„Curb-Cut“ – Effekt. Vom Mehrwert inklusiver Museumsprojekte

Artikel-Metadaten

von Mireya Salinas

Erscheinungsjahr: 2023

Abstract

Für alle Menschen zugängliche Museen sind spätestens seit der Ratifizierung der UN Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 in Deutschland offizielles politisches Programm. Doch der Weg dorthin ist in der Praxis oft mühsam. Es braucht genügend monetäre und personelle Ressourcen, ganz zu schweigen von baulichen Problemen, Denkmalschutz und internen Diskussionen rund um Ästhetik und Design. Oft ist es aber so, dass Erfindungen oder Entwicklungen für spezielle Zielgruppen am Ende von einem viel größeren Personenkreis genutzt werden. Kann diese positive Wirkung, der sogenannte „Curb-Cut“ – Effekt, auch für inklusive Museumsprojekte festgestellt werden? Im Folgenden wird thematisiert, was genau mit dem „Curb-Cut“ – Effekt gemeint ist und wie diese Begrifflichkeit entstand. Dann wird am Beispiel des inklusiven Vermittlungsprojekts „Klaviatur – Tastatur – Interface“ (KTI) kritisch reflektiert, ob und wie die gezielte Erstellung inklusiven Contents neben der Öffnung für die spezielle Zielgruppe auch eine Bereicherung für das Museumsteam und die Besucher*innen insgesamt darstellt.

Curb-Cut" Effekt

Die Grundidee ist, dass Gesetze, Programme oder Erfindungen zur Unterstützung marginalisierter Gruppen letztlich oft der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Die amerikanische Anwältin, Bürgerrechtlerin und Autorin Angela Glover Blackwell spielt mit dieser Bezeichnung auf die Bordsteinkanten an, die erst durch eine Rampe zur Straße hin auch Rollstuhlfahrer*innen eigenständige Mobilität ermöglichen (Glover Blackwell 2017:28). In einer „Nacht und Nebel“ – Aktion fertigten Aktivist*innen der Behindertenrechtsbewegung in Berkeley Anfang der 70er Jahre eine selbst gegossene Betonrampe an. Dies war nicht die erste Rampe an einer Bordsteinkante (bereits 1945 wurde der erste „Curb-Cut“ in Kalamazoo in Michigan gebaut), aber dieser Vorfall ging durch die Presse und fand Widerhall im öffentlichen Bewusstsein. In der Folge verbreiteten sich Bordsteinkantenrampen in den USA.

Ein unerwarteter Nebeneffekt dieses Sieges der Behindertenrechtsaktivisten war, dass sehr viele Personengruppen von den Bordsteinkantenrampen profitierten: Mütter mit Kinderwägen nutzten sie, Radfahrer*innen, Arbeiter*innen schoben schwer beladene Schubkarren die Rampe hoch und Geschäftsleute zogen ihre Rollkoffer hinter sich her (Ebenda). Ein positiver Nebeneffekt, der sich auch an der Nutzung vieler Hilfsmittel beobachten lässt, die speziell für behinderte Menschen entwickelt wurden, seien es Hörbücher, die geschlossene oder offene Untertitelung von Filmen oder die Erfindung der Schreibmaschinen. Auch Juliane Gerland schreibt, „dass eine sinnvolle und inhaltlich-künstlerisch eingebundene Barrierefreiheit tatsächlich für alle bereichernd sein kann, weil sie eben in erster Linie unterschiedliche gegenstandsbezogene Zugangs- und Erschließungsweisen offeriert, die individuell und entsprechend jeweiliger Präferenz genutzt werden können.“ (siehe: Juliane Gerland (2019): Kunst, Kultur, (Dis-)Ability? – Inklusion, Teilhabe und Partizipation in künstlerischen und wissenschaftlichen Kontexten.)

Zwar bezieht Glover Blackwell den „Curb-Cut“ – Effekt mehr auf das Erreichen gleicher Chancen für People of Color (PoC) in den Vereinigten Staaten von Amerika als auf den Kulturbereich in Europa. Dennoch kann diese Begrifflichkeit auch hierzulande hilfreich sein, um den Mehrwert inklusiver Angebote an Museen genauer zu erfassen.

Im Folgenden werden die entwickelten Inhalte von „Klaviatur – Tastatur – Interface“ (KTI)  kurz dargestellt. Dann wird erläutert, mit welcher Methodik der Kooperation diese Inhalte entstanden. Schließlich wird kritisch reflektiert, ob ein „Curb-Cut“ – Effekt im Sinne von Glover Blackwell auch für die Ergebnisse von KTI festgestellt werden kann.

Taktiles Musikinterface
Taktiles Musikinterface (SIMPK / Foto: Jörg Joachim Riehle)

Klaviatur – Tastatur – Interface (KTI)

Die Klaviaturen von Tasteninstrumenten sind Ikonen des Musizierens und seit Jahrhunderten Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Auch beim Schreiben spielen Tasten (noch) eine große Rolle. Tasten sind der Schlüssel zum Vermittlungsprojekt KTI für blinde, sehbehinderte und sehende Menschen, angesiedelt am Berliner Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz (MIM): Die Klaviatur inspirierte die Entwickler früher mechanischer Schreibapparaturen und Telegrafen (Ayaß 2020:128). Außerdem entstanden einige frühe Schreibmaschinen aus dem Wunsch heraus, erblindenden Menschen weiterhin das Schreiben zu ermöglichen: Pellegrino Turri (1765–1828) entwickelte um 1808 ein Gerät zum Typendruck für die erblindete Gräfin Carolina Fantoni da Fivizzano. Karl Drais (1785–1851) konstruierte 1821 das von ihm so genannte „Schreibclavier“ für seinen erblindenden Vater. Neben einer modellhaften Erprobung der Zugänglichkeit des Museums im digitalen und analogen Raum wollte das MIM mit dem Projekt KTI seine Zielgruppe erweitern und gleichzeitig Interesse für die historischen Tasteninstrumente der Sammlung wecken. Aber vor allem will das Projekt aufzeigen, dass die gezielte Entwicklung inklusiver Inhalte einen Mehrwert für alle Besucher*innen bietet.

Digitale Tour:
Von zentraler Bedeutung war die Entwicklung einer digitalen Tour zum Thema des Projekts, die für blinde, sehbehinderte und sehende Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte. Für KTI entstand neben einer Inhouse-Tour auch eine weltweit online abrufbare Version. Technische Grundlage war der bereits existierende Digitale Museumsguide des MIM, eine webbasierte App, die durch ein lokales Netzwerk auf die Endgeräte der Besucher*innen gestreamt wird.

Samples:
Der Klangvorrat von fünf ausgewählten historischen Musikinstrumenten wurde in sämtlichen Einzeltönen, Dynamiken und Artikulationen aufgenommen und gesampelt und allen Interessierten zur eigenen Nutzung zur Verfügung gestellt, entweder per Download zum Musizieren zuhause oder vor Ort an einer Interaktionsstation im Museum.

Ausstellung:
Die Inhalte des Projekts wurden im Rahmen der Ausstellung „Klaviatur – Tastatur – Interface“ im MIM präsentiert. Die Ausstellung eröffnete am 22. Oktober 2022 mit einer Laufzeit bis zum 31. Dezember 2022, die dann bis zum 12. Juni 2023 verlängert wurde. Die Inhouse-Tour des Digitalen Museumsguides führte nach einer Willkommensstation zu den fünf ausgewählten Musikinstrumenten, den frühen Schreibmaschinen und einer Interaktionsinsel in der Sonderausstellungsfläche. Insgesamt entstanden neun interaktive Stationen.

Eröffnung der Ausstellung
Eröffnung der Ausstellung (SIMPK / Foto: Jörg Joachim Riehle)

Veranstaltungen:
Am 22. Oktober 2022 eröffnete die Spotlightausstellung „Klaviatur – Tastatur – Interface“ mit einem inklusiven Konzert, gefolgt vom gemeinsamen Ausprobieren der Interaktionsstationen. Das Ensemble con|tactus setzte die Musik Johann Sebastian Bachs in Beziehung zu geometrischen Grundformen. Dabei veränderten die Musiker*innen ihre Position im Raum und die Architektur des Musikinstrumenten-Museums war akustisch erlebbar. Die monatliche Führung „Tasten über Tasten“ richtete sich an blinde, sehbehinderte und sehende Menschen gleichermaßen, genau wie die Workshops „Touch>>>Sound“.

Dialogische Wissensvermittlung

Bei der Methodik zur Entwicklung des Projekts entschieden wir uns für die dialogische Wissensvermittlung. Die Wurzeln dieser Methode reichen bis in die Antike: In den Sokratischen Dialogen lässt Platon seinen Lehrer Sokrates im Dialog mit seinen Gesprächspartnern nach Erkenntnis suchen. „Sokrates hat als Erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser eingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen.“ (Cicero 45 v. Chr:10,5) Auch die klassisch-arabischen Dialoge widmeten sich der Wissensvermittlung (siehe Forster 2017).

Die Arbeit mit Expert*innengruppen in Museen kann als eine heutige Form der dialogischen Wissensvermittlung gesehen werden. Das Museum lernt hier von der Erfahrungswelt der Expert*innen, Lebensexpertise trifft auf Fachexpertise.  Statt andere von der eigenen Meinung zu überzeugen, sollten sachliche Argumentation und Konsensfindung das Gespräch leiten. Dazu gehört auch die Bereitschaft, eigene Standpunkte in Frage zu stellen und die Gruppe als Gemeinschaft zur gegenseitigen Denkhilfe zu verstehen. Bei KTI arbeitete das Museumsteam in Kooperation mit dem Deutschen Blinden und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) mit einer Gruppe von blinden und sehbehinderten Expert*innen zusammen. Die Gruppe nahm an vier Workshops im Museum teil: Beim ersten Workshop lernten die Expert*innen das Museum, seine ständige Ausstellung und die baulichen Gegebenheiten kennen. Beim zweiten Workshop wählten Expert*innen und Museumsteam gemeinsam fünf historische Musikinstrumente aus, deren Klänge im Rahmen von KTI gesampelt wurden und nun allen Interessierten zur Verfügung stehen: Entweder per Download oder durch Interaktionsstationen vor Ort im Museum. Beim dritten Workshop testeten wir den bereits vorhandenen Digitalen Museumsguide und nahmen Kritik und Anregungen der Expert*innen entgegen. Beim vierten Workshop waren diese bereits umgesetzt und die entstandene Digitale Tour wurde auf ihre Zugänglichkeit und Nutzbarkeit für blinde und sehbehinderte Menschen geprüft.

Lerneffekte des Museumsteams

Von dieser Zusammenarbeit profitierte das Museumsteam enorm. Auch die Expert*innen lernten viel Neues kennen, von musikhistorischen und instrumentenkundlichen Aspekten bis hin zur Funktionsweise des MIM als Institution mit baulichen, personellen und verwaltungstechnischen Gegebenheiten. Der Fokus soll im Folgenden aber auf den spezifischen Lerneffekten des Museumsteams im Sinne des „Curb-Cut“­– Effekts liegen.

Die Begegnung mit der Erfahrungswelt blinder und sehbehinderter Menschen eröffnete einen Perspektivwechsel, der kreatives Potenzial freisetzte. In Vorbereitung des ersten Workshops mit den Expert*innen ließ sich das Projektteam mit Augenbinden durch das Museum führen und erhielt eine der klassischen Führungen durch die Sammlung. Die physische Erfahrung der eigenen, recht ungeschickten Bewegungen durch den Museumsraum unterschieden sich erheblich von der deutlich eloquenteren Orientierungsfähigkeit der blinden und sehbehinderten Expert*innen; dennoch funktionierte dieses Erlebnis als initiale Sensibilisierung, gerade in Bezug auf die Bedeutung von Tastobjekten für das Verständnis der Funktionsweisen einzelner Musikinstrumente. Auch die Herausforderung beim Erklären von Objekten ohne unterstützende Mimik und Gestik war eine eindrückliche Erfahrung. Im weiteren Verlauf des Projekts erhielten die Museumsaufsichten eine Fortbildung im Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen, die neben der Vermittlung sehender Begleittechniken auch Selbsterfahrungsübungen enthielt. Auch die für öffentliche Führungen und Workshops zuständigen Museums-Guides erhielten eine Fortbildung, die zusätzlich noch das Thema der ausführlichen Objektbeschreibungen beinhaltete.

Schulung des Museumsteams
Monochord (SIMPK / Foto: Anne-Katrin Breitenborn)

Bei der Feedbackrunde des ersten Workshops mit den Expert*innen kam unter anderem die architektonische Gestaltung des MIM zur Sprache. Baulich ist das Museum für blinde und sehbehinderte Menschen kein Traum: Freistehende Musikinstrumente auf beigem Teppichboden sind für Sehbehinderte schwer zu erkennen, genau wie die Winkel und Stufen, die auch Sehende immer wieder herausfordern. Kein Wunder, schließlich hat Edgar Wisniewski das MIM nach ersten Skizzen von Hans Scharoun erbaut, dem Meister der organischen Architektur. Mehr Taststationen waren gewünscht und ein barrierefreier digitaler Museumsguide. Eine digitale KTI-Tour können blinde und sehbehinderte Menschen bequem vom Sofa aus erkunden. Die Anfahrt zum Museum mit dem öffentlichen Nahverkehr quer durch die Stadt ist auch heute noch für viele blinde und sehbehinderte Menschen nicht ganz einfach. Wenn sie dies auf sich nehmen, muss beim Museumsbesuch auch ein Mehrwert in Form von Interaktionsstationen und Tastobjekten geboten werden, so Reiner Delgado vom DBSV. Entsprechend entstanden für KTI neun interaktive Stationen, die weiter unten genauer erläutert werden.

Nach dem Test des Digitalen Museumsguides beim dritten gemeinsamen Workshop wurde deutlich, dass digitale Tools durch die Vorlesefunktion der heutigen Smartphones für blinde und sehbehinderte Menschen gut nutzbar sind. Vieles spricht für ein BYOD-System (Bring your own device), denn die eigenen Smartphones sind den Nutzer*innen vertraut, während die Funktionen von Fremdgeräten gerade für blinde und sehbehinderte Besucher*innen erst einmal eine Herausforderung darstellen. Wichtig sind Auswahlmöglichkeiten bei der Schriftgröße und beim Dark- oder Lightmode. Bei einigen Sehbehinderungen blendet ein weißer Untergrund zu sehr, hier funktioniert weiße Schrift auf schwarzem Untergrund besser. Eine funktionale Navigation, Hörbeispiele und ausführliche Objektbeschreibungen wurden ebenfalls gewünscht. Ein entsprechendes Update des Digitalen Museumsguides für eine bessere Zugänglichkeit war als Teil des Projekts mit eingeplant. Doch das beste technische Tool nützt nichts, wenn geeignet aufbereitete Inhalte fehlen. Ursprünglich war eine Version der digitalen KTI-Tour für Blinde und Sehbehinderte sowie eine zweite Version für Sehende geplant in der Annahme, so den Bedürfnissen beider Gruppen besser gerecht werden zu können. Im Laufe des Projekts sprachen sich die Expert*innen jedoch für eine einheitliche Version aus, die für blinde, sehbehinderte und sehende Menschen gleichermaßen interessant sein sollte. Aus diesem Impuls entstand der Podcast „Tasten Talk“, der in fünf Folgen die Geheimnisse und Besonderheiten der ausgewählten Musikinstrumente darstellt. Podcasts sind als non-visuelle Formate spätestens seit der Pandemie auch für sehende Menschen zunehmend interessant. An den Stationen der ausgewählten Musikinstrumente wurde nun jeweils eine Podcast-Folge integriert. Am Ende des zweiten Workshops wurden fünf Musikinstrumente mit tastenbasierten Interfaces von Expert*innen und Museumsteam gemeinsam per Abstimmung ausgewählt. Die Wahl fiel auf die Drehleier von Georges Louvet (MiM-Kat.-Nr. 4087), das Mellotron M 400 (MIM-Kat.-Nr. 6111), das Clavichord von Johann Gottlob Horn (MIM-Kat.-Nr. 5568), das Regal (MIM-Kat.-Nr. 349) und die Glasharmonika (MIM-Kat.-Nr. 812). Da Musikinstrumente dreidimensionale Objekte sind, benötigen Besucher*innen zum Verständnis neben dem historisch-kulturellen Kontext, der Beschreibung des Aussehens und der Materialität, der Klangbeispiele und der Ästhetik auch eine Erklärung der Funktionsweise, die gerade bei der digitalen KTI-Tour nicht durch Tastobjekte ergänzt werden konnte. Also waren ausführliche Objektbeschreibungen von großer Bedeutung, als Alternative für diejenigen, denen eine Podcast-Folge zu lange dauert.

Durch die Befreiung von der allgegenwärtigen Vorherrschaft des Visuellen nahmen wir die eigenen Objekte und das Projektthema auf neue Weise wahr. Dadurch ergaben sich zum Teil neue Erzählungen, die wiederum neuen Content für die Besucher*innen hervorbrachten. Inhaltlicher Ausgangspunkt des Projekts sind die Tasten von Klaviaturen oder Computertastaturen, die auch als Orientierungselemente und Bedienfelder für Finger betrachtet werden können, wobei in einem Fall Töne geordnet werden, im anderen Fall Buchstaben. Beide Systeme bieten eine haptische räumliche Orientierung, die eine virtuose Handhabung überhaupt erst möglich macht. In beiden Systemen haben Könner diese Orientierung so verinnerlicht, dass ein Blick auf die Tasten nicht mehr notwendig ist. Die visuelle Überprüfung der motorischen Tätigkeit wäre so nur eine Hilfestellung für Anfänger*innen und bei fortschreitender Virtuosität immer verzichtbarer. Ein anderes Beispiel ist die Glasharmonika als eines der fünf ausgewählten Instrumente. Die ätherischen Töne dieses 1761 von Benjamin Franklin entwickelten Instruments regten auf der einen Seite zu Schwärmereien an, andererseits warfen Kritiker den Klängen der Glasharmonika eine nervenzerrüttende oder gar gesundheitsschädigende Wirkung vor. Marianne Kirchgessner (1769–1808), die wohl berühmteste Virtuosin dieses Instruments der angehenden Biedermeierzeit, erblindete als Kind mit vier Jahren in Folge einer Pockenerkrankung (Ullrich 1971:7). Sie zeigte früh außergewöhnliches Talent beim Klavierspiel und erhielt mit elf Jahren beim Karlsruher Kapellmeister und Glasharmonikabauer Joseph Aloys Schmittbaur (1718–1809) eine Ausbildung an der Glasharmonika. Ihre Darbietungen im Rahmen ausgedehnter Konzertreisen müssen äußerst eindrucksvoll gewesen sein. Der Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart schrieb: „Unter ihren Fingern reift der Glaston zu seiner vollen schönen Zeitigung und stirbt so lieblich dahin wie Nachtigallenton, der mitternachts in einer schönen Gegend verhallt.“

Bis ins 18. Jahrhundert hinein gab es ausgeprägte Konzepte darüber, welche Musikinstrumente für das Spiel durch Frauen aus dem Bürgertum schicklich seien (Essex 1722:84-85). Ausgedehnte Tourneen und finanzielle Unabhängigkeit wurden als wenig weiblich angesehen, genau wie intensive Körperbewegungen beim Spielen. Warum wurde Marianne Kirchgessner ihre neun Jahre dauernde Tournee durch Europa nicht übelgenommen? Der zarte Klang der Glasharmonika und die statische Spielhaltung mit dem vom Instrument fast verdeckten Körper mögen eine Rolle gespielt haben. Dazu kam, dass sie als blinde Frau als ätherisches Wesen wahrgenommen wurde, das den üblichen gesellschaftlichen Regeln scheinbar enthoben war. Sie war nicht die einzige blinde Virtuosin ihrer Zeit: Die berühmte blinde Pianistin Maria Theresia von Paradies (1759–1824) komponierte und lehrte neben ihrer ausgedehnten Konzerttätigkeit. Auch hier mag die Wahrnehmung einer blinden Künstlerin als entkörperlichtes, geradezu jenseitiges Geschöpf eine Rolle gespielt haben.

Nicht zuletzt muss die praktischen Ebene erwähnt werden. Auch hier unterstützten die Expert*innen das Museumsteam mit ihrem Fachwissen. Wie kann man blinde und sehbehinderte Menschen in ein Museum einladen, das aus baulichen und finanziellen Gründen über kein taktiles Bodenleitsystem verfügt? Erstens muss man in der Kommunikation nach außen die Situation klar benennen und nicht beschönigen. Zweitens hilft eine blindengerechte Wegbeschreibung als ein kleiner Baustein, um die Anreise optimal zu gestalten. Wenn blinde Besucher*innen schließlich im Haus sind, werden sie schon an der Museumskasse auf den digitalen Museumsguide hingewiesen und können über tastbare QR-Codes selbständig ihre Smartphones damit verbinden. An der Willkommensstation finden sie einen taktilen Lageplan und eine Beschreibung der Ausstellung in Brailleschrift vor. An allen Stationen finden sich Erklärungen in Deutsch, Englisch, Brailleschrift, Großdruck und mit weißer Schrift auf schwarzem Grund. Auch der tastbare QR-Code als direkter Link zur jeweils passenden Station des Digitalen Museumsguides fehlt nicht. Mangels eines Taktilen Bodenleitsystems empfehlen wir den Besuch der Ausstellung in Begleitung. Im Projektzeitraum standen blinden Besucher*innen nach vorheriger Anmeldung „Welcome-Guides“ als persönliche Gastgeber zur Verfügung, um so die baulichen Nachteile mit menschlicher Begegnung aufzufangen.

Mehrwert für alle Besucher*innen

Auf jeden Fall sind im Rahmen von KTI einige Angebote entstanden, die nun allen Interessierten zur Verfügung stehen und auch entsprechend genutzt werden: Neben der Digitalen Tour ist hier besonders die thematische Ausstellung im Museum mit der damit verbundenen Inhouse-Tour zu erwähnen. Der ganz überwiegende Teil der Ausstellungsbesucher*innen ist weder blind noch sehbehindert, wie sich durch die Beobachtung des Besucher*innenstroms feststellen ließ. Genaue Besucher*innenforschung war leider nicht Teil des Projekts, sollte aber bei Folgeprojekten von Beginn an mitgeplant werden. Die Eröffnung fand regen Widerhall in den blinden und sehbehinderten Communities von Berlin. Bei den öffentlichen KTI-Führungen fanden sich allerdings ausschließlich sehende Menschen ein, wobei die Teilnehmenden der öffentlichen Workshops mehrheitlich blind waren.

Besonders interessant war eine Überschneidung der Interessen der blinden und sehbehinderten Expert*innen mit ganz grundlegenden Wünschen unserer Besucher*innen: Die Exptert*innen forderten mehr Tast- und Interaktionsstationen. Fast alle Besucher*innen scheinen beim ersten Hereintreten in das Museum den Impuls zu verspüren, selbst Musikinstrumente ausprobieren zu wollen. Dies wurde dem Museumsteam immer wieder durch direkte Gespräche, das Gästebuch oder Online-Rezensionen kommuniziert und führte oft zu konflikthaften Szenen mit dem Aufsichtspersonal, das ja ebenso für die Sicherheit der Museumsobjekte zuständig ist, wie für einen freundlichen Besucherservice. Der fast instinktive Wunsch, die historischen Musikinstrumente mit den Händen zu „begreifen“ geht oft soweit, dass Besucher*innen einfach hörbar Hand anlegen.

Ausprobierstation Mellotron
Ausprobierstation Mellotron (SIMPK / Foto: Jörg Joachim Riehle)

Diese Problematik scheint stärker aufzutreten als beispielsweise in Münzsammlungen oder Gemäldegalerien. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die neun entstandenen Interaktionsstationen flächendeckend genutzt werden: In der unmittelbaren Nähe der fünf ausgewählten Instrumente entstanden Interaktionssäulen zum Ausprobieren der jeweiligen Samples. Neben Informationen in deutscher und englischer Sprache gibt es eine Beschilderung in Braille-Schrift und vor allem ein kleines Keyboard, das zum eigenen Musizieren einlädt. So können Besucher*innen mit den originalen Klängen der historischen Drehleier oder des Clavichords kreativ werden, ohne die historischen Objekte zu gefährden. Da die Stationen mit Kopfhörern gespielt werden, entsteht auch keine Lärmbelästigung der anderen Besucher*innen. Da die Spielbarkeit der historischen Objekte ohnehin sehr fragil ist, bilden die Samples gleichzeitig eine Klangdokumentation, die neben der kreativen Nutzung durch die Besucher*innen auch für die sammlungsbezogene Forschung von Interesse ist. Diese fünf Interaktionsstationen bleiben dauerhaft in der Ausstellung erhalten.

Studierende des Fachs Kommunikationsdesign an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) begleiteten das Projekt als Semesterarbeit. Eine Gruppe der Studierenden entwickelte das Taktile Musikinterface: An einer runden, tischartigen Konstruktion befinden sich drei intuitiv bedienbare Musikinterfaces, die von Drehleier, Regal und Clavichord inspiriert sind und bei entsprechender Berührung Samples auslösen. Grundidee ist das Ermöglichen gemeinsamen Musizierens, das keinerlei Vorkenntnisse oder Fachwissen voraussetzt. In der Tat zeigte sich, dass das Konzept aufging, die Station wurde von sehr vielen Besucher*innen genutzt und war für den Deutschen Multimediapreis 2022 nominiert.

Der vom Berliner Künstlerkollektiv SELBSTGEBAUTE MUSIK entwickelte Klang- und Tasthebel kombiniert einen drehbaren Klanghebel mit einem selbst einstellbaren Materialienrad. Alle verwendeten Materialien sind recycelt, um den Aspekt der Nachhaltigkeit besonders zu betonen. Insgesamt sind 16 verschiedene Kombinationen von Klangauslösern mit den unterschiedlichen Materialien möglich, eine Reminiszenz an die Vielfalt der Mechaniken in der Geschichte des Klavierbaus. Die Drehleier als Streichinstrument mit Kurbel und Tastatur ist in ihrer Funktionsweise ein eher unbekanntes Instrument. Speziell für KTI wurde eine „Hand-on“ – Drehleier gebaut, an der alle Besucher*innen das Spielgefühl selbst ausprobieren können. Nach Ablauf der Ausstellung wird das Instrument für Führungen und Workshops genutzt werden. An der „Central Samples Station“ können schließlich alle Samples an einer hochwertigen Tastatur gespielt werden. Den Abschluss bildete eine Hörstation mit Sitzgelegenheit, um ein entspanntes Anhören des Podcast zu ermöglichen.

Fazit

Schon bei diesem kalaidoskopartigen Überblick wird deutlich, dass von einem „Curb-Cut“ – Effekt im Rahmen von KTI gesprochen werden kann. Kritisch sei noch angemerkt, dass ein solches Projekt passgenaue Besucher*innenforschung geradezu einfordert. Die wissenschaftliche Prüfung des „Curb-Cut“ – Effekts in Museen bei inklusiven Projekten ist ein Feld für zukünftige Forschungsarbeiten in Bereich Kulturelle Bildung und Besucher*innenforschung.Die Hinwendung zur Zielgruppe der blinden und sehbehinderten Menschen zog Begegnungen und Austausch nach sich. Dieser Austausch führte zu einem Zuwachs an Kompetenzen und Sensibilisierung auf Seiten des Museumsteams, was sich in neuem Content samt Interaktionsstationen niederschlug. Diese Ergebnisse des Projekts wurden wiederum von der Breite der Besucher*innen gern und häufig genutzt. Um mit den Worten von Angela Glover Blackwell zu sprechen: „When the wall of exclusion came down, everybody benefited“.