Diversität, Globalisierung und Individualisierung: Zur möglichen Notwendigkeit einer Neuorientierung in der Kulturpädagogik
Abstract
Welche Anforderungen stellt kulturelle Diversität an die Kulturelle Bildung im Spannungsfeld von Globalisierungs- und Lokalisierungsprozessen? Wie positioniert sich der Einzelne im Spannungsfeld einer zunehmenden Individualisierung auf der einen Seite und dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppierungen vor Ort auf der anderen Seite? Hierzu werden unterschiedliche Gesellschaftsmodelle auf ihren Umgang mit „Künsten“ und Kultureller Bildung reflektiert - hier insbesondere bezogen auf Fragen von Zugehörigkeits- und Abgrenzungsprozessen - und eine Vision einer Kulturellen Bildung im Zeitalter kultureller Diversität entwickelt.
Die „Künste“, künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen, finden sich in einem kontinuierlichen gesellschaftlichen Wandel. Künstlerische Ausdrucksformen, die sich traditioneller Bewertungssysteme entziehen, die sich wandeln vom Werk zum Prozess, die nicht mehr innerhalb von Spartensystemen, sondern als „Gesamtkunstwerk“ jenseits künstlerischer Einzelsparten verortet werden, haben neue Anforderungen an die Kulturpädagogik gestellt. Zugleich findet sich auch die Bildungslandschaft in einem kontinuierlichen Transformationsprozess in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen, denn „[…] pädagogische Ideen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum, nicht aus sich selbst heraus, sondern sind in dem Sinne geschichtliche Ideen, […] innerhalb der politischen und sozialen Auseinandersetzung ihrer Zeit.“ (Giesecke 2004: 39) Den Herausforderungen eines kontinuierlichen Aktualisierungsprozesses muss sich in diesem Sinne auch die Kulturelle Bildung stellen.
Eine Dimension dieser gesellschaftlichen Veränderungen ist die zunehmende „kulturelle Diversität“, deren Ursachen laut UNESCO (2009: 5 f.) zurückzuführen sind auf „Globalisierung“, der politischen Öffnung von Märkten und der Weiterentwicklung von Kommunikationsmedien, die weltweiten Handel und Austausch ermöglichen, die zunehmende „Migration“ und Zunahme an „interkulturellen Touristen“, die durch schnelle und günstige Transport- und Reisemöglichkeiten begünstigt wird, und dem Trend zur „Urbanisierung“. Globalisierungsprozesse können grundsätzlich zwei gegensätzliche Tendenzen fördern: Zum einen den vermehrten Rückgriff auf globale kulturelle Praktiken, die sich loslösen von nationalen oder regionsspezifischen Gegebenheiten, insbesondere zu beobachten in urbanen Gebieten, und zum anderen die Rückbesinnung auf das lokale, regional Spezifische in Abgrenzung zum „Mainstream“.
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Auswirkungen zunehmender kultureller Diversität auf die kulturpädagogische Praxis unter der Fragestellung: Welche Anforderungen stellt kulturelle Diversität an die Kulturelle Bildung im Spannungsfeld von Globalisierungs- und Lokalisierungsprozessen? Oder aus der Subjektperspektive: Wie positioniert sich der Einzelne im Spannungsfeld einer zunehmenden Individualisierung auf der einen Seite, die sich beispielsweise loslöst von bisher bewährten Lebens- und Verhaltensmustern in einer Region oder einem Milieu, und dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppierungen vor Ort auf der anderen Seite?
Mit der Ausgangsthese einer zunehmenden kulturellen Diversität muss innerhalb der Kulturellen Bildung auch die kritische Frage gestellt werden: Dürfen wir angesichts einer zunehmend globalisierten und differenzierten Gesellschaft überhaupt von einer veränderten Kunstpraxis bzw. den „Künsten“ sprechen oder spiegelt sich hier eine dominierende westlich europäische, angloamerikanische Sicht wider, die angesichts von Migration und Globalisierung und damit auch einhergehend des Trends der Lokalisierung bzw. Regionalisierung (Buß 2002) nicht haltbar ist – oder zumindest erweitert werden muss? So wird beispielsweise u.a. im UNESCO-Weltbericht darauf hingewiesen, „dass westliche Paradigmen durch Vermittlung von Technologien erheblich an Einfluss gewinnen“ (UNESCO 2009: 6).
Kulturelle Diversität wird in der folgenden Betrachtung nicht nur als kulturgeografisches Phänomen verstanden, sondern in seiner ursprünglichen Begrifflichkeit auch als milieu-, alters-, ethnisch-, religions- oder regionsspezifische Ausprägungen (Yildiz 1997: 13).
Um sich der Ausgangsfrage anzunähern, werden in einem ersten Schritt unterschiedliche Gesellschaftsmodelle reflektiert auf ihren Umgang mit „Künsten“, ästhetischen Ausdrucksformen und Kultureller Bildung, hier insbesondere bezogen auf Fragen von Zugehörigkeits- und Abgrenzungsprozessen. In einem zweiten Schritt werden diese Reflexionen genutzt, um eine Vision zu entwickeln, wie eine zeitgemäße diversitätsbewusste Kulturelle Bildung aussehen könnte im Zeitalter einer „globalisierten“ und individualisierten Gesellschaft, mit vielfältigen kulturellen Lebensstilen und künstlerischen Ausdrucksformen: Kulturelle Bildung im Zeitalter kultureller Diversität.
Zur Rolle der „Künste“ und der Kulturellen Bildung als kultureller Identitätsfaktor innerhalb unterschiedlicher Gesellschaftsmodelle
Künstlerisch-kreative und ästhetische Ausdrucksformen können sehr unterschiedliche Funktionen in unserer Gesellschaft einnehmen, beispielsweise die Dokumentation der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft, der „Willen zur Verewigung“ oder der Motor für innovative gesellschaftliche Veränderungen (Kugler 1842: 1). Eine Funktion kann natürlich auch in der Forschung von Identitätsprozessen einer Gemeinschaft liegen. Im Modell kultureller Identitäten vertritt beispielsweise Jan Assmann (2005: 139) die Ansicht, dass kollektive Identität „nicht ‚an sich‘, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen“ (ebd.: 132), existiert. Für dieses Bekenntnis bedarf es eines gemeinsamen kulturellen Symbolsystems, das nicht nur die Sprache umfasst, sondern eben auch „Riten und Tänze, Muster und Ornamente, Trachten und Tätowierungen, Essen und Trinken, Monumente, Bilder, Landschaften, Weg- und Grenzmarken“ (ebd.: 139). Kulturelle Symbole, hier also auch künstlerisch-kreative Ausdrucksformen, dienen nach diesem Modell als wichtige Grundlage für das Konstruieren kultureller Identitäten, die nach Assmann innerhalb einer Gruppe auch der ständigen Reproduktion und Aktualisierung bedürfen. Dieses Modell kann natürlich auf eine kulturelle Gemeinschaft angewendet werden, die sich auf unterschiedlichsten Ebenen definiert: national, regional, alters-, bildungs-, schicht-, milieu- oder beispielsweise interessenspezifisch.
Ein nicht geografisch intendiertes Beispiel für die Rolle der „Künste“ in gruppenspezifischen kulturellen Abgrenzungsprozessen wäre das Phänomen der Jugendkultur(-en) mit eigenen künstlerischen und ästhetischen Ausdrucksformen. Dass sich Jugend mit eigenen Kunstformen positioniert, ist ein neueres Zeitphänomen. Die Entdeckung der Bedeutung einer Altersphase zwischen Kind- und Erwachsensein und deren Thematisierung führte auch zu künstlerischen Abgrenzungsprozessen. Dabei werden „Jugendkulturen […] von jeder Generation neu erfunden“ (Lissek 2011). Auch wenn sich aktuell die Hip-Hop-, Emo- oder Cosplayer-Szenen zunächst vollkommen voneinander unterscheiden, verfolgen diese doch alle vergleichbare Ziele. Denn es ist wichtig für die Akteure, sich von Erwachsenen, aber in einer zunehmend diversitären Gesellschaft auch von anderen Jugendlichen, abzugrenzen. Dies geschieht, indem mit Gleichgesinnten ähnliche Musikstile, Modeerscheinungen und andere ästhetische Ausdrucksformen entwickelt und gepflegt werden. Zugehörigkeitsprozesse stehen in der Regel also immer in Zusammenhang mit Abgrenzungsprozessen.
Im Folgenden werden unterschiedliche Gesellschaftsmodelle in ihrem Umgang mit den „Künsten“ und Kultureller Bildung, speziell bezogen auf Fragen gesellschaftlicher Identitäts- und Abgrenzungsprozesse, reflektiert. Diese Reflexionen sollen im Anschluss helfen, neue kulturpädagogische Ansätze für eine diversitätsbewusste Kulturelle Bildung entwickeln zu können.
„Künste“ und Kulturelle Bildung in homogenen Gesellschaftsstrukturen
Welche Rolle nehmen die „Künste“ und Kulturelle Bildung bezogen auf Zugehörigkeits- und Abgrenzungsprozesse in homogenen Gesellschaften mit flachen bzw. kaum vorhandenen hierarchischen Strukturen ein, beispielsweise bei Naturvölkern? Karl Woermann vertritt in diesem Kontext, dass ein „Kulturvolk“ eine pluriforme, in verschiedenen Disziplinen und Techniken vorkommende und naturalistische Kunst aufweist, ein Naturvolk oder „Halbkulturvolk“ dagegen nicht (vgl. Woermann 1900-1924). Dies hieße im Umkehrschluss, dass es sich hier eher um „singuläre Kunstformen“ handelt. Im Sinne des vorausgehend skizzierten Theoriemodells von Assmann hätte eine solche Gesellschaftsform festgelegte und allgemein innerhalb dieser Gemeinschaft anerkannte kulturelle Symbolsysteme, auch künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen, die jedem innerhalb der Gemeinschaft vertraut sind, die gepflegt werden, beispielsweise im Rahmen von Ritualen, und die entsprechend reproduziert werden. Die Beobachtung des Vorhandenseins eher einheitlicher künstlerischer und ästhetischer Ausdrucksformen, die eine Gemeinschaft stabilisieren, ist dabei nicht gleichzusetzen mit dem Grund, warum künstlerische Ausdrucksformen entstehen. Hier gibt es sehr unterschiedliche Theorien. So sieht beispielsweise Franz Kugler den Ursprung der Kunst in dem von der Rhetorik tradierten „Bedürfnis des Menschen, seinen Gedanken an eine feste Stätte zu knüpfen“ im Sinne der Memorialkultur, hier das Ewige im Irdischen zu vergegenwärtigen (Kugler 1842: 1). Die Frage nach den Ursprüngen der „Künste“ soll hier nicht weiter thematisiert werden, sondern nur die Rolle künstlerischer und ästhetischer Ausdrucksformen, bezogen auf Identitäts- und Abgrenzungsprozesse innerhalb einer Gemeinschaft. Mit Blick auf homogene Gemeinschaften, wie Naturvölker, kann vermutet werden, dass einheitlich gepflegte kulturelle Aktivitäten bzw. künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen eine zentrale Grundlage einnehmen für das Konstruieren einer gemeinsamen kulturellen Identität innerhalb dieser Gemeinschaft.
Für die Didaktik und Aufgabenstellung der Kulturellen Bildung innerhalb einer solchen homogenen Gesellschaftsstruktur heißt dies konkret, dass diese vor allem sicherstellen muss, dass der Einzelne innerhalb dieser Gesellschaft lernt, mit den vorhandenen kulturellen Codes, hier auch den künstlerischen Ausdrucksformen, umzugehen. Es gibt in diesem Fall einen festgelegten inhaltlichen Kanon für die Kulturelle Bildung. Die Entwicklung neuer künstlerischer Perspektiven steht dabei nicht explizit im Fokus.
„Künste“ und Kulturelle Bildung in hierarchischen Gesellschaftsstrukturen
Auch in hierarchisch strukturierten Gesellschaften findet sich eine Art „Kulturkanon“. Ein Beispiel für eine hierarchisch strukturierte Gesellschaftsform wäre die Ständegesellschaft. „In der Regel nehmen Stände in Anspruch, eine bestimmte Funktion in der Gesellschaft auszufüllen, und versuchen, diese zu monopolisieren.“ Dabei bilden sie „ein Gruppenbewusstsein und Gruppenhandeln aus“ (Bahrdt 1985: 128) und es existieren „Kriterien für eine genaue Festlegung der Zugehörigkeit“ (ebd.: 139). Solche Zugehörigkeiten manifestieren sich auch an den gepflegten ästhetischen und künstlerischen Ausdrucksformen, so die höfische Dichtung oder der Minnesang (Nestler 1962: 80 f.) bei Rittern und Adel, der Meistersang (ebd.: 86 f.) der Handwerksgilde oder der Schwank oder das Volkslied (Wiora 1950) für das Volk. Dabei werden die Kunstformen der Elite bzw. herrschenden Stände oftmals als besondere Leistungen der Gesellschaft kenntlich gemacht. Dies kann in Monarchien beobachtet werden, aber beispielsweise auch noch in der bürgerlichen Gesellschaft. So pflegte das Bürgertum die Rezeption künstlerisch-kreativer Werke und Veranstaltungsformate, die in der Vergangenheit auch vom Adel geschätzt wurden, als Zeichen seiner Zugehörigkeit zu einer privilegierten Bildungsgruppe innerhalb der neu entstandenen Gesellschaftsform.
Bezogen auf das Bürgertum entwickelt Pierre Bourdieu als wichtige theoretische Referenz in den 1970er Jahren seine Theorie des „Kulturellen Kapitals“, in der das Motiv der Pflege spezifischer künstlerischer Ausdrucksformen als „Distinktionsgewinn“ (Bourdieu 1982) entstand, mit der die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse manifestiert werden soll. Künstlerische Ausdrucksformen dienen nach Bourdieu in diesem Sinne als Mittel, einen spezifischen Geschmack und Lebensstil zu demonstrieren und sich damit von anderen gesellschaftlichen Klassen zu unterscheiden. „Die im objektiven wie im subjektiven Sinn ästhetischen Positionen, die ebenso in Kosmetik, Kleidung oder Wohnungsausstattung zum Tragen kommen, beweisen und bekräftigen den eigenen Rang und die Distanz zu anderen im sozialen Raum.“ (Ebd.: 107) Analog zu Assmanns werden hier spezielle künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen genutzt als gemeinsame Symbole der Verständigung, der Kommunikation, Reproduktion und Aktualisierung, um auf der einen Seite bewusst eine Gruppenzugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Elite zu verdeutlichen und sich zugleich von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzusetzen.
Für die Didaktik und Inhalte der Kulturellen Bildung innerhalb einer solchen hierarchischen Gesellschaftsstruktur bedeutet dies, unterschiedliche kulturelle Bildungsangebote für einzelne Gesellschaftsgruppen bereitzustellen. Für diese Gruppen, die selbst keinen Anspruch auf die Zugehörigkeit zu einer Elite haben, sind dies vor allem Angebote, die einen Kulturkanon vermitteln, der die Bedeutung der künstlerischen Ausdruckformen, die die Elite pflegt, unterstreicht und als „künstlerisch“ wertvoller etikettiert als andere innerhalb der Gesellschaft gepflegte künstlerische Ausdrucksformen. Dabei müssen diese Angebote so konstruiert sein, dass sie diesen Gruppen kein tieferes Verständnis und damit keinen konkreteren Zugang zu diesem Kulturkanon, seiner Analyse, der Rezeption und vor allem der künstlerischen Reproduktion, ermöglichen. Dies beinhaltet beispielsweise mit dem nur elementaren Musik- und Kunstunterricht in Grundschulen und an Hauptschulen ein deutlich eingeschränkteres kulturelles Bildungsangebot. Umgekehrt ist es für die Elite innerhalb dieser Gesellschaft umso wichtiger, sich im Rahmen von kulturellen Bildungsprozessen sehr intensiv mit diesem Kulturkanon auf der rezeptiven, aber auch künstlerisch-kreativen Ebene auseinanderzusetzen, beispielsweise an Gymnasien durch ein vertiefendes kulturelles Bildungsangebot in Form des konkreten Musik- und Kunstunterrichts, der Existenz von Schulorchestern, durch Instrumentalunterricht an einer Musikschule oder durch eine Privatlehrkraft. Durch zusätzliche kulturelle Bildungsangebote kann sich eine gesellschaftliche Elite „kulturelles Kapital“ aneignen und sich so auch von anderen Gesellschaftsgruppen abgrenzen.
„Künste“ und Kulturelle Bildung in heterogenen, komplexen Gesellschaftsstrukturen
Die Auflösung einer Vielzahl von verbindlichen gesellschaftlichen Normen in einer Gesellschaft, die das alltägliche Miteinander regeln, führt zu Wahloptionen im Verhalten und in der Positionierung des Einzelnen in einer Gesellschaft. Und diese Wahloptionen begünstigen auch das Bilden komplexer, heterogener Gesellschaftsstrukturen.
Der soziologische Wandel von einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft zu einer heterogenen Gesellschaft ist nicht klar abgrenzbar. Der Anspruch der Schichtgesellschaft beispielsweise, eine „offene Gesellschaft“ zu sein, mit der Begründung, dass sich der gesellschaftliche Status hier nach der „Leistungsfähigkeit und -willigkeit“ richte und „nicht aufgrund von Herkunft oder Vererbung ein für alle Mal zugeschrieben“ (Korte/Schäfers 2008: 216) sei, wird durchaus kritisch bewertet. Gegner heben als „wichtigste Dimensionen sozialer Ungleichheit“ dieses Modells die „in Schichtgesellschaften graduell verteilte[n] Güter“ (ebd.) hervor, hier die berufliche Hierarchie und Qualifikation. Entsprechend könnte im Sinne von Bourdieu argumentiert werden, dass das kulturelle Kapital bzw. kulturelle Güter innerhalb der Schichten unterschiedlich verteilt seien, wie der kostenpflichtige Besuch einer Musikschule oder das Eintrittsgeld für das Museum. Damit bliebe die Verknüpfung zwischen Status und Rückgriff auf „Künste“ und ästhetische Ausdrucksformen auch in einer Schichtgesellschaft zunächst bestehen, da vor allem Beruf und Qualifikation vererbte Gesellschaftspositionen weitgehend ersetzen. Komplex werden Gesellschaftsmodelle dann, wenn kein eindeutiger kausaler Zusammenhang mehr besteht zwischen gesellschaftlichem Status und Vererbungs- oder beruflichen Kontexten, wenn sich „Schicht-, Standes- oder Klassenzugehörigkeit entkoppeln […] vom Lebensstil, von den Präferenzen des Handelns, den politischen Überzeugungen […]“ (ebd.: 205) und somit auch dem kulturellen Handeln, wie der Rückgriff auf spezifische künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen. Dafür bedarf es jedoch zunächst eines Infragestellens von kausalen Zusammenhängen. Historisch betrachtet war die so genannte 68er-Bewegung in diesem Sinne eine wichtige Bewegung für das Infragestellen gesellschaftlicher, hier auch bestehender künstlerisch-ästhetischer Normen. Auch lässt sich kritisch betrachten, inwieweit die in den vergangenen zwanzig Jahren zunehmende Kommerzialisierung von Kunst und ästhetischen Ausdruckformen diesen Prozess der Auflösung von einfachen kausalen Zusammenhängen weiter vorangetrieben hat, z.B. die starke Akzentuierung auf Jugend als idealisierte Lebensphase in der Werbung, die dazu führt, dass ältere Bevölkerungsgruppen jugendkulturelle Ausdrucksformen nicht mehr ablehnen, sondern stattdessen bewusst aufgreifen und imitieren. Damit verlieren Jugendkulturen zugleich zunehmend ihren Protestcharakter.
Die Auflösung eines verbindlichen Kulturkanons für konkrete Gesellschaftsgruppen führt in letzter Konsequenz zu Raum und Wahloptionen für den Rückgriff auf beliebige ästhetische und künstlerisch-kreative Ausdrucksformen und damit zum Verlust von klaren künstlerischen Wertigkeiten, wie spezifische Kunstformen für eine Elite. Zugleich wird der Entscheidungsprozess, sich mit spezifischen künstlerischen Ausdrucksformen auseinanderzusetzen, weniger von dem Motiv gelenkt, die eigene Wertigkeit innerhalb einer Gesellschaft zu erhöhen als vielmehr von individuellen Interessen und/oder, im Sinne von Assmann, von dem Wunsch, die Gruppenzugehörigkeit zu einem Milieu oder einer spezifischen Gruppe innerhalb dieser vielschichtigen Gesellschaft zu demonstrieren. Dabei zeichnet sich eine heterogene Gesellschaftsstruktur dadurch aus, dass die Gruppenzugehörigkeit eben nicht nur durch ein wesentliches Merkmal bestimmt ist, wie die berufliche oder finanzielle Situation, sondern beispielsweise auch durch Wertorientierungen oder Lebensstile, die sich auch innerhalb einer Berufs- oder Bildungsgruppe unterscheiden.
Ein theoretischer Ansatz in diese Richtung, der hier jedoch nicht die Zugehörigkeit, sondern Abgrenzungsprozesse in den Mittelpunkt stellt, entwickelten Stuart Hall und Paul du Gay (1996), Vertreter der Culture Studies. Hall vertritt die Ansicht, dass angesichts einer zunehmenden heterogenen und pluralistischen Gesellschaftsstruktur große Sinnsysteme nicht mehr in der Lage sind, Gemeinsamkeit zu stiften, sondern vielmehr die Abweichung von der kulturellen Norm nun die Grundlage für kulturelle Identität bildet (vgl. Keupp et al. 2008: 172). Entsprechend konnte in einer Studie, die den Einfluss von Migration auf Kunst und Kultur in Deutschland (Keuchel 2012) im Rahmen einer bundesweiten Bevölkerungsumfrage untersuchte, beobachtet werden, dass das Herkunftsland für migrantische Bevölkerungsgruppen oder die Religionszugehörigkeit für Bevölkerungsgruppen, die eine Minderheitenreligion innerhalb einer Gesellschaft zugehörig sind, einen wichtigen Stellenwert als Identitätsmerkmal einnimmt. So konnte in der Studie ein stärkeres Interesse einzelner Bevölkerungsgruppen an Künstlern und Kunstwerken aus ihrer Herkunftsregionen beobachtet werden. Es wurde zugleich jedoch anhand der Ergebnisse deutlich, dass migrantische Bevölkerungsgruppen sich in ihrer Identität eben nicht nur auf ein beschreibendes Identitätsmerkmal, wie das der Herkunft, reduzieren lassen, sondern vielfältige Identitätsbezüge setzen. Dies drückt sich beispielsweise in einem vielfach erweiterten kulturellen und künstlerischen Interessensspektrum, das eben auch Künstler und Kunstwerke aus dem Kulturraum des Aufnahmelands mit einbezieht, aus.
Die kontinuierliche Zunahme an unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen mit eigenen kulturellen Codes, ästhetischen Ausdrucksformen und Lebensstilen, die nicht auf ein konkretes gesellschaftliches Zuordnungsmerkmal reduziert werden können, spiegelt sich auch in der wachsenden Bedeutung von Milieustudien wider, wie die „Sinus-Migranten-Milieu-Studie“ (Sinus Sociovision 2008) des Sinus-Institut Heidelberg mit derzeit rund zehn unterschiedlichen Milieus in Deutschland oder beispielsweise Gerhard Schulze in einem entsprechenden kultursoziologischen Ansatz mit fünf unterschiedlichen Milieus, die sich auf eine gegenwartsbezogene, hedonistische und individualistische Ausgestaltung des eigenen Lebensstils beziehen (Schulze 2005). Dieser eher individualistische, auf das Erlebnis bezogene Ansatz, zielt weniger auf Abgrenzung bzw. Distinktion ab. Im Kontext der Künste wird im Rahmen des Unterhaltungsmilieus beispielswiese der unterhaltende Aspekt der „Künste“ betont. Im Fokus steht hierbei stärker das individuelle Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen zu einer Gruppe (ebd.).
Solche Perspektiven verdeutlichen, dass gesellschaftliche Positionierungen heute durch den Rückgriff auf spezifische künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen schwieriger sind, aufgrund der Zunahme an Wahloptionen, Lebensstilen und Milieus. Das bedingt die Auflösung zweidimensionaler kultureller Referenzsysteme, hier die Gegenüberstellung der „Kunst“ einer Elite mit einer höheren Wertigkeit, in Abgrenzung zu anderen künstlerischen und ästhetischen Ausdrucksformen in einer Gesellschaft, und damit einhergehend die Auflösung eines Kulturkanons. Dabei ist zu prüfen, ob die frühere Rolle einer Kulturelite bei der Bewertung von „Künsten“ heute abgelöst wird von der Legitimation einer Mehrheitsgesellschaft als Indikator für die Relevanz von „Künsten“ und eines spezifischen Kulturkanons.
Damit hätten sich die theoretischen Grundlagen der Kulturellen Bildung, wie sie in den 1970er Jahren diskutiert wurden – als der Begriff Kulturelle Bildung eingeführt wurde als Gegenmodell zu damals bestehender kulturpädagogischer Praxis – erneut verändert. Wurde die „Kulturpädagogik alter Prägung“ in Abgrenzung zur neuen Stoßrichtung „ als Einführung und Einweisung in je herrschende, geltende Symbolsysteme und rituelle wie kommunikative Lebensregelungen mit den Zielen Wertesicherung, Werteverwirklichung und Wertsteigerung […] die bildende Substanz“ bewertet (Zacharias 2001: 71), wurde die Aufgabe der neuen Kulturpädagogik auch darin gesehen, sich „frei zu machen von einer hierarchisierend-dominanten Hochkulturorientierung“ (ebd.: 219). Kulturelle Bildung hatte damit letztlich auch die Aufgabe, kulturelle Normen und Wertigkeiten im Sinne einer Elite unter Bezug auf Bourdieu zu entlarven und ästhetische und künstlerische Ausdrucksformen in den eigenen Lebenswelten aufzuwerten.
Die Entlarvung eines „klassischen Kulturkanons“ durch bewusste Fokussierung auf gelebte künstlerische Praxis des Subjekts im Alltag setzt jedoch letztlich immer auch die „gelebte“ Existenz eines konkreten „Kulturkanons“ innerhalb der Gesellschaft voraus. Daran knüpft sich die aktuelle Frage an, ob es überhaupt noch einen verbindlichen Kulturkanon innerhalb der Gesellschaft gibt oder, ob das Kultur-Elite-Modell Bourdieus abgelöst wurde von anderen kulturellen „Machtstrukturen“. Legitimiert sich aktuell, angesichts zunehmender Migration und Globalisierung ein neuer Kulturkanon, basierend auf ästhetischen Erfahrungen einer Mehrheitsgesellschaft, die wichtige Kommunikationsmedien dominiert, wie der westliche, europäisch-angloamerikanische Kulturraum oder global agierende Medienkonzerne? Ist es angesichts solcher Perspektiven – neben der konkreten Lebensweltorientierung des Subjekts – nicht ebenso wichtig, den Einzelnen mit unterschiedlichen ästhetischen Positionen innerhalb der eigenen Gesellschaft vertraut zu machen und sich mit diesen zu arrangieren. Max Fuchs (1999: 36) verweist in diesem Sinne darauf, dass es „vermutlich […] sogar [das] politisch entscheidende Gegenwartsproblem [ist], die Pluralität der 2000 Kulturen, die nach Aussage der UNO weltweit existieren, so miteinander in Verbindung zu bringen, dass weder ein konfliktreiches Gegeneinander noch eine gewaltförmige Assimilation entsteht.“ Wie könnte also letztlich die Kulturelle Bildung in ihrer Didaktik und ihren Inhalten in einer kulturell diversitären Gesellschaft aussehen?
Exkurs: Kulturelle Bildung in einer Risikogesellschaft
Bevor in einem abschließenden Fazit Visionen aufgezeichnet werden, welche Anforderungen Kulturelle Bildung im Zeitalter kultureller Diversität erfüllen sollte, wird vorab noch ein weiteres spezifisches Gesellschaftsmodell in Form der Beck’schen „Risikogesellschaft“ (1986) in seiner Bedeutung für die Kulturelle Bildung reflektiert. Hintergrund ist der aktuelle politische Trend, Kulturelle Bildung als ein „Allheilmittel“ für die Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme zu sehen, beispielsweise für Social cohesion (Manhart 2014: 18) oder dem Bestehen auf dem Arbeitsmarkt und Erwerb grundlegender Kompetenzen (vgl. Stiftung Mercator o.J.). Entsprechend werden in sozialen Brennpunkten gezielt junge sozial- und schulbildungsbenachteiligte junge Bevölkerungsgruppen mit großflächig angelegten kulturellen Bildungsprogrammen angesprochen, um deren Lebenssituation allgemein zu verbessern. Eines der ersten flächendeckenden kulturellen Bildungsprogramme in dieser Richtung war das venezolanische „Sistema“ (Siehe www.elsistemausa.org/el-sistema-in-venezuela.htm.) mit dem Ziel, jungen Leuten aus ärmlichen Verhältnissen mit dem Instrumentalspiel „erstmals“ eine Lebensperspektive zu geben. Dieses Programm ist mittlerweile aufgrund des großen Erfolgs Vorbild für viele weitere Transferprogramme dieser Art in Südamerika und Europa geworden, so beispielsweise auch das deutsche Programm „Jedem Kind ein Instrument“. Kulturelle Bildung mit dem Anspruch zu verbinden, die Lebensgestaltung junger benachteiligter Menschen zu verbessern, kann jedoch wie beispielsweise Michael Wimmer es betont, angesichts europäischer Jugendarbeitslosigkeit durchaus kritisch bewertet werden: „Diese Jugendlichen brauchen kreative Gestaltungsräume; aber sie brauchen auch Sicherheit, Berechenbarkeit, nachvollziehbare Perspektiven. Für sie geht es nicht nur um Kreativität an sich, sondern zuallererst um die Verbesserung der Umstände, in denen sie ihre kreativen Qualitäten zu realisieren vermögen.“ (Michael Wimmer 2015: 15 ff.; vgl. auch Wimmer 2013)
In diesem Sinne weist Ulrich Beck in seinem theoretischen Modell der „Risikogesellschaft“ nicht nur auf Chancen hin, die die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft und die Auflösung verbindlicher gesellschaftlicher Normen mit sich bringt, sondern sehr konkret auch auf Gefahren. Nach Beck führt die zunehmende Individualisierung auf der einen Seite zur Wahlfreiheit des Einzelnen, zugleich verschiebt sich jedoch damit auch die gesellschaftliche Verantwortung für den Einzelnen auf das Individuum. Denn der Einzelne und nicht die Gesellschaft wird für das Gelingen der eigenen Biografie – und hier auch der eigenen kulturellen Biografie – verantwortlich gemacht. „Ein wesentlicher Ausdruck der Individualisierung ist der Modus der Selbstzurechnung, das heißt, dass man alle positiven und negativen Ergebnisse sich selbst zurechnet.“ (Beck 2007: 63) Im Gegenzug betont Giddens (2012: 35), dass „traditionelle Kulturen […] keinen Risikobegriff“ hätten, da hier Lebenswege weitgehend vorgegeben waren. Damit stellen sich weitere Herausforderungen an die Kulturpädagogik: Bestand in den 1970er Jahren eine wichtige Aufgabe darin, Alternativen zu dem gesellschaftlich anerkannten Kulturkanon aufzuzeigen, ist heute vielleicht stärker eine Didaktik gefragt, aus einer Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten Hilfestellungen für eigene Entscheidungsprozesse an die Hand zu geben. Wie kann Kulturelle Bildung eine Entscheidungshilfe geben, einen Beitrag leisten für die Entwicklung einer eigenen kulturellen Identität bei einer Vielzahl an ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten und fehlenden Wertigkeiten bzw. normativen gesellschaftlichen Vorgaben?
Kulturelle Bildung in Zeiten kultureller Diversität, Globalisierung und Individualisierung. Mögliche Ausblicke auf eine Neuorientierung …
Vorausgehend wurden Fragen zur Gestaltung von Kultureller Bildung unter dem Einfluss der Faktoren Diversität, Globalisierung und Individualisierung aufgeworfen. Diese konzentrierten sich vor allem auf drei Themenaspekte:
- Muss Kulturelle Bildung auch in Zeiten kultureller Diversität kritisch Stellung beziehen zur Wertigkeit von Künsten innerhalb der bestehenden Gesellschaftsstrukturen?
- Ist es mit der Perspektive der „Kultur als Pluralitätsbegriff“ notwendig, in der Kulturellen Bildung nicht nur künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen der eigenen Lebenswelt, sondern kulturelle Vielfalt anhand unterschiedlicher künstlerischer und ästhetischer Ausdrucksformen zu thematisieren? Und wählt man diese Inhalte aus, um auf der einen Seite Wahloptionen für die Gestaltung der eigenen Biografie zu ermöglichen und zugleich einen „Clash of Civilizations“ (Huntington 1996) zu vermeiden?
- Ist es eine Aufgabe der Kulturellen Bildung, angesichts kultureller Vielfalt und fehlender gesellschaftlicher Vorgaben und Wertigkeiten, Entscheidungshilfen und Orientierungen zur Gestaltung der eigenen kulturellen und künstlerischen Biografie an die Hand zu geben? Wie könnten solche Orientierungshilfen aussehen?
All diese Fragestellungen thematisieren künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen verschiedener Lebenswelten und „Kulturen“. Das Zusammenspiel verschiedener „Kulturen“ im Sinne des Pluralitätsbegriffs kann im Rahmen unterschiedlicher Deutungsmuster umschrieben werden. Im aktuellen Diskurs dominieren vor allem drei zentrale Deutungsmuster (vgl. Göhlich et al. 2006: 20 ff.), die in der Praxis oftmals durch unterschiedliche politische Interessen und Steuerungsprozesse geprägt sind, so Poly-, Inter- und Transkulturalität (Welsch 1995: 39 ff.).
Polykulturalität als Deutungsmuster betont das Nebeneinander unterschiedlicher, vielfältiger Lebenswelten und Kulturen, die gemeinsam in einem Raum gegenseitiger Wahrnehmung existieren. Interkulturalität als Deutungsmuster unterstreicht die Dialogperspektive und Interaktion zwischen unterschiedlichen, vielfältigen Lebenswelten und Kulturen und die Selbstdefinition in Bezug auf das jeweils andere. Transkulturalität als Deutungsmuster hebt insbesondere die Verschmelzungs- und Neuausprägungsprozesse unterschiedlicher, vielfältiger Lebenswelten und Kulturen (Hybridisierung) und die Möglichkeiten multipler und variabler Orientierungen hervor.
Im Folgenden werden die Überlegungen einer kulturpädagogischen Neuorientierung im Sinne einer diversitätsbewussten Kulturellen Bildung im Kontext dieser Deutungsmuster reflektiert.
Polykulturalität und Fragen zu Wertigkeiten
Wie vorausgehend aufgezeigt, hat sich seit der Etablierung des Begriffs „Kulturelle Bildung“, und damit einhergehend einer Neuorientierung der Kulturpädagogik, in den 1970er Jahren die kulturelle Praxis in der Gesellschaft sehr deutlich verändert. Diese gesellschaftlichen Veränderungen wurden vorausgehend soziologisch u.a. anhand von Gesellschaftsmodellen veranschaulicht, so dem Wandel von einer Schichtgesellschaft hin zu Milieu-Modellen (vgl. Sinus Sociovision 2008; Schulze 2005), die dem Individuum per se eine Vielzahl an möglichen kulturellen Ausdrucksformen und Lebensstilen an die Hand geben, unabhängig spezieller Statusmerkmale, wie Beruf oder Bildung. Dies beinhaltet Chancen, aber auch Gefahren im Sinne des soziologischen Modells der „Risikogesellschaft“ von Beck (1986), so vor allem die Frage nach Orientierungen für den Einzelnen, angesichts der Mehrdimensionalität ästhetischer Ausdrucksmöglichkeiten in unterschiedlichen Lebenswelten. Damit steht die vorausgehend thematisierte Frage im Raum: Bedarf es in der Kulturellen Bildung einer Didaktik, die hilft, aus einer Vielzahl an Wahloptionen, Wege für die Gestaltung einer eigenen kulturellen Biografie und Identität zu ermöglichen? Um diese Gestaltungsfreiheit zu ermöglichen, bedarf es zum einen der Kenntnis und Identität von Wahloptionen. Für ein zeitgemäßes kulturelles Bildungskonzept könnte dies im Umkehrschluss bedeuten, dass grundsätzlich verschiedene künstlerische und ästhetische Ausdrucksformen aus unterschiedlichen Milieus, Kulturräumen oder beispielsweise Altersgruppen thematisiert werden.
Wird dabei von der Annahme ausgegangen, dass Wertigkeiten innerhalb der „Künste“ heute keine bzw. eine untergeordnete gesellschaftliche Relevanz besitzen, könnten Entscheidungshilfen in der Kulturellen Bildung ermöglicht werden: durch das Sichtbarmachen aktueller Abgrenzungs- oder auch Identitätsprozesse innerhalb bestehender Milieus, durch Rückgriff auf spezifische ästhetische und künstlerische Ausdrucksformen. Diese Sichtbarmachung kann den Einzelnen bei der Erschließung und Gestaltung der eigenen kulturellen Biografie innerhalb bestehender kultureller „Vielfalt“ unterstützen.
Wird jedoch von der Annahme ausgegangen, dass noch Wertigkeiten innerhalb der „Künste“ in der heutigen Gesellschaft bestehen, stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit, entsprechende „Machtverhältnisse“ und „hierarchisch-dominierende“ Muster aufzudecken und zu diskutieren. Vorausgehend wurde schon die Frage aufgeworfen, ob sich „hierarchisch-dominierende“ Muster in den „Künsten“ in der Gesellschaft, z.B. auch aufgrund von Globalisierungseffekten, verändert haben und heute weniger in Richtung einer gesellschaftlich anerkannten „Hochkultur“ als vielmehr in Richtung einer Dominanz angloamerikanischer, westeuropäischer Kulturvorstellungen beobachtet werden können oder auch angesichts der Dominanz der Märkte in kommerziell und medial gelenkten Interessenskontexten. Mit einer Neuausrichtung von Kultureller Bildung sollte der Anspruch verbunden werden, „hierarchisch-dominierende“ Muster in den „Künsten“ im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels immer wieder neu zu analysieren und kritisch zu reflektieren.
Interkulturalität und Dialogfähigkeit
Existieren viele unterschiedliche kulturelle Lebensstile mit unterschiedlichen ästhetischen und künstlerischen Prägungen nebeneinander, stellt sich die Frage nach der Dialogfähigkeit dieser Gruppen und Individuen. Eine solche Dialogfähigkeit könnte innerhalb kultureller Bildungskonzepte zum einen gestärkt werden durch die schon geforderte notwendige Thematisierung vielfältiger ästhetischer und künstlerischer Ausdrucksformen in der Vermittlungsarbeit, um den Einzelnen für die bestehende kulturelle Vielfalt und damit auch bestehender Differenzen zu sensibilisieren. Dabei ist es entscheidend aufzuzeigen, dass die eigene Ausgangsposition, die eigenen künstlerischen und ästhetischen Prägungen, sich grundlegend von denen Dritter unterscheiden können. Das Wissen, dass die eigenen ästhetischen Prägungen und Wahrnehmungsperspektiven nicht unreflektiert auf Dritte übertragen werden können, ist besonders wichtig für VermittlerInnen in der Kulturellen Bildung in einer diversitären Gesellschaft.
Vermittelnde in der Kulturellen Bildung brauchen also zunehmend Konzepte, wie sie unterschiedliche ästhetische Vorprägungen innerhalb ihrer Zielgruppe berücksichtigen können. In der Akademie Remscheid für Kulturelle Bildung beispielsweise wird daher mit Fördermitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und in Zusammenarbeit mit der Universität Münster das Weiterbildungsprogramm „DiKuBi –Diversitätsbewusste Kulturelle Bildung“ für Kunst- und Kulturschaffende in der Kulturellen Bildung erprobt.
Die Fähigkeit zu einem Perspektivwechsel, Vertrautes aus einer neuen nicht funktionalen Perspektive zu betrachten, ist im Grundprinzip der „Künste“ verankert. Die Fähigkeit Perspektivwechsel einzunehmen, kann möglicherweise auch durch die gezielte Auseinandersetzung mit stark kontrastierenden ästhetischen und künstlerischen Ausdrucksformen gefördert werden. Vermittelnde in der Kulturellen Bildung müssen sich zunehmend mit Rezeptionsvoraussetzungen innerhalb ihrer Zielgruppen auseinandersetzen, die von der Mehrheitsgesellschaft deutlich abweichen, wie z.B. Vierteltonmusik oder die Ablehnung naturgetreuer körperbetonter Darstellung von Menschen in der Bildenden Kunst etc. Zugleich entsteht damit auch die Herausforderung, kulturelle und künstlerische Stereotypisierungen (Groot 2008: 33; siehe auch Fiedler et al. 2014: 100) von Minderheiten, kulturelle Merkmalsreduzierungen Einzelner, z.B. auf ihre Herkunft, in der Kulturellen Bildung zu entlarven und aufzugreifen.
Transkulturalität und Fragen zur Gestaltung eigener kultureller Biografien
Neben Entscheidungshilfen und der Offenlegung von Hintergründen für den Rückgriff Einzelner auf spezifische ästhetische und künstlerische Ausdrucksformen, kann die Fähigkeit, transkulturelle Prozesse (Welsch 1995) zu entdecken und wahrzunehmen, helfen, die eigene kulturelle Biografie aktiv selbst zu gestalten. Der erste Schritt liegt in der Kulturellen Bildung in dem Erkennen von Wahloptionen bei der eigenen ästhetischen und künstlerischen Positionierung; und der zweite liegt in der Förderung eines spielerischen Umgangs mit unterschiedlichen ästhetischen und künstlerischen Ausdrucksformen zur Entwicklung neuer Ausdrucksformen. Um die Stärkung des Einzelnen zu ermöglichen, helfen angeleitete Analysen von Kunstwerken, die transkulturelle Merkmale der Werke sichtbar machen. Ein mögliches kulturelles Bildungskonzept in diese Richtung zeigen die Überlegungen von Ernst Wagner zur Kulturellen Bildung in transkulturellen, urbanen Räumen auf (vgl. Wagner 2015: 235 ff.). Auch das Pilotprojekt „Kulturgeschichten aus dem Museum für Islamische Kunst“, das das Museum im Berliner Pergamonmuseum im Dezember 2011 mit Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Bahcesehir Universität realisierte, bietet ein entsprechendes Konzept an. In dem letztgenannten Projekt wurde beispielsweise die Geschichte des zentralanatolischen Drache-Phönix-Teppichs aus dem 15./16. Jahrhundert thematisiert, um Kinder in die Lage zu versetzen, auf den Spuren der Seidenstraße den bereits damals vorhandenen internationalen Austausch nachzuvollziehen und so über frühere und heutige Globalisierungsprozesse nachdenken zu können (vgl. hierzu Keuchel 2012: 180). Dass das Erkennen und Selbstinitiieren von transkulturellen Prozessen den positiven Umgang mit kultureller Vielfalt und Diversität in besonderem Maße fördert, konnte in verschiedenen Kontexten beobachtet werden (Welsch 1995: 179; siehe auch Keuchel/Larue 2013: 220). Hier gilt es, noch Pionierarbeit zu leisten für die Entwicklung konkreter transkultureller Bildungskonzepte.
Fazit – Kulturpädagogische Neuorientierung in Richtung einer diversitätsbewussten Kulturellen Bildung
Kulturelle Diversität innerhalb ästhetischer, künstlerischer, sinnlich wahrnehmbarer Dimensionen zu thematisieren, hilft dem Einzelnen, diese zu erkennen, mit ihr umzugehen und eigene Wege zu beschreiten. Zugleich bieten transkulturelle Prozesse, wie vorausgehend thematisiert, Potenziale, kulturelle Vielfalt neu zu gestalten. Eine diversitätsbewusste Kulturelle Bildung kann so dazu beitragen, auf der einen Seite den Zusammenhalt und den Dialog innerhalb einer diversitären kulturellen Gesellschaft zu stärken, zugleich aber auch dem Individuum Entscheidungshilfen und Gestaltungsmöglichkeiten für die eigene kulturelle Biografie an die Hand zu geben.
Inhaltlich könnte sich eine diversitätsbewusste Kulturelle Bildung wie folgt charakterisieren:
(Neu-)Konzeptionierung einer
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