praxis oder Enkulturation (vgl. Wallbaum 2006) am Beispiel einer Gestaltungsaufgabe durchgespielt, in der gegebene Stilmittel und Schülwahrnehmung in Konflikt geraten.
3. Die Zone des Vergleichens: Die Summe aller erfahrenen Musikpraxen stellt erneut einen Dritten Raum dar, in dem sich am Ende einer Schulzeit deutlich mehr als zwei Kulturen befinden. Dieser lokale und globale Musikpraxen und auditive Wissenskulturen umfassende Dritte Raum ist durch das Vergleichen grundverschiedener Musiken geprägt, ohne dass der Wertmaßstab einer einzelnen Wissenschaftsdisziplin oder Musikkultur bzw. -praxis das Tertium Comparationis bildet. (Eine Einführung in die Praktiken des Vergleichens und den Umgang mit Tertia Comparationis mit zahlreichen Illustrationen siehe Wallbaum & Stich: 2018, insbesondere Fig.10 (ebd.:54).)
Fazit und Rezeption
Der Begriff des Dritten Raumes nach Homi K. Bhabha macht sichtbar, dass und wie das praxistheoretisch fundierte Modell Musikpraxen erfahren und vergleichen (Mev) die kulturelle Dimension von Musik und Unterricht reflektiert. Dritte Räume sind durch eine übergangsmäßig ausgeprägte Hybridität, also Vermischung von – praxeologisch gesprochen – kulturellen Praktiken, Artefakten, Narrativen bzw. Diskursen und Verkörperungen bzw. Subjektivierungen (einschließlich Aufmerksamkeitsrichtungen) aus verschiedenen Kulturen bei (tendenziell) symmetrischen Machtverhältnissen gekennzeichnet. Sie sind offen für Entwicklungen oder Deutungen in unterschiedliche Richtungen. Indem Mev solche Dritten Räume zum einen in den Phasen oder Zonen des Gestaltens und Erfahrens und zum anderen in denen des Vergleichens von Musikpraxen vorsieht, stellt es eine Möglichkeit dar, Kulturalität und kulturelle Vielfalt sowohl aus Teilnehmer*innen- als auch aus Beobachterperspektiven zu thematisieren, ohne dabei bestehende kulturelle Unterscheidungen festzuschreiben.
Ein Blick auf die Rezeption des Modells macht dessen vielfältige Bezüge zu allgemeinen Fragen Kultureller Bildung sichtbar. Nach seiner ersten zusammenhängend kulturtheoretischen Darstellung (in Wallbaum 2020) haben selbst ablehnende Beschreibungen dessen konzeptionelle Stimmigkeit zugestanden. Die gleichwohl skeptischen Bewertungen des musikpädagogischen Rangs von Mev neben anderen Modellen in einführenden Überblicken (Werner Jank 2021:73-77 und Peter W. Schatt 2021:194-196) seien erwähnt, können hier aber nicht im Detail reflektiert werden. Ich vermute, die unterschiedlichen Bewertungen könnten wesentlich damit erklärt werden, dass die Autor*innen Kultur (und das Soziale) ontologisch anders verorten. Anhand einer Unterscheidung von Reckwitz (2003:288f.) würden beide – trotz vermeintlich praxis- (Jank) oder kommunikationstheoretischer (Schatt) Orientierung – die Kultur mentalistisch ‚im Kopf‘ oder textualistisch in Zeichen verorten. Beide Ansätze erscheinen daher aus der Perspektive der Praxistheorie, die Kultur in Praktiken verortet, als „intellektualistisch“ (Reckwitz ebd.). D.h., dass im praxistheoretischen Verständnis bei der Entstehung und Tradierung von Kultur(en) Sprache und Denken zwar beteiligt sind – aber nur als abhängige Bestandteile von Praktiken.
Erwähnt sei auch eine Lesart von Oliver Krämer (2022), die im Zentrum von Mev ein Streben nach Freiheit ausmacht. Zwar wird der Freiheitsbegriff meistens eher mit humanistischen als posthumanistischen Subjekttheorien in Zusammenhang gebracht, aber zum einen scheint „die Praxistheorie nicht selten einen anderen ‚Humanismus‘ anzudeuten“ (Reckwitz 2003:297), zum anderen erscheint der Gebrauch des Freiheitsbegriffs durchaus begründet (vgl. auch den Philosophen Martin Seel 2014, der in der Praxis gründendes Nachdenken über Freiheit vorführt).
Als Übergang zu einer explizit praxeologischen Perspektive kann der Text „Streitende Eliten“ (Barth 2021) gelesen werden. Die Orientierung an Praxen im Sinne von Mev statt an Identitäten erscheint hier als Ausweg, wenn für Kulturelle Bildung weder ein (hoch)kulturell essentialistischer noch ein hyperkulturell kosmopolitischer als der einzig richtige vorgegeben werden soll.
Aus dem praxistheoretischen Diskurs heraus beschreiben Nora Leinen-Peters/Johanna Borchert (2022) Mev als eine Lösung für Diversitäts- und Hegemonie-Probleme beim Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung, und Thade Buchborn (2022) schließlich sieht in Mev eine Lösung für drei grundsätzliche Probleme der Interkulturellen Musikpädagogik (IMP), die gleichfalls auf andere Felder der Kulturellen Bildung übertragbar sein könnten:
- In der inhaltlichen Ausrichtung auf die Pole Menschen mit Migrationshintergrund und (Musik)Kulturen der Welt läge das „zentrale Dilemma“ der IMP, weil sie damit „selbst die Differenz her[stellt], die sie überwinden möchte“ (Buchborn 2022:46 und 49).
- IMP würde oft als ‚Add-on‘ verstanden, wodurch die prinzipielle Kulturalität aller Praxis verkannt würde. Interkulturalität müsse „von der Peripherie ins Zentrum“ rücken (ebd.:49f.).
- In der IMP bestünde eine „Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. „Bildungstheoretische […] Normen werden […] als Zielvorstellungen […] übernommen, aber nicht handlungspraktisch umgesetzt“ (ebd.: 51).
Buchborn hält Mev für einen „Weg aus der Krise“ (2022:52) und unternimmt es, seine These zu untermauern. Er schließt sich zitierend (ebd.:53) dem Schlusssatz aus Wallbaum (2020:148) an, „dass Mev eine neuartige und kulturbezogen reflektierte Möglichkeit für Musikunterricht in einer sowohl globale als auch lokale Kulturen berücksichtigenden Schule der Zukunft darstellt.“