Choreographierte Körper-Gefüge: Zur Hervorbringung und Analyse von Pluralität von Körperlichkeit im Tanz

Artikel-Metadaten

von Yvonne Hardt

Erscheinungsjahr: 2021/2021

Peer Reviewed

Abstract

Wie viel Körper braucht die Kulturelle Bildung? Diese Frage war Thema der 10. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung und sie lässt sich kaum pauschal beantworten, da das Wissen künstlerischer Praxis eng verbunden ist mit den Kontexten, Verfahren und Techniken, die Körperlichkeiten hervorbringen. Körper sind so immer zu denken in der Pluralität ihrer Vollzugswirklichkeiten.
In diesem Beitrag soll daher zunächt die Pluralität von „Körper“ in tänzerischen Praktiken im Kontext Kultureller Bildung aufgezeigt werden. Beispielsweise werden Körper als „individuelle“, „befähigte“, „differente“ und „wissende“ Körper aufgerufen und wahrgenommen. Obwohl choreographische Verfahren ganz zentral mit „Körperlichkeit“ umgehen, bleibt das Wissen um choreographische Arbeitsweisen oft intransparent. Der Beitrag möchte daher aufzeigen, welche Einfluss choreographische Verfahren darauf haben, ob Differenz ausgestellt oder fruchtbar gemacht wird. Dieser Beitrag bietet damit Impulse, wie der Diskurs zu körperlich-sinnlicher Wahrnehmung und Körperlichkeit weniger davon bestimmt sein könnte, choreographisches Wissen und Teilhabe gegeneinander auszuspielen. Vielmehr geht es darum, die Diskussion um eine Perspektive auf politische, historische und künstlerische Situiertheit von Körpererfahrung und Wissen zu bereichern.

Prolog

Um die Frage „Wie viel Körper braucht die Kulturelle Bildung?“ spezifischer fassen zu können, möchte ich mit einem kleinen Prolog beginnen. Und zwar saß ich mit einer Kollegin aus der Musikwissenschaft zusammen, um den Rahmen für ein gemeinsames Seminar unter dem Titel „Das Wissen der Künste“ abzustecken. Sie machte den Vorschlag, dass wir zusammen (und angeleitet von den Tanzstudierenden) Wahrnehmungsübungen zum Einstieg machen könnten. Zudem schlug sie vor, phänomenologische Texte mit den Studierenden zu besprechen, um den Fokus auf Körper, Sinnlichkeit und verkörpertes Wissen ihrer künstlerischen Praxis zu lenken. Sie erhoffte sich davon, die Routinen und das körperliche Wissen ihrer Studierenden offen zu legen. So sehr ich um die konstruktiven Dimensionen von Wahrnehmungsübungen aus der eigenen Erfahrung weiß, war ich von dem Vorschlag nicht in gleichem Maße angetan. Doch warum? Der Vorschlag schien doch offensichtlich passfähig. Und hier lag der Knackpunkt: In dem Kontext, in dem ich arbeite – nämlich in der professionellen Ausbildung von Tänzer*innen und tanzwissenschaftlicher Forschung – gehören mittlerweile eine Vielzahl von (somatischen) Wahrnehmungsübungen zum täglichen Standard und phänomenologische Ansätze zur Erforschung und Reflexion von Tanz werden vielfach rezipiert (z.B. Albright 2019; Gugutzer 2012; Klinge 2009, 2014; Funke‑Wieneke 2008). Was für die Eine also Standard und Alltag war (den es bereits kritisch zu befragen galt), war für die Andere ein innovatives Vorgehen, um verborgenes Wissen der eigenen Praxis greifbar zu machen. In Bezug darauf, wie körperliches Wahrnehmen in der jeweiligen Praxis reflektiert wird und welcher Status ihm zugewiesen wird, befanden wir uns in zwei unterschiedlichen Welten.

Situiertes Wissen von Körper

Auch wenn diese Begebenheit aus dem Kontext einer professionellen Künstler*innen-Ausbildung stammt, kann sie aufschlussreich für den Kontext Kultureller Bildung und Diversität sein. Sie verdeutlicht, dass wir die Frage „Wie viel Körper braucht die Kulturelle Bildung?“ nicht allgemein beantworten können. Vielmehr gilt es, die spezifische Situiertheit von Wissen und Forschung zu Körperlichkeit in den jeweiligen Konstellationen mitzubedenken. Das heißt anders herum auch: Das Wissen einer künstlerischen Praxis lässt sich nicht nur über die Thematisierung von Körper oder gar leiblich-sinnlichen Erfahrungen erfassen – eine Perspektive, die im Tanz durchaus auffällig ist –, sondern ist eng verbunden mit den Kontexten, Verfahren und Techniken (sowohl des Aneignens als auch Zusammenbringens), die diese Körperlichkeiten (also die Qualitäten, in denen Körper erkennbar sind) hervorbringen (Mauss 1989; Foster 1997; Foucault 1977). Es gilt also die anfangs gestellte Frage „Wie viel Körper braucht die Kulturelle Bildung?“ aufzuschlüsseln, z.B.: Aus welcher Perspektive und vor dem Hintergrund welcher Erfahrungen, unter welchen Vorzeichen, Interessenslagen oder theoretischen Referenzsystemen wird Körper in den Fokus der Praxis und der Forschung gerückt? Welche Bedeutung wird Körper in der jeweiligen Praxis gegeben? Was ist jeweils gemeint, wenn von Körper gesprochen wird? Körperlich-sinnlichen Dimensionen? Dem Wissen von Körpern oder sogar dem Körper allgemein? Körperverständnissen? Körpertechniken? Welche epistemischen und auch immer normativen Setzungen gehen damit jeweils einher, auch dann, wenn von Pluralität von Körper ausgegangen wird? Und wie zeigt sich das in der Praxis?

Um diese Fragen beantworten zu können, gilt es zunächst, die Pluralität von Körper und Körperverständnis und die jeweiligen Rahmungen und Konstellationen, in denen diese im Feld Kultureller Bildung und Tanz zu beobachten sind, aufzuzeigen. Das heißt, dieser Text geht mit der Annahme von einer Pluralität von Körpern davon aus, dass es nicht etwa den „einen“, sogar biologischen und als anthropologische Konstante begriffenen Körper gibt und dass auch Vermittelnde und Teilnehmende im Feld der Praxis jeweils das Gleiche meinen, wenn sie von Körper sprechen. Um diese Pluralität aufzuzeigen, wird auf die umfangreichen empirischen Erhebungen aus dem Verbundforschungsprojekt „KuBi Tanz: Kulturelle Bildungsforschung im Tanz – Entwicklung eines domainspezifischen Analysemodells sowie domainspezifischer Erhebungsmethoden“ zurückgriffen. Dieses BMBF-Verbundprojekt wurde 2016–2019 von Martin Stern, Lea Spahn (Philipps-Universität-Marburg), Yvonne Hardt, Miriam Leysner (Hochschule für Musik und Tanz Köln), Nils Neuber, Esther Pürgstaller (Universität Münster), Claudia Steinberg, Helena Rudi (Universität Mainz) durchgeführt. In einem zweiten Schritt werde ich dann die Perspektive engführen und herausarbeiten, wie Verfahren des Zusammenbringens von Gruppen und das Wissen um choreographische Strukturen zentrale Einflussgrößen in der Hervorbringung von Körper und Körpergefügen sind. Diese können ggf. darüber entscheiden, ob (körperliche) Differenz ‚ausgestellt’ wird oder ob Diversität als künstlerisches Konzept und Erfahrungs- und Wahrnehmungsdimensionen eröffnet werden.

Übergreifend geht es dabei darum, in der Diskussion zu Körperlichkeit und körperlich-sinnlicher Wahrnehmung in Diskursen zu Kultureller Bildung (Bischof/Nyffeler 2014; Westphal 2009; Klepacki/Liebau 2008) verstärkt für Ansätze zu plädieren, die die politische, historische und künstlerische Situiertheit von Körpererfahrung und Wissen um Körper miteinbeziehen. Körper sind nicht per se gegeben. Aus einer praxistheoretischen Perspektive sind diese einerseits in ihren Dispositionen strukturgebend für ein Geschehen (und hierzu können z.B. sowohl körperliche Differenzen als auch die durch Praktiken einverleibte Sozialität gerechnet werden), andererseits bringen Praktiken auch Körper mit hervor (Hillebrandt 2015:20). Das heißt, Körper und Körperverständnisse gilt es in den Vollzugswirklichkeiten zu erfassen.

Zur Pluralität von Körper und Körperverständnissen

Wie sehen nun diese Vollzugswirklichkeiten aus? Welche Körper sind zu beobachten? Wie werden Körper adressiert und erfahrbar gemacht? Welche Verfahren werden angeboten und angeeignet, um Körperlichkeit zu bearbeiten? Welche Körperverständnisse, welche Widerständigkeiten sind erkennbar? Welche theoretischen Referenzsysteme werden aufgerufen und welche (ästhetischen) Ideale sind damit verbunden? Aufschlussreich für diese Fragen können die Beobachtungen aus dem Verbundforschungsprojekt „KuBi Tanz“ sein. Dieses Projekt, das in seiner übergeordneten Zielsetzung die Entwicklung von Forschungs- und Reflexionsinstrumenten anstrebte, ging davon aus, dass dies nur in dem Wissen um die Diversität der Praxis geschehen kann. Ziel war es daher zunächst, den breiten Angebotsraum Tanz sowie die komplexen Gemengelagen von Tanzvermittlung systematisch zu erfassen. Dabei wurden in einem rekursiv angelegten Forschungsdesign die körperlich-materiellen Vollzugswirklichkeiten von Tanzvermittlung – und nicht nur die didaktischen und pädagogischen Konzepte – in den Blick genommen (Hardt et al. i. E. 2020). Im Rahmen eines ethnographischen Zugangs (Flick et al. 2012) wurden Tanz in Schulen-Projekte ebenso wie groß angelegte Projekte mit Anbindung an Stadttheater, Ausbildungs- und Weiterbildungen, Workshops auf Veranstaltungen wie dem Theatertreffen der Jugend, regelmäßige HipHop- und moderne Tanzkurse sowie geförderte Projekte im eher dezentralen oder ländlichen Raum sowie im Kontext von Inklusionsprojekten erfasst. In die multimethodische Auswertung flossen zudem zahlreiche informelle (Gruppen‑)Gespräche sowie die Dokumentationen und Selbstdarstellungen in Internetpräsenzen, Satzungen, Förderrichtlinien ein. Die Auswertung dieser Daten mündete in einem provisorischen Analysemodell, das jene Kategorien zu identifizieren suchte, die für eine Perspektivierung auf Bildungspotentiale relevant erschienen (Hardt et. al. 2020).

Eine der zentralen 10 Kategorien bzw. Parameter, die das Model für die Analyse und das Verständnis von Bildungspotentialen im Tanz herausgearbeitet hat, ist „Körper/Körperlichkeit“. Wie alle Kategorien des Models ist damit ein Suchbegriff bezeichnet. Kategorien und Ebenen des Models werden in dieser Systematisierung nicht als isolierte, definitorisch still-gestellte Größen, sondern als sich wechselseitig aufeinander beziehende, sich beeinflussende, sich verstärkende oder konterkarierende Figurationen und Konstellationen begriffen (Stern et al. i. E. 2020). Die Kategorie Körper – der in der tänzerischen Praxis und auch in einer phänomenologischen Perspektive ins Zentrum rückt – macht somit für die Analyse nur als eine jeweils in einer spezifischen Konstellation situierte und hervorgebrachte Dimension Sinn.

„Lasst euren Körper machen“ – zur Aufrufung des individuellen, eigenständigen, differenten und wissenden Körpers

Wie zeigt sich nun Körper und das Körperverständnis in der Praxis? In einer Gesamtschau der erhobenen Daten lässt sich übergreifend konstatierten: Auch wenn es Projekte und Konstellationen gibt, die Teilnehmende von kulturellen Bildungsangeboten nach einer spezifischen körperlichen Ästhetik schulen und ihnen vorgegebenes Bewegungsmaterial beibringen, so ist doch der dominante Gestus im Feld, die Teilnehmenden jeweils dort abholen zu wollen, wo sie sind, d.h. idealerweise soll mit ihrem individuellen Vorwissen und den jeweiligen körperlichen Differenzen produktiv umgegangen werden. Dem Ideal der (Förderung von) Teilhabe entspricht ein Körperverständnis, das nicht mit Zwang und Vorgaben, sondern mit Ideen der Exploration, Erfahrung und eigenständiger kreativer Entwicklung von Bewegungen und Körpern operiert. In den Beobachtungen zeigt sich das in Konstellationen, in denen Aufgaben jeweils unterschiedlich von den Teilnehmenden angeeignet werden, in denen mit den Bewegungsformen, Themen und Körperzuständen (z.B. Müdigkeit) der Teilnehmenden gearbeitet wird.

Repertoire-Körper

Der Körper ist dabei trotz postulierter Individualität immer als ein technischer oder Repertoire-Körper präsent. Auch die vermeintlich individuellen Körper zeigen ihr vorheriges Training und die oftmals damit einverleibten, übergreifenden ästhetischen Präferenzen und Bewegungsdispositionen, ob dies nun Fortnite-Tänze, HipHop, Referenzen an Ballett, aber gerade auch zeitgenössische Formen des Release und aus (Musik-)Videos erlernte Moves sind, die sich durch Synchronizität, Frontalität und einen Fokus auf Arm/Handgesten, Blicke und Kommunikation mit einem ‚unsichtbaren’ Partner zeigen.

Wissende Körper

Dass eine körperliche Sinnlichkeit und ein Wissen um die Potentiale des Körpers gefördert werden sollen (zumeist vor gestalterischen Kompetenzen), ist der Subtext der meisten Projekte und wird deutlich in einem Gestus, der den eigenen Körper permanent als modus operandi per se anspricht: „Lasst euren Körper machen“, „Hört, was euer Körper braucht“, „Seid nicht im Kopf, vertraut auf den Körper“, „Wie mache ich das oder wie macht mein Körper das?“ sind Aussagen und Fragen, die die Praxis Kultureller Bildung im Tanz in auffälliger Weise begleiten. Dies geschieht vor der (impliziten) Annahme, dass Körper so im Alltag und auch klassischer Weise im Tanz nicht erfahren wird. Obwohl der Körper als Agens aufgewertet wird, als ein wissender Körper verstanden wird, sind in der Wortwahl und den Erklärungen oft konventionelle Dichotomien präsent – in dem häufigen Sprachgebrauch von „eurem Körper“, der als getrennt von einem ggf. manipulierenden oder zumindest vorgebenden „Ich“ zu existieren scheint.

Normative Setzungen von Körpern

Sicherlich sind solche Hinweise auf die Eigenständigkeit des Körpers notwendig, wo logozentrische Modelle von Handlung und intentionales Bewegungsgestalten die Entwicklung und Erforschung sinnlicher Dimensionen erschweren. Oftmals bleibt aber der durchaus normative Charakter der dahinterstehenden Körperkonzepte unsichtbar. Als normativ und damit problematisch erscheinen in den Diskussionen und Gesprächen nur jene Verständnisse des Körpers, die offensichtlich normativ sind, in dem Sinne, dass Körper für Dinge, Ideale, ästhetische Projekte „gebraucht“ und „passförmig“ gemacht oder ausgegrenzt werden – anstatt dass sie als divers und als Erfahrungskörper begriffen werden. Abgesehen davon, dass beide Vorstellungen inhärente Normen haben, wird in unseren Beobachtungen selten nur ein Körper adressiert und sichtbar. In den wenigsten Fällen waren weder ein durchgehendes Körperverständnis noch eine einheitliche Form mit Körper zu arbeiten präsent.

Hybride Körper und Körperverständnisse

Körper wird mithin als Instrument gesehen, das Leistung erbringen muss (dabei kann die Leistung nicht nur sein, hart zu proben und zu „beißen, bis es stimmt“, sondern auch, sich auf Dinge einzulassen nach dem Motto: „Es ist harte Arbeit, loszulassen“). Körper wird als Quelle von Lust und Energie begriffen („lasst es fließen“) oder als zergliederter, anatomisch oder sich relational ergebender Körper betrachtet (einzelne Körperteile werden angesprochen, er soll sich organisieren, wie an Perlenketten bewegen, der Organisation der Wirbelsäule soll nachgespürt werden). Körper wird als hybrides Konstrukt angesprochen (im gleichen Moment instrumentalisiert wie als authentische Quelle aufgerufen), er wird metaphorisch und als Resonanzkörper umschrieben („ihr müsst die anderen fühlen“, „ihr wollt ins Vibrieren kommen“, „ihr wollt eure Energie an andere geben“, „seid durchlässig für das, was auf euch zukommt“).

Kollektivkörper

Körper steht immer auch in Relation zu anderen und ist Teil eines Kollektivkörpers, der jeweils unterschiedlich angesprochen und hervorgebracht wird: Er wird als Schwarm aufgefasst, zeigt sich in einer skulpturalen Masse, wird durch ähnliche Bewegungsqualitäten und nicht zuletzt durch synchrone Bewegungen gestaltet oder durch das Teilen von Verantwortung hervorgebracht.

Identitätskörper

Dabei werden Körper als Identitätskörper adressiert und mit konstituiert, wenn in Projekten gesagt wird, dass jemand etwas „besonders im Blut hat“ (z.B. die impulsive Art, die „die Szene braucht“), wenn auf bestimmte Formen von Individualität und Differenz rekurriert wird („wir sind alle immer anders“), wenn genderspezifische Differenzen artikuliert werden, teilweise auch ironisch (z.B. wenn ein Lehrperson die einarmigen Liegestütze eines männlichen Teilnehmers kommentiert: „oh Mädchen-Liegestütze“). Während manche Lehrpersonen eine ‚positive‘ Diskriminierung erkennen lassen, sind es oft die Teilnehmenden selbst, die in konventionellen Strukturen in Bezug auf Identität und Gender operieren. Etwa, wenn Gruppen von Schüler*innen sich grundsätzlich in Mädchen und Jungen aufteilen und dies auch auf Bitten der Künstlerin nicht ändern möchten. Identitäten und die Adressierung als ,Andere‘ (Mörsch 2019) erfolgen aber auch durch Leitlinien zur Förderung, wo bestimmte Gruppen/Milieus als besonders förderungsbedürftig, also inhärent defizitär betrachtet werden, und schwingen auch mit, wenn von den Choreograph*innen wohlwollend deklariert wird, dass „die ganz viel Potential“ haben.

Dabei kann jede Aufgabe, jedes Verfahren und Setting in spezifischer Weise mit Differenzen umgehen, sie ausstellen, sie produktiv machen, sie verflachen. Sie können Diversität als ästhetisches Prinzip verfolgen oder Differenzen übergehen und damit einzelne ausgrenzen, ggf. bloßstellen. Im Folgenden werde ich nun aus dieser Vielzahl von Einflussgrößen, die Körper und Körperverständnisse figurieren, vor allem die choreographischen Verfahren in den Blick rücken.

Die Hervorbringungen von Körper in choreographischen Verfahren und Gefügen

Welche Bedeutung haben choreographische Verfahren für die Wahrnehmung, Erfahrung und das Verständnis von Körper? Hinter dieser Frage stehen zahlreiche Beobachtungen, bei denen
1. oft Choreographie bzw. „ästhetische Vorgaben“ gegen Selbstbestimmung ausgespielt wurde,
2. choreographische Entscheidungen bzw. die Enthaltung von klaren Entscheidungen Einzelne bloßgestellt wirken ließ und
3. die Thematisierung nach den choreographischen Mitteln nicht im gleichen Maße reflektiert oder transparent gemacht wurde wie Fragen nach Teilhabe, Diversität und Individualität.
Auch wenn mittlerweile zahlreiche zeitgenössische Choreograph*innen im Feld arbeiten, es herausragende Produktionen und künstlerische Workshops gibt und auch das Weiterbildungsangebot in diesem Bereich wächst, ist die Fähigkeit, choreographisches Wissen transparent und produktiv zu machen, im Überblick aller Beobachtungen wenig präsent. Selbst in Workshops von erfolgreichen Choreograph*innen wird den Teilnehmenden nicht offensichtlich gemacht, auf welcher Grundlage beispielsweise später von ihnen entwickeltes Material zusammengefügt wurde (obwohl es für erfahrene Außenstehende durchaus sichtbar war, was „es stimmig machte“). In anderen Fällen schien es schlicht nur eine Form des Choreographierens zu geben, wiederum in anderen Projekten wurde das Zusammenfügen des jeweils individuell generierten Materials den Teilnehmenden überlassen, von einem Selbstbestimmung fördernden Gestus ausgehend. Bestenfalls wurde über Aufgabenstellung als generatives Prinzip gesprochen. Dies hat Auswirkungen auf den Umgang mit und die Sichtbarmachung von körperlichen Differenzen, wie eine jener Produktionen eines einschlägigen Festivals zeigte, die bei uns Beobachtenden deutliches Unwohlsein erzeugte:

Dort standen sich zunächst die Kinder in zwei Reihen gegenüber. Nun überquerte jedes einzelne nacheinander in einer anderen (wahrscheinlich eigenen) Lauf-/Bewegungsform die Bühne von links nach rechts bzw. vice versa. Während die hier ausgestellte Individualität, der Mut von einzelnen, sich das zu trauen, sicherlich erwähnungsbedürftig ist, provozierte es doch die Frage: Welches Verständnis von Individualität und von Diversität wurde hier ausgestellt? Ein Junge zeigte Capoeira-Moves, ein Mädchen überquerte eher schnell mit kleinen Schritten die Bühne. Manche schlugen Rad, andere hüpften, einige fühlten sich wohl dabei, andere waren sichtlich verunsichert. Alle überquerten die Bühne nur einmal, mit Ausnahme des Jungen mit seinen Capoeira-Moves; er durfte zweimal. Was wollte hier gezeigt werden, was war dies für die teilnehmenden Kinder? Eine Vorstellung der Einzelnen? Wieso wurden die einzelnen Bewegungen nicht wiederholt, variiert, an andere weitergegeben? Mehr noch aber, wie wurden hier die Körper der Einzelnen wahrnehmbar? Selbst wenn die einzelnen Formen der Bewegung individuell gewählt waren, die Form des einmaligen Überquerens, die Formation, in zwei Reihen zu beginnen, war es sicherlich nicht. Sie griff auf ein historisch etabliertes Verfahren zurück, das auf Teilung, Zuordnung und Linearität besteht – wie es von Volkstänzen, höfischen Tänzen und klassischem Tanz herrührt und in der Regel nicht leicht einzuhalten ist. Wieso wird also eine solche Form gewählt? Es geht hier nicht darum, solche Formationen auszuschließen, sondern anhand dieses Beispiels Fragen aufzuwerfen, die auch für andere Projekte und deren Analyse bedeutend sein können.

Welche Auswirkung hat dies auf die Wahrnehmung von Körper? Wird in einem Setting Differenz als Bereicherung wahrgenommen oder stellt das gewählte Verfahren einige als kompetenter als andere aus? Dieses Gefühl, das vermeintliche Individualität in konventionelle Formen gepresst wurde, durchzog auch das weitere Geschehen, denn Gleiches galt für die folgende, synchron getanzte Gruppenkombination, die aus einzelnen Moves aller Kinder zusammengebaut wurde. Vor allem die Platzierung dafür im Raum in verschobenen Reihen, die aus klassischen Tanzstunden bekannt ist, und der damit einhergehende ,Sicherheitsabstand‘ zeigte keine Relation zu dem Material – außer es würde versuchen, typische mediale Tanzformen in ihrer Synchronizität und Frontalität nachzuahmen. Aber nichts lässt Differenzen besser erkennen als der Versuch, sich synchron zu bewegen, insbesondere, wenn es nicht gelingt. Viele erfolgreiche Choreograph*innen, die mit Kindern arbeiten, setzen daher eher auf bewegungschorische Strukturen, klare Narrationen, Einschränkungen auf eine spezifische Bewegungsidee. Es wird also deutlich, dass allein das Arbeiten mit von den Teilnehmenden eingebrachten (Bewegungs-)Materialien noch keine Choreographie macht, die körperliche Diversität fruchtbar macht, sondern diese ggf. bloß ausstellt. Die oft in diesem Zusammenhang formulierte Entgegensetzung von Ästhetik vs. Selbstbestimmung von Teilnehmenden gilt es also zu befragen. Auch Materialien, die von den Teilnehmenden selbst eingebracht werden, bringen immer spezifische ästhetische Vorstellungen und Vorstellungen von Verfahren und Strukturen mit, die auf die Körperlichkeit und das künstlerische Produkt wirken.

Was es nun bedeuten kann, individuelle Entwicklung, Teilhabe, Bewusstmachung von Differenzen untereinander und diese auch künstlerisch-ästhetisch produktiv zu machen, möchte ich kurz an einem historischen Beispiel verdeutlichen, das zugleich von einer körperlichen Radikalität zeugt.

Heterogene Gefüge als ästhetisches Prinzip erzeugen – ein historisches Beispiel

Die Utopie eines gerechten sozialen Miteinander, Fragen nach Eingliederung und Partizipation sowie sinnlicher Welterschließung sind schon bei den frühen Protagonist*innen des modernen Tanzes in Deutschland zu finden, die eine klare pädagogische Ausrichtung hatten, wie es beispielsweise die Arbeit von Jenny Gertz zeigt. Die Bilder ihrer Bewegungsaufgaben mit Kindern, die wir hier sehen (Abb. 1), sind in vielerlei Hinsicht revolutionär. Allerdings ist bis auf wenige Ausnahmen die Arbeit dieser Pionierin, deren Eigenpublikation sich im Deutschen Tanzarchiv in Köln befinden, wenig bearbeitet (Hardt 2004).

Zahlreiche Bilder, die in ihrem Nachlass in Leipzig zu finden sind, entwerfen skulpturale Bewegungsfigurationen, die einzelne Körper miteinander verweben. Es sind individuelle Körper, grenzüberschreitende Kompositionen, welche die Kinder zum damaligen Slogan „zurück zur Natur“ nackig zusammenbringen und zugleich einen Schutzraum für sie schaffen. In einem Bild (Abb. 1) ist nicht klar zu erkennen, welcher Arm, welches Bein zu wem gehört. Alle bewegen sich eigenständig, sie horchen, die Hände an die Ohren legend, ins Innere der Gruppe, sie sind ein zusammenhängendes Gefüge aus lauter eigenständigen Bewegungsinterpretationen der Aufgabe.  Ob und in welchem Maße die Einzelnen different sind, spielt keine Rolle und doch macht die Individualität – die durch eine Form und Aufgabe im wahrsten Sinne des Wortes auf ein Zentrum fokussiert ist –das Besondere dieser Bilder aus. Körperlichkeit wird hier in der Unzuordenbarkeit spezifischer Körper besonders in die Wahrnehmung gerückt.

Abb. 1 Bewegungschor
Abb. 1: Jenny Gertz: Bewegungschor „Frühlingserwachen“, ca. 1925, Privatsammlung

Wie zahlreiche der im kultursozialistischen Milieu arbeitenden Tänzer*innen der Zeit – unter ihnen auch Albrecht Knust und Martin Gleisner – reflektiert bzw. theoretisiert Gertz dabei im hohen Maße über das Zusammenspiel der Gruppe (bzw. das, was damals ‚Gemeinschaft‘ genannt wurde). Und sie hielt fest, dass nichts geeigneter war, als in einem Bewegungschor zu arbeiten, weil die Kinder nach dieser Perspektive durch das Machen lernten, sich anzupassen, weil ein Nicht-Folgen der Gruppe bedeutet hätte, sich selbst nicht bewegen zu können. Der permanente Rollenwechsel, der jedes Kind auch einmal in die Führungsposition brachte, schuf – so zumindest die idealisierten Texte – auch Verständnis dafür, dass die Differenzen der Einzelnen (langsam, schwach, kleiner) mitzubedenken waren (Gertz 1924).

Im Zusammenspiel von Gertz’ Reflexionen und Fotos lässt sich eine politische Vision erkennen, die die Schüler*innen (in diesem Fall zumeist Arbeiterkinder aus der sozialistischen Jugendarbeit) affizieren konnte/wollte und zugleich mit einem ästhetisch revolutionären Tanzverständnis verband. Sicherlich wären hier die Fotos als auch historische Quellen einer eingehenderen Analyse zu unterziehen und können nicht mit live gemachten Beobachtungen verglichen werden. Es gilt also, die hier gemachten Beobachtungen nicht so sehr als eine Analyse von Gertz’ tatsächlicher Bewegungsarbeit zu verstehen, sondern zu verdeutlichen, dass es Materialien gibt, die das Zusammengehen von theoretischer Reflexion zu Gruppe und (körperlicher) Differenz in Fotos zugleich mit spannenden ästhetischen Figuren dokumentiert, die gängige Wahrnehmungsmuster von Körpern durchbrechen. Gertz ließ die Kinder auch Zeichnungen anfertigen, die wiederum zum Material wurden zur Bewegungsfindung.

Schlussfolgerungen für die Praxis und Forschung

Welche Formen und Referenzen kann es heute also geben, wenn mit Kindern thematisch oder in Bewegungschören gearbeitet wird? Wie lassen sich politischer Impetus, soziale Verortung und ästhetische Formgebung miteinander verbinden? Wo lassen sich dafür Inspiration und Materialien auch in der Tanzgeschichte finden? Das Beispiel und diese Fragen möchten dazu anregen, auch über die Differenz zu „historischen“ Körper, einmal mehr die Situiertheit körperlicher Praktiken nachzuspüren und nach Modellen/Vorbildern zu suchen, die weniger dichotom und idealisierend sind als so mancher zeitgenössischer Diskurs mit all seinen guten Absichten. Forschung zu Tanz und Inklusion könnte Körperlichkeit stärker in Bezug auf Verfahren der Hervorbringung, also auch der Produktion von Dis/ability versuchen zu verstehen und darauf hinwirken, choreographisches Wissen und Teilhabe nicht gegeneinander auszuspielen. Körper sind „nur in den Techniken, mit denen sie trainiert werden, zu verstehen“ – so Foster (1997:235) in Anlehnung an Foucault – hier ließe sich ergänzen, und ebenso nur in den Verfahren, mit denen sie zusammengebracht, in Verhältnis von Raum und Zeit gesetzt werden. Für eine diversitätskritische Diskussion sollten somit Körper als choreographische Gefüge stärker in den Blick geraten.

Verwendete Literatur

  • Albright, Ann Cooper (2019): How to Land. Finding Ground in an unstable World. New York: Oxford University Press.
  • Bischof, Margit/Nyffeler, Regula (Hrsg.) (2014): Visionäre Bildungskonzepte im Tanz. Kulturpolitisch handeln – tanzkulturell bilden, forschen und reflektieren. Zürich: Chronos.
  • Flick, Uwe/Kardorff, Ernst v./Steinke, Ines (Hrsg.) (2012): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt.
  • Foster, Susan (1997): Dancing Bodies. In: Desmond, Jane (Hrsg.): Meaning in Motion. New Cultural Studies of Dance (235-257). Durham: Duke University Press.
  • Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Funke-Wieneke, Jürgen (2008): Der Körper als Entdecker. In: Klepacki, Leopold/Liebau, Eckart (Hrsg.): Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzes (Erlanger Beiträge zur Pädagogik, 6) (11-27). Münster: Waxmann.
  • Gertz, Jenny (1924): Wie sie zusammen wuchsen. Hamburg: Selbstverlag Jenny Gertz (im Deutschen Tanzarchiv Köln).
  • Gugutzer, Robert (2012): Verkörperungen des Sozialen. Neuphänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen. Bielefeld: transcript.
  • Haraway, Donna (1988): Situated Knowledges: The Science Questen in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies 14, III/1988, 575–599.
  • Hardt, Yvonne (i. E. 2021): Kulturelle Bildung und Tanz erforschen!? Eine kritische Einführung und Forschungsheuristik. München.
  • Hardt, Yvonne/Stern, Martin/Steinberg, Claudia/Neuber, Nils/Spahn, Lea/Leysner, Miriam/Pürgstaller, Esther/Rudi, Helena (2020): Körperlich-sinnliche Weltbezüge erforschen: Methodische Reflexionen zur Entwicklung eines analytischen Modells Kultureller Bildung im Tanz. In: Pürgstaller/Esther/Konietzko, Sebastian/Neuber, Nils (Hrsg.): Kulturelle Bildungsforschung - Aktuelle Befunde, Diskurse und Praxisfelder (Bildung und Sport, 23)( 73-90). Wiesbaden: Springer VS.
  • Hardt, Yvonne (2004): Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik. Münster: LIT.
  • Hillebrandt, Frank (2015): Was ist der Gegenstand einer Soziologie der Praxis? In: Ders./Schäfer, Franka/Daniel, Anna (Hrsg.): Methoden einer Soziologie der Praxis (15-36). Bielefeld: transcript.
  • Klepacki, Leopold/Liebau, Eckart (Hrsg.) (2008): Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzes (Erlanger Beiträge zur Pädagogik, 6). Münster: Waxmann.
  • Klinge, Antje (2014): Alles Bildung oder was? Tanz aus bildungstheoretischer Sicht. In: Bischof, Margit/Nyffeler, Regula (Hrsg.): Visionäre Bildungskonzepte im Tanz (59-69). Zürich: Chronos.
  • Klinge, Antje (2009): Körperwissen – eine vernachlässigte Dimension. Bochum: LIT.
  • Mauss, Marcel (1989): Soziologie und Anthropologie (Band 2). Gabentausch. Soziologie und Psychologie. Todesvorstellungen. Körpertechniken. Begriff der Person. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Henning Ritter und Axel Schmalfuß. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.
  • Mörsch, Carmen (2019): Die Bildung der A_n_d_e_r_e_n durch Kunst: Eine postkoloniale und feministische historische Kartierung der Kunstvermittlung (Studien zur Kunstvermittlung, 2). Wien: Zaglossus.
  • Stern, Martin/Hardt, Yvonne/Leysner, Miriam/Stern, Martin/Spahn, Lea (Hrsg.) (2020): Tanzvermittlung reflektieren und erforschen!? Forschungsheueristik und Selbstreflexionsbogen für die Diversität des Feldes. In: Susanne Timm, Jana Cosat, Claudia Kühn, Annette Scheupflug (Hg.): Kulturelle Bildung. Theoretische Perspektiven, methodologische Herausforderungen und empirische Befunde, (335-348). Münster: Waxmann.  
  • Westphal, Kristin (2009): Zur Aktualität der Künste im Morgen. An einem Beispiel von Theater mit Kindern für Erwachsene. In: Westphal, Kristin/Liebert, Wolf-Andreas Liebert (Hrsg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung (171-183). Weinheim: Juventa.

Anmerkungen

Dieser Beitrag Choreographierte Körper-Gefüge: Zur Hervorbringung und Analyse von Pluralität von Körperlichkeit im Tanz von Yvonne Hardt erschien erstmalig in der von Nana Eger und Antje Klinge im kopaed-Verlag herausgegebenen Publikation: Wie viel Körper braucht die Kulturelle Bildung?

Er basiert auf dem Vortrag der Autorin, gehalten im Rahmen der 10. gleichnamigen Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung 2019.

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Yvonne Hardt (2021/2021): Choreographierte Körper-Gefüge: Zur Hervorbringung und Analyse von Pluralität von Körperlichkeit im Tanz. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/choreographierte-koerper-gefuege-zur-hervorbringung-analyse-pluralitaet-koerperlichkeit (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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