Dinge und Kontexte: Kultur-Perspektiven im Alltag
Die Vieldeutigkeit von Dingen und multiperspektivische Betrachtungsweisen als Grundlage ethnologischer Bildungsarbeit
Abstract
Dinge zu sammeln, gehört zu den panhumanen Eigenschaften – auch wenn die Interpretation ihrer Bedeutung sich weltweit unterscheiden und in einer historischen Perspektive sich immer wieder neu entwerfen kann. Im vorliegenden Text werden verschiedene Kulturkonzepte aus ethnologischer Perspektive und weiteren Interpretationsmöglichkeiten vorgestellt, um anschließend die Bedeutung einer individuellen Wahrnehmung für den Umgang und die Bewertung von Alltagsobjekten durch verschiedene Übungen zu vermitteln. Dafür ausschlaggebend ist der bewusst vollzogene Perspektivenwechsel von einer Mikro- hin zu einer Makroperspektive auf beliebige Objekte. Während in der Mikroperspektive eine individuelle Erinnerung, ausgelöst durch das Objekt, im Fokus steht, verschwindet in einer Makroperspektive diese persönliche Haltung zugunsten einer Verallgemeinerung und es können gemeinsame Bezüge zwischen verschiedenen Objekten wie z. B. bei Messer und Gabel – gleich Haushaltsgeräte oder Waffen – definiert werden. Der Text ist eine Handreichung sowohl für Übungen mit Schüler*innen als auch für Kurator*innen in Museen mit Sammlungsobjekten oder auch für weitere Bildungskontexte, in denen das Wissen um die Vieldeutigkeit unserer Lebensstile erkenntnisfördernd ist.
Jedes Ding hat drei Seiten:
eine, die du siehst;
eine, die ich sehe;
und eine, die wir beide nicht sehen.
(Buddhistische Weisheit)
Sammeln als panhumane Eigenschaft
Dinge zu sammeln, gehört zu den panhumanen Eigenschaften, auch wenn damit jeweils andere Interessen und Werte verbunden wurden und werden. Objekte als Teil materieller Kultur wurden nicht nur für einen alltäglichen Gebrauch produziert, sondern über funktionale Bedeutungen hinausweisend. Dinge dienten schon immer dazu, um mit ihrer Hilfe Weltsichten und Lebensformen zu dokumentieren und zu interpretieren. Objektsammlungen anzulegen, bedeutet(e) nicht nur Wissen über die Welt zu erhalten und sich anzueignen. Darüber hinaus dienen sie auch als Erinnerungsstücke von wichtigen Ereignissen, die auf diese Weise an die nächste Generation weitergegeben werden. Eine solche Weitergabe über das Diesseits hinausweisend zeigt sich z. B. auch in unterschiedlichen Grabbeigaben oder in Objekten, die als Familienschatz/Familienwissen vererbt werden.
Dieses große Interesse an Objekten führte schon frühzeitig zur Gründung unterschiedlichster akademischer Institutionen, Wissenschaften und Museen. Die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen unterscheidet drei Ansätze von Sammlungen zum Wissenserwerb: antike Einrichtungen wie die Platonische Bibliothek sowie die Bibliothek von Alexandria »die gemäß ihrer Idee des Studierens und gemeinsamen Lebens mit Sammlungen ausgestattet waren«. Eine andere Leitidee kam in der Renaissance auf. Jene Zeit war dem Bestreben des Menschen gewidmet, mit Hilfe von Kunst- und Wunderkammern »seine Welt ordnend und gestaltend zu durchdringen und mit Zukunftsentwürfen auszustatten«. Während letztere zunächst noch stark von individuellen Sammlerleidenschaften einzelner Herrscher geprägt waren, beginnt der dritte Ansatz mit dem Ursprung der Museen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ist im Zusammenhang »mit dem Entstehen einer Öffentlichkeit, einer nationalstaatlichen Entwicklung, im weitesten Sinne einem öffentlich-rechtlichen Gefüge« (alle Zitate aus: Heesen 2012:31). zu sehen. Es geht bei allen obigen Beispielen immer um Ordnungsentwürfe, die die Welt erklären sollten. Abhängig von den jeweiligen Interessen und Fragestellungen änderten sich jedoch Wissen und Erkenntnisse, die mit den Dingen verbunden wurden.
Erklärungsversuche der Welt
In der Folge der weltweiten europäischen Entdeckungsreisen seit dem 15. Jahrhundert, durch die Europa Informationen über die Welten der Anderen im globalen Süden erhielten, wurde das Weltbild im globalen Norden aufs heftigste erschüttert. Alles bisher scheinbar Gültige an Weltwissen wurde nicht nur in Frage gestellt, sondern man suchte nach neuen Wegen, um sich der eigenen Gewissheit über die Welt mit dem vielfältig aufscheinenden Unbekannten, in Form von Gegenständen durch den überseeischen Handel sowie durch die Erkundung bisher nicht zugänglicher Gebiete, neu versichern zu können. Infolge der Herausbildung eines mittleren Stands im 18. Jahrhundert aus Gewerbetreibenden, Amtspersonen, Gelehrten und Geistlichen, die sich der Sammlung und Präsentation von Objekten widmeten, weitete sich das Sammeln als Praxis aus: »Sammlungen wurden zum Vergnügen und zur Wissenserweiterung angelegt, zur Kapitalanlage und zum naturwissenschaftlichen Studium sollten sie Zeugnis vom guten Geschmack des Eigentümers ablegen und verhalfen zum sozialen Aufstieg und zur sozialen Vernetzung.« (Heesen 2012:31) »Der zentrale Gedanke der Aufklärung, nämlich dass der Mensch durch Selbststätigkeit und mit Gebrauch von Vernunft und Sinnen gleichermaßen zum ›ganzen Menschen‹ zu einem sich ermündigenden Menschen werden könne, soll nicht zuletzt durch die Sammlungen verwirklicht werden.« (Ebd., S. 43)
Zunächst ging es jedoch darum, die Welt im Ganzen zu systematisieren und einem globalen Ordnungssystem unterzuordnen. Aus dieser Perspektive der Länder des globalen Nordens wurden keine Freiheiten indigener Weltsichten geduldet. Das neu Entdeckte bekam seinen eigenen Platz zugewiesen, und letztendlich mündeten alle Welterklärungskonzepte und Lebensweisen in einem evolutionären Schema, durch welches koloniale Herrschaft mit dem »weißen Mann« an der Spitze menschlicher und kultureller/zivilisatorischer Entwicklungsstufen legitimiert wurde. Die Klassifizierung der Welt führte u. a. zu Theorien über verschiedene Menschenrassen mit entsprechend verheerenden politischen Ideologien und wirtschaftlichen Konsequenzen für die kolonisierten indigenen Gesellschaften (vgl. Rein 2020). Immer aus dem Blickwinkel einer sich entwickelnden Industrialisierung sowie aus der Perspektive von Funktionalität, Verwertbarkeit und Technisierung auf die Anderen herabschauend, wurden unterschiedliche materielle Kulturen und damit verbundene Lebensformen zum entscheidenden Maßstab einer jeweiligen Entwicklungsstufe ganzer Gesellschaften.
Aber auch im 19. Jahrhundert gab es mehrere Perspektiven dazu, wie die Welt mit ihren unterschiedlichen Lebensweisen systematisch erfasst werden sollte. Johann Gottfried Herder entwickelte unter dem Stichwort »Vielheit in der Einheit« philosophische Konzepte, um die Vielfalt von Kulturen zu fassen und ist – laut dem Europäischen Ethnologen Dieter Kramer – keinem evolutionären Denkschema zuzuordnen: »Herder verteidigt die kulturelle Authentizität jedes Zeitalters gegen den Stolz und die Arroganz der Aufklärer seiner Zeit. Der Plural Kulturen ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Sein Lehrer und Zeitgenosse Immanuel Kant dagegen spricht von Kultur nur im Singular. Mit dem Pluralismus von Herder und dem universalistischen Anspruch von Kant streiten zwei Konzepte der Aufklärung miteinander.« (Kramer 2004)
Laut dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp wurde im Christentum die ausschließlich beschreibende Naturgeschichte der Antike kanonisiert, da »[...] die Beschränkung der ›Geschichte‹ zur mosaischen Chronologie passte, der zufolge die Schöpfung in sechs Tagen erfolgt und vom siebten Tag an in der Grundstruktur der Arten und Stoffe unverändert geblieben war. Die Natur besaß keine Geschichte, sondern eine Physiognomie« (Bredekamp 2007:16).
Erst in einer historischen Perspektive, die über die reine Beschreibung hinausweist, erschließt sich auch ein Bedeutungswandel von Objekten. Die Immanuel Kant (1775) zugeschriebene Zerlegung der »naturalis historia« in eine beschreibende und eine historische Komponente, wurde laut Bredekamp bereits von Erfahrungen in den Kunstkammern (16. bis 18. Jahrhundert) durch die gleichzeitige Aufstellung von antiken Skulpturen, neben Objekten aus der Natur und zeitgenössischen Automaten vorweggenommen. Durch den »puren Augenschein« des Ineinanders und des Konflikts von Natur- und Menschenwerk erlebten so bereits Besucher*innen von Kunstkammern eine Dynamisierung der Natursicht und gelangten ohne weitere Steuerung zu einer »historischen Vertiefung der Naturgeschichte« (Bredekamp 2007:17). Laut Bredekamp bestimmte nun der Zwang des Nutzens die Rangordnung der Künste und bewertete diese nach dem Grad ihrer Nützlichkeit und Funktionalität (ebd. S. 78; vgl. auch Heesen 2012:38f). Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Naturalienkabinette als Ausdruck überkommender Sicht der Natur als »verstaubte Rumpelkammer[n]« verachtet (Bredekamp 2007:82).
Bereits im 17. Jahrhundert hatte sich ein Kabinettswesen mit spezielleren Sammlungen – unterstützt durch das neue Ordnungssystem von Carl von Linné – herausgebildet, in welchen »der Repräsentationsgedanke der ganzen Welt zugunsten der genaueren Erforschung und Darstellung eines Teils der Welt« (Heesen 2012:37) zurückgestellt wurde. Parallel zur Auflösung der Kunst- und Wunderkammern entwickelten sich die einzelnen Wissenschaften. Sammlungen, die einst ein materielles Archiv der gesamten Welt sein sollten, wurden auf die verschiedenen, sich seit dem 18. Jahrhundert konstituierenden Museumstypen verteilt.
Neben der Klassifizierung und Temporalisierung trat dadurch auch eine Entpersönlichung ein, die die Person des Sammlers und sein Gedächtnis ablöste und stattdessen einen (Museums)Raum bereitstellte, in welchem sich Besucher*innen nun zu selbstbewussten Betrachter*innen wandeln sollten (Heesen 2012:46f). Heute haben wir eine Gemengelage wechselnder Deutungshoheiten zwischen Sammlern, Museen, Kuratoren, Publikum und Herkunftsgesellschaften von Objekten.
Im 19. Jahrhundert herrschte bereits ein Bewusstsein darüber, dass Objekte in Museen zu »entkontextualisierten Gegenständen geworden waren, die sich nicht allein durch entsprechende Versenkung oder systematische Aufstellung erklären ließen und somit vermittlungsbedürftig waren« (ebd., S 63.). Drei Visualisierungsweisen lassen sich seit jener Zeit unterscheiden: 1. Die Betrachtung des Einzelstücks als Meisterwerk oder als Trophäe; 2. Die Betrachtung einer Serie von Objekten als taxonomische Systematik oder als Entwicklungsgeschichte und 3. Die Zusammenstellung von Objekten als ein Gesamtbild (z. B. in einem Diorama), in dem der Gegenstand in einen atmosphärischen Zusammenhang eingebettet wird (ebd., S. 68). Während das Beobachten von Objekten der naturhistorischen Tradition aus dem 19. Jahrhundert folgte und sich, als unerlässlicher Bestandteil individueller Schulung und Bildung insbesondere von Kindern und Jugendlichen, vor allem an Individuen wendete, richtete sich im Unterschied dazu die Popularisierung einer didaktisch aufgearbeiteten Wissensvermittlung an möglichst viele Menschen ohne Vorwissen (ebd., S. 70).
Museumsperspektiven
Die vorherrschende Überzeugung, mit einer objektiven Wissenschaft objektiv gültige Daten zu erheben, führte dazu, dass die Museen mit ihrer Gründung die Deutungshoheit über die Objekte in ihren Sammlungen bis weit ins 20. Jahrhundert für sich allein in Anspruch nahmen. Ein Museum verkündete mit einer Expertenstimme eindeutige Narrative zu den gesammelten und präsentierten Werken, die man als Insider-Besucher kannte und verstand - oder eben nicht. Bis heute verweigern die meisten westlichen Museen detaillierte und transparente Erklärungen zum OEuvre oder zu den Biographen von Personen, die mit den gesammelten und ausgestellten Objekten in Verbindung stehen. Es herrscht vor allem in Kunst-Museen noch immer die Befürchtung, dass schon wenige persönliche Kommentare von Kurator*innen oder individuelle Haltungen des Museumspersonals in einer Ausstellung die ästhetische Aura eines Objekts zerstören könnten (Rein 2014:6). Erst seit den 2000er Jahren wurde es üblicher, die Autorenschaft von Texten in Ausstellungen zu publizieren und plötzlich wurde eine Stimmenvielfalt zu Objekten – als Ausdruck interkultureller Lebenswelten – zur Forderung für die Museumspraxis.
Bereits Ende der 1950er Jahre hatte sich eine Wende im hermeneutischen Umgang mit Objekten durch den Journalisten Freeman Tilden angekündigt, der den Interpretations-Ansatz für die Vermittlungsarbeit in den Museen entwickelte. Durch diesen wurden Individuen, unabhängig von Alter, Herkunft oder Stand dazu ermächtigt, ihre individuell wahrgenommene Umwelt selbst zu definieren. Dieser Ansatz »[...] betont den multiperspektivischen Blick auf die Objekte und verweist auf mehrere Ebenen des Zugangs. Ausgangspunkt ist zunächst die individuelle Interpretation von Exponaten durch die Besucher*innen, sodass eigene Bedeutungszuschreibungen und Relevanzsetzungen (meaning making) berücksichtigt werden« (Tilden 1957, zit. nach: Nettke 2017/2016).
Ein nächster Schritt in Richtung neuer musealer Ansätze im Umgang mit (Kunst) Objekten erfolgte in den 1960er Jahren als ein Ergebnis der politischen Ereignisse und Diskussionen. Forderungen nach einem barrierefreien Zugang zum ehemaligen Museumstempel wurden laut und die zeitgenössische Kunst wurde von ihrem Piedestal herabgeholt, um nun auf einer Stufe als Partner von den sie Betrachtenden beurteilt zu werden (Heesen 2012:152).
Mit der Auflösung der klassischen Rolle des Museums als bildungsbürgerlicher Hort bildeten sich verschiedene Museumswissenschaften wie die Museologie, die New Museology u. a. m. seit den 1990er Jahren heraus (vgl. ebd., S. 147). In Nachbarschaftsmuseen berücksichtigten lokale Museen die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung, die die Ausstellungsthemen mit konzipierten (ebd., S. 145). Es wurde immer weniger der Kanon eines geschlossenen Wissens transportiert, als stärker auf aktuelle gesellschaftliche Fragen und Problemstellungen zu reagieren und diese zu inszenieren._ »In der nun stattfindenden Hinwendung zu den frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern kommt die Idee eines umfassenden, alle Segmente des Wissens beherbergenden Traums zum Ausdruck, in dem die Objekte nicht allein mit Vorwissen, sondern auch durch Assoziationen und sorgfältige Beobachtung erschlossen werden können. Die Aufwertung der sinnlichen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen (Besuchers) steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.« (Ebd., S. 153)
Im Zuge der Postmoderne der 1990er Jahre wurden konstruktivistische, individuelle Ansätze noch elaborierter, indem sich nun Bedeutungszuschreibungen von Besucher*innen von denen der Kurator*innen oder anderen offiziellen Autoritäten unterscheiden ließen und dies immer weniger als eine Bedrohung offizieller (Museums-/Kurator*innen-)Autorität erlebt wurde. Im Zuge partizipativer und inklusiver Museums-Ansätze der New Museology wurde Museumsbesucher*innen sogar die Deutungshoheit von Dingen übertragen und es wurden Begriffe wie »Citizen Science« und »Das subjektive Museum« eingeführt (vgl. Rein 2017).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Perspektiven auf materielle Kultur in den vergangenen Jahrhunderten mehrere Paradigmenwechsel durchlaufen haben, von denen auszugsweise einige im Kontext von Museumsgeschichte oben erläutert wurden. Dabei wurde deutlich, dass es spätestens seit dem 21. Jahrhundert keine großen Narrative zur Erklärung von Welt mehr gibt, was auch Auswirkungen auf den Umgang mit Objekten, Sammlungs- und Vermittlungsaufgaben zeigte. Individuelle Perspektivenvielfalt auf materielle Dinge sind angesagt und werden in vielen partizipativen Projekten umgesetzt.
Im Folgenden werden nach einer kurzen Einführung in Aufgabenfelder der Ethnologie aus ethnologischer Sicht Kulturansätze vorgestellt, um Herausforderungen und Möglichkeiten von Perspektivenwechseln vorzustellen. Im Sinne der Aufklärung wird an Beispielen aus einem Workshop erläutert, wie ein fragender Umgang mit Objekten letztendlich dazu führt, eine individuelle Entscheidungsfreiheit bei der Interpretation alltäglicher Lebenswelten und kulturellen Äußerungen zu erkennen, um sich über eigene Vorurteile und Stereotypen auch außerhalb einer Museumswelt bewusst zu werden und danach zu handeln.
Die Klage der Deutschlandfahne
Zum Einstieg soll das Beispiel der Karikatur von Til Mette angeführt werden (Fahne, 2018), die am Beispiel einer Fahne auf der Couch beim Psychiater, das Zusammenspiel historischer und gegenwärtiger Perspektiven bei der Betrachtung von einem Objekt verdeutlichen.
Die Klage der Deutschlandfahne »Jeder denkt ich sei Rechts und interessiere mich für Fußball…«, provoziert mich als Betrachterin direkt zu widersprechen und zu überlegen, ob die Kategorie »Jeder« in diesem Fall auch auf mich zutrifft und ob ich dieser Aussage über eine Zugehörigkeit zu mindestens zwei Kollektiven (mit rechter Gesinnung und Fußballfans) zustimmen kann. In einer Makroperspektive auf die Geschichte der Deutschlandfahne wird deutlich, dass sich diese Aussage auf gesellschaftliche Ereignisse bezieht, die sich seit wenigen Jahren beobachten lassen. Während nach dem Zweiten Weltkrieg der Einsatz der Deutschlandfahne im privaten Bereich bei der bundesdeutschen Bevölkerung kaum in Gebrauch war, änderte sich dies mit der Fußballweltmeisterschaft 2006. Nach der WM verschwanden jedoch die Fahnen wieder von Autos und Balkonen und wurden erst zu den darauffolgenden internationalen Fußballwerbewerben erneut hervorgeholt (Thurm 2010). Nach der Bundestagswahl 2017 und dem Einzug der rechtspopulistischen Partei AFD in den Bundestag fand in Berlin eine Großdemonstration der AFD im Mai 2018 statt, in der viele Deutschlandfahnen geschwenkt wurden (Polke-Majewski/Steffen 2018). Seitdem wird die Fahne nicht mehr nur mit Fußball, sondern auch mit einer deutsch-nationalen Gesinnung assoziiert – was in den Medien zu kontroversen Diskussionen führte (s. a. Kurt 2018).
Til Mette hat diese zweifache Zuschreibung in seiner Karikatur aufgegriffen und lädt durch die Darstellung der absurden Situation »Deutschlandfahne auf der Beratungscouch« den/die Betrachter*in zum Nachdenken ein. Durch den Kontrast zwischen einer Mikroperspektive (Fahne beklagt sich) und der Makroperspektive auf historische Bezüge, erschließt sich die Karikatur. Weitere Seiten der Dinge bleiben offen. Sie liegen u. a. in dem, was das/die Kollektiv(e) der Betrachter*innen mit dieser Provokation machen wird/werden.
Im übertragenden Sinn kann die Fahne auch stellvertretend für Mitmenschen gesehen werden, die aufgrund von Äußerlichkeiten beurteilt werden. Die angesprochene Differenz zwischen einer Fremdzuschreibung und der Selbstwahrnehmung ist eine Kommunikationssituation, wie sie uns in unterschiedlichsten Situationen alltäglich begegnet – wie z. B. in der kontrovers geführten Diskussion um das Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit. Die selbstverständliche, pauschale Zuschreibung einer Frau mit Kopftuch = Muslima erscheint aktuell nicht mehr erstaunlich. Die Frau als Individuum mit etwaigen eigenen religiösen Vorstellungen oder auch säkularen Praktiken und Traditionen bleibt dabei völlig unberücksichtigt. Das Kopftuch dient hier als ein Erkennungsmerkmal für Mitglieder einer sozialen bzw. religiösen Gruppe. Dabei handelt es sich laut den Psycholog*innen Iris Six-Materna und Bernd Six (2000) um ein typisches, »kulturelles Stereotyp« mit daraus folgenden Vorurteilen. Erst im Gespräch und der Entwicklung einer Mikroperspektive auf das Phänomen Frau trägt Kopftuch, verdeutlichen verschiedene Interessen, Absichten und Werte, die u. U. je nach Tagesform und Kontext zusammen oder für sich allein, von einer Person oder einem Kollektiv in Anspruch genommen werden können. Durch die Wahl eines Blickwinkels »kann jemand gleichzeitig und in wechselnder Positionierung zu Mehrheiten und zu Minderheiten zählen« (Bolten 2010:138; s. a. Susanne Schröter 2019).
Im Kontext aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen über Wahrnehmungsweisen von Konzepten des Eigenen, des Fremden sowie das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten, werden im Folgenden unterschiedliche Fragestellungen bzw. Objekt-Perspektiven und daraus folgende Kulturinterpretationen und kulturelle Zuschreibungen vorgestellt.
Ethnologische Perspektiven
Die Vermittlung von Perspektivenvielfalt im Umgang mit Objekten und deren globale Vernetzung in verschiedenen Traditionen und Wissenswelten war der Fokus des Workshops in der Sektion »Transkulturelle Prozesse« während des kunstpädagogischen Doppelkongress »KUNST · GESCHICHTE · UNTERRICHT« 2018. Das formulierte Ziel des Doppelkongresses, den feststehenden kunsthistorischen Kanon zu hinterfragen und sich mit Nachbarwissenschaften der Kunstgeschichte auszutauschen, führte dazu, mich einzuladen, um mit ethnologischen Ansätzen kunsthistorische Unterrichtspraktiken zu ergänzen.
Das Fach Ethnologie (früher Völkerkunde) beschäftigt sich kulturvergleichend mit Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens, den Erfahrungs- und Wissenswelten von Menschen in unterschiedlichen Kulturen. Die Vielfalt kollektiver Lebensweisen wird untersucht, um Weltverständnisse zu entschlüsseln und kulturübergreifend zu vermitteln. Waren früher vor allem indigene Völker und ethnische Minderheiten/Gruppen Thema, so forschen heute Ethnolog*innen zu allen gesellschaftlichen Bereichen, wo kulturelle Differenz und Vielfalt eine Rolle spielen. Durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung erfassen Ethnolog*innen sinnstiftende Handlungsprozesse zu jeglichen Kollektiven – auch innerhalb der eigenen Gesellschaft. Sie vermitteln Bedeutungskomplexe und gesellschaftliche Zusammenhänge und fördern so eine Perspektivenreflexivität auf kulturelle Phänomene. Auf diese Weise inspirieren ethnologische Impulse den Mut, mit verändertem Blickwinkel Vorstellungen und Praktiken alltäglicher Lebenswelten neu zu betrachten, um die eigene Haltung zu verändern (s. a. online unter: www.uni-trier.de/index.php?id=65439 (letzter Zugriff am 2.2.2022; persönliche Mitteilung Ursula Rao 2019).
Dabei haben Ethnolog*innen sowohl lokale wie auch globale Phänomene im Blick, wenn sie scheinbar gesetzte Referenzrahmen überdenken, dekonstruieren und andere Perspektiven der Betrachtung mittels partizipativer Prozesse zwischen den Beteiligten entwickeln. Der holistische Ansatz umfasst emische (Innen- oder Binnensicht einer Gruppe) sowie auch etische (Außensicht) Perspektiven, wobei die Subjektivität der Forscher*innen stets mitgedacht wird.
Innerhalb globaler Phänomene liegt der ethnologische Fokus »auf der zwischenmenschlichen, kulturellen Ebene der Globalisierung. Diese ›kulturelle Globalisierung‹ steht oft im Mittelpunkt öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Studien, die sich mit den wechselnden Einflüssen kultureller Vorstellungen und den globalen Verflechtungen von Identitäten auseinandersetzen. Ethnologische Ansätze zur Globalisierung legen daher einen besonderen Fokus auf den menschlichen Umgang mit dieser globalen Komplexität. […] [und untersuchen], wie einzelne Menschen und kulturelle Gruppen mit dem globalen Wandel umgehen und globale Prozesse reflektieren. Globalisierung ist dann kein übergeordneter […] Prozess, sondern wird auf der kulturellen Alltagsebene betrachtet, auf der sich Menschen als Teil von etwas Globalem fühlen oder sich Globalisierungserscheinungen kulturell aneignen.« (Schneeweiß 2013:40)
Ethnologie ist nicht länger die Wissenschaft vom »kulturell Fremden« (Kohl 2004), deren Ziele in der Ferne, weit weg vom Eigenen liegen, sondern befasst sich inzwischen auch mit dem Eigenen. »Denn die Fremden sind in die Nähe gerückt, sind Teil der eigenen [plurikulturellen] Gesellschaft geworden und erzwingen Neukonzeptionen – nicht nur auf politischer Ebene. […] [Die] Interkulturelle Pädagogik ist aus ihrem Schattendasein als ›Ausländerpädagogik‹ herausgetreten […] Eine Interkulturelle Pädagogik soll […] für das Ganze zuständig sein, alle Interdependenzen und wirkmächtigen Konstruktionen von Menschen im interkulturellen Umgang im Blick behalten.« (Klocke-Daffa 2010:1 f.)
Im Kontext alltäglichen Erlebens vom »Eigenen« und »Fremden/Anderen« in einer plurikulturellen Gesellschaft, wird der Begriff »Alterität« wichtig, der auf ein Wechselverhältnis zwischen zwei einander zugeordneten, sich bedingenden Identitäten verweist (vgl. online unter https://www.ikud.de/glossar/multikulturalitaet-interkulturalitaet-transkulturalitaet-und-plurikulturalitaet.html; letzter Zugriff am 2.2.2022). »Das bedeutet, die eigene Identität wird immer in Abgrenzung von Anderen hergestellt. Dieses Denken in binären Oppositionen privilegiert fast immer eine Seite, sodass ›der Andere‹ als das Negative des Ersten erscheint« (Schönhuth 2005:24, Stichwort »Alterität«).
Diese Zuweisungsprozesse, die auch mit den Begriffen »Othering« oder »Veranderung« gefasst werden, sind häufig von Kolonialismus und Rassismus geprägt. Das »Fremde« ist nicht von sich aus fremd, sondern wird erst durch das Othering dazu konstruiert anders zu sein und infolgedessen kategorisch ausgeschlossen sowie mit einer festgeschriebenen Wertung belegt. »Identität gilt in der Ethnologie als Prozess und als Möglichkeit, als Ressource und als Verhandlungsobjekt« (Klocke-Daffa 2010:3) und steht damit nicht für feststehende Eindeutigkeit.
Zuschreibungsprozesse werden in erster Linie durch Perspektivenwechsel aufgedeckt bzw. verhindert. Indem die Welt aus den Augen der Anderen betrachtet wird – unabhängig davon, welche Rolle jene im Weltmaßstab spielen bzw. welchen Status sie innehaben – ist es möglich, sich einer anderen Weltsicht oder einem anderen Weltverständnis anzunähern und diese im besten Falle auch zu verstehen. Ein Perspektivenwechsel führt zu einer differenzierten, distanzierten Betrachtung und Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Probleme. Selbstverständlichkeiten werden dadurch hinterfragt. Eine holistische Betrachtungsweise, verbunden mit einer kritischen Beschäftigung mit Selbst- und Fremdbildern, regt den Abbau von Vorurteilen an (vgl. Schneeweiß 2013:25). Dabei gilt jedoch, nicht nur das Fremde vorzustellen und das Eigene zu reflektieren, sondern in einem dritten Schritt auch das Gemeinsame zu definieren (Klocke-Daffa 2010:5). Der ethnologische Dreiklang: Perspektivenwechsel, holistisches Denken und kritische (Selbst-) Reflexion bilden dafür die Basis.
Denken in beweglichen Horizonten – inter- und transkulturelle Objektperspektiven
Ausgangspunkt des vorliegenden Texts ist ein Workshop, den ich unter dem Titel: »Inter- und transkulturelle Objektperspektiven« im Kontext des kunstpädagogischen Doppelkongresses »KUNST · GESCHICHTE · UNTERRICHT« 2018 an der Akademie der Bildenden Künste in München durchgeführt habe (online unter https://studienart.gko.uni-leipzig.de/doko18/; letzter Zugriff am 2.2.2022). Die Gruppe der Teilnehmer*innen (TN) setzte sich aus Lehrer*innen, Hochschuldozent*innen, Studierenden und Freiberufler*innen aus einem pädagogisch-künstlerischen/kunsthistorischen Umfeld zusammen. Ziel des Workshops war es, anhand ausgewählter Kulturkonzepte unterschiedliche Perspektiven auf die Welt, damit verbundene Deutungen und Wertungen am Beispiel von Alltagsdingen zu vermitteln.
In unseren alltäglichen Lebenswelten sind wir unaufhörlich und oft unerwartet mit vielen Situationen und auch ambivalenten Bildern konfrontiert, die wir versuchen in kürzester Zeit einzuordnen und im besten Falle zu verstehen. Die Beurteilung von Situationen und Menschen ist hierbei geprägt durch unsere jeweilige Biografie, Erfahrungs- und Wissenswelt, die die Perspektiven, mit der wir auf die Welt blicken, formen. Unter »wir« verstehe ich an dieser Stelle keine bestimmten Personen oder Angehörige einer Gesellschaft oder Gruppe. Es ist ein panhumanes Charakteristikum, dass der individuelle Blick auf die Welt von verschiedenen Einflüssen geprägt wird. Kategorisierungen von beobachtbaren Phänomenen und komplexen Ereignissen erleichtern dabei die Informationsverarbeitung. Dieser Kategorisierungsprozess, den ein Individuum innerhalb seiner Sozialisation erlernt, ist zentraler Teil von Stereotypisierung. Formen von Verhaltens- und Beurteilungsveränderungen hängen wiederum von »personeninternen Faktoren« ab (Six-Materna/Six 2015). Das heißt, dass eigene Weltdeutungsmuster nicht starr und auf immer festgelegte Muster sind. Infolge individueller Entscheidungsprozesse z. B. durch wechselnde soziale Kontexte, veränderte Gruppenzugehörigkeiten oder Machtverhältnisse, können diese bei Bedarf flexibel umgestaltet werden.
Fokus dieses Texts ist es, mit einer kurzen Einführung zu ausgewählten Blickwinkeln auf den Begriff »Kultur« Methoden für eine Unterrichtspraxis zu vermitteln, mit denen sowohl der eigene als auch andere, sowie gemeinsame Blickwinkel auf gleiche beobachtbare Phänomene wahrgenommen werden können. Das beispielhafte Mäandern zwischen einer Mikro- und einer Makroperspektive auf Dinge des Alltags erfolgt unter einem pädagogisch-ethnologischen Blickwinkel. Dabei geht es nicht um eine umfassende Diskussion vielfältiger Definitionen von »Kultur«. Gegenstand des Texts sind Wege der Vermittlung von unterschiedlichen Blickwinkeln (u. a. von inter – multi – trans) mit ihren Konsequenzen für das alltägliche Denken und Handeln in beweglichen Horizonten.
Kultur und Kulturen
In einer weiten Kultur-Definition, die bereits von Johann Gottfried Herder (1744‑1803) allen Menschen als ein Gemeinsames zugeschrieben wurde, wird Kultur als eine panhumane Eigenschaft verstanden. Davon unterschieden werden muss der enge Kulturbegriff, die sog. Hochkultur, der sich im vor allem auf Theater, Oper und Kunst bezieht. (s. a. die vier Kulturebenen von Bolte in: Schönhuth 2006:111. Online unter http://www.kulturglossar.de/html/k-begri_e.html; letzter Zugriff am 2.2.2022, Stichwort Kultur)
Kultur ist laut dem Ethnologen Christoph Antweiler »die Fähigkeit (und Abhängigkeit), das Dasein durch Erfindungen (Innovationen) und mittels nichtgenetischer Tradierung zu gestalten bzw. bewältigen« (2007:11) und steht damit im Gegensatz zum natürlich Vorgegebenen (Schönhuth 2005, Stichwort Kultur). Der Begriff Kultur umfasst alle Aspekte menschlichen Lebens und Schaffens__ und bezeichnet zugleich eine jeweils spezifisch ausgeprägte Lebensform oder einen Lebensstil (vgl. Antweiler in: Rein 2017:12).
Wird Kultur als holistisch und umfassend verstanden, so handelt es sich laut der Ethnologin Carola Lentz um einen »kulturfundamentalistischen Kulturbegriff«, in welchem es nicht um ›Hochkultur‹ oder spezielle kulturelle Eigenschaften und Produkte, sondern um eine ganze Lebensweise« geht. »Wahlweise kann der Fokus dabei eher auf Normen und Werten liegen, also auf Kultur als mentalem Programm, das die Lebensweise prägt, wenn nicht gar bestimmt. Oder unter Kultur werden die Praktiken, Institutionen und Artefakte verstanden, in denen sich die Normen und Werte materialisieren« (2016:28). Zu einem solchen fundamentalistischen Kulturbegriff gehören laut Lentz (ebenda) die Stichworte Abgeschlossenheit, Stabilität, Homogenität und Kohärenz mit den drei folgenden Annahmen:
1. die Welt sei ein Mosaik territorial verankerter, diskreter Kulturen […]; dabei werden Kulturen mit sozialen Gruppen/Ethnien/Gesellschaften gleichgesetzt.
2. Kulturen seien im historischen Langzeitverlauf relativ stabil; und
3. Unterschiede innerhalb der Kulturen seien weniger wichtig als Unterschiede zwischen den Kulturen.
Solche festschreibenden Sichtweisen mit entsprechenden Bewertungen erinnern auch an das »Kugelmodell« für Kulturen, welches irrtümlicherweise mit Herder assoziiert wird (Kramer 2004) und von Samuel Huntington (1996) weiter vertieft wurde. In diesem Modell einander abstoßender Kugeln werden Variabilität und Konflikte verdrängt, sowie Machtprozesse ignoriert. »Außerdem wird ein ›übersozialisiertes‹ Individuum unterstellt, individuelle Handlungsräume und Kreativität werden ausgeblendet« (Lentz 2016:28). In dieser Perspektive wird Kultur auch als Container bezeichnet. Im Konzept »Kultur als Container« herrscht die Vorstellung, dass Ideen aufbewahrt, verfrachtet und am Ziel bei Bedarf wieder entnommen werden können. Dieses theoretische Container-Konzept steht inzwischen in offenkundigem Widerspruch zur Erfahrung transnationaler und transkultureller Verflechtungen in der Lebenspraxis (Bolten 2016:83).
Ausdruck homogenisierender Kulturperspektiven sind auch die beiden Begriffe »interkulturell« und »multikulturell«, die seit den 1990er Jahren, die öffentliche Debatten weltweit prägen (Antweiler 2007:11). Eine homogenisierende Perspektive nimmt auch Geert Hofstede ein, der Kultur in ihrem Aufbau mit der Struktur einer Zwiebel vergleicht. In seiner Annahme über Kultur sind nur die äußeren Schalen, wie Musik oder Kleider sichtbar und veränderbar. Die inneren Werte und Einstellungen blieben jedoch unsichtbar und unveränderbar bestehen (Sarma 2012:46; für weitere Details zu den Aussagen von Hofstede sowie einer Kritik an seinem Ansatz s. a. Schönhuth 2005, Stichwort »Kulturdimensionenmodell«, und 2010:8).
Interkulturell – Interkulturalität
Das Wort »interkulturell« bedeutet wörtlich »zwischen den Kulturen« und bezeichnet »Phänomene des Umgangs, der Interaktion, meistens Prozesse der Kommunikation, die sich zwischen Angehörigen mindestens zweier verschiedener Kulturen abspielen; ein oft positiv besetztes und auf Verständigung oder Verstehen zielendes Wort, das aber die Vorstellung von mindestens zwei zunächst völlig getrennten Kulturen beinhaltet« (Schönhuth 2005, Stichwort »interkulturell«). In seinen Ausführungen zur historischen Entwicklung der Begriffe »interkulturell«, »Interkulturalität « sieht der Philosoph Rolf Elberfeld 2008 einen Zusammenhang mit der Weltausstellung in Chicago 1893 sowie mit den Einwanderungsbewegungen in die USA Anfang des 20. Jahrhunderts (Elberfeld 2008:7, 12). Für die Etablierung der beiden Begriffe »multikulturell« und »Multikulturalität« spielten laut Elberfeld vor allem die Erziehungsdebatten in den USA als auch in der kanadischen Einwanderungsgesellschaft in Hinblick auf eine multikulturelle Erziehung ab den 1960er Jahren eine Rolle (vgl. ebd., S. 19).
»Interkulturalität« bezeichnet Situationen, in denen Begegnungen zwischen Menschen, mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund unter bestimmten strukturellen Rahmenbedingungen stattfanden. In der Begegnung werden neue temporäre, interkulturelle Räume erzeugt, die auch als »Interkultur«, »Kontaktkultur« oder »third culture« bezeichnet werden. Der Begriff »Dritter Raum« wurde von dem Literaturwissenschaftler Homi Bhaba geprägt für einen real nichtexistierenden Austragungsort, in welchem die Möglichkeit besteht, kulturelle Differenz hervorzubringen (1994:37). Dieser verschwindet jedoch nach der Begegnung in Raum und Zeit wieder und kann dadurch nicht von Dauer sein. Dabei besteht die Gefahr der Beibehaltung kultureller Differenz (vgl. auch Rathje 2006:14). Strukturelle Rahmenbedingungen hinsichtlich von Dominanz und Unterordnung entscheiden darüber, was in interkulturellen Begegnungen passiert und welche Konsequenzen daraus in alltägliche Lebenswelten übertragen werden. Der Fokus von Interkulturalität liegt auf dem Prozess und der Dynamik des Zusammenlebens, wobei der homogenisierende Kulturbegriff nicht infrage gestellt wird (Schönhuth 2005, Stichwort »Interkulturalität«).
Multikulturell – Multikulturalität
Laut dem Ethnologen Michael Schönhuth (2005, Stichwort »Multikulturalität«) wird mit diesem Begriff in erster Linie eine soziale Organisationsstruktur mit drei Varianten bezeichnet. In der 1. handelt es sich um unechte, nur bevölkerungsstatistisch existente Multikulturalität. Kulturelle Eigenheiten werden mittels strikter Assimilationsforderungen vielfach eingeebnet. In der 2. bewahren kulturelle Gruppen ihre Identität und grenzen sich in friedlicher Koexistenz voneinander ab und in der 3. werden identitätsstiftende Freiräume bewahrt und akzeptiert, sodass ein interkulturelles Miteinander praktiziert wird. Vor allem in der zweiten und dritten Version ist die Folge ein kultureller Relativismus, indem Werte der Anderen jeweils als kulturspezifisch legitimiert werden (vgl. den Ethnologen Chris Hann in: Rein 2017a:13; Lentz 2016:28).
Beispiele für die Anerkennung des Konzepts »Multikulturalität« als gesellschaftliche Realität finden sich u. a. in der gegenseitigen Berücksichtigung religiöser Feiertage sowie in ethnisch definierten Kultur-Veranstaltungen – wie die seit 2003 stattfindende »Parade der Kulturen in Frankfurt/M. (Online unter: https://www.fr.de/rhein-main/parade-tot-lebe-parade-11545917.html; s. a. für Berlin „Karneval der Kulturen“, online unter: https://www.karneval.berlin/de/archiv/daten-fakten-plakatmotive.html; letzter Zugriff am 2.2.2022). Obgleich in Deutschland der Begriff Multikulturalität und multikulturell in den letzten Jahren unter dem Schlagwort multikulti in Verruf kam, gibt es seit 1989 in Frankfurt/M das »AmkA – Amt für Multikulturelle Angelegenheiten«, das sich mit weiter entwickelten Angeboten und Konzepten immer wieder neu präsentiert (online unter: https://www.amka.de/; letzter Zugriff am 2.2.2022).
Transkulturell – Transkulturalität
Mit den Begriffen »Transkulturalität«/»transkulturell« findet endlich ein Paradigmenwechsel von einer homogenisierenden Strukturperspektive hin zu einer Prozessperspektive statt. Der Anthropologe Fernando Ortiz benutzte als erster bereits 1940 den Begriff »transcultuarión« im Sinne von Kulturwandel (Elberfeld 2008:23 f.) In den 1990er Jahren wandte sich der Philosoph Wolfgang Welsch mit dem von ihm geprägten Begriff »Transkulturalität« gegen separierende und homogenisierende Kulturkonzepte, da diese vor dem Hintergrund heutiger Migrationsbewegungen, der Zunahme regionaler und globaler Vernetzungen, dem Einfluss der Massenmedien und der Binnendifferenzierung moderner Gesellschaften nicht mehr entsprechen würden (Schönhuth 2005, Stichwort »Transkulturalität«).
Damit wirkt das Präfix »trans-« »in der Bedeutung von ›quer durch das Kulturelle hindurch‹ auf einer Makroebene jene[r – A. R.] gegenseitige[n – A. R.] Durchdringung unterschiedlicher Einflüsse« (Bolten 2017:6). Welsch bezeichnet sein Konzept im Unterschied zum Kugelmodell als ein Verflechtungsmodell, in welchem Vermischung und Transkulturalität schon immer zwischen den Kulturen vorherrschend waren. »Für Welsch entsteht durch Transkulturalität freilich keine Globalkultur, keine uniforme Weltkultur, sondern sie äußert sich in Individuen und Gesellschaften, die transkulturelle Elemente in sich tragen. […]. Die transkulturelle Gesellschaft ist eine Kultur, an der alle teilhaben, egal aus welcher nationalen Kultur sie ursprünglich kommen […].« (Höppner 2010:8) Transkulturalität bedeutet demnach gegenseitige Durchdringung der Kulturen im Kontakt; die Auflösung klarer Grenzziehungen zwischen Eigenem und Fremden; die Betonung von Gemeinsamkeit und Ergänzungsfähigkeit der Kulturen.
Laut Welsch (2010:5) sind wir durch eine transkulturelle Prägung alle »kulturelle Mischlinge« und die kulturelle Identität der heutigen Individuen ist eine Patchwork-Identität. In seiner Definition benutzt Welsch jedoch weiterhin den Begriff »Kultur«, auch wenn er diese in deren Grenzen zugleich auflösen will. Auf den Punkt gebracht formulieren dies der Pädagoge Paul Mecheril und der Migrationsforscher Louis Henri Seukwa: »(Trans-)Kulturalisierung bleibt Kulturalisierung« (2006:9). Schönhuth fasst am Ende des Stichworts »Transkulturalität« seine Kritik mit dem Hinweis auf die Tatsache zusammen, dass trotz weltweiter Mobilität und Migration die meisten Menschen noch immer nicht als »Global Player« durch die Welt jetten. Sondern sie haben einen starken Bezug zu einem (Herkunfts-)Raum (Heimat), charakterisiert durch die jeweilige heterogene Binnenstruktur heutiger Gesellschaften. Schönhuth benennt als exklusive Beispiele erfolgreicher Transkulturalität vor allem zeitgenössische Schriftsteller*innen, Vertreter*innen einer transkulturellen Elite (2005, ebd.).
Die Grenzen zwischen inter-, multi-, und transkultureller Betrachtung von kulturellen Phänomenen und Ereignissen erscheinen eher fließend und in Abhängigkeit von einer jeweiligen Perspektive der Betrachtung (vgl. Abbildung).
Perspektivenwechsel
Laut dem Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Jürgen Bolten (2016a, Folie 12) entsteht der Eindruck von scheinbar eindeutigen Kulturgrenzen erst durch eine Makroperspektive auf Kulturen mit ihren variierenden Lebensweisen und Ausdrucksformen. Mit dem Blick aus der Ferne lassen sich leichter Strukturmodelle mit einer Tendenz zu Generalisierungen und Festschreibungen (wie: Das ist typisch deutsch!) mit nur geringen Spezifizierungen entwerfen. Im Unterschied zur Makro- oder Strukturperspektive bedeutet eine Mikroperspektive das Heranzoomen kultureller Phänomene, die dadurch immer heterogener, diverser und prozesshafter erscheinen (vgl. Abbildung). Zusammenfassend ist eine Makroperspektive in erster Linie eine Strukturperspektive und dient zur Identifizierung homogener Charakteristika von Kollektiven. Schönhut bezeichnet Kultur auch als social habits oder die Standardisierungen eines Kollektivs (2010:11).
Was bei einem Wechsel zu einer Mikroperspektive in der Beurteilung von Lebenswelten geschieht, wird im Folgenden mit Hilfe der natürlichen Erscheinungsform eines Eisbergs erläutert. Am Beispiel dieses Bildes lässt sich der Blickwinkel einer Mikroperspektive, verbunden mit individuellen Möglichkeiten sich differenzierten Erkenntnissen aktiv anzunähern, sehr gut illustrieren.
Nur die Spitze der im Wasser schwimmenden Eismasse wird als Eisberg sichtbar, während die Ausmaße des unter Wasser liegenden Kiels nicht abschätzbar sind. Wird die sichtbare Spitze des Eisbergs mit dem gleichgesetzt, was sinnlich wahrgenommen werden kann (wie Bekleidung, Verhalten, Musik, Essen, Gerüche), so entspricht der Kiel denjenigen Qualitäten, die für die menschlichen Sinne unsichtbar sind – wie Ideen, Gefühle, Gedanken, Fantasien, Hoffnungen, Glauben, Regeln, Normen usw. Während einer Begegnung mit Mitmenschen nimmt man das wahr, was an der Oberfläche als Teil alltäglicher Lebenswelt beobachtet werden kann. Ausgangspunkt einer Mikroperspektive sind die Fragen: »Was sehe ich?«. Im Wissen darüber, dass es sich nur um eine offensichtliche Erscheinung handelt, sollte im zweiten Schritt gefragt werden: »Was denke ich?« und »Was fühle ich?«; und weiter: »Woran erinnere ich mich?«, »Was weiß ich darüber?«, »Was will ich wissen?«, »Was soll ich sehen?« und »Was soll ich nicht sehen?«, »Wen befrage ich dazu und wer erzählt mir was?«, »Was verstehe ich nicht und was bleibt am Ende unbeantwortet?« Folgende Szene, in einem Workshop zu interkultureller Kompetenz von einem Teilnehmer erzählt, mag dies näher erläutern:
- Die Beobachtung: In Italien führte vor einem Restaurant eine Gruppe von jungen Männern aus Afrika ihre akrobatischen Kunststücke zu Trommelmusik auf. Nach der Aufführung lief einer der Künstler durch die Reihen der Zuschauenden und bat um eine Spende.
- Das Gefühl: Der am Rand des Geschehens beobachtende Student fühlte sich in der Situation sehr unwohl.
- Assoziationen: Er fragte sich, was wohl passierte, wenn niemand Geld geben würde und vermutete, dass die Künstler dann aggressiv reagieren und die Gäste angreifen würden.
- Das vorhandene Wissen: Aus Filmen und anderen Medien kannte der Student solche Überfallszenen aus Wut und Enttäuschung. Über die Lebenssituation von Straßenkünstlern wusste er nichts.
- Was soll ich sehen? Künstler, die Gäste unterhalten und für eine angenehme kreative Atmosphäre sorgen.
- Was soll bzw. kann ich nicht sehen?
• Womöglich einen Vertrag zwischen dem Restaurant und den Künstlern, in dem steht, dass von dem Einkommen etwas an das Restaurant abgegeben werden muss.
• Die Lebensumstände der Künstler wie: Sie haben schon einen italienischen Pass und planen ihre Zukunft in Italien mit ihren Familien.
• Die Künstler haben noch keinen Pass und treten illegal auf, da sie auch keine Aufenthaltserlaubnis haben.
• Ein Großteil der Einnahmen schicken sie nach Afrika zu ihrer Familie.
• Die enge und unzumutbare Wohnsituation in Italien.
• Den Hunger, da die Künstler an dem Tag noch nichts eingenommen hatten.
• Dies war ihre letzte Aufführung. Am nächsten Tag würden sie zu ihren Familien nach Afrika fliegen, wo sie ihrerseits die Eröffnung eines Akrobaten-Restaurants mit dem verdienten Geld planten.
• Einige Künstler sind enttäuscht darüber, mit ihrem hohen Einsatz nur Almosen zu erhalten.
• Einige Gäste fühlten sich belästigt, sie wollten in Ruhe essen usw.
- Fragen zum Kontext: Es gibt mindestens vier Gruppen, die dazu befragt werden müssten, wobei die individuell Befragten vermutlich jeweils eine eigene Sicht auf die Situation haben: die Künstler, die Passant*innen, die Restaurantgäste sowie die Mitarbeiter*innen und die Besitzer des Restaurants.
Der Student befragte in Italien niemanden dazu und das mulmige Gefühl verbunden mit seinen Fantasien darüber, was alles hätte passieren können, blieb ihm im Gedächtnis. Erst im Workshop konnte das Erlebnis durch das gemeinsame Erarbeiten der verschiedenen Perspektiven für ihn aufgelöst werden.
Diese Methode, mit einer Mikroperspektive kulturelle Phänomene zu betrachten und dabei Perspektivenreflexivität zu praktizieren, verhindert ein Abgleiten in stereotypes Bewerten und ermöglicht gleichzeitig die Wahrnehmung komplexer Sachverhalte und Identitäten. So wie ein Eisberg im Wasser schwimmt, nie stillsteht, wächst oder schmilzt und auch mit anderen Eisbergen zusammenstoßen und verschmelzen kann, bedeutet dies übertragen auf lebensweltliche Phänomene, dass es sich dabei nicht um fest geschriebene Traditionen mit auf ewig gültigen Normen handelt. Wie ein Eisberg, befinden sich auch jene in ständiger Bewegung und Veränderungsprozessen. Menschen treffen jeweils neue Entscheidungen über ihre individuellen Lebensstile und Formen des Zusammenlebens (Rein 2016:1 f.). Ein Meilenstein ethnologischer Kulturtheorien war u. a. der Ansatz von Clifford Geertz (1973), der sich von Erklärungen menschlichen Handelns anhand von kulturellen Gesetzen abwandte und stattdessen die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung kulturellen Handelns richtete. Laut Geertz greifen Menschen je nach Kontext auf unterschiedliche Bedeutungsgewebe zurück, durch die sie ihre Handlungen in eine der Situation angemessene Sinnhaftigkeit übersetzen. Dadurch, dass Menschen ihre sozialen Handlungen ständig interpretieren, wandeln sich auch einzelne kulturelle Phänomene sowie Kulturen (s. a. Sarma 2012:17 f.).
Vieldeutige Objekte des alltäglichen Gebrauchs
Für eine Analyse lebensweltlicher Phänomene empfiehlt es sich laut Bolten (2016a, Folie 16) mit mikroanalytischen Perspektiven zu beginnen und sich zunächst auf eine Vielfalt respektive eine Heterogenitätserfahrung zu konzentrieren, um Gefahren einer Stereotypisierung zu mindern. Im zweiten Schritt, dem des langsamen Wegzoomens, weiß man bereits, dass die individuelle Wahrnehmung z. B. eines Objekts nicht so homogen ist, wie es bei einer makro-perspektivischen Betrachtung von vornherein erlebt würde. Die Vorgehensweise entspricht Erkenntniswegen, die bereits am Beispiel des Eisbergmodells weiter oben erläutert wurden.
Um in der kurzen Zeitdauer innerhalb eines Workshops eindrückliche Erfahrungen von Perspektivenreflexivität zu ermöglichen ist es sinnvoll, sich in Kleingruppen verschiedene gedankliche Ebenen zu erarbeiten. Ein erster Schritt für eine mikroanalytische Betrachtung beginnt mit der Wahrnehmung eines Objekts verbunden mit dem gleichzeitigen Zulassen individueller Erinnerungen und Gefühle, die beim schweigenden Anschauen auftauchen.
Man hätte auch fragen können, was erzählen mir die Dinge? Unter der Sprache der Dinge geht es um die Spuren, die den Dingen anhaften und mit denen sie über ihre eigene Dingbiografie den Menschen, die sie betrachten und dabei befragen, scheinbar etwas erzählen (vgl. auch Hahn 2016:149, 150, 158). In dieser Übung geht es im ersten Schritt jedoch nicht darum, was die Dinge über sich erzählen, sondern an was sich die TN durch das Betrachten der Dinge erinnern bzw. was sie dabei empfinden. Diese Assoziationen werden in Form eines Clusters aufgeschrieben.
Der anschließende Austausch mit anderen TN, die sich dem gleichen Objekt gewidmet haben, benennt sowohl gleiche wie auch andere Aspekte. Die Auseinandersetzung mit diesen Assoziationen verdeutlicht den Teilnehmer*innen, dass der Versuch, die eigene Sicht auf die Welt als eine für alle gültige Perspektive zu etablieren, der vorher erlebten Vielfalt an Assoziationen am Beispiel eines Objekts bereits widerspricht (vgl. Wimmer 1996:17 f.).
Dass es sich dabei nur um eine Momentaufnahme handeln kann wird deutlich, wenn man den TN eine neue Aufgabe unter einer anderen Fragestellung gibt. In einer zweiten Runde soll die Perspektivenvielfalt innerhalb eines Individuums aufgrund seiner unterschiedlichen sozialen Rollen und damit verbundenen Haltungen deutlich werden. Folgt man Schönhuth, so ist ein- und dasselbe Individuum Mitglied in vielen Kollektiven (z. B. nach Geschlecht, Generation, Ausbildung, Vorlieben, Abneigungen, Geburtsort usw.). Die Summe der Kollektiv-Zugehörigkeit macht – zusammen mit rein individuellen Besonderheiten – die Identität eines Menschen aus. Wenn man davon ausgeht, dass jedes Kollektiv eine eigene Kultur besitzt so ist auch jedes Individuum als ihr Mitglied »multi-kulturell« und nicht homogen – und kann sogar mit sich selbst über konträre Positionen (wie Vielflieger und Umweltaktivist) inter-kulturelle Konflikte austragen (Schönhuth 2006:14).
Deshalb lautet die zweite Aufgabe für die TN sich dem gleichen Objekt mit der Frage zu widmen, ob ihnen bei bewusst wechselnden Rollenübernahmen z. B. als Mutter, Tochter, Pferdeliebhaberin oder Hochschuldozentin jeweils die gleichen Assoziationen einfallen wie im ersten Durchgang, wo Rollen-Blickwinkel nicht thematisiert wurden.
Für einen Perspektivenwechsel von einer Mikroperspektive hin zu einer Makroperspektive bietet es sich weiterhin an, nach gemeinsamen Schnittstellen hinsichtlich von anerkannten Funktionen und Bedeutungen eines Objekts, die über den persönlichen Eindruck hinausführen, zu schauen. Abhängig von den Kenntnissen der Teilnehmer*innen wird gemeinsam nach übergreifenden transkulturellen Wirkungsräumen von Objekten gesucht. In diesem Aushandlungsprozess von Bedeutungen erleben die Teilnehmenden, dass die Voraussetzung für eine Verständigung, die Anerkennung und Wertschätzung verschiedener Weltsichten ist.
Als Beispiel lässt sich hier das Möbelstück Tisch anführen, auf dem Mahlzeiten serviert werden, an dem gearbeitet wird, auf dem Dinge abgestellt werden oder auf dem prinzipiell auch geschlafen werden kann. Trotz unterschiedlicher Formen, Materialien und Gebrauchskontexten stellt die Funktionalität eines Tischs – unabhängig von einem persönlichen Nutzungsverhalten – eine gemeinsame Schnittstelle aus einer Makroperspektive dar. Zusätzlich könnte überlegt werden, inwieweit eine Nutzung von Tischen alltägliche Lebensformen, z. B. Essgewohnheiten beeinflussen können. Mit dem Einsatz von mehreren Objekten können in einem weiteren Schritt auf der Makroebene übergeordnete Kriterien, die die Dinge auch global miteinander verbinden, herausgearbeitet werden wie: Ästhetik, Medien, Mobilität, Religion oder auch Welt-Ordnungssysteme wie im Falle von Karteikästen, Maßbändern, Land-/Seekarten oder Waagen.
Ein gutes Beispiel für das Mäandern des Blicks zwischen einer Mikro- und einer Makroperspektive ist das Hamam-Tuch. Dieses kann unterschiedliche persönliche Erinnerungen hervorrufen (Stoff, weich, Wärme, Hülle, sowie Wohlsein, Strand, Tischdecke. In einer historischen Perspektive wird das Hamam-Tuch auch mit einem religiösen Gebot, das die Bedeckung der menschlichen Geschlechtsteile in der Öffentlichkeit vorschreibt, assoziiert. Ein Hamam-Tuch Baumwolltuch in verschiedenen Farben, Größen und mit Fransen an beiden Enden) wurde zunächst vorwiegend in der türkisch-arabischen Welt im Kontext der dort üblichen öffentlichen Badeanstalt oder dem Dampfbad (Hamam) von beiden Geschlechtern benutzt.
Eine zeitgenössische Nutzung des Hamam-Tuchs erfolgt in Deutschland auch unabhängig von einer religiösen Weltanschauung in verschiedenen Bereichen. Aktuell erinnern z. B. in Wellness Centern nur noch die Form des Tuchs und sein Name an die ursprüngliche Herkunft seines Gebrauchs, während es – aufgrund seiner textilen Qualität und Farbigkeit – nach Belieben und individuellem Geschmack eingesetzt wird. Aus einer Makroperspektive auf das Kollektiv »Nutzer*innen eines Hamam-Tuchs« bieten sich übergreifende Kategorien an wie Ästhetik, Scham, Körperpflege und Gesundheitskonzepte.
Die drei Seiten der Dinge
Zusammenfassend lässt sich mit den Worten Boltens (2016b:86 f.) festhalten, dass es keine Unisono-Lösungen der Beurteilung kultureller Phänomene und Situationen geben wird. »Der eine wird je nach Situation eher struktur-, der andere eher prozessorientiert entscheiden, der eine eher multikulturell, der andere eher transkulturell, der nächste transdifferent argumentieren«. Am Ende ist es vor allem wichtig, die jeweils eigenen Perspektiven auf Seiten der Dinge mit ihren Kontexten plausibel und transparent zu kommunizieren und eine eigene, selbstbewusste Haltung gegenüber alltäglichen Beobachtungen und Situationen zu entwickeln.
Ethnologische Bildungsarbeit will zugleich Vieldeutigkeit aufzeigen sowie multiperspektivische Betrachtungen initiieren. In der Auseinandersetzung mit der eigenen, individuellen Weltsicht und einem eigenen Wertehorizont, die durch den Perspektivenwechsel erfolgt, wird die Pluralität von Lebenswelten erfasst (Schneeweiß 2013:44). Dieser Erkenntnisprozess umfasst nicht nur Wissen, sondern vor allem Reflexion über scheinbar gesetzte Normen oder Werte. Durch die Entwicklung verschiedener Perspektiven auf alltägliche Objekte, wurde dieser kritische Reflexionsprozess bewusst. Eine scheinbare Eindeutigkeit von Objekten löste sich durch die verschiedenen (aber auch gemeinsamen) individuellen Wissensbezüge auf. Darüber hinaus zeigten sich globale Perspektiven mit weltweiten Vernetzungen und Bedeutungsverschiebungen zu den gleichen Objekten. Jenseits eines feststehenden Kanons in der kunstgeschichtlichen Betrachtung von Objekten, bieten ethnologische Fragestellungen, verbunden mit einem systematischen Perspektivenwechsel, viele inspirierende neue Wege der Erkenntnis – jenseits eines kanonischen Stil- und Epochenwissens.