Demografischer Wandel und Kulturelle Bildung in Deutschland
Mit dem Begriff des demografischen Wandels wird gemeinhin die Tatsache bezeichnet, dass die Bevölkerung in Deutschland „älter, bunter und weniger“ wird (vgl. Stiftung Niedersachsen 2006). Der Altersdurchschnitt steigt an, die kulturelle Diversität vergrößert sich, die Bevölkerung schrumpft.
„Älter“
Deutschland wird kollektiv älter. Dieser Trend ist auch nicht schnell zu ändern, sondern beschleunigt sich vorläufig noch. Waren 2010 noch 20 % der Bevölkerung 65 Jahre und älter, werden es 2030 rund 28 % sein (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2008:11). Dazu trägt steigende Lebenserwartung bei, vor allem aber, dass in Deutschland schon seit den 1970er Jahren durchschnittlich nur knapp 1,4 Kinder pro Frau geboren werden. Die „magische“ Zahl, um die Bevölkerungszahl auf gleichem Stand zu halten und zu einer altersdemografisch ausgewogenen Bevölkerungsstruktur zu kommen, liegt bei 2,1 Kindern pro Frau. Ursachenbezogen müsste man also eigentlich nicht von einer Überalterung der Gesellschaft sprechen, sondern von einer „Unterjüngung“. Die kollektive Alterung gilt in Abstufungen für fast alle EU-Länder (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005:18).
Das Phänomen trifft in Deutschland die verschiedenen Regionen unterschiedlich. In den meisten westdeutschen Bundesländern verläuft der Alterungsprozess relativ moderat, in den ostdeutschen Bundesländern ist der Anteil der Älteren schon jetzt hoch und wird noch höher werden. Das ist vor allem in Binnenwanderungen seit den 1990er Jahren begründet.
Wie Alter und Altern – in der gesellschaftlichen Außenwahrnehmung und in der Selbstwahrnehmung der Betroffenen – gesehen wird, ist auch eine Einstellungsfrage, also eine kulturelle Frage. In den letzten Jahren ist ein gesellschaftlicher Perspektivwechsel von der einseitigen Defizitperspektive auf das Alter zur unvoreingenommenen Wahrnehmung auch seiner Werte und Potentiale festzustellen. Standen früher in Bezug auf die Älteren der „Bedarfs- und Versorgungsdiskurs“ sowie der „Belastungsdiskurs“ im Vordergrund, ist es jetzt der „Potentialdiskurs“ (vgl. BMFSFJ 2006). Dieser stellt positive Aspekte des Alters und Alterns und die bestehenden oder herauszubildenden, jedenfalls zu nutzenden Kompetenzen der Älteren heraus.
Kollektives Altern und das Schrumpfen der Bevölkerung bedeuten für die Älteren ebenso wie für die Jüngeren Herausforderungen, die weit über den Erhalt der sozialen Sicherheitssysteme hinausgehen. Die Gesellschaft kann es sich auf Dauer weder ökonomisch noch ideell oder sozial leisten, auf die Potentiale zu verzichten, die viele der Älteren in Gesellschaft und Arbeitswelt einbringen können und auch wollen. Der 5. Altenbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2006) sagt eine lebhafte Konkurrenz um dieses Potential voraus.
„Bunter“
Deutschland ist seit den 1960er Jahren Einwanderungsland. Ursache war vor allem die Arbeitsmigration durch Anwerbung und späteren Familiennachzug. Politische und wirtschaftliche Fluchtbewegungen trugen das ihre bei. Deutschlandspezifisch war die hohe Zuwanderung Russlanddeutscher mit Angehörigen in den 1990er Jahren. Es hat aber vierzig Jahre gedauert bis Politik und Gesellschaft diese Realität anerkannt und begonnen haben, daraus Konsequenzen zu ziehen, etwa mit der Reform des Staatsbürgerrechts (1999/2001) und dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes (2005).
Voraussetzung und Konsequenz zugleich war, bei der Erfassung des Zuwanderungsgeschehens an die Stelle des bisherigen „Ausländerkonzeptes“ ein „Migrationskonzept“ zu setzen. Die neue statistische Erfassung von „Personen mit Migrationshintergrund“ (Personen, die selbst oder deren Eltern Migrationserfahrung haben) offenbarte: 2005 betrug ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung schon nahezu ein Fünftel (18,6 %). Zwischen den Altersgruppen variieren die Anteile erheblich. Unter den bis zu 25-Jährigen war ein Anteil von schon 27,2 % zu verzeichnen, unter den bis 6-Jährigen Kindern schon 32,5 %, also rund ein Drittel. Von den 15,3 Millionen Personen mit Migrationshintergrund sind 7,3 Millionen AusländerInnen, 8 Millionen deutsche Staatsangehörige (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006:140ff.).
Die MigrantInnen verteilen sich in Deutschland geografisch sehr unterschiedlich: Sie konzentrieren sich vor allem auf die westlichen und südlichen Bundesländer, auf die urbanen Ballungsräume und auf die Stadtstaaten, wo sie unter der jüngeren Bevölkerung oft schon mehr als ein Drittel ausmachen. In den ostdeutschen Bundesländern stellen sie kaum mehr als 5 % der Gesamtbevölkerung.
Die Gruppe ist sehr heterogen. Zwischen westlichen und östlichen EU-AusländerInnen, Balkanflüchtlingen, SpätaussiedlerInnen mit russischem Hintergrund, TürkInnen und SchwarzafrikanerInnen und deren erster, zweiter oder dritter Generation gibt es kulturell, religiös und sozial mehr Unterscheidendes als Übereinstimmendes – bis auf die Tatsache, dass ihr Herkommen nicht grundständig deutsch ist. Dazu kommt: Insbesondere im ArbeitsmigrantInnenmilieu ist ein niedriger Sozial- und Bildungsstatus immer noch überdurchschnittlich verbreitet: „Ein hoher Migrantenanteil [in Schulklassen] ist in der Regel verbunden mit einem Übergewicht von Schülerinnen und Schülern aus Familien mit niedrigem Sozialstatus. Hier fallen dann verschiedene Problemlagen zusammen, ergänzen oder verstärken sich wechselseitig. Soziale Segregation und ‘ethnische‘ Segregation sind in Deutschland eng aneinander gekoppelt und stellen eine wichtige Herausforderung für die Bildungspolitik dar“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006:171). Jedenfalls ist damit eine größere kulturelle Diversität verbunden: sowohl im weiteren Sinne von Normen, Werten und Verhaltensmustern als auch im engeren Sinne von ästhetischen Vorlieben, Bildung und Praxis.
„Weniger“
In Deutschland gibt es seit langem mehr Sterbefälle als Geburten. Die Bevölkerung schrumpft (zu den Ursachen s. o. unter „Älter“). Der Schrumpfungsprozess wurde gebremst, solange mehr Menschen nach Deutschland zu- als abwanderten. Ein wenig bremste auch der Zuwachs an Lebenszeit der Individuen. Inzwischen wirkt aber auch die Zuwanderung nicht mehr als Kompensationsfaktor. In manchen Jahren wandern in Deutschland sogar mehr Menschen ab als zu. Die Schrumpfungstendenz steigt: „Heute leben in Deutschland gut 82 Millionen Menschen. Bis 2020 dürften es – je nach Höhe der Zuwanderung – etwa 1 bzw. 2 Millionen weniger sein. Danach beschleunigt sich die Abnahme. 2050 wird Deutschland voraussichtlich noch knapp 69 bzw. 74 Millionen Einwohner haben, 17 bzw. 10 % weniger als jetzt“ (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2008:17).
Infolge innerdeutscher Wanderungsbewegungen prägt sich die Schrumpfungstendenz regional unterschiedlich aus. Die ostdeutschen Bundesländer sind generell sehr viel stärker betroffen als die westdeutschen (mit Ausnahme des Saarlands). Die urbanen Ballungsgebiete sind im Allgemeinen weniger berührt als die ländlichen Räume.
Herausforderungen für Kultur und Kulturelle Bildung
Auf Kulturelle Bildung als Bildung „in den Künsten“ und als Bildung „durch die Künste“ (vgl. Bamford 2006/2010) richten sich inzwischen große kultur- und gesellschaftspolitische Hoffnungen. „Die Vermittlung kultureller Bildung – ob in Bildungs-, Jugend- oder Kultureinrichtungen – wird zu einem Dreh- und Angelpunkt kultureller Integration und damit zu einer neuen Schwerpunktaufgabe. Kulturelle Bildung ist ein Schlüsselfaktor der Integration, sie öffnet den Zugang zu Kunst und Kultur und zum gesellschaftlichen Leben schlechthin“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2007:128). Dieses Zitat aus dem Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung bringt die Herausforderungen auf den Punkt. Kulturelle Bildung ist in dieser Perspektive kein Selbstzweck, der „nur“ der individuellen Persönlichkeits- und Geschmacksbildung diente. Kunst und Kultur sowie der Zugang dazu sollen die Bindekräfte in der Gesellschaft stärken. Dazu gehört grundlegend die Weitergabe des kulturellen Erbes. Hinzu kommt die Erwartung, dass Kulturelle Bildung auch ganz allgemein Kreativität, d.h. kreative Problemlösungskompetenzen, stärkt (vgl. zu Transferwirkungen ästhetischer Bildung Rittelmeyer 2010 und siehe Christian Rittelmeyer „Die Erforschung von Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten“).
Zur Kulturellen Bildung gehören nicht nur im engeren oder weiteren schulischen Sinne curricular organisierte Vorgänge, sondern auch die offeneren Vorgänge der Kulturvermittlung, wie sie für Kultureinrichtungen und meist auch für Einrichtungen der außerschulischen Kulturellen Bildung charakteristisch sind. Kulturbetriebe sowie Systeme und Orte Kultureller Bildung sind im Hinblick auf alle Dimensionen der demografischen Entwicklung gefordert: Altersstruktur, kulturelle Diversität und Schrumpfungsprozesse der Gesellschaft (vgl. zum Folgenden auch: Kultur und demografischer Wandel 2007).
Alle Altersgruppen haben den gleichen Anspruch und ein eigenes Recht auf kulturelle Aktivitäten und Kulturelle Bildung. Dazu sind nötig, aber noch nicht ausreichend vorhanden, kulturpolitische sowie kulturspartenspezifische pädagogische Konzepte, die allen Altersgruppen der Bevölkerung gleichermaßen verpflichtet sind. Intergenerationelle und generationsspezifische Angebote sind gleichermaßen wichtig (siehe Almuth Fricke „Kulturelle Bildung im Dialog zwischen Jung und Alt“). Dazu braucht es präzises Wissen über die Lebenslagen, Interessen und Potentiale, die auch Ältere einbringen und darstellen, sowie eine systematische Rezeption und Auswertung der Altersforschung und der demografischen Forschung, um zuverlässige quantitative und qualitative Aussagen machen zu können. Die Kategorie Alter ist nicht nur biologisch, sondern gesellschaftlich, also kulturell definiert. Generationenspezifische Biografien unterscheiden sich je nach Geschichte, Milieu, Bildung der Betroffenen.
Der migrationsbedingte kulturelle Wandel bedeutet größere kulturelle Diversität – von Werthaltungen und Handlungsmustern bis zu künstlerisch-kulturellen Ausdrucksformen. Die konservative Reaktion darauf operiert mit Begriff und Konzept einer deutschen „Leitkultur“ (ohne über Schlichtheiten hinaus sagen zu können, was das sein möchte). (Zur Geschichte des Begriffs vgl. Wikipedia s. v. Leitkultur, zur Kritik vgl. Oberndörfer 2001.) Die liberale Reaktion betont den Gewinn an Vielfalt (und erliegt gerne der Versuchung, das Andersartige zu romantisieren; vgl. als Überblick Leicht 2009). Tatsächlich liegen in einer großen kulturellen Diversität Chancen und Gefahren. In jedem Falle sind kulturelle Teilhabe und Kulturelle Bildung eine zentrale Antwort auf die Herausforderungen der kulturell diversen Gesellschaft. Gerade Kulturorte können zu einer „Beheimatung“ der ZuwandererInnen beitragen (vgl. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2007). Ältere und jüngere MigrantInnen haben ein Recht auf Teilhabe an Kultur und Bildung in ihrer eigenen wie der Mehrheitskultur, beginnend mit der Sprache. Die praktischen Voraussetzungen dafür sind weithin noch zu schaffen. Interkulturelle oder transkulturelle Bildung als Begriffe müssen konzeptionell und praktisch für Kulturpolitik, Bildungspolitik sowie kulturelle Bildungs- und Vermittlungsprozesse noch besser gefüllt werden. Auch das gehört zu den Aufgaben des „Audience Development“ (siehe Birgit Mandel „Kulturvermittlung, Kulturmanagement und Audience Development als Strategien für Kulturelle Bildung“ ), also der eigenen Publikumsbildung, auf die Kultureinrichtungen sich einstellen müssen. Generell gilt: Bildungs- und Kulturstrukturen müssen Synergieeffekte suchen. Das beginnt bei der frühkindlichen Bildung und gilt für den gesamten lebensbegleitenden Prozess der Kulturellen Bildung.
Dies gilt umso mehr bei zurückgehenden Bevölkerungszahlen, die auf Dauer neben allen anderen Infrastrukturen auch die kulturelle und Bildungsinfrastruktur ökonomisch in Frage stellen werden.
Demografischer Wandel braucht ressortübergreifende politische Antworten: Die beschriebenen Herausforderungen betreffen neben Kultur- und Bildungspolitik auch Wirtschafts- und Sozialpolitik. Gesellschaftliche Aufgaben und Probleme richten sich nicht nach Ressortgrenzen. So wie die Arbeit der Akteure eine integrative ist und sein muss zwischen den Feldern von Kultur, Bildung, Sozialem und Wirtschaft, so muss auch deren Unterstützung durch Politik und Administration sehr viel besser als jetzt ressort- und ebenenübergreifend erfolgen, gerade im Interesse von mehr Effizienz und Nutzung positiver Synergieeffekte. Die Akteure können ihre Aufgaben optimal nur erfüllen, wenn die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen es ihnen ermöglichen.